Unglaublich, dachte Reanne, während sie von einem Fenster aus beobachtete, wie die beiden Mädchen zwischen Händlern und Bettlern und gelegentlichen Sänften die Straße hinab verschwanden. Sie war in den Versammlungsraum zurückgekehrt, sobald die beiden hinausgeführt worden waren. Sie wußte nicht, was sie von ihnen halten sollte, und ihre beharrlichen Behauptungen wider alle Vernunft waren nur teilweise der Grund für ihre Verwirrung.
»Sie haben nicht geschwitzt«, flüsterte Berowin ihr zu.
»Nein?« Sie hätte den Tarasin-Palast unverzüglich benachrichtigen lassen, wenn sie nicht ihr Wort gegeben hätte - und wenn es nicht gefährlich gewesen wäre. Angst brodelte in ihr, die gleiche Furcht, die sie ergriffen hatte, nachdem sie einmal die Silberbögen passiert hatte und die Prüfung zur Aufgenommenen abgelegt hatte. Und genauso, wie sie es jedes Mal in den seither vergangenen Jahren gehandhabt hatte, rief sie sich erneut zur Ordnung. In Wahrheit erkannte sie nicht, daß die Angst davor, vielleicht wieder schreiend davonzulaufen, schon seit langem jede Möglichkeit bezwungen hatte, es tatsächlich zu tun. Sie betete, daß diese Mädchen ihren Wahnsinn aufgeben würden. Sie betete, daß sie, wenn sie es nicht täten, weit von Ebou Dar entfernt aufgegriffen würden und entweder schwiegen oder kein Gehör fanden. Vorsichtsmaßnahmen mußten getroffen und seit Jahren nicht mehr benutzte Schutzvorrichtungen eingesetzt werden. Aes Sedai waren jedoch fast allmächtig, so daß es keinen Unterschied machte, wie sie tief innerlich wußte.
»Älteste, wäre es möglich, daß die ältere der beiden in Wahrheit...? Wir haben die Macht gelenkt, und...«
Berowin brach kläglich ab, aber Reanne wußte, was sie hatte sagen wollen. Warum sollte eine Aes Sedai vorgeben, weniger zu sein, so viel weniger? Außerdem hätte eine wahre Aes Sedai sie alle um Gnade bittend auf die Knie gezwungen und nicht so ergeben dagestanden.
»Wir haben die Macht nicht vor einer Aes Sedai gelenkt«, sagte sie fest. »Wir haben keine Regel gebrochen.« Diese Regeln, deren erste lautete, daß sie alle eins waren, selbst jene, die eine Zeitlang höhergestellt waren, fanden bei ihr genauso strenge Anwendung wie bei jedermann sonst. Wie hätte es anders sein können, wenn jene, die höher standen, schließlich wieder niedrigere Positionen einnehmen mußten? Nur durch Bewegung und Veränderung konnten sie verborgen bleiben.
»Aber einige der Gerüchte erwähnen ein Madchen als Amyrlin, Älteste. Und sie wußte...«
»Aufrührer.« Reanne legte alle zornerfüllte Ungläubigkeit in dieses eine Wort. Daß jemand es wagen sollte, sich gegen die Weiße Burg zu erheben! Es war nicht ungewöhnlich, daß sich unglaubliche Geschichten mit solchen Menschen verknüpften.
»Was ist mit Logain, und der Roten Ajah?« fragte Garenia, und Reanne sah sie starr an. Sie nippte trotzig an ihrem Tee.
»Wie auch immer die Wahrheit aussieht, Garenia, es steht uns nicht zu, etwas zu kritisieren, was Aes Sedai möglicherweise tun.« Reanne preßte die Lippen zusammen. Das stimmte kaum mit ihren Empfindungen gegenüber den Aufrührern überein, aber wie konnte eine Aes Sedai so etwas tun?
Die Saldaeanerin beugte ergeben und vielleicht auch, um ihre störrische Miene zu verbergen, den Kopf, Reanne seufzte. Sie selbst hatte die Träume von der Grünen Ajah schon vor langer Zeit aufgegeben, aber es gab Frauen wie Berowin, die insgeheim hofften, daß sie eines Tages irgendwie zur Weißen Burg zurückkehren und trotz allem Aes Sedai werden könnten. Und dann gab es Frauen wie Garenia, die ihre Wünsche beinahe genauso schlecht geheimhalten konnten, obwohl diese Wünsche noch weitaus verbotener waren. Sie hätten Wilde tatsächlich akzeptiert und wären sogar ausgezogen, um Mädchen zu finden, die gelehrt werden konnten!
Garenia war noch nicht fertig. Sie bewegte sich stets hart am Rande der Disziplin und verletzte sie auch häufig. »Was ist mit dieser Setalle Anan? Die Mädchen wußten vom Zirkel. Herrin Anan muß es ihnen gesagt haben, obwohl - wie kann sie wissen...« Sie erschauderte auf eine für andere entschieden zu auffällige Art, aber sie hatte ihre Gefühle noch nie verbergen können, auch wenn sie es sollte. »Wer auch immer uns verraten hat, muß gefunden und bestraft werden. Sie ist Gastwirtin und muß lernen, ihre Zunge zu hüten!« Berowin keuchte, die Augen entsetzt geweitet, und sank schwer auf einen Stuhl.
»Erinnert Euch, wer sie ist, Garenia«, wies Reanne sie scharf zurecht. »Wenn Setalle uns verraten hätte, würden wir jetzt bereits nach Tar Valon kriechen und den ganzen Weg um Vergebung bitten.« Als sie ursprünglich nach Ebou Dar kam, hatte man ihr die Geschichte einer Frau erzählt, die tatsächlich zur Weißen Burg kriechen mußte, und nichts, was sie bisher von Aes Sedai gesehen hatte, ließ sie dies auch nur im geringsten in Frage stellen. »Sie hat die wenigen Geheimnisse, die sie kennt, aus Dankbarkeit bewahrt, und ich bin überzeugt, daß sie noch immer Dankbarkeit empfindet. Sie wäre bei ihrer ersten Geburt gestorben, wenn die Schwesternschaft ihr nicht geholfen hätte.
Was sie weiß, hat sie von unvorsichtigen Menschen erfahren, die glaubten, sie könne sie nicht hören, und diese wurden bereits vor über zwanzig Jahren bestraft.« Dennoch wünschte sie, sie könnte sich dazu bringen, Setalle zu größerer Vorsicht zu ermahnen. Sie mußte vor diesen Mädchen unachtsam gesprochen haben.
Die Frau beugte erneut den Kopf, preßte aber die Lippen eigensinnig zusammen. Reanne beschloß, daß Garenia zumindest einen Teil dieses Turnus in Abgeschiedenheit verbringen und besondere Anweisungen erhalten müßte, um ihr eigensinniges Mundwerk unter Kontrolle zu bekommen. Alise brauchte selten länger als eine Woche, eine Frau davon zu überzeugen, daß sich Eigensinn nicht lohnte.
Bevor sie Garenia dies jedoch mitteilen konnte, stand Derys, einen Hofknicks vollführend, im Eingang und kündigte Sarainya Vostovan an. Sarainya fegte wie üblich herein, bevor Reanne sie dazu auffordern konnte. Die auffallend hübsche Frau ließ Garenia in gewisser Weise fügsam erscheinen, obwohl sie jede Regel strikt einhielt. Reanne war sich sicher, daß sie ihr Haar zu Zöpfen geflochten und mit Glöckchen geschmückt getragen hätte, wenn sie die Wahl gehabt hätte, ungeachtet dessen, wie das zu ihrem roten Gürtel gepaßt hätte. Aber andererseits hätte sie, wenn sie wiederum die Wahl gehabt hätte, auch nicht einen Turnus mit dem Gürtel gedient.
Sarainya vollführte am Eingang natürlich einen Hofknicks und kniete auch mit gesenktem Kopf vor Reanne nieder, aber selbst fünfzig Jahre hatten sie nicht vergessen lassen, daß sie eine Frau mit erheblicher Macht gewesen wäre, wenn sie sich dazu hätte überwinden können, nach Arafel zurückzukehren. Der Hofknicks und alles andere waren nur Zugeständnisse. Als sie mit rauher, kräftiger Stimme sprach, fragte sich Reanne, ob sich die Frau jemals wieder aussöhnen würde, und die Sorge um Garenia schwand aus ihren Gedanken.
»Callie ist tot, Älteste Schwester. Ihr wurde die Kehle durchschnitten, und sie wurde anscheinend bis auf die Strümpfe ausgeraubt, aber Sumeko behauptet, die Eine Macht habe sie getötet.«
»Das ist unmöglich!« platzte Berowin heraus. »Niemand aus der Schwesternschaft würde so etwas tun!«
»Und eine Aes Sedai?« entgegnete Garenia zögernd. »Aber wie? Die Drei Eide. Sumeko muß sich irren.«
Reanne hob Ruhe gebietend eine Hand. Sumeko irrte sich niemals, nicht auf diesem Gebiet. Sie wäre eine Angehörige der Gelben Ajah geworden, wenn sie während der Prüfungen zur Stola nicht vollkommen zusammengebrochen wäre, und obwohl es bei Strafe verboten war, arbeitete sie daran, mehr zu lernen, wann immer sie glaubte, daß niemand zusah. Keine Aes Sedai hätte dies tun können, und niemand aus der Schwesternschaft hätte es getan, aber... Diese so beharrlichen Mädchen, die wußten, was sie nicht wissen sollten. Der Zirkel bestand schon zu lange, hatte zu vielen Frauen Hilfe gewahrt, um jetzt vernichtet zu werden.
»Wir müssen Folgendes tun«, belehrte sie die anderen. Die angstvolle Aufregung setzte erneut ein, aber dieses Mal bemerkte sie es kaum.
Nynaeve schritt zornig von dem kleinen Haus fort. Es war unglaublich! Diese Frauen hatten eine Gilde.
Sie wußte es! Was auch immer sie sagten, sie war überzeugt, daß sie außerdem wußten, wo sich die Schale befand. Sie hätte alles getan, um sie dazu zu bringen, es ihr zu sagen. Einige Stunden lang ihnen gegenüber Fügsamkeit zu zeigen, wäre erheblich leichter gewesen, als sich wer weiß wie viele Tage mit Mat Cauthon abzufinden.
Ich hätte so ergeben sein können, wie sie wollten, dachte sie verärgert. Sie hätten mich nur für eine nachgiebige Närrin gehalten! Ich hätte... Das war eine Lüge, und das flaue Gefühl, an das sie sich sehr gut erinnerte, wäre nicht nötig gewesen, sie davon zu überzeugen. Hätte sie auch nur halbwegs die Gelegenheit dazu bekommen hätte sie jede einzeine dieser Frauen geschüttelt, bis sie ihr gesagt hätten, was sie wissen wollte.
Sie warf stirnrunzelnd einen Seitenblick zu Elayne, die gedankenverloren schien. Nynaeve wünschte, sie wüßte, woran Elayne dachte. Ein verschwendeter Vormittag und fast vollständige Demütigung. Sie mochte es nicht im Unrecht zu sein, und sie war es noch nicht gewohnt zuzugeben, daß sie tatsächlich im Unrecht war. Jetzt würde sie sich bei Elayne entschuldigen müssen. Sie haßte es wirklich, sich zu entschuldigen. Nun, es würde in ihren Zimmern vielleicht nicht ganz so schlimm sein, wenn Birgitte und Aviendha noch unterwegs waren, wie sie hoffte. Sie würde nicht auf der Straße damit beginnen, wenn wer weiß wer vorbeikommen konnte. Die Menge hatte sich verdichtet, obwohl die Sonne durch die kreisenden Wolken schreiender Meeresvögel über ihnen kaum höher zu stehen schien.
Es war nach all diesen Windungen und Biegungen nicht leicht, den Rückweg zu finden. Nynaeve mußte ein halbes Dutzend Mal nach dem Weg fragen, während Elayne jeweils in eine andere Richtung schaute und Gleichgültigkeit vorgab. Sie schritten über Brücken, wichen Wagen und Karren aus und sprangen aus dem Weg, wenn sich Sänften eilig durch die Menge schlängelten. Nynaeve wünschte, Elayne würde etwas sagen. Nynaeve wußte, wie man einen Groll pflegte, und je länger sie selbst schwieg, desto schlimmer wurde es, wenn sie sprach, so daß die Vorstellung, wie es wieder in ihren Zimmern sein würde, desto düsterer ausfiel, je länger Elayne schwieg. Das machte sie wütend. Sie hatte zugegeben, daß sie im Unrecht war, wenn auch nur sich selbst gegenüber. Elayne hatte kein Recht, sie so leiden zu lassen. Sie setzte eine Miene auf, die selbst Menschen, die ihren Ring nicht bemerkten, aus dem Weg treten ließ. Sogar einige Sänftenträger wichen ihr aus.
»Wie alt wirkte Reanne auf dich?« fragte Elayne plötzlich. Nynaeve wäre beinahe zusammengezuckt. Sie hatten fast den Mol-Hara-Platz erreicht.
»Wie fünfzig. Vielleicht sechzig. Das ist doch unwichtig.« Sie ließ ihren Blick über die Menge schweifen, um zu überprüfen, ob jemand lauschen konnte. Eine vorübergehende Straßenhändlerin, die kleine gelbe Zitronen verkaufte, erstickte nur unvollkommen einen Schrei, als Nynaeves Blick einen Moment an ihr haften blieb, woraufhin sie sich hustend und würgend über ihre Waren beugen mußte. Nynaeve schnaubte. Die Frau hatte wahrscheinlich tatsächlich gelauscht, wenn sie auch nicht vorgehabt hatte, einen Vorteil daraus zu ziehen. »Sie sind eine Gilde, Elayne, und sie wissen wahrhaftig, wo sich die Schale befindet. Ich weiß einfach, daß es so ist.« Das war überhaupt nicht das, was sie hatte sagen wollen. Wenn sie sich jetzt dafür entschuldigte, Elayne in diese Geschichte hineingezogen zu haben, wäre es vielleicht nicht so schlimm.
»Vermutlich«, sagte Elayne nachdenklich. »Ich schätze, daß sie es wissen könnten. Wie kann sie so gealtert sein?«
Nynaeve blieb mitten auf der Straße jäh stehen. Nach all dem Streit und nachdem sie buchstäblich hinausgeworfen worden waren, vermutete sie nur? »Nun, ich vermute, sie ist genauso gealtert wie wir übrigen, einen Tag nach dem anderen. Elayne, wenn du das geglaubt hast, warum hast du dann wie Rhiannon in der Burg verkündet, wer du bist?« Ihr gefiel das eher - gemäß der Geschichte, daß das, was Königin Rhiannon bekam, weit von dem entfernt war, was sie gewollt hatte.
Aber die Frage schien auf Elayne, trotz all ihrer Ausbildung, nicht anwendbar. Sie zog Nynaeve zur Vorderseite des Ladens einer Näherin mit breitem Eingang, in dem mehrere Ankleidepuppen mit halbwegs fertiggestellten Gewändern standen, als eine verhangene grüne Kutsche vorüberrumpelte. Die Straßen waren hier nicht sehr breit.
»Sie hätten uns nichts erzählt, Nynaeve, auch nicht, wenn du vor ihnen niedergekniet und darum gebettelt hättest.« Nynaeve öffnete empört den Mund und schloß ihn dann eilig wieder. Sie hatte niemals etwas von Betteln gesagt. Und außerdem - warum hätte sie die einzige sein sollen? Besser irgendeine Frau als Mat Cauthon. Elayne war jedoch nicht von ihrem Gedanken abzubringen. »Nynaeve, sie muß wie jede andere verzögert gealtert sein. Wie alt ist sie, wenn sie wie fünfzig oder sechzig aussieht?«
»Wovon sprichst du?« Nynaeve merkte sich die Örtlichkeit, ohne darüber nachzudenken. Die Arbeiten der Näherin sahen gut aus und schienen einer näheren Betrachtung wert. »Sie lenkt die Macht bestimmt nicht häufiger als notwendig, weil sie sosehr befürchtet, für eine Schwester gehalten zu werden. Daher will sie gewiß auch kein zu glattes Gesicht haben.«
»Du hast beim Unterricht wohl niemals zugehört?« murmelte Elayne. Sie sah die rundliche Näherin strahlend in den Eingang treten und zog Nynaeve zur Ecke des Gebäudes. Wenn man die Mengen Spitze an Leibchen und Unterröcken des Gewandes der Näherin bedachte, würde man näher hinsehen müssen, wenn Nynaeve etwas bei ihr bestellen wollte. »Vergiß die Kleider einen Moment, Nynaeve. Welche ist die älteste Aufgenommene, an die du dich erinnern kannst?«
Nynaeve sah Elayne ausdruckslos an. Es hatte geklungen, als denke sie niemals an etwas anderes! Und sie hatte sehr wohl zugehört. Manchmal. »Ich glaube, Elin Warrel. Sie muß ungefähr in meinem Alter sein.«
Das Gewand der Näherin wäre mit einem sittsameren Ausschnitt und weitaus weniger Spitze hübsch. In grüner Seide. Lan mochte Grün, obwohl sie ihre Kleider sicher nicht für ihn aussuchen würde. Er mochte auch Blau.
Elayne lachte so heftig, daß Nynaeve sich fragte, ob sie laut gesprochen hatte. Sie errötete zutiefst und versuchte, es zu erklären - sie war sich sicher, daß sie es erklären konnte, bei Bel Tine -, aber Elayne gab ihr keine Gelegenheit. »Elins Schwester besuchte sie, unmittelbar bevor du zu Beginn in der Burg eintrafst, Nynaeve. Ihre jüngere Schwester. Die Frau hatte graues Haar. Nun, teilweise. Sie muß über vierzig gewesen sein, Nynaeve.«
Elin Warrel war über vierzig? Aber...! »Was sagst du da, Elayne?«
Niemand konnte sie belauschen, und niemand außer der noch immer hoffnungsvoll abwartenden Näherin schien sie zu beachten, aber Elayne senkte ihre Stimme dennoch zu einem Flüstern. »Wir altern langsamer, Nynaeve. Irgendwann zwischen zwanzig und fünfundzwanzig beginnen wir langsamer zu altern. Wie sehr, hängt von unserer Stärke ab. Das gilt für jede Frau, welche die Macht lenken kann. Takima meinte, es sei der Beginn, ein altersloses Aussehen anzunehmen, obwohl ich nicht glaube, daß es jemals eine Frau erreicht hat, bevor sie die Stola mindestens ein oder zwei und manchmal auch fünf oder mehr Jahre getragen hat. Du weißt, daß jede Schwester mit grauem Haar tatsächlich alt ist, selbst wenn du es nicht erwähnen darfst. Wenn Reanne also verzögert gealtert ist, und es muß so sein, wie alt ist sie dann?«
Nynaeve kümmerte es nicht, wie alt Reanne war. Sie wollte schreien. Kein Wunder, daß jedermann sich weigerte, ihr Alter zu glauben. Und es erklärte auch, warum der Frauenzirkel zu Hause ihr über die Schulter gesehen hatte, als seien sie im Zweifel, daß sie alt genug sei, daß man ihr vollkommen vertrauen könnte. Das alterslose Gesicht einer Schwester anzunehmen, war schön und gut, aber wie lange würde es noch dauern, bis sie ihre grauen Haare hatte?
Sie blickte verärgert die Straße hinab, als sie etwas am Hinterkopf streifte. Sie wandte sich schwankend zu Elayne um. Warum hatte sie sie geschlagen? Aber Elayne lag zusammengesunken am Boden, und eine häßliche, purpurfarbene Beule bildete sich an ihrer Schläfe. Nynaeve sank auf die Knie und barg die Freundin in ihren Armen.
»Eure Freundin muß ohnmächtig geworden sein«, sagte eine Frau mit langer Nase, die sich ungeachtet ihres gelben Gewandes, das selbst nach Ebou-Dari-Maßstäben weitaus zuviel Busen zeigte, neben sie kniete. »Laßt mich Euch helfen.«
Ein großer, in seiner bestickten Seidenweste gutaussehender Bursche mit einem allerdings eher schmierigen Grinsen beugte sich herab und legte eine Hand auf Nynaeves Schulter. »Ich habe eine Kutsche hier. Wir bringen Euch an einen Ort, wo Ihr es bequemer habt als hier auf den Pflastersteinen.«
»Geht nur«, beschied Nynaeve den beiden höflich. »Wir brauchen keine Hilfe.«
Der Mann versuchte jedoch weiterhin, sie zum Aufstehen zu bewegen und zu einer roten Kutsche zu geleiten, in der eine bestürzt wirkende Frau in Blau heftig winkte. Und die Frau mit der langen Nase versuchte wahrhaftig, Elayne hochzuheben, dankte dem Mann für seine Hilfe und flötete, welch gute Idee der Gedanke mit der Kutsche sei. Eine Zuschauermenge hatte sich, anscheinend aus dem Nichts, zu einem Halbkreis versammelt, Frauen, die leise Mitgefühl dafür äußerten, in der Hitze ohnmächtig zu werden, und Männer, die sich anerboten, die Damen tragen zu helfen. Ein hagerer, überaus dreister Bursche griff vor Nynaeves Augen nach ihrer Geldbörse.
Sie fühlte sich noch immer so benommen, daß das Umarmen Saidars schwierig war, aber auch wenn all diese plappernden Leute um sie herum ihren Zorn nicht genährt hätten, hatte das, was sie auf der Straße liegen sah, es getan. Ein Pfeil mit einer stumpfen Steinspitze. Derjenige, der sie gestreift, oder derjenige, der Elayne getroffen hatte. Sie lenkte die Macht, und der hagere Taschendieb beugte sich vornüber, umklammerte seinen Leib und quiekte wie ein Schwein im Dornbusch. Ein weiterer Strang, und die Frau mit der langen Nase fiel mit einem doppelt so schrillen Schrei hintenüber. Der Mann in der Seidenweste entschied offensichtlich, daß sie seine Hilfe doch nicht benötigten, denn er wandte sich um und lief zur Kutsche, aber sie verpaßte ihm dennoch eine Abreibung. Er brüllte lauter als ein zorniger Stier, während die Frau in der Kutsche ihn an der Weste hereinzog.
»Danke, aber wir brauchen keine Hilfe«, rief Nynaeve höflich.
Nur wenige waren geblieben, die es noch hören konnten. Als deutlich wurde, daß die Eine Macht gebraucht wurde - und daß Menschen plötzlich umhersprangen und aus keinem ersichtlichen Grund schrien, machte es den meisten überdeutlich -, eilten sie davon. Die Frau mit der langen Nase rappelte sich hoch, sprang auf die rote Kutsche und klammerte sich unsicher daran, während der Kutscher in seiner dunklen Weste die Pferde mit Peitschenhieben durch die Menge drängte, so daß die Menschen beiseite springen mußten. Sogar der Taschendieb humpelte davon, so schnell er konnte.
Nynaeve hatte es nicht weniger gekümmert, wenn sich die Erde aufgetan und alle verschlungen hätte. Mit schmerzender Brust ließ sie vermischte dünne Stränge Wind und Wasser, Erde, Feuer und Geist durch Elayne fließen. Es war ein einfaches Gewebe, das trotz ihrer Schwäche und Benommenheit leicht zu gestalten war, und das Ergebnis ließ sie aufatmen. Es war keine ernstliche Verletzung. Elaynes Schädel war nicht gebrochen. Normalerweise hätte sie die Stränge in weitaus kompliziertere Gewebe umgeleitet, in die Heilung, die sie selbst entdeckt hatte. Aber im Moment konnte sie nur einfachere Gewebe gestalten. Nur mit Geist, Wind und Wasser wob sie die Heilung, welche die Gelben schon seit undenklichen Zeiten benutzt hatten.
Elayne riß die Augen auf und krampfte sich mit einem Keuchen, das ihr allen Atem zu nehmen schien, zusammen, während ihre Fersen auf dem Pflaster aufschlugen. Dies dauerte nur einen Moment, aber währenddessen schrumpfte die Beule und verschwand.
Nynaeve half ihr auf - und die Hand einer Frau mit einem Zinnbecher voll Wasser schob sich zwischen sie. »Selbst eine Aes Sedai ist nach einem solchen Erlebnis durstig«, sagte die Näherin.
Elayne griff nach dem Becher, aber Nynaeve umschloß ihr Handgelenk. »Nein, danke.« Die Frau zuckte die Achseln, und als sie sich abwandte, sagte Nynaeve in verändertem Tonfall noch einmal; »Danke.« Es schien leichter über die Lippen zu gehen, je häufiger man es sagte. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel.
Das Meer aus Spitze wurde angehoben, als die Näherin abermals die Achseln zuckte. »Ich fertige Kleidung für jedermann. Ich kann Euch eine bessere Farbwahl empfehlen als die Eure.« Sie verschwand wieder in ihrem Laden. Nynaeve sah ihr stirnrunzelnd nach.
»Was ist passiert?« fragte Elayne. »Warum wolltest du mich nicht trinken lassen? Ich bin durstig und hungrig.«
Mit einem letzten finsteren Blick hinter der Näherin her beugte sich Nynaeve herab, um den Pfeil aufzuheben.
Elayne brauchte keine weiteren Erklärungen. Saidar schimmerte sie sofort ab. »Teslyn und Joline?«
Nynaeve schüttelte den Kopf. Die leichte Benommenheit schien zu schwinden. Sie glaubte nicht, daß diese beiden sich zu so etwas herablassen würden. Sie glaubte es einfach nicht. »Was ist mit Reanne?« fragte sie ruhig. Die Näherin hatte sich, noch immer hoffnungsvoll, wieder in den Eingang ihres Ladens gestellt. »Vielleicht will sie sich vergewissern, daß wir wirklich gehen. Oder noch schlimmer - vielleicht Garenia.« Das war fast so erschreckend, als wenn es Teslyn und Joline gewesen wären. Und weitaus ärgerlicher.
Elayne sah sogar im Zorn hübsch aus. »Wer auch immer es war, wir werden es herausfinden, du wirst sehen. Nynaeve, wenn der Zirkel weiß, wo sich die Schale befindet, können wir sie finden, aber...« Sie biß sich zögernd auf die Lippe. »Ich weiß nur einen Weg, wie wir sichergehen können.«
Nynaeve nickte langsam, obwohl sie lieber eine Handvoll Staub gegessen hätte. Der heutige Tag war ihr anfangs so heiter erschienen, aber dann hatte sich Düsterkeit auf ihn gelegt, von Reanne zu... Oh, Licht, wie lange würde es noch dauern, bis sie ihr graues Haar hatte?
»Weine nicht, Nynaeve. Mat kann nicht so schlecht sein. Er wird sie in wenigen Tagen für uns finden, ich weiß es.«
Nynaeve weinte nur noch heftiger.