1 Hoch Chasaline

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er hervorgegangen ist. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, erhob sich in dem großen, Braem Wald genannten Wald ein Wind. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rads der Zeit kein Anfang oder Ende. Aber es war ein Anfang.

Während die sengende Sonne an einem wolkenlosen Himmel höherstieg, blies der Wind im Norden und Osten durch ausgedörrte Bäume mit braunen Blättern und kahlen Zweigen und durch verstreut liegende Dörfer, in denen die Luft von der Hitze flimmerte. Der Wind brachte keine Erleichterung, kein Anzeichen von Regen und noch viel weniger von Schnee. Er blies im Norden und Osten, um einen sehr alten Bogen aus kunstvoll bearbeitetem Stein, der, wie einige behaupteten, einst ein Wegetor zu einer großen Stadt gewesen war, und an anderen Monumenten einer lange vergessenen Schlacht entlang. Nur verwitterte, unleserliche Überreste einer Inschrift waren auf den wuchtigen Steinen verblieben, die stumm an den verlorenen Ruhm des sagenumwobenen Coremanda erinnerten. Nur wenige Wagen rollten in Sichtnähe des Bogens vorüber, die Straße von Tar Valon entlang, und Menschen zu Fuß schirmten ihre Augen gegen den von Hufen und Wagenrädern aufgewirbelten und vom Wind vorangetriebenen Staub ab. Die meisten wußten nicht, wohin sie gingen, nur daß die Welt Purzelbäume zu schlagen schien und alle Ordnung endete, wo sie nicht bereits vergangen war. Angst trieb einige weiter, während andere von etwas angezogen wurden, was sie noch nicht deutlich erkennen und nicht verstehen konnten, und auch von ihnen hatten die meisten Angst.

Der Wind zog weiter, über den graugrünen Fluß Erinin, verfolgte Schiffe, die nordwärts und südwärts noch immer Handel trieben, weil selbst in dieser Zeit Handel getrieben werden mußte, obwohl niemand genau zu sagen vermochte, wo man dies sicher tun konnte. Östlich des Flusses begannen die Wälder lichter zu werden und gingen schließlich in wogende, mit braunem, zundertrockenem Gras bedeckte und spärlich mit kleinen Ansammlungen von Bäumen gesprenkelte Hügel über. Auf einem dieser Hügel stand ein Kreis von Wagen, von denen viele versengt oder von den Eisenrädern aufwärts vollkommen verbrannt waren. An einem behelfsmäßigen Flaggenmast, der aus einem jungen, durch die Dürre abgestorbenen Baum geschnitten und an ein kahles Wagenrad gebunden worden war, damit er höher aufragte, wehte ein karmesinrotes Banner mit einer schwarzweißen Scheibe in der Mitte. Das Banner des Lichts, nannten es einige, oder auch al'Thors Banner. Andere wußten es unheilvoller zu benennen und erzitterten, wenn sie den Namen flüsternd aussprachen. Der Wind zerrte heftig an dem Banner und verwehte schnell, als wäre er froh davonzukommen.

Perrin Aybara saß auf dem Boden, den breiten Rücken an ein Wagenrad gelehnt, und wünschte, der Wind würde bleiben. Er hatte einen Moment Kühle gebracht und den Geruch des Todes aus seiner Nase vertrieben, ein Geruch, der ihn daran erinnerte, wo er sein sollte - der letzte Ort, an dem er sein wollte. Hier war es viel besser, innerhalb des Wagenkreises, den Rücken nach Norden gewandt, so daß er in gewisser Weise vergessen konnte. Die unbeschädigten Wagen waren gestern nachmittag auf den Hügelkamm hinaufgezogen worden, als die Männer wieder genug Kraft gesammelt hatten, um mehr zu tun, als nur dem Licht zu danken, daß sie noch atmeten. Jetzt stieg die Sonne erneut auf und damit auch die Hitze.

Perrin kratzte sich verärgert den kurzgeschorenen Bart. Je mehr er schwitzte, desto mehr juckte es ihn. Schweiß lief alle Gesichter in seiner Nähe außer denen der Aiel herab, und Wasser gab es erst eine Meile nördlich von ihnen. Aber auch das Entsetzen und der Gestank lagen fast eine Meile nördlich. Die meisten hielten es für einen fairen Handel. Er hätte seine Pflicht erfüllen sollen, und doch beeinträchtigte ihn das vage Schuldgefühl nicht. Heute war Hoch Chasaline, und zu Hause in den Zwei Flüssen würde den ganzen Tag gefeiert und die ganze Nacht getanzt werden. Es war der Tag der Besinnung, an dem man sich all der guten Dinge im Leben erinnern sollte, und jedermann, der eine Klage äußerte, mußte damit rechnen, einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet zu bekommen, um das Pech fortzuspülen. Das wünschte man sich nicht, wenn es so kalt war, wie es sein sollte. Jetzt wäre ein Eimer Wasser allerdings eine Wohltat. Es fiel ihm für einen Mann, der glücklich sein konnte, noch am Leben zu sein, ungewöhnlich schwer, gute Gedanken heraufzubeschwören. Er hatte gestern einiges über sich gelernt. Oder vielleicht eher heute morgen, nachdem alles vorbeigewesen war.

Er konnte noch immer einige der Wölfe spüren, eine Handvoll jener, die überlebt hatten und sich jetzt auf dem Weg an einen anderen Ort befanden, weit fort von hier, weit von den Menschen fort. Die Wölfe waren im Lager noch immer ein Gesprächsthema, Gegenstand unbehaglicher Vermutungen darüber, woher sie gekommen waren und warum. Einige glaubten, Rand hätte sie gerufen. Die meisten dachten, daß es die Aes Sedai gewesen wären. Die Aes Sedai äußerten nicht, was sie dachten. Von den Wölfen kam kein Tadel - was geschehen war, war geschehen -, aber er konnte es ihnen in ihrem Schicksalsglauben nicht gleichtun. Sie waren gekommen, weil er sie gerufen hatte. Seine Schultern, die ausreichend breit waren, ihn kleiner erscheinen zu lassen, als er war, sanken unter der Last der Verantwortung herab. Er hörte hier und da Wölfe in die Ferne, verächtlich mit jenen sprechen, die gekommen waren: Das kam davon, wenn man sich mit den Zweibeinern einließ. Nichts anderes war zu erwarten gewesen.

Es kostete ihn Mühe, seine Gedanken für sich zu behalten. Er wollte den sich verächtlich äußernden Wölfen mit einem Wolfsgeheul zustimmen. Er wollte zu Hause sein, in den Zwei Flüssen. Die Aussicht, daß er die Heimat jemals Wiedersehen würde, war gering. Er wollte bei seiner Frau sein, gleichgültig wo, und er wollte, daß alles wieder so sein sollte, wie es gewesen war. Auch diese Chance schien kaum besser, wenn nicht noch schlechter. Noch mehr als die Sehnsucht nach seinem Zuhause und sogar mehr als der Gedanke an die Wölfe nagte die Sorge um Faile an ihm. Sie hatte tatsächlich den Eindruck erweckt, froh zu sein, daß er Cairhien verließ. Was sollte er wegen ihr unternehmen? Er konnte nicht ausdrücken, wie sehr er seine Frau liebte und sie brauchte, aber sie war grundlos eifersüchtig und verletzt und verärgert, obwohl er nichts getan hatte. Er mußte etwas unternehmen, aber was? Er fand keine Antwort. Er konnte nur gründlich darüber nachdenken, warum Faile zornig war.

»Die Aiel sollten Tücher über sie decken«, murrte Aram und blickte stirnrunzelnd zu Boden. Er kauerte in Perrins Nähe und hielt geduldig die Zügel eines schlanken, grauen Wallachs fest. Aram entfernte sich selten weit von Perrin. Das auf seinem Rücken befestige Schwert verursachte auf seinem grüngestreiften Umhang mißtönende Geräusche. Ein zusammengerolltes, um seine Stirn gebundenes Tuch hielt den Schweiß von seinen Augen fern. Perrin hatte früher gedacht, daß Aram für einen Mann fast zu gut aussah. Jedoch hatte sich inzwischen freudlose Dunkelheit in ihm breitgemacht, und er runzelte jetzt sehr häufig die Stirn. »Es ist nicht anständig, Lord Perrin.«

Perrin schob die Gedanken an Faile widerwillig beiseite. Er würde beizeiten eine Lösung finden. Er mußte eine Lösung finden. Irgendwie. »Es ist ihre Art, Aram.«

Aram verzog das Gesicht, als wolle er ausspucken. »Nun, es ist keine anständige Art. Es hilft ihnen vermutlich die Kontrolle zu bewahren, aber es ist nicht anständig.«

Natürlich waren hier überall Aiel. Große, zurückhaltende Menschen in Grau und Braun und Grün gekleidet, die nur durch den scharlachroten Tuchstreifen mit der schwarzweißen Scheibe um ihre Stirn ein wenig Farbe zeigten. Sie nannten sich Siswai'aman. Dieses Wort erweckte manchmal eine Erinnerung in Perrin, als sollte er es kennen. Wenn man einen der Aielmänner fragte, tat er so, als rede man Unsinn. Aber andererseits ignorierten sie die Stoffstreifen ebenfalls. Keine Tochter des Speers trug ein scharlachrotes Stirnband. Alle Töchter des Speers, ob weißhaarig oder kaum alt genug, die Mutter zu verlassen, gingen umher und warfen den Siswai'aman herausfordernde Blicke zu, die irgendwie selbstzufrieden wirkten, während die Männer diese Blicke ausdruckslos erwiderten und einen annähernd hungrigen Geruch ausströmten - so wie sie alle rochen, eine Sache der Eifersucht, wenn Perrin sich auch nicht annähernd vorstellen konnte weshalb. Was auch immer es war -es war nicht neu, und es schien nicht sehr wahrscheinlich, daß es zu Handgreiflichkeiten führen würde. Einige der Weisen Frauen befanden sich ebenfalls bei den Wagen, in bauschigen Röcken und weißen Blusen und trotz der Hitze mit ihren dunklen Stolen und glitzernden Armbändern und Halsketten aus Gold und Elfenbein, die ihre einfache Kleidung aufwogen. Einige schienen die Töchter des Speers und die Siswai'aman und andere Erzürnte belustigend zu finden. Aber sie alle - Weise Frauen, Töchter des Speers und Siswai'aman -ignorierten die Shaido auf eine Weise, wie Perrin einen Stuhl oder einen Teppich ignoriert hätte.

Die Aiel hatten gestern ungefähr zweihundert Shaido gefangengenommen, Männer und Töchter des Speers - was nicht viele waren, wenn man die Gesamtzahl bedachte -, die jetzt mehr oder weniger frei umhergingen. Perrin hätte sich erheblich besser gefühlt, wenn sie bewacht worden und bekleidet gewesen wären. Statt dessen holten sie Wasser und machten Besorgungen - nackt wie am Tage ihrer Geburt. Anderen Aiel gegenüber gaben sie sich äußerst sanftmütig. Jedermann sonst, der sie bemerkte, wurde mit einem stolzen und trotzigen Blick bedacht. Perrin versuchte nicht als einziger, sie nicht zu bemerken, und Aram murrte nicht als einziger. Ein Großteil der Leute von den zwei Flüssen im Lager tat entweder das eine oder das andere. Einen Großteil der Cairhiener traf fast der Schlag, wann immer sie eine der Shaido erblickten. Die Mayener schüttelten nur die Köpfe, als sei das alles ein Spaß, und machten den Frauen schöne Augen. Sie waren genauso schamlos wie die Aiel.

»Gaul hat es mir erklärt, Aram. Du weißt doch, was ein Gai'shain ist. Und du weißt vom Ji'e'toh und dem Dienst für ein Jahr und einen Tag und alledem.« Der andere Mann nickte, was gut war, Perrin wußte selbst nicht viel darüber. Gauls Erklärungen über die Art der Aiel verwirrten ihn häufig nur noch mehr, während Gaul stets alles für offensichtlich hielt. »Nun, Gai'shain dürfen nichts tragen, was vielleicht einer der Algai'd'siswai tragen könnte. Algai'd'siswai bedeutet Speerkämpfer«, fügte er auf Arams verständnislosen Gesichtsausdruck hinzu. Plötzlich bemerkte er, daß er eine der Shaido offen ansah, die in seine Richtung lief, eine große junge Frau mit blondem Haar und trotz langen dünnen Narben auf der Wange und weiteren Narben hübsch. Sehr hübsch und sehr nackt. Er räusperte sich heftig und wandte den Blick gewaltsam ab. Er spürte, wie sein Gesicht glühte. »Wie dem auch sei, darum sind sie, wie sie sind. Gai'shain tragen weiße Gewänder, aber hier haben sie keine. Es ist einfach ihre Art.« Verdammt seien Gaul und seine Erklärungen, dachte er. Sie könnten sich wenigstens

mit etwas bedecken!

»Perrin Goldaugen«, sagte eine Frauenstimme, »Carahuin schickt mich, um zu fragen, ob Ihr Wasser wünscht.« Arams Gesicht wurde purpurrot, und er wandte ihr in seiner kauernden Haltung ruckartig den Rücken zu.

»Nein, danke.« Perrin brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, daß es die blonde Shaido-Frau war. Aiel hatten einen eigenartigen Sinn für Humor, und Töchter des Speers - Carahuin war eine Tochter des Speers - besaßen den eigenartigsten von allen.

Sie hatten schnell gemerkt, wie die Feuchtländer auf die Shaido reagierten - sie hätten blind sein müssen, um es nicht zu merken -, und plötzlich wurden ständig Gai'shain zu Feuchtländern geschickt, und die Aiel amüsierten sich über ihr Erröten und Stammeln. Perrin war sich sicher, daß Carahuin und ihre Freunde sie jetzt beobachteten. Dies war mindestens das zehnte Mal, daß eine der Gai'shain-Frauen geschickt worden war, ihn zu fragen, ob er Wasser wolle oder einen Schleifstein übrig habe oder ähnlich törichte Dinge.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Die Mayener störten sich an solchen Dingen selten. Eine Handvoll Cairhiener genossen einfach das Hinsehen, wenn auch nicht so offen wie die Mayener, sowie einige der älteren Männer von den Zwei Flüssen, die es hätten besser wissen müssen. Tatsache war, daß keiner von ihnen eine zweite vergebliche Nachricht erhalten hatte, von der er wüßte. Diejenigen, die am heftigsten reagieren wiederum... Die Cairhiener, die am lautesten von Unanständigkeit gesprochen hatten, und zwei oder drei der jüngeren Männer von den Zwei Flüssen, die so stark stotterten und erröteten, daß sie im Boden zu versinken schienen, waren belästigt worden, bis sie ganz von den Wagen flohen...

Perrin blickte der Gai'shain mühsam ins Gesicht. In die Augen. Konzentriere dich auf ihre Augen, dachte er panisch. Sie waren grün und groß und überhaupt nicht sanftmütig. Sie roch nach reinem Zorn. »Richtet Carahuin meinen Dank aus, und sagt ihr außerdem, daß Ihr mir meinen Ersatzsattel einölen könnt, wenn sie nichts dagegen hat. Und ich habe kein sauberes Hemd mehr. Vielleicht hätte sie nichts dagegen, wenn Ihr ein wenig Wäsche für mich wascht?«

»Sie wird nichts dagegen haben«, sagte die Frau mit angespannter Stimme, wandte sich dann um und schritt davon.

Perrin rieb sich heftig die Augen, aber das Bild blieb in seinem Kopf bestehen. Licht, Aram hatte recht! Aber mit etwas Glück hatte er weitere Besuche vielleicht gerade unterbunden. Er würde Aram und die Männer von den Zwei Flüssen darauf hinweisen müssen. Und vielleicht würden auch die Cairhiener zuhören.

»Was machen wir mit ihnen, Lord Perrin?« Aram blieb noch immer abgewandt und sprach nicht mehr über die Gai'shain.

»Das muß Rand entscheiden«, erwiderte Perrin zögernd, und seine Zufriedenheit schwand wieder. Es war vielleicht seltsam, Menschen, die nackt umhergingen, als geringfügiges Problem anzusehen, aber dies war entschieden ein größeres Problem. Und eines, das er genauso bewußt gemieden hatte wie das, was ihm im Norden bevorstand.

Auf der anderen Seite des Wagenkreises saßen fast zwei Dutzend Frauen auf dem Boden. Sie trugen alle gute Reisekleidung, viele in Seide, die meisten mit leichten Leinenstaubmänteln, aber keine Schweißperle war auf den Gesichtern zu erkennen. Drei Frauen schienen ausreichend jung, daß er sie um einen Tanz hätte bitten können, bevor er Faile geheiratet hatte.

Und wenn sie außerdem keine Aes Sedai wären, dachte er. Er hatte einst mit einer Aes Sedai getanzt und dann vor Schreck fast seine Zunge verschluckt, als er erkannte, wen er herumschwang, obwohl sie eine Freundin gewesen war, wenn man diese Bezeichnung auf eine Aes Sedai anwenden konnte. Wie muß eine Aes Sedai in meinen Augen sein, damit ich ihr ein Alter zumessen kann? Die anderen wirkten natürlich alterslos, waren vielleicht in den Zwanzigern, vielleicht in den Vierzigern, was sich von einem Blick zum nächsten zu verändern schien und stets eine unsichere Schätzung war. Das vermittelten die Gesichter, auch wenn das Haar mehrerer Frauen bereits von Grau durchzogen war. Man konnte nichts Genaues über Aes Sedai sagen, in keiner Beziehung.

»Zumindest bedeuten sie jetzt keine Gefahr mehr«, sagte Aram, während er den Kopf ruckartig zu dreien der Schwestern wandte, die ein Stück von den anderen entfernt saßen.

Eine weinte, den Kopf auf den Knien. Die anderen beiden blickten verhärmt ins Leere, wobei eine der beiden mechanisch an ihrem Rock zupfte. So ging es schon seit gestern, aber wenigstens schrie keine der Frauen mehr. Wenn Perrin richtig vermutete, waren sie irgendwie gedämpft worden, als Rand freikam. Sie würden die Eine Macht niemals wieder lenken. Für Aes Sedai war es wahrscheinlich besser, tot zu sein.

Er hätte erwartet, daß die anderen Aes Sedai sie trösten, sich irgendwie um sie kümmern würden, aber die meisten ignorierten die drei vollkommen, wenn sie auch ein wenig zu bemüht überall und nirgends hinschauten. Außerdem ignorierten auch die gedämpften Aes Sedai die anderen. Zumindest zu Anfang hatten sich ihnen einige Aes Sedai genähert, jede einzeln, äußerlich ruhig, aber deutlich nach Abneigung und Widerwillen riechend, jedoch bewirkten ihre Bemühungen weder Ansprache noch Blicke. Heute morgen hatte sich ihnen keine weitere Aes Sedai mehr genähert.

Perrin schüttelte den Kopf. Die Aes Sedai schienen vieles zu ignorieren, was sie nicht zugeben wollten. Zum Beispiel die schwarz gewandeten Männer, die über ihnen standen. Jede Schwester wurde von jeweils einem Asha'man bewacht, auch die drei, die gedämpft worden waren, und sie schienen niemals auch nur zu blinzeln. Sie schauten an den Asha'man vorbei oder durch sie hindurch. Sie hätten genausogut nicht existieren können.

Es war eine gute List. Er selbst konnte die Asha'man nicht einfach übersehen, und er stand nicht unter ihrer Bewachung. Unter ihnen befanden sich sowohl Jungen mit Flaum auf den Wangen als auch grauhaarige, bereits kahl werdende Männer, und es lag nicht an ihren bedrohlich wirkenden schwarzen Umhängen mit den hohen Kragen oder dem Schwert, das jeder von ihnen an der Hüfte trug, daß sie gefährlich wirkten. Alle Asha'man konnten die Macht lenken, und irgendwie hinderten sie die Aes Sedai daran, dies ebenfalls zu tun. Männer, die die Eine Macht lenken konnten - ein Alptraum. Rand hatte das Talent natürlich auch, aber er war Rand, und außerdem der Wiedergeborene Drache.

Diese Burschen ließen Perrin die Haare zu Berge stehen.

Die überlebenden Behüter der gefangenen Aes Sedai saßen unter eigener Bewachung ein Stück entfernt. Es waren ungefähr dreißig der Waffenträger Lord Dobraines mit glockenförmigen cairhienischen Helmen und genauso viele Mayener mit roten Brustharnischen, ein jeder äußerst aufmerksam. Das war unter den gegebenen Umständen eine vorteilhafte Einstellung. Es waren mehr Behüter als Aes Sedai da. Einige der Gefangenen gehörten anscheinend zur Grünen Ajah. Aber es waren auch mehr Wächter als Behüter da, weitaus mehr, und vielleicht dennoch zu wenige.

»Das Licht gebe, daß wir nicht noch mehr solchen Kummer miterleben müssen«, murmelte Perrin. Die Behüter hatten während der Nacht zweimal versucht auszubrechen. Tatsächlich waren diese Ausbrüche eher von den Asha'man als von den Cairhienern oder den Mayenern vereitelt worden, und sie waren nicht sanft vorgegangen. Keiner der Behüter war getötet worden, aber mindestens ein Dutzend erlitten Brüche, die keine der Schwestern bis jetzt hatte Heilen dürfen.

»Wenn der Lord Drache keine Entscheidung treffen kann«, sagte Aram leise, »sollte sie vielleicht von jemand anderem getroffen werden. Um ihn zu schützen.«

Perrin sah ihn von der Seite an. »Welche Entscheidung? Die Schwestern haben ihnen gesagt, daß sie keinen weiteren Versuch unternehmen sollen, und sie werden ihren Aes Sedai gehorchen.« Ob mit oder ohne gebrochene Knochen, unbewaffnet und mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen, die Behüter wirkten noch immer wie ein Rudel Wölfe, das auf den Angriffsbefehl des Rudelführers wartete. Keiner von ihnen würde zur Ruhe kommen, bis seine Aes Sedai frei war, und vielleicht sogar bis alle Schwestern frei waren. Aes Sedai und Behüter waren wie ein Stapel gut gealtertes Eichenholz: bereit, entflammt zu werden. Aber selbst die Behüter und die Aes Sedai hatten sich nicht als den Asha'man ebenbürtig erwiesen.

»Ich meine nicht die Behüter.« Aram zögerte, schlurfte dann näher an Perrin heran und senkte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Die Aes Sedai haben den Lord Drache entführt. Er kann ihnen nicht trauen, nie mehr, aber er wird auch nicht tun, was er tun muß. Wenn sie stürben, bevor er davon wüßte...«

»Was sagt Ihr da?« Perrin verschluckte sich fast, während er sich kerzengerade aufsetzte. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob in Aram noch etwas von dem ehemaligen Kesselflicker zurückgeblieben war.

»Sie sind hilflos, Aram! Wehrlose Frauen!«

»Sie sind Aes Sedai.« Die dunklen Augen hielten Perrins Blick stand. »Man kann ihnen nicht trauen, und man kann sie nicht laufen lassen. Aber wie lange kann man Aes Sedai gegen ihren Willen festhalten? Sie gehen ihrer Art schon weitaus länger nach als die Asha'man. Sie müssen mehr wissen. Sie sind eine Gefahr für den Lord Drache, und für Euch, Lord Perrin. Ich habe bemerkt, wie sie Euch ansehen.«

Jenseits des Wagenkreises sprachen die Schwestern so leise miteinander, daß selbst Perrin es nicht verstehen konnte. Hin und wieder schaute eine der Frauen zu ihm und Aram. Oder nur zu ihm. Er hatte einige Namen aufgeschnappt. Nesune Bihara. Erian Boroleos und Katerine Alruddin. Coiren Saeldain, Sarene Nemdahl und Elza Penfell. Jaine Pavlara, Beldeine Nyram, Marith Riven. Jene letzteren waren die jungen Schwestern, aber ob jung oder alterslos -sie beobachteten ihn mit solch ernsten Gesichtern, daß es schien, als hätten sie und nicht die Asha'man die Oberhand. Es war nicht leicht, Aes Sedai zu besiegen. Und es war völlig unmöglich, sie dazu zu bringen, eine Niederlage zuzugeben.

Perrin zwang sich, die Hände ruhig auf die Knie zu legen und den Anschein einer Ruhe zu erwecken, die er nicht im mindesten empfand. Sie wußten, daß er ein Ta'veren war, einer jener wenigen, um die sich das Muster einige Zeit herum gestaltete. Noch schlimmer war, daß sie wußten, daß er auf gewisse Weise, die niemand verstand - am wenigsten er selbst oder Rand oder Mat - an Rand gebunden war. Mat war auch darin verstrickt, ein weiterer Ta'veren, wenn sie auch beide nicht so stark waren wie Rand. Wenn jene Frauen auch nur die geringste Chance bekämen, würden sie ihn - und Mat - so schnell in die Weiße Burg schaffen, wie sie Rand dorthin schaffen wollten, gebunden wie Ziegen, bis der Löwe käme. Und sie hatten Rand entführt und mißhandelt. Aram hatte in einem recht: Man konnte ihnen nicht trauen. Aber er würde Arams Vorschlag nicht unterstützen. Der Gedanke ließ ihn sich unbehaglich fühlen.

»Ich will nichts mehr davon hören«, grollte er. Der einstige Kesselflicker öffnete den Mund, aber Perrin schnitt ihm das Wort ab. »Kein Wort mehr, Aram, hört Ihr mich? Kein einziges Wort!«

»Wie Mylord Perrin befiehlt«, murmelte Aram und neigte den Kopf.

Perrin wünschte, er könnte das Gesicht des Mannes sehen. Er roch nicht zornig, sondern nur verstimmt. Das war das Schlimmste daran. Aram hatte auch nicht zornig gerochen, als er den Mord vorschlug.

Zwei Männer von den Zwei Flüssen stiegen auf die Räder des nächststehenden Wagens und spähten über den Wagenboden den Hügel in Richtung Norden hinab. Sie trugen beide einen prall gefüllten Köcher an der rechten Hüfte und einen wuchtigen Dolch mit langer Klinge - fast ein Kurzschwert - an der linken. Gut dreihundert Mann aus der Heimat waren Perrin hierher gefolgt. Er verfluchte den ersten, der ihn Lord Perrin genannt hatte, und verfluchte den Tag, an dem er den Versuch aufgegeben hatte, dies zu unterbinden. Er hatte selbst bei dem in einem Lager dieser Größe üblichen Gemurmel und Lärm keine Schwierigkeiten, die beiden zu hören.

Tod al'Caar, ein Jahr jünger als Perrin, seufzte tief, als sehe er das, was unter ihnen lag, zum ersten Mal. Perrin konnte den Kiefer des schlaksigen Mannes fast arbeiten spüren. Tods Mutter hatte ihn nur bereitwillig gehen lassen, weil es eine Ehre für ihren Sohn war, Perrin Goldaugen folgen zu dürfen. »Ein ruhmreicher Sieg«, sagte Tod schließlich. »Den haben wir errungen. Stimmt's nicht, Jondyn?«

Der grauhaarige Jondyn Barran, der knorrig wie eine Eichenwurzel wirkte, war einer der wenigen älteren Männer unter den dreihundert Kämpfern. Er war ein besserer Bogenschütze als jeder andere Mann in den Zwei Flüssen außer Meister al'Thor und ein besserer Jäger als überhaupt jeder andere. Jondyn hatte, seit er alt genug gewesen war, den Bauernhof seines Vaters zu verlassen, keinen Tag mehr gearbeitet, als er mußte. Er interessierte sich nur für die Wälder und die Jagd - und dafür, an Festtagen zuviel zu trinken. Jetzt spie er geräuschvoll aus. »Wenn du das sagst, Junge. Irgendwie haben ihn diese verdammten Asha'man errungen. Und ich sage, es ist gut so. Aber zu schade, daß sie den Sieg nicht woanders feiern.«

»Sie sind nicht so schlimm«, widersprach Tod. »Ich hätte nichts dagegen, selbst einer zu sein.« Das klang eher nach Angabe als nach der Wahrheit. Es roch auch eher so. Perrin war sich, ohne hinzusehen, sicher, daß sich Tod die Lippen leckte. Tods Mutter hatte die Geschichte der Männer, die die Macht lenken konnten, wahrscheinlich noch vor gar nicht allzu langer Zeit dazu benutzt, ihn zu ängstigen. »Ich meine, Rand -das heißt, der Wiedergeborene Drache... Klingt es nicht immer noch seltsam, daß Rand al'Thor der Wiedergeborene Drache ist?« Tod lachte, ein kurzer, unbehaglicher Laut. »Nun, er kann die Macht lenken, und es scheint nicht so ... er tut nicht ... ich meine...« Er schluckte hörbar. »Außerdem, was hätten wir ohne sie gegen alle diese Aes Sedai ausrichten können?« Letzteres war nur noch ein Flüstern, und er roch jetzt ängstlich. »Jondyn, was werden wir tun? Ich meine, mit den gefangenen Aes Sedai?«

Der alte Mann spie erneut und noch geräuschvoller als zuvor aus. Er machte sich nicht die Mühe, seine Stimme ebenfalls zu senken. Jondyn sagte stets, was er dachte, gleichgültig wer es hören konnte - ein weiterer Grund für seinen schlechten Ruf. »Es wäre besser für uns gewesen, wenn sie gestern alle gestorben wären, Junge. Wir werden dafür bezahlen, bevor es vorbei ist. Merk dir meine Worte, wir werden teuer bezahlen.«

Perrin schloß den Rest aus, was bei seinem Hörvermögen keine leichte Aufgabe war. Zuerst Aram und jetzt Jondyn und Tod, wenn auch nicht ganz so direkt. Verdammter Jondyn! Nein, wenn er diese Gedanken aussprach, dachten andere wohl genauso. Kein Mann von den Zwei Flüssen würde einer Frau bereitwillig Schaden zufügen, aber wer wollte die gefangenen Aes-Sedai noch tot sehen? Und wer könnte versucht sein, den Wunsch zu erfüllen?

Er suchte unbehaglich den Wagenkreis ab. Es war kein erfreulicher Gedanke, die gefangenen Aes Sedai vielleicht beschützen zu müssen, aber er würde sich nicht davor drücken. Er mochte keine Aes Sedai besonders und am wenigsten diese hier, aber er war mit der unausgesprochenen Sicherheit aufgewachsen, daß ein Mann zum Schutz einer Frau soviel riskieren sollte, wie sie zuließ. Und dabei war es unwichtig, ob er sie mochte oder auch nur kannte. Es stimmte, daß eine Aes Sedai einen Mann auf vielerlei Art lenken konnte, aber wenn sie erst von der Macht abgeschnitten war, wurde sie wie jedermann sonst. Das war der Konflikt, der in ihm aufstieg, wann immer er sie ansah. Zwei Dutzend Aes Sedai. Zwei Dutzend Frauen, die vielleicht nicht wußten, wie sie sich ohne die Macht verteidigen sollten.

Er beobachtete die Asha'man-Wächter eine Weile, deren jeder grimmig wie der Tod dreinschaute - bis auf die drei, die die gedämpften Frauen beaufsichtigten, die zwar versuchten, genauso düster wie die anderen zu wirken, bei denen aber unterschwellig noch etwas anderes zu spüren war. Vielleicht Befriedigung. Wenn er ihnen nur nahe genug wäre, um ihren Geruch aufzunehmen. Jede Aes Sedai bedeutete für die Asha'man eine Bedrohung. Aber vielleicht traf auch das Gegenteil zu. Vielleicht würden sie sie nur dämpfen. Von dem wenigen, was er aufgeschnappt hatte, wußte Perrin, daß eine Aes Sedai zu dämpfen einer über Jahre hinweg andauernden Tötung gleichkam.

Er beschloß widerwillig, daß er, wie auch immer der Fall gelagert war, die Asha'man Rand überlassen mußte. Sie sprachen nur miteinander und mit den Gefangenen, und Perrin bezweifelte, daß sie jemand anderem als Rand zuhören würden. Die Frage war, was Rand sagen würde. Und was konnte Perrin tun, wenn er das Falsche sagte?

Er verdrängte dieses Problem und kratzte sich mit einem Finger den Bart. Die Cairhiener waren in der Nähe der Aes Sedai zu ängstlich, um auch nur zu erwägen, ihnen Schaden zuzufügen, und die Mayener waren zu respektvoll, aber er würde sie dennoch im Auge behalten. Wer hätte gedacht, daß Jondyn so weit gehen würde, wie er es getan hatte? Er besaß bei den Cairhienern und Mayenern einen gewissen Einfluß, obwohl das sicherlich aufhören würde, wenn sie einmal nachdachten. Immerhin war er nur ein Hufschmied. Blieben noch die Aiel. Perrin seufzte. Er war sich nicht sicher, wieviel Einfluß selbst Rand wirklich auf die Aiel hatte.

Es war schwer, bei so vielen Menschen einzelne Gerüche zu erkennen, aber er hatte sich daran gewöhnt, weitaus mehr durch Gerüche zu bestimmen als durch das, was ihm seine Augen vermittelten. Die Siswai'aman, die nahe genug herankamen, rochen ruhig, aber wachsam, ein milder, starker Geruch. Sie schienen die Aes Sedai kaum zu beachten. Die Töchter des Speers rochen vor unterdrücktem Zorn, was sich noch verstärkte, wenn sie die Gefangenen betrachteten. Und die Weisen Frauen...

Jede Weise Frau, die aus Cairhien hierhergekommen war, konnte die Macht lenken, auch wenn keine von ihnen ein altersloses Gesicht besaß. Er vermutete, daß sie die Eine Macht nur selten benutzten. Ruhig und glattwangig wie Edarra oder mit lederartigem Gesicht wie die weißhaarige Sorilea, trugen sie eine Selbstbeherrschung zur Schau, die mühelos mit derjenige der Aes Sedai mithalten konnte. Überwiegend anmutige Frauen, die meisten groß, wie fast alle Aiel es waren, schienen sie die Schwestern vollständig zu ignorieren.

Sorileas Blick schweifte über die Gefangenen, ohne innezuhalten, und dann unterhielt sie sich sofort weiter mit Edarra und einer anderen Weisen Frau, einer hageren Blonden, deren Namen Perrin nicht kannte. Wenn er nur verstehen könnte, was sie sagten. Sie gingen vorbei, wobei sich keine Falte auf den drei gelassenen Gesichtern veränderte, aber ihre Gerüche sagten etwas anderes aus. Als Sorileas Blick über die Aes Sedai glitt, roch sie kalt und zurückhaltend, grimmig und verächtlich, und als sie mit den beiden anderen sprach, glich sich deren Geruch dem ihren an.

»Ein verdammtes Durcheinander«, grollte Perrin.

»Ärger?« fragte Aram, während er sich aufrichtete, die rechte Hand bereit, nach dem Wolfskopf-Knauf des über seiner Schulter aufragenden Schwerthefts zu greifen. Er hatte dieses Schwert in kurzer Zeit sehr gut beherrschen gelernt und war niemals abgeneigt, es zu benutzen.

»Kein Ärger, Aram.« Es war keine regelrechte Lüge. Aus seinem dumpfen Brüten aufgerüttelt betrachtete Perrin die anderen zum ersten Mal wirklich. Alle gleichzeitig. Was er sah, gefiel ihm nicht, und die Aes Sedai waren nur ein Teil davon.

Cairhiener und Mayener beobachteten die Aiel mißtrauischr was dem umgekehrten Mißtrauen der Aiel, besonders den Cairhienern gegenüber, nur entsprach. Das war nicht wirklich überraschend. Die Aiel hatten immerhin einen gewissen Ruf, nicht allzu freundlich zu Menschen zu sein, die auf dieser Seite des Rückgrats der Welt geboren waren, und am wenigsten zu Cairhienern. Die schlichte Wahrheit war, daß Aiel und Cairhiener einander fast so sehr haßten, wie man nur hassen konnte. Keine Seite hatte ihre Feindschaft wirklich überwunden - man konnte bestenfalls behaupten, daß sie an der langen Leine gehalten wurde -, und doch war Perrin bisher überzeugt gewesen, daß sie sie unter Kontrolle halten würden. Zumindest Rand zuliebe. Jedoch herrschte im Lager eine Stimmung, die alle angespannt sein ließ. Rand war jetzt frei, und zeitweilige Bündnisse waren letztendlich genau das: zeitweilig. Die Aiel hoben ihre Speere an, wenn sie die Cairhiener ansahen, und die Cairhiener tasteten grimmig nach ihren Schwertern. Wie auch die Mayener. Sie hatten keinen Streit mit den Aiel, hatten sie bis auf den Aielkrieg, in dem jedermann gekämpft hatte, niemals befehdet, aber wenn es jetzt zu einem Kampf käme, bestand kein Zweifel, auf welche Seite sie sich schlagen würden. Was wahrscheinlich auch für die Leute von den Zwei Flüssen galt.

Die düstere Stimmung lastete schwer auf den Asha'man und den Weisen Frauen. Die schwarz gewandeten Männer beachteten die Töchter des Speers und die Siswai'aman nicht häufiger als die Cairhiener oder die Mayener oder die Leute von den Zwei Flüssen, aber sie betrachteten die Weisen Frauen mit fast genauso düsteren Gesichtern, wie sie die Aes Sedai ansahen. Sie machten höchstwahrscheinlich nur wenig Unterschied zwischen einer Frau, die die Macht lenken konnte, und einer anderen. Jedermann konnte ein Feind und gefährlich sein. Dreizehn zusammen waren eine tödliche Gefahr, und es befanden sich mehr als neunzig Weise Frauen im Lager oder in dessen Nähe, gegenüber nicht einmal halb so vielen Asha'man, die aber dennoch Schaden anrichten konnten - und doch schienen sie Rand zu folgen. Sie schienen Rand zu folgen - und doch waren sie Frauen, die die Macht lenken konnten.

Die Weisen Frauen betrachteten die Asha'man nur unwesentlich weniger kühl, als sie die Aes Sedai betrachteten. Die Asha'man waren Männer, die die Macht lenken konnten, aber sie folgten Rand. Sie folgten Rand, aber ... Rand war ein besonderer Fall. Gaul zufolge wurde seine Fähigkeit, die Macht zu lenken, in den Prophezeiungen über ihren Car'a'carn nicht erwähnt, aber die Aiel bestritten diesen unbequemen Umstand anscheinend. Die Asha'man wurden in jenen Prophezeiungen jedoch überhaupt nicht erwähnt. Es mußte so sein, als entdeckte man, daß man den Stolz wilder Löwen auf seiner Seite hatte. Wie lange würden sie loyal bleiben? Vielleicht wäre es besser, sie jetzt zu unterwerfen.

Perrin ließ den Kopf an das Wagenrad zurücksinken, die Augen geschlossen, und seine Brust hob sich in stillem, freudlosen Lachen. Denke an Hoch Chasaline an die guten Dinge. Verdammt, dachte er, ich hätte mit Rand gehen sollen. Nein, es war gut, ausreichend früh Bescheid zu wissen. Aber was, im Licht, sollte er tun? Wenn die Aiel und die Cairhiener und Mayener aufeinander losgingen, oder noch schlimmer, die Asha'man und die Weisen Frauen... Ein Korb voller Schlangen, und die einzige Möglichkeit herauszufinden, welche Vipern waren, bestand darin, die Hand hineinzustrecken. Licht, ich wünschte, ich wäre zu Hause, bei Faile, und könnte am Schmiedefeuer arbeiten, wo mich niemand mit dem verdammten Titel Lord anredet.

»Ihr Pferd, Lord Perrin. Ihr sagtet nicht, ob ihr Traber oder Steher gesattelt haben wolltet, also habe ich...« Kenly Maerin wich vor Perrins goldäugigem Blick zurück und prallte gegen den kastanienbraunen Hengst, den er herangeführt hatte.

Perrin machte eine beschwichtigende Geste. Es war nicht Kenlys Fehler. Was nicht geheilt werden konnte, mußte ertragen werden. »Ruhig, Junge. Du hast es richtig gemacht. Traber ist vollkommen in Ordnung. Du hast eine gute Wahl getroffen.« Er haßte es, so mit Kenly sprechen zu müssen. Kenly war klein und untersetzt und kaum alt genug, zu heiraten und sein Zuhause zu verlassen - und sicherlich nicht alt genug für den Stoppelbart, den er, Perrin nachfolgend, zu kultivieren versuchte -, aber er hatte in Emondsfeld bereits Trollocs bekämpft und sich auch gestern gut geschlagen. Und jetzt grinste er breit über das von Lord Perrin Goldaugen erhaltene Lob.

Perrin stand auf, nahm seine Streitaxt unter dem Wagen hervor, wo er sie abgelegt hatte - außer Sicht und eine kleine Weile aus dem Sinn - und steckte das Heft durch die Schlaufe an seinem Gürtel. Eine schwere, halbmondförmige Klinge, die von einem dicken, gebogenen Dorn ausbalanciert wurde. Eine Waffe, die nur zum Zweck des Tötens geschaffen worden war. Das Heft der Streitaxt fühlte sich zu vertraut an, um tröstlich zu sein. Erinnerte er sich überhaupt noch daran, wie sich ein guter Schmiedehammer anfühlte? Und es gab auch noch andere Dinge außer ›Lord Perrin‹, die zu ändern es vielleicht zu spät wäre. Ein Freund hatte ihm einmal geraten, die Streitaxt so lange zu behalten, bis er sie gern benutzte. Der Gedanke ließ ihn trotz der Hitze erschaudern.

Er schwang sich in Trabers Sattel und wandte sich nach Süden, zum Wagenkreis. Mindestens eineinhalb Mal so groß wie der größte Aiel, stieg Loial gerade vorsichtig über gekreuzte Wagendeichseln. Da er so groß war, wirkte er, als könnte er die schweren Holzdeichseln mit einem unbedachten Schritt zerbrechen. Der Ogier hielt, wie üblich, ein Buch in der Hand, ein dicker Finger zwischen den Seiten, und die geräumigen Taschen seines langen Umhangs waren von weiteren Büchern ausgebeult. Er hatte den Morgen in einer kleinen Ansammlung von Bäumen verbracht, die er als friedlich und schattig bezeichnete, aber wie schattig auch immer es unter den Bäumen sein mochte - die Hitze machte auch ihm zu schaffen. Er wirkte müde, sein Umhang war geöffnet, das Hemd aufgeschnürt und seine Stiefel bis unter die Knie herabgerollt. Oder vielleicht war es auch mehr als nur die Hitze. Loial blieb mitten im Wagenkreis stehen und betrachtete die Aes Sedai und die Asha'man; seine Pinselohren zitterten unbehaglich. Augen so groß wie Teetassen schwenkten zu den Weisen Frauen, und seine Ohren vibrierten erneut. Ogier konnten gut Stimmungen erspüren.

Als Loial Perrin erblickte, durchschritt er das Lager. Perrin war auch auf dem Pferderücken noch zwei oder drei Handbreit kleiner als der stehende Loial. »Perrin«, flüsterte Loial, »das hier ist alles falsch. Es ist nicht richtig, und es ist außerdem gefährlich«. Es war zumindest für einen Ogier ein Flüstern, obwohl es wie das Summen einer Hummel von der Größe einer Bulldogge klang. Einige der Aes Sedai wandten die Köpfe.

»Könntest du ein wenig lauter sprechen?« fragte Perrin sehr leise. »Ich glaube, jemand in Andor hat es noch nicht gehört. Im Westen von Andor.«

Loial wirkte bestürzt und verzog das Gesicht, wobei die langen Augenbrauen seine Wangen streiften. »Du weißt, daß ich nicht flüstern kann.« Dieses Mal konnte ihn wahrscheinlich niemand mehr deutlich verstehen, der mehr als drei Schritte entfernt war. »Was werden wir tun, Perrin? Es ist falsch, Aes Sedai gegen ihren Willen festzuhalten, falsch und auch verbohrt. Ich habe das schon früher gesagt, und ich werde es wieder sagen. Und das ist nicht das Schlimmste. Ich spüre hier... Ein Funke, und dieser Ort wird wie eine Wagenladung Feuerwerk in die Luft fliegen. Weiß Rand davon?«

»Ich weiß es nicht«, lautete Perrins Antwort auf beide Fragen, und der Ogier nickte kurz darauf widerwillig.

»Jemand muß es wissen, Perrin. Jemand muß etwas tun.« Loial blickte nach Norden, über die Wagen hinter Perrin hinweg, und Perrin wußte, daß er die Entscheidung nicht länger aufschieben konnte.

Er wandte Traber widerwillig um. Er hätte sich lieber weiterhin um Aes Sedai und Asha'man und Weise Frauen gekümmert, aber was getan werden mußte, mußte getan werden. Denk an Hoch Chasaline an das Gute.

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