Als das Boot vom Landesteg ablegte, warf Nynaeve ihre Maske neben sich auf die gepolsterte Bank, sank mit verschränkten Armen und fest umfaßtem Zopf zurück und blickte stirnrunzelnd ins Leere. Als sie dem Wind lauschte, hörte sie noch immer heraus, daß ein heftiger Sturm aufkäme, die Art Sturm, der Dächer abriß und Scheunen umstürzte, und sie wünschte fast, der Fluß würde genau in diesem Augenblick in Wellen aufbrechen.
»Wenn nicht das Wetter der Grund ist, Nynaeve«, ahmte sie nach, »dann solltest du diejenige sein, die geht. Die Herrin der Schiffe könnte beleidigt sein, wenn wir nicht die Stärkste von uns schicken. Sie wissen, daß Aes Sedai das hoch schätzen. Bah!« Das waren Elaynes Worte gewesen. Ohne das »Bah«. Elayne glaubte eben, allen möglichen Unsinn mit Merilille auszuhecken, würde ihr Vorteile bringen, wenn sie Nesta wieder gegenübertreten müßte. Wenn man einen schlechten Anfang mit jemandem hatte, war es schwer, das Verhältnis zu verbessern - Mat Cauthon war ein hinreichender Beweis dafür! -, und wenn sie noch schlechter mit Nesta din Reas Zwei Monde zurechtkamen, würde sie sie alle fortschicken.
»Schreckliche Frau!« murrte sie und regte sich unruhig auf den Sitzpolstern. Aviendha hatte nicht besser reagiert, als Nynaeve vorgeschlagen hatte, sie solle zum Meervolk gehen. Diese Leute waren von ihr fasziniert gewesen. Nynaeve ließ ihre Stimme hoch und geziert klingen, überhaupt nicht wie Aviendhas, aber sie traf zumindest die Stimmung. »Wir werden aus diesem Vorfall lernen, Nynaeve al'Meara. Und vielleicht werde auch ich etwas lernen, wenn ich Jaichim Carridin heute beobachte.« Bestünde nicht die Tatsache, daß Aielfrauen nichts fürchteten, hätte sie aufgrund Aviendhas Eifer, Carridin auszuspionieren, geglaubt, sie habe Angst. Einen Tag auf einer heißen Straße zu verbringen, während sich Menschenmengen vorüber drängten, war nicht lustig, und heute würde es durch das Fest noch schlimmer sein. Nynaeve hätte gedacht die Frau würde eine hübsche, erfrischende Bootsfahrt genießen.
Das Boot schlingerte. Eine hübsche, erfrischende Bootsfahrt sagte sie sich. Hübsche kühle Brisen in der Bucht. Feuchte Brisen, nicht trockene. Das Boot rollte. »Oh, Blut und Asche!« stöhnte sie. Sie schlug entsetzt eine Hand vor den Mund und trommelte mit den Fersen zornig gegen die Vorderseite der Bank. Wenn sie dieses Meervolk lange ertragen müßte, würde sie genauso viel Unflat von sich geben wie Mat. Sie wollte nicht an ihn denken. Ein weiterer Tag Händefalten dafür ... dieser Mann ... und sie würde sich jedes Haar einzeln aus dem Kopf reißen! Nicht, daß er bisher etwas Unvernünftiges gefordert hätte, aber sie wartete darauf, daß er es tat, und seine Art...!
»Nein!« sagte sie fest. »Ich will, daß sich mein Magen beruhigt und nicht noch mehr rebelliert.« Das Boot hatte leicht zu schaukeln begonnen. Sie versuchte, sich auf ihre Kleidung zu konzentrieren. Sie war nicht so auf Kleider fixiert, wie Elayne es anscheinend manchmal war, aber es war tröstlich, an Seide und Spitzen zu denken.
Ihre ganze Kleidung war ausgesucht worden, um die Herrin der Schiffe zu beeindrucken, um ein wenig verlorenen Boden wiedergutzumachen, was auch immer es nützen würde. Grüne Seide mit gelben Schlitzen an den Röcken, Goldstickerei an den Armen und dem Leibchen und goldene Spitze am Saum, an den Handgelenken und um den Ausschnitt. Vielleicht hätte der Ausschnitt höher sein sollen, damit sie ernst genommen würde, aber sie besaß nichts höher Geschlossenes. Und wenn man die Gebräuche des Meervolks bedachte, war dieses Gewand überaus sittsam. Nesta würde sie nehmen müssen, wie sie war. Nynaeve al'Meara würde sich für niemanden ändern.
Die gelben Opalnadeln in ihrem Zopf gehörten ihr selbst - immerhin ein Geschenk der Panarchin von Tarabon -, aber Tylin hatte die goldene Halskette beigesteuert, von der sich Smaragde und Perlen fächerförmig bis auf ihren Busen hinab ausbreiteten. Ein wertvolleres Stück, als sie sich jemals zu besitzen erträumt hatte. Ein Geschenk, das Mat überbracht werden sollte, hatte Tylin gesagt, was überhaupt keinen Sinn ergab, aber vielleicht glaubte die Königin einer Entschuldigung für solch ein wertvolles Geschenk zu bedürfen. Beide Armbänder aus Gold und Elfenbein stammten von Aviendha, die überraschend viel Schmuck für eine Frau besaß, die selten mehr als eine Silberhalskette trug. Nynaeve hatte sich das hübsche, mit Rosen und Dornen verzierte Armband aus Elfenbein ausleihen wollen, das die Aielfrau niemals trug. Zu ihrer Überraschung hatte Aviendha es an ihren Busen gerissen, als wäre es ihr kostbarster Besitz, und Elayne hatte sie auch noch getröstet. Nynaeve wäre nicht überrascht gewesen, die beiden einander weinend in die Arme fallen zu sehen.
Irgend etwas Seltsames ging dort vor, und wenn sie nicht gewußt hätte, daß die beiden für solchen Unsinn zu vernünftig waren, hätte sie vermutet, daß ein Mann die Ursache war. Nun, zumindest Aviendha war zu vernünftig dafür. Elayne sehnte sich noch immer nach Rand, obwohl Nynaeve ihr kaum vorwerfen konnte, daß...
Plötzlich spürte sie ein großes Gewebe aus Saidar fast auf sich, und...
...sie zappelte im Wasser, das über ihrem Kopf zusammenschlug, versuchte aufzusteigen, um Luft zu bekommen, verfing sich in ihren Röcken und kämpfte weiter. Sie kam an die Oberfläche, keuchte zwischen dahintreibenden Kissen nach Luft und sah sich erstaunt um. Kurz darauf erkannte sie die schräge Form über ihr als einen der Kabinensitze und ein Stück der Kabinenwand. Sie befand sich in einer eingeschlossenen Luftblase, die nicht sehr groß war. Nynaeve hätte beide Seitenbegrenzungen berühren können, ohne ihre Arme ganz auszustrecken. Aber wie...? Ein hörbarer Schlag kündete vom Grund des Flusses. Die auf dem Kopf stehende Kabine schlingerte und neigte sich. Sie hatte das Gefühl, daß die Luftblase ein wenig schrumpfte.
Erstes Gebot war, noch bevor sie sich über irgend etwas wundern durfte, hinauszugelangen, bevor sie die Luft verbraucht hätte. Sie konnte schwimmen - sie hatte oft genug zu Hause in den Wasserwald-Teichen geplanscht -, und als das Wasser sie hin und her wiegte, erinnerte sie sich daran. Sie atmete tief ein, tauchte und schwamm zu der Stelle, wo sich die Tür der Kabine befinden mußte, wobei sie wegen ihrer Rocke unbeholfen um sich trat. Es wäre vielleicht hilfreich, das Gewand abzulegen, aber sie würde nicht nur in Hemd, Strümpfen und Schmuck an die Oberfläche des Flusses gelangen. Außerdem konnte sie das Kleid nicht ausziehen, ohne ihre Gürteltasche zu lösen, und sie würde eher ertrinken, als deren Inhalt zu verlieren.
Das Wasser war schwarz und lichtlos. Ihre ausgestreckten Finger berührten Holz, und sie tastete sich an der filigranen Holzschnitzerei entlang, bis sie die Tür fand; dann suchte sie den Rahmen ab und fand ein Scharnier. Sie stieß im Geiste Verwünschungen aus und tastete sich vorsichtig auf die andere Seite. Ja! Der Riegel! Sie hob ihn an und stieß ihn nach außen. Die Tür bewegte sich vielleicht zwei Zoll weit - und stieß dann auf ein Hindernis.
Mit angespannten Lungen schwamm sie wieder in die Luftblase, aber nur so lange, bis sie erneut tief eingeatmet hatte. Dieses Mal fand sie die Tür schneller. Sie streckte die Finger durch den Spalt, um festzustellen, was die Tür blockierte. Sie versanken in Schlamm. Vielleicht konnte sie ihn mit den Händen fortschaufeln, oder... Sie tastete sich höher. Noch mehr Schlamm. Zunehmend entsetzt, tastete sie den Spalt von unten nach oben ab und dann, weil sie sich weigerte, es zu glauben, noch einmal von oben nach unten. Schlamm, massiver schmieriger Schlamm vor der ganzen Tür.
Als sie wieder in die Luftblase auftauchte, ergriff sie den Rand des Sitzes über ihr und hängte sich daran, während sie nach Atem rang und ihr Herz wild pochte. Die Luft fühlte sich ... dichter an.
»Ich werde nicht hier sterben«, murrte sie. »Ich werde nicht hier sterben!«
Sie hämmerte mit der Faust gegen den Sitz, bis sie spürte, daß die Hand blau wurde, und rang nach dem Zorn, der es ihr ermöglichen würde, die Macht zu lenken. Sie würde nicht sterben. Nicht hier. Allein. Niemand würde wissen, wo sie gestorben war. Kein Grab, nur ein auf dem Grund des Flusses verwesender Körper. Ihr Arm sank leblos herab. Sie rang nach Atem. Schwarze und silberne Flecken tanzten vor ihren Augen. Sie schien durch eine Röhre zu blicken. Kein Zorn, erkannte sie vage. Sie versuchte, sich nach Saidar auszustrecken, aber ohne im geringsten daran zu glauben, daß sie es jetzt berühren würde. Sie würde hier sterben. Keine Hoffnung. Kein Lan. Und als die Hoffnung schwand, tat sie etwas, was sie noch niemals zuvor in ihrem Leben getan hatte. Sie ergab sich vollkommen.
Saidar durchströmte sie, erfüllte sie.
Sie war sich nur halbwegs des Umstands bewußt, daß sich das Holz über ihr plötzlich nach außen wölbte und barst. Sie trieb in einem Strom von Luftblasen aufwärts, durch das Loch im Rumpf in die Dunkelheit. Ihr kam vage zu Bewußtsein, daß sie etwas tun sollte. Sie konnte sich auch beinahe daran erinnern. Ja. Sie bewegte schwach die Füße. Sie versuchte, mit den Armen Schwimmbewegungen auszuführen. Aber sie trieb anscheinend einfach dahin.
Etwas ergriff ihr Gewand, und sie wurde beim Gedanken an Haie, Löwenfische und nur das Licht wußte, was diese schwarzen Tiefen sonst noch bevölkern mochte, von Entsetzen gepackt. Ein Funke Bewußtsein sprach von der Macht, aber sie schlug verzweifelt mit Fäusten und Füßen um sich und spürte, wie ihre Knöchel auf etwas Festes auftrafen. Leider schrie sie auch - oder versuchte es zumindest. Sie schluckte viel Wasser, wodurch ihr Schrei, Saidar und beinahe auch ihr restliches Bewußtsein erstickt wurden.
Etwas ruckte an ihrem Zopf, dann erneut, und sie wurde gezogen ... irgendwohin. Sie war nicht mehr ausreichend bei Bewußtsein, um sich zu wehren oder auch große Angst zu haben, gefressen zu werden.
Plötzlich stieß ihr Kopf durch die Wasseroberfläche. Hände umfaßten sie von hinten - Hände, kein Hai - und drückten auf fast vertraute Art gegen ihre Rippen. Sie hustete - Wasser sprühte aus ihrer Nase -und hustete qualvoll erneut. Dann atmete sie zitternd ein. Sie hatte noch niemals in ihrem Leben etwas so Liebliches geschmeckt.
Eine Hand wölbte sich um ihr Kinn, und plötzlich wurde sie erneut gezogen. Mattigkeit vereinnahmte sie. Sie konnte nur auf dem Rücken treiben und atmen und in den Himmel hinaufblicken. So blau. So wunderschön. Ihre Augen brannten nicht nur vom Salzwasser.
Und dann wurde sie an der Seite eines Bootes hochgezogen, eine rauhe Hand unter ihrem Gesäß schob sie höher, bis zwei schlaksige Burschen mit Messingohrringen hinabgreifen und sie an Bord ziehen konnten. Sie halfen ihr, einen oder zwei Schritte zu gehen, aber sobald sie sie losließen, um ihrem Retter zu helfen, knickten ihre Beine ein.
Unsicher auf Händen und Knien kauernd, betrachtete sie ausdruckslos ein Schwert und Stiefel und einen grünen Mantel, die jemand auf das Deck geworfen hatte. Sie öffnete den Mund - und befreite sich vom Fluß Elbar. Es war anscheinend der ganze Fluß, einschließlich ihrer Mittagsmahlzeit und ihres Frühstücks. Es hätte sie überhaupt nicht überrascht, auch einige Fische oder ihre Schuhe zu erblicken. Sie wischte sich gerade mit dem Handrücken die Lippen ab, als sie Stimmen vernahm.
»Geht es meinem Lord gut? Mein Lord war sehr lange unten.«
»Vergeßt mich, Mann«, sagte eine tiefe Stimme. »Holt etwas, um sie einzuhüllen.« Lans Stimme, die sie jede Nacht zu hören träumte.
Nynaeve unterdrückte mit geweiteten Augen mühsam ein Wimmern. Das Entsetzen, das sie empfunden hatte, als sie geglaubt hatte, sie würde sterben, war nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt blitzartig durchströmte. Nichts! Dies war ein Alptraum. Nicht jetzt! Nicht so! Nicht, wenn sie wie eine halb ertrunkene Ratte aussah, die auf Knien kauerte, den Inhalt ihres Magens vor sich ausgebreitet!
Ohne nachzudenken, umarmte sie Saidar und lenkte die Macht. Alles Wasser wich rasch aus ihrer Kleidung und ihrem Haar, und alle Beweise ihres kleinen Mißgeschicks wurden über Bord geschwemmt. Sie rappelte sich hoch, zog hastig ihre Halskette zurecht und glättete so weit wie möglich ihr Gewand und ihr Haar, aber das Bad im Salzwasser und das schnelle Trocknen hatten mehrere Flecken und einige Falten auf der Seide hinterlassen, die einer kundigen Hand mit einem heißen Eisen bedurft hätten, um beseitigt zu werden. Haarsträhnen wollten entkommen, und die Opale in ihrem Zopf schienen den sich sträubenden Schwanz einer zornigen Katze zu zieren.
Es war unwichtig. Sie war die Ruhe selbst, kühl wie eine frühe Frühlingsbrise, selbstbeherrscht wie...
Sie fuhr herum, bevor er sich ihr von hinten nähern und sie soweit erschrecken konnte, daß sie sich völlig blamiert hätte.
Sie erkannte erst, wie schnell sie sich bewegt hatte, als sie sah, daß Lan gerade erst den zweiten Schritt von der Reling getan hatte. Er war der schönste Mann, den sie jemals gesehen hatte. Mit vollkommen durchweichtem Hemd, Hose und Strümpfen war er prachtvoll, mit dem tropfenden Haar, das an seinem Gesicht klebte, und... Eine purpurfarbene Prellung blühte auf seinem Gesicht. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, als sie sich an den Moment erinnerte, als ihre Faust auf etwas Festes traf.
»O nein! Oh, Lan, es tut mir leid! Das wollte ich nicht!« Sie war sich nicht wirklich bewußt, den Abstand zwischen ihnen überbrückt zu haben. Sie war einfach bei ihm, stellte sich auf Zehenspitzen und legte sanft die Finger auf seine Verletzung. Ein geschickt gestaltetes Gewebe aus allen Fünf Mächten, und seine verfärbte Wange war wieder makellos. Aber er konnte vielleicht noch woanders verletzt sein. Sie spann die Gewebe, mit deren Hilfe sie ihn untersuchen konnte. Neue Narben ließen sie innerlich zusammenzucken, und da war etwas Merkwürdiges, aber er schien gesund wie ein Bulle. Er war ebenfalls naß, weil er sie gerettet hatte. Sie trocknete ihn genauso wie sich selbst. Wasser spritzte um seine Füße.
Sie konnte nicht aufhören, ihn zu berühren. Sie zog mit beiden Händen seine starken Wangen nach, seine schönen blauen Augen, seine kräftige Nase, seine festen Lippen, seine Ohren. Sie kämmte dieses seidige schwarze Haar mit den Fingern zurecht, richtete das geflochtene Lederband, das es hielt. Ihre Zunge schien ebenfalls ein Eigenleben zu führen. »Oh, Lan«, murmelte sie. »Du bist wirklich hier.« Jemand kicherte. Nicht sie - Nynaeve al'Meara kicherte nicht -, aber jemand tat es. »Es ist kein Traum. Oh, Licht, du bist hier. Wie?«
»Ein Diener im Tarasin-Palast erzählte mir, du wärst zum Fluß gegangen, und ein Bursche am Anlegesteg sagte mir, welches Boot du genommen hattest. Eigentlich wollte ich schon gestern hier sein.«
»Das kümmert mich nicht. Du bist jetzt hier. Du bist hier.« Sie kicherte nicht.
»Vielleicht ist sie eine Aes Sedai«, murrte einer der Ruderer, »aber ich behaupte noch immer, daß sie ein Entchen ist, das von diesem Wolf gefressen werden will.«
Nynaeve errötete zutiefst, und sie senkte ruckartig die Hände. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie dem Burschen unmißverständlich die Meinung gesagt. Zu einem anderen Zeitpunkt, wenn sie klar denken konnte, woran Lan sie hinderte. Sie ergriff seinen Arm. »In der Kabine können wir uns ungestört unterhalten.« Hatte einer der Ruderer schon wieder gekichert?
»Mein Schwert und...«
»Ich nehme es«, sagte sie und hob seine Sachen mit Strängen Luft vom Deck auf. Einer dieser Rüpel hatte gekichert. Ein weiterer Strang Luft öffnete die Kabinentür, und sie drängte Lan und sein Schwert und alles andere hinein und schlug die Tür hinter ihnen zu.
Licht, sie bezweifelte, daß selbst Calle Coplin zu Hause jemals so kühn gewesen war - und es kannten genauso viele Wächter von Händlern Calles Muttermal genauso gut wie ihr Gesicht. Aber dies war nicht dasselbe. Überhaupt nicht! Dennoch schadete es nicht, ein bißchen weniger ... eifrig zu sein. Sie führte ihre Hände erneut zu seinem Gesicht - nur um sein Haar noch ein wenig glatter zu streichen -, und er ergriff mit seinen großen Händen sanft ihre Handgelenke.
»Myrelle ist jetzt mit mir verbunden«, sagte er ruhig. »Sie borgt mich dir aus, bis du einen eigenen Behüter findest.«
Sie befreite ruhig ihre rechte Hand und schlug ihm so fest sie konnte ins Gesicht. Er bewegte kaum den Kopf, so daß sie auch die andere Hand befreite und ihn abermals schlug. »Wie konntest du?« Vorsichtshalber unterstrich sie die Frage mit noch einem weiteren Schlag. »Du wußtest, daß ich gewartet habe!« Noch ein Schlag schien notwendig, nur um es ihm zu verdeutlichen. »Wie konntest du so etwas tun? Wie konntest du es ihr erlauben?« Noch ein Schlag. »Verdammt seist du, Lan Mandragoran! Verdammt seist du! In den Krater des Verderbens sollst du verbannt werden. Verdammt seist du!«
Der Mann - der verdammte Mann! - sagte kein Wort. Er hätte natürlich auch nichts erwidern können. Womit sollte er sich verteidigen? Er stand einfach nur da, während sie ihn mit Schlägen traktierte, regte sich nicht, und sein ungerührter Blick wirkte eigentümlich, so wie es auch war, wenn sie wegen ihm errötete. Auch wenn die Schläge wenig Eindruck auf ihn machten, begannen ihre Handflächen doch heftig zu brennen.
Sie ballte grimmig eine Hand zur Faust und boxte ihn mit aller Kraft in den Bauch. Er stöhnte leise.
»Wir werden dies ruhig und vernünftig besprechen«, sagte sie schließlich und trat von ihm zurück. »Wie Erwachsene.« Lan nickte nur, setzte sich hin und zog seine Stiefel zu sich heran. Sie strich sich mit der linken Hand Haarsträhnen aus dem Gesicht und streckte die rechte Hand hinter den Rücken, so daß sie ihre wunden Finger beugen konnte, ohne daß er es sah. Er hatte kein Recht, so hart zu sein, nicht, wenn sie ihn schlagen wollte. Es war wohl zuviel der Hoffnung, daß sie ihm eine Rippe gebrochen hätte.
»Du solltest ihr dankbar sein, Nynaeve.« Wie konnte der Mann so ruhig klingen? Er zog entschlossen einen Stiefel an und beugte sich herab, um den anderen aufzuheben, sah sie dabei aber nicht an. »Du würdest nicht wollen, daß ich mit dir verbunden wäre.«
Der Strang Luft ergriff eine Handvoll seines Haares und bog seinen Kopf schmerzhaft nach oben. »Wenn du es wagst - wenn du es auch nur wagst -, erneut solchen Unsinn von dir zu geben, daß du mich nicht als Witwe zurücklassen willst, Lan Mandragoran, dann werde ich ... werde ich...« Ihr fiel nichts ausreichend Bedrohliches ein. Ihn zu treten, genügte nicht annähernd. Myrelle. Myrelle und ihre Behüter. Verdammt sei er! Ihm die Haut in Streifen abzuziehen, würde auch nicht genügen!
Er hätte sich genausogut nicht mit verrenktem Hals vorbeugen können. Er legte einfach die Unterarme über die Knie, betrachtete sie mit jenem eigentümlichen Blick und sagte; »Ich dachte daran, es dir nicht zu erzählen, aber du hast ein Recht, es zu wissen.« Dennoch zögerte er. Lan zögerte niemals. »Als Moiraine starb - wenn der Bund eines Behüters mit seiner Aes Sedai gebrochen wird -, änderte sich manches...«
Als er fortfuhr, legte sie die Arme um sich und hielt sich, um nicht zu zittern. Ihr Kiefer schmerzte, weil sie fest die Zähne zusammenbiß. Sie ließ den Strang los, der ihn hielt, ließ Saidar los, aber er richtete sich nur auf und fuhr ohne mit der Wimper zu zucken damit fort, das Entsetzliche zu berichten, während er sie betrachtete. Plötzlich verstand sie seinen Blick, der kälter war als der tiefste Winter. Es war der Blick eines Mannes, der wußte, daß er tot war, und der sich nicht dazu bringen konnte, sich darum zu sorgen; ein Mann, der beinahe eifrig auf jenen langen Schlaf wartete. Ihre Augen brannten vor ungeweinten Tränen.
»Du siehst also«, sagte er mit einem Lächeln, das nur seine Lippen einschloß, ein ergebenes Lächeln, »wenn es vorbei ist, wird sie ein Jahr oder länger leiden, und ich werde dennoch tot sein. Das bleibt dir erspart. Das ist mein letztes Geschenk an dich, Mashiara.« Mashiara. Seine verlorene Liebe.
»Du wirst mein Behüter sein, bis ich selbst einen finde?« Sie war bestürzt über ihre ausgewogene Stimme. Sie durfte jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Sie würde es nicht tun. Sie mußte jetzt mehr als jemals zuvor ihre Kraft sammeln.
»Ja«, sagte er vorsichtig, während er seinen anderen Stiefel anzog. Er hatte sie schon immer an einen halbwegs zahmen Wolf erinnert, aber jetzt ließ sein Blick ihn noch weitaus wilder erscheinen.
»Gut.« Sie richtete ihre Röcke und widerstand dem Drang, zu ihm zu treten. Sie durfte ihn ihre Angst nicht sehen lassen. »Weil ich ihn gefunden habe. Dich. Ich habe gewartet und bei Moiraine gehofft. Bei Myrelle werde ich das nicht tun. Sie wird mir deinen Bund übergeben.« Myrelle würde es tun, und wenn sie die Frau an den Haaren nach Tar Valon und zurück zerren mußte. Vielleicht würde sie Myrelle auch einfach nur aus Prinzip umherzerren. »Sag nichts«, wies sie ihn scharf an, als er den Mund öffnete. Ihre Finger streiften ihre Gürteltasche, in der sich sein in ein seidenes Taschentuch gewickelter, schwerer goldener Siegelring befand. Sie mäßigte ihre Stimme mühsam. Er war krank, und harte Worte halfen niemals gegen Krankheit. Aber es kostete sie Mühe. Sie wollte ihn heftig ausschelten, wollte sich den Zopf jedes Mal an den Wurzeln ausreißen, wenn sie an ihn und diese Frau dachte. Sie hielt ihre Stimme mühsam ruhig und fuhr fort.
»Wenn jemand in den Zwei Flüssen einem anderen einen Ring schenkt, sind sie verlobt, Lan.« Das war eine Lüge, und sie erwartete halbwegs, daß er zornig aufspringen würde, aber er blinzelte nur. Außerdem hatte sie in einer Geschichte von dieser Vorstellung gelesen. »Wir sind schon ausreichend lange verlobt. Wir werden heute heiraten.«
»Darum habe ich stets gebetet«, sagte er leise und schüttelte dann den Kopf. »Du weißt, warum es nicht sein kann, Nynaeve. Und selbst wenn es sein könnte, Myrelle...«
Trotz all ihrer Versprechen, Ruhe zu bewahren, umarmte sie Saidar und knebelte ihn mit Luft, bevor er bekennen konnte, was sie nicht hören wollte. Solange er es nicht tat, konnte sie so tun, als sei nichts geschehen. Aber wenn sie Myrelle erwischte! Die Opale drückten hart in ihre Handfläche, und sie nahm die Hand so ruckartig von ihrem Zopf fort, als hätte sie sich verbrannt. Statt dessen strich sie mit den Fingern erneut durch sein Haar, während er sie empört ansah. »Eine kleine Lektion für dich über den Unterschied zwischen Ehefrauen und anderen Frauen«, sagte sie gelassen. Ein solcher Kampf. »Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn du Myrelles Namen in meiner Gegenwart nicht mehr erwähntest. Hast du verstanden?«
Er nickte, und sie ließ den Strang fahren, aber sobald er seinen Kiefer einen Moment bewegt hatte, sagte er: »Auch wenn ich ihren Namen nicht nenne, Nynaeve, weißt du doch, daß sie sich durch den Bund aller meiner Empfindungen bewußt ist. Wären wir Mann und Frau...«
Sie hatte das Gefühl, als stünde ihr Gesicht in Flammen. Sie hatte niemals daran gedacht! Verdammte Myrelle! »Kann man irgend wie feststeilen, ob sie weiß, daß ich es bin?« fragte sie schließlich, während ihre Wangen wirklich beinahe brannten. Besonders, als er erstaunt lachend an die Kabinenwand sank.
»Licht, Nynaeve, du bist phantastisch! Licht! So habe ich nicht mehr gelacht seit...« Seine Heiterkeit verging, und die Kälte, die einen Moment fast aus seinem Blick gewichen war, kehrte zurück. »Ich wünschte, es könnte sein, Nynaeve, aber...«
»Es kann sein, und es wird sein«, unterbrach sie ihn. Männer gewannen anscheinend immer die Überhand, wenn man sie zu lange reden ließ. Sie setzte sich auf seine Knie. Gewiß, sie waren noch nicht verheiratet, aber er war weicher als die ungepolsterten Bänke auf diesem Boot. Sie regte sich ein wenig, um sich bequemer hinzusetzen. Nun, jedenfalls war er nicht härter als die Bänke. »Du könntest dich genausogut damit abfinden, Lan Mandragoran. Mein Herz gehört dir, und du hast zugegeben, daß deines auch mir gehört. Du gehörst mir, und ich werde dich nicht gehen lassen. Du wirst mein Behüter und mein Ehemann sein, und das für eine sehr lange Zeit. Ich werde dich nicht sterben lassen. Verstehst du das? Ich kann so eigensinnig sein, wie es nötig ist.«
»Das hatte ich noch nicht bemerkt«, sagte er, und sie verengte die Augen. Seine Stimme klang schrecklich ... nüchtern.
»Wenn du es nur jetzt bemerkst«, sagte sie fest. Sie drehte den Kopf und spähte durch die Gitter im Rumpf hinter ihm, drehte den Kopf dann erneut und sah durch die Gitter an der Vorderseite der Kabine. Lange Docks, die vom Kai aufragten, zogen vorüber. Voraus konnte sie nur weitere Docks und die Stadt sehen, die in der Nachmittagssonne weiß schimmerte. »Wohin fahren wir?« murrte sie.
»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen uns an Land absetzen, sobald ich dich an Bord hätte«, sagte Lan. »Es schien mir das beste, sobald wie möglich vom Fluß fortzukommen.«
»Du...?« Sie biß die Zähne zusammen. Er hatte nicht gewußt, wohin sie wollte oder warum. Er hatte mit seinem Wissen sein Bestes getan. Und er hatte ihr das Leben gerettet. »Ich kann noch nicht in die Stadt zurückkehren, Lan.« Sie räusperte sich und änderte ihren Tonfall. Ich muß die Meervolkschiffe, die Windläufer, aufsuchen.« Viel besser. Munter, aber nicht zu munter, und entschieden.
»Nynaeve, ich war unmittelbar hinter deinem Boot. Ich habe gesehen, was passiert ist. Du warst erst fünfzig Schritte vor mir und dann fünfzig Schritte hinter mir, und dann sank dein Boot. Es muß Baalsfeuer gewesen sein.« Er brauchte nicht mehr zu sagen.
»Moghedien«, hauchte sie. Oh, es hatte auch ein anderer der Verlorenen oder vielleicht jemand von den Schwarzen Ajah sein können, aber sie wußte es.
Nun, sie hatte Moghedien nicht nur einmal, sondern auch noch ein zweites Mal besiegt. Sie konnte es, wenn nötig, auch ein drittes Mal tun. Ihre Miene schien ihre Zuversicht nicht widerzuspiegeln.
»Hab keine Angst«, sagte Lan und berührte ihre Wange. »Hab niemals Angst, wenn ich in der Nähe bin. Wenn du Moghedien gegenübertreten mußt, werde ich dafür sorgen, daß du ausreichend zornig bist, um die Macht zu lenken. Ich scheine in dieser Richtung ein gewisses Talent zu besitzen.«
»Du wirst mich niemals wieder erzürnen«, begann sie, hielt dann inne und sah ihn mit geweiteten Augen an. »Ich bin nicht zornig«, sagte sie zögernd.
»Jetzt nicht, aber wenn es nötig ist...«
»Ich bin nicht zornig«, wiederholte sie lachend. Sie freute sich, schlug sich mit den Fäusten an die Brust und lachte. Saidar erfüllte sie, nicht nur mit Lebendigkeit und Freude, sondern dieses Mal auch mit Ehrfurcht. Sie streichelte mit federartigen Strängen Luft seine Wangen. »Ich bin nicht zornig, Lan«, flüsterte sie.
»Dein Widerstand ist gebrochen.« Er grinste und teilte ihre Freude, aber es war keine Wärme in seinem Blick.
Ich werde auf dich aufpassen, Lan Mandragoran, versprach sie im stillen. Ich werde dich nicht sterben lassen. Sie lehnte sich an seine Brust und erwog, ihn zu küssen, und sogar... Du bist nicht Calle Coplin, sagte sie sich fest.
Plötzlich kam ihr ein entsetzlicher Gedanke. Um so entsetzlicher, weil es ihr nicht früher eingefallen war. »Die Ruderer?« sagte sie leise. »Meine Wächter?« Er schüttelte schweigend den Kopf, und sie seufzte. Leibwächter. Licht, sie hatten ihren Schutz gebraucht und nicht umgekehrt Vier weitere Tode zu Lasten Moghediens. Vier zusätzlich zu Tausenden, aber diese betrafen sie persönlich. Nun, sie würde sich ein andermal mit Moghedien auseinandersetzen.
Sie erhob sich und überlegte, was sie mit ihrer Kleidung tun könnte. »Lan, läßt du die Ruderer umkehren? Sage ihnen, sie sollen alles geben.« Also würde sie den Palast erst bei Einbruch der Nacht Wiedersehen. »Und finde heraus, ob einer von ihnen einen Kamm besitzt.« So konnte sie Nesta nicht gegenübertreten.
Er nahm seine Jacke und sein Schwert und verbeugte sich vor ihr. »Wie Ihr befehlt, Aes Sedai.«
Sie schürzte die Lippen und beobachtete, wie sich die Tür hinter ihm schloß. Lachte er sie tatsächlich aus? Sie würde darauf wetten, daß jemand auf der Windläufer eine Eheschließung durchführen konnte. Und nach dem, was sie bisher vom Meervolk gesehen hatte, würde sie auch wetten, daß Lan Mandragoran feststellen würde, daß er zu tun versprach, was man ihm befahl. Sie würden sehen, wer dann lachte.
Das Boot schlingerte und rollte und drehte sich langsam, und ihr Magen schlingerte mit ihm.
»Oh, Licht!« stöhnte sie, während sie auf die Bank sank. Warum hatte sie das nicht zusammen mit ihrem Widerstand verlieren können? Saidar festzuhalten, sich jeden Luftzugs auf ihrer Haut bewußt, machte es nur schlimmer. Loszulassen half auch nicht. Ihr würde nicht wieder übel werden. Sie würde Lan ein für allemal besitzen. Dies würde noch ein wundervoller Tag werden. Wenn nur das Gefühl wiche, daß ein Sturm aufkam.
Die Sonne stand fahl unmittelbar über den Dachfirsten, als Elayne an die Tür klopfte. Feiernde tanzten und tollten auf der Straße hinter ihr und erfüllten die Luft mit ihrem Lachen und Singen und dem Duft von Parfüm. Sie wünschte sich beiläufig, sie hätte die Gelegenheit gehabt, das Fest wirklich zu genießen. Ein Kostüm wie Birgittes zu tragen hätte vielleicht Spaß gemacht. Oder auch eines wie das, welches sie heute morgen an Lady Riselle, einer von Tylins Begleiterinnen, gesehen hatte. Solange sie ihre Maske hätte aufbehalten können. Sie klopfte erneut und dieses Mal fester.
Eine grauhaarige Dienerin mit kantigem Kinn öffnete die Tür, und ihre Miene zeigte plötzlich Zorn, als Elayne ihre grüne Maske senkte. »Ihr! Was tut Ihr wieder...« Der Zorn wurde zu geisterhafter Blässe, als Merilille ihre Maske ebenfalls abnahm und Adeleas und die anderen es ihnen gleichtaten. Die Frau zuckte bei jedem enthüllten alterslosen Gesicht zusammen -sogar bei Sareithas. Zu dem Zeitpunkt erwartete sie diesen Anblick vielleicht bereits.
Die Dienerin versuchte mit einem plötzlichen Aufschrei, die Tür wieder zu schließen, aber Birgitte schoß an Elayne vorbei und stieß sie mit einer federbesetzten Schulter wieder auf. Die Dienerin taumelte einige Schritte und faßte sich dann, aber ob sie davonlaufen oder schreien wollte... Birgitte kam ihr zuvor, indem sie ihren Oberarm ergriff.
»Nur ruhig«, sagte Birgitte fest. »Wir wollen uns doch nicht aufregen oder schreien, nicht wahr?« Sie schien nur den Arm der Frau festzuhalten, sie fast zu stützen, aber die Dienerin stand tatsächlich sehr aufrecht und still. Sie starrte mit geweiteten Augen auf die Maske mit dem Federschopf der Frau, die sie gefangenhielt und schüttelte langsam den Kopf.
»Wie heißt Ihr?« fragte Elayne, während sich die anderen in der Eingangshalle hinter ihr versammelten. Die sich schließende Tür dämpfte den Lärm von draußen. Der Blick der Dienerin hastete von einem Gesicht zum anderen, als könnte sie es nicht ertragen, auch nur eines zu lange zu betrachten.
»C-c-cedora.«
»Ihr werdet uns zu Reanne bringen, Cedora.« Dieses Mal nickte Cedora. Sie wirkte, als wollte sie weinen.
Cedora führte sie steif die Treppe hinauf, während Birgitte noch immer ihren Arm umfaßte. Elayne erwog, ihr zu sagen, sie solle die Frau loslassen, aber das letzte, was sie wollte, war ein Warnruf, woraufhin jedermann im Hause in eine andere Richtung floh. Das war der Grund, warum Birgitte ihre Muskeln gebrauchte, anstatt daß Elayne selbst die Macht gelenkt hätte. Sie dachte, Cedora sei eher verängstigt als verletzt, und heute abend sollte jedermann zumindest auch ein wenig verängstigt sein.
»D-dort drinnen«, sagte Cedora und deutete mit dem Kopf auf eine rote Tür. Die Tür zu dem Raum, in dem Nynaeve und sie diese unglückliche Unterredung gehabt hatten. Elayne öffnete sie und trat ein.
Reanne war in dem Raum, saß mit dem Rücken zu den Reliefs mit den Dreizehn Sünden über dem Kamin, wie auch ein Dutzend weitere Frauen, die Elayne niemals zuvor gesehen hatte, die alle Stuhle vor den hellgrünen Wänden besetzten und bei geschlossenen Fenstern und zugezogenen Vorhängen schwitzten. Die meisten trugen Ebou-Dari-Kleidung, obwohl nur eine die olivfarbene Haut aufwies. Die meisten hatten Falten im Gesicht und zumindest eine Spur Grau im Haar, und jede der Frauen konnte in gewissem Umfang die Macht lenken. Sieben trugen den roten Gürtel. Elayne seufzte wider Willen.
Reanne sprang mit demselben zornroten Gesicht auf, das Cedora gezeigt hatte, und ihre ersten Worte waren auch fast die gleichen. »Ihr! Wie könnt Ihr es wagen, Euch blicken zu lassen...?« Worte und Zorn vergingen ebenfalls aus dem gleichen Grund, als Merilille und die anderen Elayne auf den Fersen folgten. Eine blonde Frau mit einem roten Gürtel und tiefem Ausschnitt stieß ein schwaches Keuchen aus, während sie die Augen verdrehte und leblos von ihrem roten Stuhl glitt. Niemand machte Anstalten, ihr zu helfen. Niemand sah Birgitte auch nur an, als sie Cedora in eine Ecke führte und dort hinstellte. Niemand schien zu atmen. Elayne verspürte das dringende Verlangen, »Buh« zu schreien, nur um zu sehen, was geschehen würde.
Reanne schwankte mit bleichem Gesicht und versuchte sichtlich, wenn auch nur mit geringem Erfolg, sich zusammenzunehmen. Sie brauchte nur einen Moment, um die fünf vor der Tür aufgereihten Aes Sedai mit den gelassenen Gesichtern prüfend zu betrachten und zu entscheiden, welche von ihnen das Sagen hatte. Sie wankte über die Bodenfliesen zu Merilille und sank mit gebeugtem Kopf auf die Knie. »Vergebt uns, Aes Sedai.« Ihre Stimme klang verehrungsvoll und nur unwesentlich fester, als ihre Knie es gewesen waren. Tatsächlich stammelte sie. »Wir sind nur wenige Freundinnen. Wir haben nichts getan, gewiß nichts, was die Aes Sedai in Mißkredit bringen könnte. Das schwöre ich, was auch immer dieses Mädchen Euch gesagt hat. Wir hätten Euch von ihr erzählt, aber wir hatten Angst. Wir kommen nur zusammen, um uns zu unterhalten. Sie hat eine Freundin, Aes Sedai. Habt Ihr sie ebenfalls gefangengenommen? Ich kann sie Euch beschreiben, Aes Sedai. Ich werde tun, was immer Ihr wünscht. Ich schwöre, daß wir...«
Merilille räusperte sich laut. »Euer Name ist Reanne Corly?« Reanne zuckte zusammen und flüsterte, dem sei so, während sie noch immer den Boden zu Füßen der Grauen Schwester betrachtete. »Ich fürchte, Ihr müßt Euch an Elayne Sedai wenden, Reanne.«
Reanne hob auf höchst zufriedenstellende Weise ruckartig den Kopf. Sie sah Merilille an, und dann weiteten sich ihre Augen in maßlosem Entsetzen. Sie leckte sich über die Lippen und atmete tief ein. Sie wandte sich auf Knien zu Elayne um und beugte erneut den Kopf. »Ich bitte Euch um Vergebung, Aes Sedai«, sagte sie bleiern. »Ich wußte nicht... Ich konnte nicht...« Ein weiteres tiefes, hoffnungsloses Einatmen. »Welche Bestrafung auch immer Ihr entscheidet, wir nehmen sie demütigst an, aber bitte glaubt mir, daß...«
»Oh, steht schon auf«, unterbrach Elayne sie ungeduldig. Sie hatte die Anerkennung dieser Frau genauso sehr gewollt wie die Merililles oder jeder der anderen, aber diese Kriecherei bereitete ihr Übelkeit. »So ist es gut. Steht auf.« Sie wartete, bis Reanne ihrer Aufforderung gefolgt war, trat dann fort und setzte sich auf den Stuhl der Frau. Es bestand keine Notwendigkeit zu katzbuckeln, aber sie wollte auch keinen Zweifel daran lassen, wer das Sagen hatte. »Wollt Ihr noch immer leugnen, von der Schale der Winde zu wissen, Reanne?«
Reanne spreizte die Hände. »Aes Sedai«, sagte sie arglos, »keine von uns würde jemals ein Ter'angreal und noch viel weniger ein Angreal oder ein Sa'angreal benutzen.« Arglos, und wachsam wie ein Fuchs in der Stadt. »Ich versichere Euch, daß wir keinen Anspruch darauf erheben, etwas den Aes Sedai auch nur Nahestehendes zu sein. Wir sind nur diese wenigen Freundinnen, die Ihr hier seht, die dadurch verbunden sind, daß sie einst die Erlaubnis erhielten, die Weiße Burg zu betreten. Das ist alles.«
»Nur diese wenigen Freundinnen«, wiederholte Elayne trocken über aneinandergelegte Finger hinweg. »Und natürlich Garenia. Und Berowin, und Derys, und Alise.«
»Ja«, bestätigte Reanne widerwillig. »Und sie.«
Elayne schüttelte überaus gemächlich den Kopf. »Reanne, die Weiße Burg weiß von Eurer Schwesternschaft. Die Burg hat schon immer davon gewußt.« Eine dunkle Frau mit tairenischem Aussehen -obwohl sie eine blauweiße Seidenweste mit dem Zeichen der Gilde der Goldschmiede trug - stieß einen unterdrückten Schrei aus und preßte dann beide Hände auf den Mund. Eine hagere, bereits ergrauende Saldaeanerin, die den roten Gürtel trug, sank mit einem Seufzen zusammen und folgte der blonden Frau auf den Boden, und zwei weitere schwankten, als wollten sie es ihnen gleichtun.
Reanne hingegen sah die Schwestern vor der Tür Bestätigung heischend an und erhielt sie, wie sie glaubte. Merililles Gesicht war eher frostig als gelassen, und Sareitha verzog das Gesicht, bevor sie es verhindern konnte. Vandene und Careane preßten beide die Lippen zusammen, und Adeleas wandte den Kopf hierhin und dorthin, um die Frauen an den Wänden zu betrachten, wie sie vielleicht ihr bisher unbekannte Insekten betrachtet hätte. Natürlich entsprach das, was Reanne sah, nicht dem, was tatsächlich war. Sie hatten Elaynes Entscheidung alle angenommen, aber auch noch so viel »Ja, Elayne...« konnte sie nicht dazu bringen, daß sie ihnen auch gefiel. Sie hätten schon vor zwei Stunden hier sein können, wenn nicht so viele »Aber, Elayne...« eingewandt worden wären. Manchmal bedeutete Führung eine Herde hüten.
Reanne fiel nicht in Ohnmacht, aber ihr Gesicht war angsterfüllt, und sie hob flehend die Hände. »Wollt Ihr die Schwesternschaft vernichten? Warum jetzt, nach so langer Zeit? Was haben wir getan, daß Ihr jetzt über uns herfallt?«
»Niemand wird Euch vernichten«, belehrte Elayne sie. »Careane, da niemand sonst den beiden helfen wird - würdet Ihr es bitte tun?« Überall im Rund sprang jemand auf, und einige erröteten, und bevor Careane reagieren konnte, kauerten bereits zwei Frauen über jeweils einer Ohnmächtigen, hoben sie auf und hielten ihnen Riechsalz unter die Nase. »Der Amyrlin-Sitz wünscht, daß sich jede Frau, welche die Macht lenken kann, mit der Burg verbindet«, fuhr Elayne fort. »Das Angebot gilt für jedes Mitglied der Schwesternschaft, das es annehmen will.«
Hätte sie Stränge Luft um jede einzelne dieser Frauen gewoben, hätte sie sie nicht starrer halten können. Hatte sie jene Stränge fest zusammengedrückt, wären ihre Augen nicht weiter hervorgetreten. Eine der Frauen, die ohnmächtig geworden waren, keuchte und hustete plötzlich und schob das Fläschchen Riechsalz fort, das ihr bereits zu lange unter die Nase gehalten wurde, woraufhin sich aller Erstarrung löste und eine Flut von Stimmen anschwoll.
»Wir können doch noch Aes Sedai werden?« fragte die Tairenerin in der Weste der Gilde der Goldschmiede aufgeregt, während eine Frau mit rundlichem Gesicht, die einen mindestens doppelt so langen roten Gürtel wie alle anderen trug, gleichzeitig herausplatzte: »Sie werden uns lernen lassen? Sie werden uns wieder lehren?« Eine Flut qualvoll eifriger Stimmen. »Wir können wirklich...?« und »Sie werden uns tatsächlich...?« von allen Seiten.
Reanne fuhr heftig zu ihnen herum. »Ivara, Sumeko, Ihr alle, Ihr vergeßt Euch! Ihr sprecht vor Aes Sedai! Ihr sprecht ... vor ... Aes Sedai.« Sie fuhr sich mit zitternder Hand über das Gesicht. Verlegenes Schweigen senkte sich herab. Augenlider wurden gesenkt, und Röte stieg in die Wangen. Trotz all dieser Falten aufweisenden Gesichter und des grauen und weißen Haars fühlte sich Elayne an eine Gruppe Novizinnen erinnert die nach dem letzten Läuten eine Kissenschlacht veranstalteten, als die Herrin der Novizinnen hereinkam.
Reanne blickte zögernd über ihre Fingerspitzen. »Wir werden wirklich in die Burg zurückkehren dürfen?« fragte sie kaum hörbar.
Elayne nickte. »Diejenigen, die lernen können, Aes Sedai zu werden, werden die Chance bekommen, aber es wird für alle Platz sein. Für jede Frau, welche die Macht lenken kann.«
Ungeweinte Tränen schimmerten in Reannes Augen. Elayne war sich nicht sicher, aber sie glaubte die Frau flüstern zu hören: »Ich kann eine Grüne werden.« Es fiel ihr sehr schwer, nicht zu ihr zu eilen und sie zu umarmen.
Keine der anderen Aes Sedai zeigte Gefühle, und Merilille war gewiß aus noch härterem Holz. »Wenn ich eine Frage stellen dürfte, Elayne? Reanne, wie viele ... von Euch werden wir aufnehmen?« Die kleine Pause sollte zweifellos die Formulierung »wie viele Wilde und Frauen, die es beim ersten Mal nicht geschafft haben« verhindern.
Wenn Reanne es bemerkte oder vermutete, kümmerte sie sich nicht darum. »Ich kann nicht glauben, daß jemand das Angebot ablehnen würde«, sagte sie atemlos. »Es wird vielleicht einige Zeit dauern, alle zu benachrichtigen. Wir bleiben verstreut, versteht Ihr, damit...« Sie lachte ein wenig nervös und noch immer den Tränen nahe. »...damit Aes Sedai uns nicht bemerken. Im Moment stehen eintausendsiebenhundertdreiundachtzig Namen auf der Liste.«
Die meisten Aes Sedai lernten, ein Erschrecken hinter äußerlicher Ruhe zu verbergen, und nur Sareitha ließ es zu, daß sich ihre Augen weiteten. Sie formulierte auch lautlos Worte, und Elayne kannte sie gut genug, um ihre Lippen lesen zu können. Zweitausend Wilde! Das Licht helfe uns! Elayne beschäftigte sich angelegentlich mit ihren Röcken, bis sie sicher war, daß sie ihre Miene beherrschte. Das Licht helfe ihnen in der Tat.
Reanne mißverstand das Schweigen. »Habt Ihr mehr erwartet? Jedes Jahr sterben mehrere Frauen bei Unfällen oder eines natürlichen Todes, wie andere Menschen auch, und ich fürchte, die Schwesternschaft hat sich in den letzten tausend Jahren verringert. Vielleicht waren wir zu vorsichtig darin, uns Frauen anzunähern, wenn sie die Weiße Burg verlassen, aber es bestand immer die Angst, daß eine von ihnen berichten könnte, befragt worden zu sein, und ... und...«
»Wir sind nicht im geringsten enttäuscht«, versicherte Elayne ihr mit tröstlichen Gesten. Enttäuscht? Sie hätte beinahe hysterisch gekichert. Es gab fast doppelt so viele Mitglieder der Schwesternschaft wie Aes Sedai! Egwene würde niemals behaupten können, sie hätte nicht ihren Teil dazu beigetragen, Frauen, welche die Macht lenken konnten, in die Burg zu bringen. Aber wenn die Schwesternschaft Wilde ablehnte... Sie mußte bei der Sache bleiben. Die Schwesternschaft war nur zufällig entdeckt worden. »Reanne«, sagte sie sanft, »meint Ihr, Ihr könntet Euch jetzt daran erinnern, wo sich die Schale der Winde befindet?«
Reanne errötete zutiefst. »Wir sind niemals damit in Berührung gekommen, Elayne Sedai. Ich weiß nicht, warum Angreale gesammelt wurden. Ich habe niemals von dieser Schale der Winde gehört, aber es gibt einen Lagerraum, wie Ihr ihn beschrieben habt, drüben...«
Im unteren Stockwerk lenkte eine Frau kurz die Macht, und jemand schrie in höchstem Entsetzen.
Elayne sprang blitzartig auf, wie auch alle anderen.
Birgitte zog irgendwo unter ihrem mit Federn geschmückten Gewand einen Dolch hervor.
»Das muß Derys gewesen sein«, sagte Reanne. »Sie ist die einzige, die noch im Haus ist.«
Elayne eilte voran und ergriff ihren Arm, als sie zur Tür laufen wollte. »Ihr seid noch keine Grüne«, murmelte sie und wurde mit einem reizenden, gleichzeitig überraschten und schüchternen Lächeln bedacht. »Wir werden uns darum kümmern, Reanne.«
Merilille und die anderen stellten sich auf beiden Seiten auf, bereit, Elayne aus dem Raum zu folgen, aber Birgitte war bereits vor ihnen allen an der Tür und grinste, während sie nach dem Riegel griff. Elayne schluckte und schwieg. Das war die Ehre der Behüter, sagten die Gaidin: als erste hineinzugehen und als letzte herauszukommen. Aber sie umarmte dennoch Saidar, bereit, alles zu zermalmen, was ihre Behüterin bedrohen würde.
Die Tür öffnete sich, bevor Birgitte den Riegel anheben konnte.
Mat schlenderte herein und schob eine schlanke Dienerin, an die Elayne sich erinnerte, vor sich her. »Ich dachte mir schon, daß Ihr hier wärt.« Er grinste unverschämt, beachtete Derys' Blicke aber nicht und fuhr fort. »Als ich nämlich eine verdammt große Anzahl Behüter in meinem am wenigsten beliebten Wirtshaus vorfand. Ich komme gerade von der Verfolgung einer Frau in den Rahad zurück. Ins oberste Stockwerk eines unbewohnten Hauses, um genau zu sein. Nachdem sie gegangen war, konnte ich durch den Staub auf dem Boden sofort erkennen, welchen Raum sie betreten hatte. Es befindet sich ein verdammt großes, verrostetes Schloß an der Tür, aber ich wette tausend Goldstücke gegen einen Tritt in den Hintern, daß sich Eure Schale hinter dieser Tür befindet.« Derys wollte ihn treten, doch er schob sie fort, zog einen kleinen Dolch aus seinem Gürtel und ließ ihn auf seiner Handfläche springen. »Würde eine von Euch dieser Wildkatze erklären, auf wessen Seite ich stehe? Frauen mit Dolchen beunruhigen mich zur Zeit.«
»Das wissen wir bereits alles, Mat«, sagte Elayne. Nun, sie waren gerade im Begriff gewesen, alles darüber zu erfahren, aber seine erstaunte Miene war unbezahlbar. Sie spürte etwas von Birgitte. Sie sah sie eher ausdruckslos an, aber diese kleine Gefühlsverwicklung, die Elayne unterbewußt spürte, vermittelte Mißfallen. Aviendha würde wahrscheinlich auch nicht viel davon halten. Jetzt den Mund zu öffnen, war eine der schwersten Aufgaben, die Elayne jemals bewältigt hatte. »Ich muß Euch jedoch danken, Mat. Es ist vollkommen Euch zuzuschreiben, daß wir fanden, was wir gesucht haben.«
Er schloß rasch den Mund, öffnete ihn jedoch gleich wieder. »Dann sollten wir ein Boot mieten und diese verdammte Schale holen. Mit etwas Glück können wir Ebou Dar noch heute nacht verlassen.«
»Das ist lächerlich, Mat. Wir werden nicht im Dunkeln im Rahad herumschleichen, und wir werden Ebou Dar erst verlassen, wenn wir die Schale gebraucht haben.«
Er versuchte natürlich, darüber zu diskutieren, aber Derys ergriff die Gelegenheit, daß seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet war, und versuchte erneut, ihn zu treten. Er sprang um Birgitte herum und schrie, jemand solle ihm helfen, während die schlanke Frau hinter ihm herjagte.
»Ist er Euer Behüter, Elayne Sedai?« fragte Reanne zweifelnd.
»Licht, nein! Birgitte ist meine Behüterin.« Reannes Kinn sank herab. Nachdem sie eine Frage beantwortet hatte, stellte Elayne selbst eine Frage, die sie keiner anderen Schwester hätte stellen mögen. »Reanne, wenn es Euch nichts ausmacht, es mir zu sagen -wie alt seid Ihr?«
Die Frau zögerte und schaute zu Mat, aber er sprang herum, um eine grinsende Birgitte zwischen sich und Derys zu halten. »Mein nächster Namenstag«, sagte Reanne, als wäre es das Normalste von der Welt, »wird der vierhundertzwölfte sein.«
Merilille fiel auf der Stelle in Ohnmacht.