28 Brot und Käse

Mat wußte seit dem Tag, an dem er in den TarasinPalast gezogen war, daß er sich in Schwierigkeiten befand, Er hätte sich weigern können. Nur weil sich die flammenden Würfel drehten oder zur Ruhe kamen, bedeutete das nicht, daß er alles tun mußte. Wenn sie aufhörten, sich zu drehen, war es normalerweise zu spät, nichts zu tun. Das Problem war, daß er den Grund dafür wissen wollte. Noch vor wenigen Tagen hätte er gewünscht, er hätte seine Neugier unterdrückt.

Nachdem Nynaeve und Elayne sein Zimmer verlassen hatten, und als er seine Füße erreichen konnte, ohne das Gefühl zu haben, ihm würde der Kopf zerspringen, informierte er seine Männer. Niemand schien die Nachteile zu erkennen. Er wollte sie nur vorbereiten, aber niemand hörte zu.

»Sehr gut, mein Lord«, murmelte Nerim und half Mat, die Stiefel anzuziehen. »Mein Lord wird endlich angemessene Räume beziehen. Oh, sehr gut.« Er schien seine düstere Miene einen Moment abzulegen. »Ich werde die rote Seidenjacke für meinen Lord ausbürsten. Mein Lord hat sich die blaue Jacke recht stark mit Wein verdorben.« Mat wartete ungeduldig, zog die Jacke an und eilte in den Gang.

»Aes Sedai?« murrte Nalesean, während er sich ein sauberes Hemd überzog. Sein beleibter Diener, Lopin, blieb hinter ihm. »Verdammt sei meine Seele - ich mag Aes Sedai nicht besonders, aber ... der TarasinPalast, Mat.« Mat zuckte zusammen. Schlimm genug, daß der Mann ohne Nachwirkungen am nächsten Morgen ein Faß Branntwein trinken konnte, aber mußte er so grinsen? »Ah, Mat, jetzt können wir die Würfel vergessen und statt dessen mit unseresgleichen Karten spielen.« Er meinte Adlige, die einzigen, die es sich - außer wohlhabenden Kaufleuten, die nicht lange wohlhabend bleiben würden, wenn sie um die gleichen Einsätze wie Adlige wetteten -, leisteten zu spielen. Nalesean rieb sich forsch die Hände, während Lopin seine Schnürbänder zu schließen versuchte. »Seidenlaken«, murmelte er. Wer hatte jemals von Seidenlaken gehört? Jene alten Erinnerungen drängten herauf, aber Mat weigerte sich zuzuhören.

»Lauter Adlige«, grollte Vanin im Untergeschoß und schürzte die Lippen, als wollte er ausspeien. Er hielt unbewußt nach Herrin Anan Ausschau. Aber dann beschloß er, aus dem Becher herben Weins zu trinken, der sein Frühstück war. »Es wäre jedoch gut, Lady Elayne wiederzusehen.« Versonnen hob er seine freie Hand, als wollte er sich mit den Knöcheln an die Stirn klopfen. Mat stöhnte. Diese Frau hatte einen guten Mann verdorben. »Wollt Ihr, daß ich Carridin noch einmal aufsuche?« fuhr Vanin fort, als sei alles andere belanglos. »In seiner Straße halten sich so viele Bettler auf, daß es schwer ist, etwas zu sehen. Es suchen ihn stets schrecklich viele Leute auf.« Mat gab sein Einverständnis. Kein Wunder, daß es Vanin nicht kümmerte, ob der Palast voller Adliger und Aes Sedai war. Er würde den Tag in der Sonne schwitzend und von Menschenmengen umgeben verbringen. Weitaus behaglicher.

Es hatte keinen Zweck zu versuchen, Harnan und die anderen Rotwaffen zu warnen, die alle weiße Getreideflocken und kleine schwarze Würste in sich hineinschaufelten, während sie einander in die Rippen stießen und über die Dienerinnen im Palast lachten, die, wie sie gehört hatten, alle aufgrund ihrer Schönheit ausgewählt wurden und mit ihrer Gunst bemerkenswert freizügig umgingen. Was den Tatsachen entsprach, wie sie sich ständig gegenseitig versicherten.

Die Dinge wurden keineswegs besser, als er auf der Suche nach Herrin Anan zur Begleichung der Rechnung in die Küchen ging. Caira war dort, aber sie hatte doppelt so schlechte Laune wie am Abend zuvor. Sie streckte die Unterlippe vor, funkelte ihn an und stolzierte aus der Tür in den Stallhof, wobei sie sich die Kehrseite rieb. Vielleicht hatte sie sich in die eine oder andere Schwierigkeit gebracht, aber er konnte nicht verstehen, warum sie ihn dafür verantwortlich machte.

Herrin Anan befand sich anscheinend draußen - sie organisierte ständig Suppenküchen für Flüchtlinge oder half bei irgendwelchen anderen wohltätigen Zwecken aus -, befehligte ihre umhereilenden Helfer mit einem langen Holzlöffel und nahm Mats Geld gern mit ihrer kräftigen Hand entgegen. »Ihr quetscht zu viele Melonen aus, mein junger Herr, und solltet nicht überrascht sein, wenn Euch eine faule in der Hand zerfällt«, sagte sie aus einem unbestimmten Grund in düsterem Tonfall. »Oder zwei«, fügte sie nach einem Moment nickend hinzu. Sie beugte sich nahe zu ihm und hob ihm ihr schwitzendes, rundes Gesicht mit eindringlichem Blick entgegen. »Ihr werdet Euch nur Ärger einhandeln, wenn Ihr ein Wort sagt. Ihr werdet schweigen.« Es klang nicht wie eine Frage.

»Kein Wort«, sagte Mat. Wovon, im Licht, sprach sie? Es schien jedoch die richtige Antwort gewesen zu sein, denn sie nickte und watschelte davon, während sie den Löffel doppelt so heftig schwang wie zuvor. Er hatte einen Moment lang geglaubt, sie wolle ihn damit schlagen. Die reine Wahrheit war, daß alle -nicht nur einige - Frauen eine gewalttätige Ader hatten.

Eines ergab das andere, und er war erleichtert, als Nerim und Lopin sich lautstark darüber ausließen, welches Gepäck ihrer beiden Herren zuerst hinübergetragen würde. Mat und Nalesean brauchten eine gute halbe Stunde, um sie wieder zu beruhigen. Ein Diener, der sich leicht aufregte, konnte einem das Leben schwermachen. Dann mußte er entscheiden, welchem der Rotwaffen die Ehre erwiesen werden sollte, die Kiste Gold hinüberzuschleppen und welcher die Pferde nehmen sollte. Wie dem auch sei - dadurch konnte er dem verdammten Tarasin-Palast noch eine Weile länger fernbleiben.

Als er es sich jedoch erst einmal in seinen neuen Räumen bequem gemacht hatte, vergaß er seine Sorgen zunächst beinahe. Er hatte einen großen Wohnraum und einen kleinen, in dieser Gegend Schmollwinkel genannten Raum zur Verfügung, sowie einen gewaltigen Schlafraum mit dem größten Bett, das er je gesehen hatte, dessen Bettpfosten mit allen möglichen Blumenornamenten verziert waren. Der größte Teil der Einrichtung war hellrot oder hellblau, wenn nicht goldüberzogen. Eine kleine Tür in der Nähe des Bettes führte zu einem beengten fensterlosen Raum für Nerim, den der Bursche trotz des schmalen Bettes anscheinend hervorragend fand. Mats Räume wiesen alle hohe Bogenfenster auf, die auf Balkone mit weißen Gittern über dem Mol-Hara-Platz führten. Die Stehlampen waren vergoldet, wie auch die Spiegelrahmen. Es gab zwei Spiegel im Schmollwinkel, drei im Wohnraum und vier im Schlafraum. Die Uhr - eine Uhr! - auf dem marmornen Kaminsims im Wohnraum glitzerte vor Gold. Die Waschschüssel und der Krug bestanden aus rotem Meervolk-Porzellan. Mat war beinahe enttäuscht, als er entdeckte, daß der Nachttopf unter dem Bett nur aus einfacher weißer Keramik bestand. Im Wohnraum befand sich außerdem ein Regal mit einem Dutzend Büchern. Nicht, daß er viel gelesen hätte.

Selbst wenn man die nicht harmonierenden Farben der Wände, Decken und Bodenfliesen bedachte, strotzten die Räume vor Reichtum. Zu einer anderen Zeit hätte er einen Gigue getanzt. Zu jeder anderen Zeit, wenn er sich nicht bewußt gewesen wäre, daß eine Frau, deren Räume sich auf dem gleichen Gang befanden. Übles mit ihm vorhatte. Wenn Teslyn oder Merilille oder eine der Ihren es nicht, trotz seines Medaillons, zuerst schafften. Warum hatten die Würfel in seinem Kopf aufgehört umherzurollen, sobald Elayne diese verdammten Räume erwähnte? Neugier. Er hatte zu Hause von mehreren Frauen ein Sprichwort gehört, üblicherweise, wenn er etwas getan hatte, was zum damaligen Zeitpunkt ein Spaß zu sein schien. »Menschen lehren Katzen Neugier, aber Katzen haben ihren eigenen Kopf.«

»Ich bin keine verdammte Katze«, murrte er, während er vom Schlafraum ins Wohnzimmer ging. Er mußte es nur einfach wissen. Das war alles.

»Natürlich seid Ihr keine Katze«, sagte Tylin. »Ihr seid ein knuspriges, kleines Entchen.«

Mat zuckte zusammen und sah sie an. Entchen? Und noch dazu ein kleines Entchen! Die Frau reichte ihm knapp bis an die Schulter. Trotz seiner Empörung verneigte er sich angemessen. Sie war die Königin, daran mußte er denken. »Majestät, ich danke Euch für diese wunderschönen Räume. Ich würde mich sehr gern mit Euch unterhalten, aber ich muß gehen und...«

Sie schwebte lächelnd über die rotgrünen Bodenfliesen heran, während ihr blaues Gewand mit den weißen Seidenunterröcken schwang, die dunklen Augen fest auf ihn geheftet. Er vermied es, den sich in ihren üppigen Ausschnitt schmiegenden Hochzeitsdolch zu betrachten. Oder den größeren, mit Edelsteinen besetzten Dolch, der hinter einem gleichermaßen mit Edelsteinen besetzten Gürtel steckte. Er wich zurück.

»Majestät ich habe eine wichtige...«

Sie begann zu summen. Er erkannte die Melodie. Er hatte sie in letzter Zeit verschiedenen Mädchen vorgesummt. Er war klug genug, nicht tatsächlich singen zu wollen, und außerdem war der Text, den sie in Ebou Dar kannten, zu anstößig. In dieser Gegend nannten sie das Lied; »Ich werde dir mit meinen Küssen den Atem rauben«.

Er lachte nervös und versuchte, einen Tisch mit Einlegearbeiten zwischen sich und sie zu bringen, aber irgendwie gelangte sie zuerst darum herum, ohne ihre Schritte beschleunigt zu haben. »Majestät, ich...«

Sie legte eine Hand flach auf seine Brust, drängte ihn in einen hochlehnigen Stuhl und setzte sich auf seinen Schoß. Er war zwischen ihr und den Stuhllehnen gefangen. Oh, er hätte sie hochheben und ganz leicht auf die Füße stellen können. Nur daß sie diesen verdammt großen Dolch am Gürtel trug und er bezweifelte, daß sie eine solch grobe Behandlung genauso gutheißen würde wie ihre grobe Behandlung seiner Person. Dies war immerhin Ebou Dar, wo eine Frau, die einen Mann tötete, von Schuld freigesprochen war, bis sich etwas anderes erwies. Er hätte sie leicht hochheben können, nur...

Er hatte Fischhändler in der Stadt seltsame Meerestiere namens Tintenfisch und Krake verkaufen sehen -tatsächlich aßen Ebou Dari diese Wesen! -, aber sie waren nichts gegen Tylin. Die Frau besaß zehn Hände. Er schlug um sich, versuchte vergeblich, sie abzuwehren, und sie lachte leise. Zwischen Küssen erhob er atemlos Einspruch, daß jemand hereinkommen könnte, doch sie kicherte nur. Er äußerte seinen Respekt vor der Krone, und sie gluckste. Er berief sich auf seine Treue zu einem Mädchen zu Hause, die sein Herz besaß. Darüber lachte sie wahrhaftig.

»Was sie nicht weiß, kann ihr nicht schaden«, murmelte sie, während ihre zwanzig Hände keinen Moment innehielten.

Jemand klopfte an die Tür.

Er befreite seinen Mund und schrie: »Wer ist da?« Nun, es war wahrhaftig ein Schrei. Ein schriller Schrei. Er war immerhin außer Atem.

Tylin war so schnell von seinem Schoß aufgesprungen und hatte sich drei Schritte entfernt, daß es schien, als könne sie zaubern. »Mat? Ich war mir nicht sicher, daß du es warst. Oh, Majestät!« Für einen hageren, alten Gaukler konnte Thom trotz seines Hinkens eine hervorragende Verbeugung vollführen. Juilin konnte es nicht, aber er riß seine lächerliche rote Mütze herunter und tat ebenfalls sein Bestes. »Ich bitte um Vergebung. Wir wollten nicht stören...«, begann Thom, aber Mat unterbrach ihn hastig.

»Komm herein, Thom!« Er zog seine Jacke wieder an und wollte aufstehen, als er erkannte, daß die verdammte Frau irgendwie den Gürtel seine Hose geöffnet hatte, ohne daß er es bemerkt hatte. Die beiden würden vielleicht nicht beachten, daß sein Hemd bis zur Taille aufgeknöpft war, aber sie würden eine herunterfallende Hose sehr wohl bemerken. Tylins blaues Gewand war nicht im geringsten in Unordnung! »Juilin, komm herein!«

»Ich bin froh, daß Euch Eure Räume gefallen, Meister Cauthon«, sagte Tylin, die fleischgewordene Würde - bis auf ihre Augen, als sie so stand, daß Thom und Juilin ihr Gesicht nicht sehen konnten. Ihr Blick verwob harmlose Worte mit besonderer Bedeutung. »Ich freue mich darauf, Eure Gesellschaft genießen zu können. Es wird sicherlich interessant für mich, einen Ta'veren in Reichweite zu haben. Aber ich muß Euch jetzt Euren Freunden überlassen. Nein, bleibt bitte sitzen.« Letzteres mit nur der Andeutung eines spöttischen Lächelns.

»Nun, Junge«, sagte Thom und strich sich über seinen Schnurrbart, nachdem Tylin gegangen war, »du hast Glück, daß du von der Königin mit offenen Armen empfangen wirst.« Juilin interessierte sich plötzlich sehr für seine Mütze.

Mat beobachtete sie aufmerksam und warnte sie im Geiste, noch ein Wort zu sagen - nur ein Wort! -, aber als er dann nach Nynaeve und Elayne fragte, vergaß er die Sorge, wieviel sie vermuteten. Die Frauen waren noch nicht zurückgekehrt. Trotz seiner geöffneten Hose wäre er beinahe aufgesprungen. Sie versuchten sich bereits jetzt aus ihrer Vereinbarung herauszuwinden. Lautstark verlieh er seiner Meinung über die verdammte Nynaeve al'Meara und Elayne, die verdammte Tochter-Erbin, Ausdruck. Es war unwahrscheinlich, daß sie ohne ihn in den Rahad aufgebrochen waren, aber er hätte es ihnen durchaus zugetraut, auf eigene Faust Carridin auszuspionieren. Elayne würde ein Geständnis fordern und erwarten, daß der Mann zusammenbräche. Nynaeve würde es aus ihm herauszuprügeln versuchen.

»Ich glaube nicht, daß sie Carridin belästigen werden«, sagte Juilin und kratzte sich hinter dem Ohr. »Nach dem, was ich gehört habe, kümmern sich Aviendha und Birgitte um ihn. Wir haben sie nicht fortgehen sehen. Du brauchst dir gewiß keine Sorgen darüber zu machen, daß er erkennt, was er sieht, selbst wenn er direkt an ihnen vorbei spaziert.« Thom, der sich gerade gewürzten Wein in einen vergoldeten Becher goß, den Mat in seinen Räumen vorgefunden hatte, fuhr mit seiner Erklärung fort.

Mat legte eine Hand über die Augen. Mit der Macht gestaltete Verkleidungen. Kein Wunder, daß sie wie Schlangen davongeschlüpft waren, wann immer sie wollten. Diese Frauen würden Schwierigkeiten machen. Das konnten Frauen am besten. Es überraschte ihn kaum zu erfahren, daß Thom und Juilin noch weniger über diese Schale der Winde wußten als er.

Nachdem sie gegangen waren, um sich auf einen Besuch des Rahad vorzubereiten, hatte er Zeit, seine Kleidung zu richten, bevor Nynaeve und Elayne zurückkämen. Er nützte die Gelegenheit, ein Stockwerk tiefer nach Olver zu sehen. Die hagere Gestalt des Jungen hatte durch Enid und die übrigen Köche der Wanderin ein wenig Speck angesetzt, aber er würde selbst für einen Cairhiener immer klein bleiben, und auch wenn seine Ohren und sein Mund auf die Hälfte zusammenschrumpften, würde seine Nase noch immer bewirken, daß er nicht allzugut aussah. Nicht weniger als drei Schankmädchen machten ein Aufhebens um ihn, während er mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett saß.

»Mat, hat Haesel nicht wunderschöne Augen?« fragte Olver und strahlte die junge Frau mit den großen Augen an, der Mat begegnet war, als er das letztemal in den Palast gekommen war. Sie strahlte ebenfalls und zerzauste dem Jungen die Haare. »Oh, aber Alis und Loya sind auch so lieb, daß ich mich niemals entscheiden könnte.« Eine mollige Frau in fast mittlerem Alter blickte von ihrer Tätigkeit auf, Olvers Satteltaschen auszupacken, um ihm ein breites Lächeln zu gönnen, und ein schlankes Mädchen mit vollen Lippen klopfte auf das Handtuch, das sie gerade auf seinen Waschtisch gelegt hatte, warf sich dann aufs Bett und kitzelte Olver an den Rippen, bis er hilflos lachend umfiel.

Mat schnaubte. Harnan und die anderen waren schon schlimm genug, aber jetzt ermutigten diese Frauen auch noch den Jungen! Wie sollte er so jemals lernen, sich zu benehmen? Olver sollte auf der Straße spielen wie jeder andere Zehnjährige. Über ihn fielen in seinem Zimmer keine Schankmädchen her. Er hegte keinen Zweifel, daß Tylin dafür gesorgt hatte.

Er hatte Zeit, nach Olver zu sehen, bei Harnan und den anderen Rotwaffen vorbeizuschauen, die sich einen langen, von Betten gesäumten Raum nicht weit von den Ställen entfernt teilten, und in die Küchen hinab zu schlendern, um etwas Brot und Fleisch zu essen - die Getreideflocken im Gasthaus hatte er nicht hinunterbringen können. Nynaeve und Elayne waren noch immer nicht zurückgekehrt. Schließlich blätterte er in den Büchern in seinem Wohnraum und begann Die Reisen des Jain Fernschreiter zu lesen, obwohl er vor Sorge kaum ein Wort aufnahm. Thom und Juilin kamen in dem Moment herein, als die endlich eingetroffenen Frauen gerade damit beschäftigt waren, sich zu ereifern, daß sie ihn erst hier vorfanden, als dächten sie, er würde sein Wort nicht halten.

Er schloß das Buch ruhig und legte es ebenso ruhig auf den Tisch neben seinem Stuhl. »Wo wart Ihr?«

»Wir sind spazierengegangen«, sagte Elayne strahlend, die blauen Augen noch weiter geöffnet, als er sie je gesehen zu haben glaubte. Thom runzelte die Stirn und zog einen Dolch aus seinem Ärmel, den er in den Händen hin und her rollen ließ. Er sah Elayne bewußt nicht einmal an.

»Wir haben mit einigen Frauen Tee getrunken, die mit der Wirtin befreundet sind«, sagte Nynaeve. »Aber ich will Euch nicht mit Gesprächen über Handarbeiten langweilen.« Juilin wollte den Kopf schütteln, hielt aber dann inne, bevor sie es bemerkte.

»Nein, bitte, Ihr langweilt mich wirklich nicht«, sagte Matt trocken. Er nahm an, daß sie ein Ende einer Nadel vom anderen unterscheiden konnte, aber er vermutete, daß sie sich genauso bereitwillig eine Nadel durch die Zunge stechen wie über Näharbeiten sprechen würde. Keine der Frauen bemühte sich um Höflichkeit, und damit bestätigten sie seine schlimmsten Befürchtungen. »Ich habe zwei Männer für jede von Euch abgestellt, die heute nachmittag mit Euch hinausgehen. Und morgen und jeden weiteren Tag werden es noch zwei Männer mehr sein. Wenn Ihr Euch nicht innerhalb des Palastes oder in meiner unmittelbaren Nähe befindet, werdet Ihr Leibwächter mitnehmen. Sie kennen ihren Dienstplan bereits. Sie werden ständig bei Euch bleiben - ständig -, und Ihr werdet mich wissen lassen, wo Ihr hingeht. Ihr werdet mich nicht mehr in Sorge versetzen, bis mir die Haare ausfallen.«

Er erwartete Empörung und Streit und rechnete damit, daß sie sich aus dem, was sie versprochen oder nicht versprochen hatten, herauszuwinden versuchen würden. Er erwartete, daß seine zahlreichen Forderungen ihm am Ende noch mehr Schwierigkeiten einbringen würden. Nynaeve sah Elayne an. Elayne sah Nynaeve an.

»Nun, Leibwächter sind eine wunderbare Idee, Mat«, rief Elayne aus und lächelte. »Ihr hattet vermutlich recht damit. Und es ist sehr klug von Euch, daß Ihr die Männer bereits eingeteilt habt.«

»Es ist eine wunderbare Idee«, sagte Nynaeve und nickte begeistert. »Und sehr klug von Euch, Mat.«

Thom ließ den Dolch mit einem unterdrückten Fluch fallen, sog an einem Schnitt im Finger und starrte die Frauen an.

Mat seufzte. Schwierigkeiten. Er hatte es gewußt. Und das war, bevor sie ihm sagten, er solle den Rahad im Moment vergessen.

Wodurch er sich auf einer Bank vor einer billigen Taverne nicht weit vom Hafenviertel wiederfand, die sich Die Rose von Elbar nannte, und aus einem der verbeulten Blechbecher trank, die an die Bank gebunden waren. Zumindest spülten sie die Becher für jeden neuen Gast aus. Der Gestank einer Färberei auf der anderen Straßenseite erhob die Rose nur noch - nicht, daß es wirklich eine heruntergekommene Nachbarschaft war, obwohl die Straßen zu schmal für Kutschen waren. Aber eine ansehnliche Anzahl Sanften schwankten durch die Menge. Wenn auch weitaus mehr Passanten Tuche und vielleicht die Weste einer Gilde anstatt Seide trugen, so waren die Tuche doch genauso häufig gut geschnitten wie abgetragen. Die Häuser und Läden waren die übliche Abfolge an weiß verputzten Fassaden, und auch wenn die meisten klein und sogar heruntergekommen waren, stand an einer Ecke zu seiner Rechten doch das große Haus eines wohlhabenden Kaufmanns und zur Linken ein sehr kleiner Palast - zumindest kleiner als das Haus des Kaufmanns - mit einer einzigen, grün gestreiften Kuppel. Zwei Tavernen und ein Gasthaus in seinem Blickfeld wirkten kühl und einladend. Leider war die Rose das einzige, bei dem man draußen sitzen konnte, das einzige am genau richtigen Fleck. Leider.

»Ich glaube, ich habe noch niemals solch prächtige Fliegen gesehen«, grollte Nalesean, während er mehrere auserlesene Exemplare von seinem Becher vertrieb. »Was tun wir hier schon wieder?«

»Du schwitzt wie ein Ochse«, murrte Mat und zog seinen Hut tiefer über die Augen. »Und ich bin Ta'veren.« Er schaute zu dem verfallenen Haus zwischen der Färberei und dem Laden eines Webers, das zu beobachten er gebeten worden war. Nicht gebeten - befohlen traf es eher, ungeachtet dessen, wie sie es nannten und sich um Versprechen herum wanden. Oh, sie ließen es durchaus wie eine Bitte klingen, was er glauben würde, wenn Hunde tanzten, denn er erkannte es, wenn er eingeschüchtert werden sollte. »Sei einfach Ta'veren, Mat.« Nalesean griff seine Bemerkung auf. »Ich weiß, daß du einfach erkennen wirst, was zu tun ist. Pah!« Vielleicht wußte es Elayne, die verdammte Tochter-Erbin mit ihrem verdammten Grübchen, oder Nynaeve mit ihren verdammten Händen, die ständig zu ihrem verdammten Zopf zuckten, aber er wollte verflucht sein, wenn er es wußte. »Wenn sich die verflixte Schale im Rahad befindet - wie soll ich sie dann auf dieser Seite des verdammten Flusses finden?«

»Ich kann mich nicht erinnern, daß sie darüber gesprochen haben«, bemerkte Juilin trocken und nahm einen großen Schluck seines Getränks, das aus gelben, in diesem Gebiet angebauten Früchten gewonnen wurde. »Diese Frage hast du schon mindestens fünfzigmal gestellt.« Er behauptete, das helle Getränk erfrische ihn in der Hitze, aber Mat hatte einmal in eine dieser Zitronen hineingebissen, und er würde nichts hinunterschlucken, was daraus gemacht war. Er hatte noch immer leichte Kopfschmerzen und trank Tee, der schmeckte, als hätte der Tavernenwirt, ein hagerer Bursche mit glänzenden, mißtrauischen Augen, dem Getränk vom jeweiligen Vortag seit der Gründung der Stadt nur stets frische Blätter und Wasser hinzugefügt. Der Geschmack paßte zu seiner Stimmung.

»Ich würde gerne wissen«, murmelte Thom über seine aneinander gelegten Finger hinweg, »warum sie so viele Fragen über deine Gastwirtin gestellt haben.« Er schien nicht sehr aufgebracht darüber, daß die Frauen noch immer Geheimnisse bewahrten. Er war manchmal entschieden eigenartig. »Was haben Setalle Anan und diese Frauen mit der Schale zu tun?«

Frauen kamen und gingen in dem verfallenen Haus. Ein beständiger Strom von Frauen, einige gut gekleidet, wenn auch nicht in Seide, aber kein einziger Mann. Drei oder vier trugen den roten Gürtel einer Weisen Frau. Mat hatte erwogen, einigen von ihnen zu folgen, wenn sie wieder gingen, aber es erschien ihm zu geplant. Er wußte nicht, wie das Ta'veren wirkte - er hatte noch nie einen Hinweis darauf an sich entdeckt -, aber er hatte stets am meisten Glück, wenn alles zufällig geschah. Wie beim Würfeln, während er die meisten der kleinen, eisernen Geduldsspiele in Tavernen allerdings nicht schaffte, auch wenn er ein gutes Gefühl dabei hatte.

Er ging nicht auf Thoms Frage ein. Thom hatte sie mindestens genauso häufig gestellt, wie Mat gefragt hatte, wie er hier die Schale finden sollte. Nynaeve hatte ihm ins Gesicht gesagt, daß sie nicht versprochen hatte, ihm absolut alles zu sagen, was sie wußte. Sie sagte, sie würde ihm erzählen, was immer er wissen müßte... Sie zu beobachten, wie sie fast daran erstickte, ihn nicht beschimpfen zu dürfen, war nicht annähernd genug Rache.

»Ich sollte einmal einen Spaziergang die Gasse hinab machen«, seufzte Nalesean. »Falls eine dieser Frauen beschließt, über die Gartenmauer zu klettern.« Die schmale Lücke zwischen dem Haus und der Färberei war auf voller Länge gut einsehbar, aber hinter den Läden und Häusern verlief eine weitere Gasse. »Mat, sage mir noch einmal, warum wir dies tun, anstatt Karten zu spielen.«

»Ich übernehme das«, sagte Mat. Vielleicht würde er hinter der Gartenmauer herausfinden, wie das Ta'veren wirkte. Er ging und fand nichts heraus.

Bis die Dämmerung die Straße zu vereinnahmen begann und Harnan mit einem kahlköpfigen Andoraner mit schmalen Augen namens Wat zurückkam, war die einzige mögliche Wirkung des Ta'veren, die er bemerkt hatte, diejenige, daß der Tavernenwirt eine frische Kanne Tee braute. Er schmeckte fast genauso schlecht wie der alte.

Wieder in seine Räume im Palast zurückgekehrt, fand er eine Art Einladung vor, die geschmackvoll auf dickem weißen Papier geschrieben war und wie ein Blumengarten duftete.

Mein kleiner Rammler, ich erwarte dich heute abend zum Essen in meinen Räumen.

Keine Unterschrift, aber die war auch nicht nötig. Licht! Die Frau besaß überhaupt kein Schamgefühl! An der Tür zum Gang befand sich ein rot bemaltes Eisenschloß. Er fand den Schlüssel und schloß es ab. Dann verhakte er vorsichtshalber noch einen Stuhl unter der Klinke der Tür zu Nerims Raum. Er konnte gut auf das Essen verzichten. Als er gerade zu Bett gehen wollte, rüttelte jemand an dem Schloß. Draußen im Gang lachte eine Frau, als sie die Tür gesichert vorfand.

Danach hätte er tief schlafen müssen, aber er lag aus einem unbestimmten Grund wach und lauschte seinem knurrenden Magen. Warum tat sie das? Nun, er wußte warum, aber warum er? Sicherlich hatte sie nicht allen Anstand über Bord geworfen, nur um mit einem Ta'veren zu schlafen. Wie dem auch sei - er war jetzt in Sicherheit. Tylin würde wohl nicht die Tür einschlagen. Oder? Und durch den schmiedeeisernen Sichtschutz des Balkons kämen nicht einmal Vögel herein. Außerdem würde sie eine lange Leiter brauchen, um zu dieser Höhe zu gelangen. Und Männer, welche die Leiter trugen. Es sei denn, sie kletterte an einem Seil vom Dach herab. Oder sie könnte... Die Nacht verging, sein Magen knurrte, die Sonne stieg auf, und er hatte kein einziges Mal die Augen geschlossen oder einen vernünftigen Gedanken gehegt. Aber er hatte eine Entscheidung getroffen. Ihm schwebte eine Nutzungsmöglichkeit des Schmollwinkels vor, denn er schmollte gewiß niemals.

Er schlich sich beim ersten Tageslicht aus seinen Räumen und traf auf einen weiteren, ihm bekannten Diener, ein bereits kahl werdender Bursche namens Madie, mit einer selbstgefälligen Art und einem durchtriebenen Zug um den Mund, der besagte, daß er überhaupt nicht zufrieden war. Ein Mann, den man kaufen konnte. Obwohl der bestürzte Ausdruck, der sich kurz auf seinem kantigen Gesicht zeigte, und das höhnische Grinsen, das er kaum zu verbergen versuchte, besagten, daß er genau wußte, warum Mat ihm Gold in die Hand drückte. Verdammt! Wie viele Leute wußten, was Tylin vorhatte?

Nynaeve und Elayne schienen es, dem Licht sei Dank, nicht zu wissen. Statt dessen schalten sie ihn, weil er das Essen mit der Königin versäumt hatte, wovon sie erfuhren, als Tylin sie fragte, ob er krank sei. Und schlimmer noch...

»Bitte«, sagte Elayne und lächelte fast so, als würde ihr dieses Wort nicht schwerfallen. »Ihr müßt Euch mit der Königin vertragen. Seid nicht nervös. Ihr werdet einen Abend mit ihr genießen.«

»Stoßt sie nicht vor den Kopf«, murrte auch Nynaeve. Bei ihr bestand kein Zweifel, daß es ihr schwerfiel, höflich zu sein, Sie zog angestrengt die Brauen zusammen, ihr Kiefer war angespannt, und ihre Hände zitterten, weil sie an ihrem Zopf ziehen wollte. »Seid einmal in Eurem Leben entgegenkommend... Ich meine, denkt daran, daß sie eine anständige Frau ist, und versucht keine Eurer... Licht, Ihr wißt, was ich meine.«

Nervös. Ha! Eine anständige Frau. Ha!

Keine von beiden schien im mindesten besorgt, daß er einen ganzen Nachmittag verschwendet hatte. Elayne tätschelte ihm mitfühlend die Schulter und bat ihn, es bitte noch einen oder zwei Tage lang zu versuchen. Es war gewiß besser, als in dieser Hitze durch den Rahad zu stapfen. Nynaeve sagte genau das gleiche, wie Frauen es nun einmal taten, aber ohne seine Schulter zu tätscheln. Sie gaben offen zu, daß sie den Tag damit zu verbringen beabsichtigten, mit Aviendhas Hilfe Carridin auszuspionieren, obwohl sie seiner Frage auswichen, wen sie vielleicht wiederzuerkennen hofften. Nynaeve sagte ihm dies, und Elayne sah sie auf eine Art an, daß er glaubte, er würde endlich einmal zu sehen bekommen, wie Nynaeve geohrfeigt wurde. Sie nahmen seine strikte Anweisung, ihre Leibwächter nicht zu verlassen, sanftmütig entgegen und zeigten ihm ebenso bereitwillig die Verkleidungen, die sie zu tragen beabsichtigten. Selbst nachdem Thom es ihm beschrieben hatte, war der Anblick der beiden Frauen, die sich vor seinen Augen in Ebou Dari verwandelten, fast ein genauso großer Schock wie ihre Sanftmütigkeit. Nun, Nynaeve versetzte der Sanftmütigkeit einen gewaltigen Schlag, indem sie zornig wurde, als sie erkannte, daß er seine Worte ernst gemeint hatte, daß die Aielfrau keinen Leibwächter brauche, aber sie beruhigte sich wieder. Es machte ihn bei beiden Frauen nervös, wenn sie ihre Hände falteten und ergeben antworteten. Sie beide zusammen - und eine anerkennend nickende Aviendha! Matt war froh, wenn er sie fortschicken konnte. Sicherheitshalber ignorierte er ihre zusammengepreß-ten Lippen und ließ sie ihre Verkleidungen noch einmal jenen Männern vorführen, die er als erste mit ihnen losschickte. Vanin freute sich über die Gelegenheit, einer der Leibwächter Elaynes zu sein, und zeigte es auch. Der beleibte Mann hatte nicht viel Selbstbeherrschung gelernt.

Genau wie am Vortag waren überraschend viele Menschen gekommen, um Carridin aufzusuchen, einschließlich einiger in Seide Gehüllter, aber das war kein Beweis, daß sie Schattenfreunde waren. Immerhin war Carridin der Abgesandte der Weißmäntel, und wahrscheinlich kamen mehr Menschen, die Handel mit Amadicia treiben wollten, zu ihm als zu dem Abgesandten Amadicias, wer auch immer er oder sie sein mochte. Vanin sagte, zwei Frauen hätten Carridins Palast ebenfalls beobachtet - sein Gesichtsausdruck, als Aviendha sich plötzlich in eine dritte Ebou Dari verwandelte, war erstaunlich - und auch ein alter Mann, glaubte er, obwohl sich der Bursche als überraschend flink erwiesen hatte. Vanin hatte ihn nicht genau betrachten können, obwohl er ihn dreimal gesehen hatte. Als Vanin und die Frauen gegangen waren, schickte Mat auch Thom und Juilin los, um zu sehen, was sie über Jaichim Carridin und einen gebeugten, weißhaarigen alten Mann mit einem Interesse an Schattenfreunden herausfinden konnten. Wenn der Diebefänger keine Möglichkeit fand, Carridin zu Fall zu bringen, dann gab es sie nicht, und Thom schien gut darin zu sein, alles Gerede und alle Gerüchte an einem Ort zu sammeln und die Wahrheit herauszufiltern. Aber alles das war natürlich der leichtere Teil.

Zwei Tage lang schwitzte Mat auf dieser Bank und spazierte gelegentlich die Gasse neben der Färberei hinab, doch das einzige, was sich änderte, war, daß der Tee immer schlechter wurde. Der Wein war so schlecht, daß Nalesean Bier zu trinken begann. Am ersten Tag bot ihnen der Tavernenwirt zum Mittagessen Fisch an, aber dieser Fisch war dem Geruch nach bereits eine Woche zuvor gefangen worden. Am zweiten Tag bot er ihnen einen Austerneintopf an. Mat aß, trotz der Schalenstücke, fünf Schüsseln davon. Birgitte lehnte beides ab.

Es hatte ihn überrascht, als sie ihn und Nalesean einholte, als sie heute morgen über den Mol Hara eilten. Die Sonne war noch kaum über den Dächern aufgestiegen, aber Menschen und Karren bevölkerten bereits den Platz. »Ich muß gerade geblinzelt haben«, sagte sie lachend. »Ich habe dort gewartet, wo ich glaubte, daß Ihr herauskommen müßtet. Ich hoffe, Ihr habt nichts gegen ein wenig Gesellschaft einzuwenden.«

»Wir gehen manchmal ziemlich schnell voran«, antwortete er ausweichend. Nalesean sah ihn von der Seite an. Er hatte natürlich keine Ahnung, warum sie den Palast durch eine kleine Seitentür in der Nähe der Ställe verlassen hatten. Nicht, daß Mat glaubte, Tylin würde ihn tatsächlich im hellen Morgenlicht in den Gängen überfallen, aber es schadete niemals, vorsichtig zu sein. »Eure Gesellschaft ist uns jederzeit willkommen. Ehm ... danke.« Sie zuckte nur die Achseln, murmelte etwas, was er nicht verstehen konnte, und schritt dann auf seiner anderen Seite kräftig mit aus.

So hatte es mit ihr angefangen. Jede andere Frau, die er jemals gekannt hatte, hätte wissen wollen, wofür er sich bedankt hatte, und hätte anschließend so lang und breit erklärt, warum es nicht nötig gewesen wäre, daß er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte - oder sie hätte ihn gleichermaßen ausführlich dafür gerügt, daß er den Dank für nötig gehalten hätte oder hätte verdeutlicht, daß sie etwas Greifbareres erwartete als Worte. Birgitte zuckte nur die Achseln, und im Verlauf der nächsten zwei Tage kam ihm etwas Bestürzendes in den Sinn.

Frauen dienten für ihn normalerweise dazu, sie zu bewundern und anzulächeln, mit ihnen zu tanzen und sie zu küssen, wenn sie es zuließen, oder mit ihnen zu kuscheln, wenn er Glück hatte. Es bereitete fast genauso viel Vergnügen zu entscheiden, welche Frau man erobern wollte, wie sie zu erobern, wenn auch nicht annähernd so viel, wie sie zu besitzen. Einige Frauen waren natürlich nur Freundinnen. Wenige. Egwene beispielsweise, obwohl er sich nicht sicher war, wie diese Freundschaft ihren Aufstieg zur Amyrlin überstehen würde. Auch Nynaeve war in gewisser Weise eine Art Freundin. Wenn sie nur einmal eine Stunde lang vergessen könnte, daß sie ihm mehr als einmal den Hosenboden versohlt hatte, und sich daran erinnern würde, daß er kein Junge mehr war. Aber die Freundschaft mit einer Frau unterschied sich von der Freundschaft mit einem Mann. Dabei war man sich stets bewußt, daß sie anders dachte als man selbst, daß sie die Welt mit anderen Augen sah.

Birgitte beugte sich auf der Bank zu ihm. »Ihr solltet besser vorsichtig sein«, murmelte sie. »Diese Witwe hält nach einem neuen Ehemann Ausschau. Ihr Hochzeitsdolch steckt in einer blauen Scheide. Außerdem ist das Haus dort drüben.«

Er blinzelte, verlor die rundliche Frau, die ihre Hüften beim Gehen so außerordentlich schwang, aus den Augen, und Birgitte reagierte auf seinen verlegenen Gesichtsausdruck mit Lachen. Nynaeve hätte ihn wortreich gerügt, und selbst Egwene hätte kühle Mißbilligung gezeigt. Am Ende des zweiten Tages auf dieser Bank erkannte er, daß er die ganze Zeit dicht mit Birgitte zusammengesessen und nicht einmal daran gedacht hatte, sie zu küssen. Er war sich sicher, daß sie auch nicht von ihm geküßt werden wollte -offen gesagt, wäre er, wenn man die häßlichen Männer bedachte, die sie anscheinend gern betrachtete, vielleicht beleidigt gewesen, wenn sie es gewollt hätte. Birgitte war zudem eine Heldin aus der Legende, von der er noch immer halbwegs erwartete, daß sie über ein Haus springen und unterwegs einige Verlorene am Kragen packen würde. Aber das war es nicht: Er hätte genausogut daran denken können, Nalesean zu küssen. Genauso wie den Tairener, ganz genauso, mochte er Birgitte.

Zwei Tage verbrachten sie bereits auf dieser Bank und gingen die Gasse neben der Färberei auf und ab, um die hohe Mauer aus kahlen Ziegelsteinen an der Rückseite des Gartens des Hauses zu betrachten. Birgitte hätte hinaufklettern können, aber selbst sie hätte sich vielleicht den Hals gebrochen, wenn sie es in einem Kleid versuchte. Dreimal beschloß er spontan, Frauen zu folgen, die das Haus verließen, von denen zwei den roten Gürtel einer Weisen Frau trugen. Die zufällige Gelegenheit schien sein Glück zu beschwören. Eine der Weisen Frauen ging um die Ecke und kaufte ein Bündel gedörrte Rüben, bevor sie zurückging. Die andere lief zwei Straßen weiter, um zwei große, grün gestreifte Fische zu kaufen. Die dritte Frau, groß und dunkel in geschmackvollem grauen Tuch - vielleicht eine Tairenerin - überquerte zwei Brücken, bevor sie einen großen Laden betrat, in dem sie von einem mageren, sich verbeugenden Burschen lächelnd begrüßt wurde und dann das Verladen von lackierten Schachteln und Kästchen in mit Sägespänen gefüllte Körbe überwachte, die wiederum auf einen Wagen geladen wurden. Soweit er hören konnte, hoffte sie, damit in Andor einen hübschen Betrag in Silber zu verdienen. Mat konnte nur knapp davonkommen, ohne eine Schachtel zu kaufen. Soviel zu zufälligem Glück.

Auch niemand sonst hatte Glück. Nynaeve, Elayne und Aviendha schlenderten durch die Straßen rund um Carridins kleinen Palast, ohne jemanden zu sehen, den sie wiedererkannt hätten, was sie unendlich enttäuschte. Sie weigerten sich noch immer, ihm zu sagen, um wen es ging. Es war auch einerlei, da die Leute sich ohnehin nicht zeigten. Das sagten sie ihm, während sie ihn strahlend anlächelten. Zumindest dachte er, daß es ein Lächeln sein sollte. Es war eine Schande, daß Aviendha sich anscheinend so sehr mit den beiden anderen eingelassen hatte, aber dann gab es einen Moment, in dem er sie zu einer Antwort drängte und Elayne ihn anfauchte und die Aielfrau ihr etwas ins Ohr flüsterte.

»Verzeiht, Mat«, sagte Elayne ernst, während sich ihr Gesicht so stark rötete, wie ihr Haar hell schien. »Ich bitte demütig um Verzeihung, so gesprochen zu haben. Ich ... werde Euch auf Knien darum bitten, wenn Ihr es wünscht.« Natürlich stockte ihre Stimme bei den letzten Worten.

»Das ist nicht nötig«, sagte er matt und bemühte sich, sie nicht anzustarren. »Ich verzeihe Euch. Es war nichts.« Das Seltsamste daran war jedoch, daß Elayne die ganze Zeit, während sie mit ihm sprach, Aviendha ansah und bei seiner Erwiderung mit keiner Wimper zuckte, aber zutiefst erleichtert aufseufzte, als Aviendha zustimmend nickte. Frauen waren einfach eigenartig.

Thom berichtete, daß Carridin häufig Bettlern etwas gab und außerdem alles Gerede über ihn in Ebou Dar dem entsprach, was zu erwarten gewesen war, abhängig davon, ob der Sprecher glaubte, daß Weißmäntel mordende Ungeheuer oder die wahren Retter der Welt seien. Juilin erfuhr, daß Carridin einen Plan des Tarasin-Palasts erworben hatte, was auf eine Weißmäntel-Invasion in Ebou Dar oder auch darauf hinweisen konnte, daß Pedron Niall einen eigenen Palast haben und den Tarasin-Palast als Vorbild nehmen wollte. Wenn er noch lebte. Es gingen neuerdings Gerüchte in der Stadt um, daß er tot sei, aber andererseits sagten die Hälfte derer, die Gerüchte verbreiteten, Aes Sedai hätten ihn getötet während die andere Hälfte behauptete, Rand hätte es getan, was den Wert der Gerüchte bewies. Weder Juilin noch Thom hatten etwas über einen weißhaarigen alten Mann mit verwittertem Gesicht erfahren können.

Enttäuschung hinsichtlich Carridin, Enttäuschung bei der Beobachtung des verdammten Hauses, und was den Palast betraf...

Mat fand heraus, wie der Ablauf jener ersten Nacht sein sollte, als er schließlich wieder in seine Räume gelangt war. Olver war da; er hatte bereits gegessen, saß beim Licht der Stehlampen mit Die Reisen des Jain Fernschreiter in einem Sessel und war überhaupt nicht aufgebracht darüber, daß er sein eigenes Zimmer hatte räumen müssen. Madie hatte Wort gehalten. Olvers Bett stand jetzt im Schmollwinkel. Sollte Tylin einen neuen Versuch unternehmen, wenn ein Kind sie beobachtete! Die Königin war jedoch auch nicht müßig gewesen. Mat schlich sich wie ein Fuchs in die Küchen, huschte von Ecke zu Ecke, lief wie der Blitz die Treppen hinab - und stellte fest, daß es nichts zu essen gab.

Oh, Kochdüfte durchdrangen die Luft, Fleischspieße drehten sich über den großen Feuerstellen, Töpfe brodelten auf weiß gekachelten Herden und Köchinnen befeuerten ständig offene Öfen, um dieses oder jenes hineinzuschieben. Es gab nur für Mat Cauthon nichts zu essen. Lächelnde Frauen in sauberen weißen Schürzen erwiderten sein Lächeln nicht und stellten sich ihm in den Weg, so daß er nicht in die Nähe des Ursprungs dieser wundervollen Düfte gelangen konnte. Sie lächelten und klopften ihm auf die Finger, wenn er einen Laib Brot oder nur ein wenig honigglasierte Rüben ergreifen wollte. Sie lächelten und sagten ihm, er dürfe sich nicht den Appetit verderben, wenn er mit der Königin speisen wolle. Sie wußten es. Jede einzelne von ihnen wußte es! Er errötete zutiefst und floh in seine Räume. Er schloß die Tür hinter sich ab. Eine Frau, die einen Mann aushungern wollte, könnte alles versuchen.

Er lag auf einem grünen Seidenteppich und spielte mit Olver Schlangen und Füchse, als ein Zettel unter seiner Tür durchgeschoben wurde.

Mir wurde gesagt, es sei nichts dagegen einzuwenden, eine Taube mit der Hand am Flügel zu packen und ihr Flattern zu beobachten -, aber ein hungriger Vogel wird sich früher oder später auch von allein der Hand annähern.

»Was ist das, Mat?« fragte Olver.

»Nichts.« Mat zerknüllte den Zettel. »Noch ein Spiel?«

»O ja.« Der Junge hätte das törichte Spiel den ganzen Tag gespielt, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gelassen hätte, »Mat, hast du etwas von dem Schinken probiert, den es heute abend gab? Ich habe noch niemals etwas so...«

»Du bist dran, Olver. Mach einfach deinen Wurf.«

Als Mat in der dritten Nacht zum Palast zurückging, kaufte er Brot und Oliven und Schafskäse, was genausogut war. Die Küchen hatten noch immer ihre Befehle. Die verdammten Frauen lachten tatsächlich lauthals, während sie unmittelbar außerhalb seiner Reichweite dampfende Servierplatten mit Fleisch und Fisch schwenkten und ihm sagten, er solle sich nicht seinen verdammten Appetit verderben.

Er bewahrte Würde. Er gestattete es sich nicht, eine Platte zu ergreifen und davonzulaufen. Er schritt ruhig davon und schwenkte einen imaginären Umhang. »Gnädige Damen, Eure Herzlichkeit und Gastlichkeit überwältigen mich.«

Sein Rückzug wäre noch ein wenig besser vonstatten gegangen, wenn nicht eine der Köchinnen hinter seinem Rücken gehöhnt hätte. »Die Königin wird sich nur allzu bald an gebratenem Entchen nähren, Bursche.« Sehr spaßig. Die anderen Frauen brüllten so laut vor Lachen, daß sie sich wohl auf dem Boden gewälzt haben mußten. Verdammt spaßig.

Brot, Oliven und gesalzener Käse bildeten eine gute Mahlzeit, die er mit etwas Wasser vom Waschtisch hinunterspülte. Seit dem ersten Tag hatte es in seinen Räumen keinen gewürzten Wein mehr gegeben. Olver versuchte ihm etwas über Bratfisch mit Senfsauce und Rosinen zu erzählen, aber Mat sagte ihm, er solle lesen üben.

An diesem Abend schob niemand einen Zettel unter seiner Tür hindurch. Und niemand rüttelte am Schloß. Mat begann zu glauben, daß vielleicht alles besser würde. Morgen war das Vogelfest. Nach dem zu urteilen, was er über die Kostüme gehört hatte, welche die Leute trugen - Männer und Frauen gleichermaßen -, würde sich Tylin vielleicht ein neues Entchen für die Jagd suchen. Und jemand würde vielleicht aus diesem verdammten Haus gegenüber der Rose von Elbar herauskommen und ihm die verdammte Schale der Winde aushändigen. Es mußte einfach alles besser werden.

Als er am dritten Morgen im Tarasin-Palast erwachte, rollten die Würfel in seinem Kopf umher.

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