Als Egwene zu ihrem Zelt zurückkam, wartete Selame bereits, eine stockdünne Frau mit dunkler tairenischer Hautfarbe und einem fast unzugänglichen Selbstbewußtsein. Chesa hatte recht: Selame trug ihre Nase tatsächlich hoch erhoben, als weiche sie vor einem üblen Geruch zurück. Aber wenn sie sich gegenüber anderen Töchtern des Speers auch anmaßend verhielt, gab sie sich bei ihrer Förderin in Wahrheit doch ganz anders. Als Egwene eintrat, versank Selame in einen so tiefen Hofknicks, daß ihre Stirn fast den Teppich streifte und sich ihre Röcke so weit wie möglich ausbreiteten. Bevor Egwene noch einen zweiten Schritt ins Zelt hinein getan hatte, sprang die Frau auf und machte ein Aufhebens um sie. Selame hatte sehr wenig Verstand.
»Oh, Mutter, Ihr seid schon wieder ohne Kopfbedeckung ausgegangen.« Als hätte sie jemals eine der mit Perlen verzierten Hauben, welche die Frau bevorzugte, oder die von Meri geliebten bestickten Samtkappen oder Chesas Federhüte getragen. »Und Ihr fröstelt. Ihr solltet niemals ohne Schal und Sonnenschirm ausgehen, Mutter.« Wie sollte ein Sonnenschirm Frösteln verhindern? Obwohl ihr der Schweiß ungeachtet dessen, wie schnell sie ihn mit ihrem Taschentuch abrieb, die Wangen hinablief, dachte Selame niemals daran zu fragen, warum sie zitterte, was vielleicht ebensogut war. »Zudem seid Ihr allein ausgegangen, bei Nacht. Das ist einfach nicht richtig, Mutter. Denkt an alle diese Soldaten, rauhe Männer, die keiner Frau Respekt erweisen, selbst den Aes Sedai nicht. Mutter, Ihr dürft einfach nicht...«
Egwene ließ die törichten Worte genauso über sich ergehen wie die Hilfe der Frau beim Auskleiden, indem sie diese einfach nicht beachtete. Wenn sie ihr zu schweigen befahl, würde sie so viele verletzte Blicke und gekränkte Seufzer ernten, daß es kaum einen Unterschied machte. Bis auf ihr geistloses Geschwätz verrichtete sie ihre Pflichten eifrig, wenn auch nicht ohne viele große Gesten und unterwürfige Hofknickse. Niemand schien so einfältig wie Selame zu sein, die ständig mit Äußerlichkeiten beschäftigt war und sich darum sorgte, was die Leute dachten. Für sie waren wichtige Leute die Aes Sedai und der Adel sowie deren höher gestellte Diener. Niemand sonst zählte für sie. Wahrscheinlich war es wirklich unmöglich. Egwene würde weder vergessen, wer Selame zuerst entdeckt hatte, noch wer Meri entdeckt hatte. Gewiß war Chesa ein Geschenk von Sheriam, aber Chesa hatte Egwene ihre Treue schon mehr als einmal bewiesen.
Egwene hätte sich gern selbst davon überzeugt, daß das Zittern, das Selame für Frösteln hielt, Zornesbeben war, aber sie war sich dessen bewußt, daß sich Angst in ihrem Innern breitgemacht hatte. Sie war zu weit gekommen und hatte noch zuviel zu tun, als daß sie Nicola und Areina hätte erlauben dürfen, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Als sie den Kopf durch die Halsöffnung eines frischen Hemdes steckte, nahm sie einige Worte des Geplappers der Frau wahr und sah sie an. »Sagtet Ihr Schafsmilch?«
»O ja, Mutter, Eure Haut ist so weiß, und nichts wird sie besser erhalten als ein Bad in Schafsmilch.«
Vielleicht war Selame wirklich schwachsinnig. Egwene scheuchte die protestierende Frau aus dem Zelt und bürstete ihre Haare selbst. Dann deckte sie ihr Bett auf, legte das jetzt nutzlose A'dam-Armband in die kleine, verzierte Elfenbeinschachtel, in der sie ihre wenigen Schmuckstücke aufbewahrte, und löschte zuletzt die Lampen. Alles selbst, dachte sie in der Dunkelheit sarkastisch. Selame und Meri werden einen Wutanfall kriegen.
Bevor sie sich jedoch hinlegte, trat sie zum Zelteingang und öffnete ihn einen kleinen Spalt. Draußen herrschte mondbeschienene Stille und Schweigen, die nur vom Schrei eines nächtlichen Reihers unterbrochen wurden, der plötzlich abbrach. Überall in der Dunkelheit waren Jäger unterwegs. Kurz darauf bewegte sich in den Schatten des gegenüberstehenden Zelts etwas. Es war anscheinend eine Frau.
Vielleicht machte der Schwachsinn Selame nicht unfähiger, als die mürrische Verdrießlichkeit Meri ausschloß. Die Gestalt neben dem Zelt konnte jeder der beiden sein. Oder jemand völlig anderer. Sogar Nicola oder Areina, so unwahrscheinlich es auch schien. Sie ließ den Zelteingang lächelnd wieder zufallen. Wer auch immer der Beobachter war, würde nicht sehen, wohin sie heute nacht ging.
Die Weisen Frauen hatten sie eine einfache Art gelehrt, sich in Schlaf zu versetzen. Die Augen schließen, nacheinander alle Körperteile entspannen, mit dem Herzschlag atmen und die Gedanken bis auf einen kleinen Winkel des Bewußtseins frei schweben lassen. Der Schlaf umfing sie innerhalb weniger Momente, aber es war der Schlaf einer Traumgängerin.
Sie schwebte gestaltlos tief in einem Sternenozean, unendliche Lichtpunkte schimmerten in einem unendlichen Meer der Dunkelheit, unzählige Glühwürmchen flimmerten in einer ewigen Nacht. Es waren die Träume aller Schlafenden überall auf der Welt, vielleicht aller Schlafenden in allen möglichen Welten, und dies war der Spalt zwischen der Realität und Tel'aran'rhiod, der Zwischenraum, der die wache Welt von der Welt der Träume trennte. Wohin auch immer sie schaute, verschwanden zehntausend Glühwürmchen, wenn Menschen erwachten, und zehntausend neue ersetzten sie. Eine weite, sich ständig ändernde Anordnung funkelnder Schönheit.
Sie verschwendete jedoch keine Zeit mit Bewunderung. Dieser Ort barg Gefahren, mitunter sogar tödliche Gefahren. Sie wußte, wie man sie umgehen konnte, aber eine Gefahr zielte an diesem Ort genau auf sie ab, wenn sie zu lange verweilte, und darin gefangen zu werden, wäre, gelinde gesagt, peinlich. Sie bewegte sich vorwärts, wobei sie ein wachsames Auge auf alles hielt - nun, es wäre ein wachsames Auge gewesen, wenn sie hier Augen gehabt hätte. Sie hatte auch kein Gefühl für Bewegung. Es schien, als stünde sie still und der Ozean wirbele um sie herum, bis ein Licht vor ihr zum Stehen kam. Jeder funkelnde Stern sah genauso aus wie alle anderen, und doch wußte sie, daß dies Nynaeves Traum war. Woher sie es wußte, war eine andere Sache. Nicht einmal die Weisen Frauen verstanden dieses Erkennen.
Sie hatte auch erwogen, Nicolas und Areinas Träume zu suchen. Wenn sie diese erst aufgestöbert hätte, wüßte sie genau, wie sie die Angst des Lichts in ihre Knochen senken könnte, und es kümmerte sie nicht im geringsten, daß dies aufs schärfste verurteilt wurde. Ihr praktisches Wesen hatte sie hierher getrieben, nicht die Angst vor dem Verbotenen. Sie hatte getan, was niemals zuvor getan worden war, und sie war sich sicher, daß sie es erneut tun würde, wenn es notwendig wäre. Tue, was du tun mußt, und bezahle dann den Preis dafür. Das hatte sie dieselbe Frau gelehrt, die jene verbotenen Bereiche abgegrenzt hatte. Es war die Verweigerung, die Schuld einzugestehen, die Verweigerung, den Preis zu bezahlen, wodurch Notwendigkeit häufig zu Bösem entartete. Aber selbst wenn die beiden schliefen, war das Auffinden der Träume eines Menschen beim ersten Mal bestenfalls mühsam und gelang nicht auf Anhieb. Tage der Bemühungen - oder eher Nächte - konnten sehr wohl gar nichts ergeben. Das war zumindest wahrscheinlich.
Sie bewegte sich vorsichtig durch die ewige Dunkelheit, auch wenn es so schien, als stünde sie still und als wachse das stecknadelkopfgroße Licht zu einer schimmernden Perle, einem schillernden Apfel, einem Vollmond an, bis es ihre Sicht und die ganze Welt mit Helligkeit erfüllte. Sie berührte es jedoch nicht - noch nicht. Ein haarfeiner Zwischenraum trennte sie. Dann griff sie überaus vorsichtig über diesen Zwischenraum hinweg. Womit, das blieb, da ihr ein Körper fehlte, genauso ein Geheimnis wie ihre Fähigkeit, einen Traum von einem anderen zu unterscheiden. Die Weisen Frauen sagten, ihr Wille sei der Schlüssel, aber sie verstand noch immer nicht, wie das sein konnte. Sie berührte das Licht so behutsam, wie sie eine Seifenblase berührt hätte. Die leuchtende Wand schimmerte wie gesponnenes Glas und pulsierte wie ein Herz, zart und lebendig. Eine etwas festere Berührung - und sie könnte ›hineinsehen‹ und ›sehen‹, was Nynaeve träumte. Eine noch festere Berührung -und sie könnte tatsächlich ins Licht hineingelangen und Teil des Traumes sein. Das war von Zufällen abhängig, besonders wenn jemand einen starken Geist besaß, aber sowohl hineinzusehen als auch hineinzugelangen, könnte kränken. Zum Beispiel, wenn die Träumerin zufällig gerade von einem Mann träumte, an dem sie besonderes Interesse hatte. Allein die Entschuldigungen nahmen die halbe Nacht ein, wenn dies geschah. Oder sie könnte Nynaeve mit einer Art Beugebewegung, wie man sie vollführte, wenn man eine zerbrechliche Perle über eine Tischplatte rollte, heraus und in einen von ihr geschaffenen Traum reißen, einen Teil Tel'aran'rhiods, den sie vollständig unter Kontrolle hatte. Sie war sich sicher, daß es funktionieren könnte. Natürlich war es streng verboten, und sie glaubte nicht, daß es Nynaeve gefallen würde.
NYNAEVE, HIER IST EGWENE. DU DARFST UNTER KEINEN UMSTÄNDEN ZURÜCKKEHREN, BEVOR DU DIE SCHALE GEFUNDEN HAST UND BEVOR ICH EIN PROBLEM MIT AREINA UND NICOLA AUS DER WELT SCHAFFEN KANN. SIE WISSEN, DASS DU ETWAS VORGETÄUSCHT HAST. ICH WERDE DIR NÄHERES ERKLÄREN, WENN WIR UNS DAS NÄCHSTE MAL IN DER KLEINEN BURG SEHEN. SEI VORSICHTIG. MOGHEDIEN IST ENTKOMMEN.
Der Traum verblaßte, die Seifenblase zerplatzte. Sie hätte trotz der Botschaft gekichert, wenn sie eine Kehle besessen hätte. Eine Stimme ohne Körper in jemandes Traum konnte eine erschreckende Wirkung zeitigen - besonders wenn derjenige befürchtete, daß der Sprecher einen vielleicht auch beobachtete. Nynaeve würde es nicht vergessen, selbst wenn es zufällig geschah.
Der lichtübersäte Ozean wirbelte erneut um Egwene herum, bis sie sich auf einen anderen funkelnden Stecknadelkopf konzentrierte. Elayne. Die beiden Frauen schliefen in Ebou Dar höchstwahrscheinlich nicht mehr als ein Dutzend Schritte voneinander entfernt, aber hier bedeutete Entfernung nichts. Oder vielleicht bedeutete sie etwas anderes.
Als Egwene ihre Botschaft dieses Mal übermittelte, pulsierte der Traum und veränderte sich. Er schien noch immer genauso wie jeder andere, aber für sie war er dennoch verändert. Hatten die Worte Elayne in einen anderen Traum gezogen? Sie würden dennoch haften bleiben, und sie würde sich beim Erwachen erinnern.
Da Nicola und Areina drängten, war es an der Zeit, ihre Aufmerksamkeit Rand zuzuwenden. Leider wäre es genauso sinnlos, seinen Traum zu suchen wie den Traum irgendeiner Aes Sedai. Er schirmte seine Träume in etwa genauso sehr ab wie sie, obwohl sich der Schild eines Mannes offensichtlich von dem einer Frau unterschied. Der Schild einer Aes Sedai war eine kristallene Schale, eine nahtlose, aus Geist gewobene Sphäre, aber so durchlässig sie auch wirkte, könnte sie sehr wohl aus Stahl bestehen. Egwene vermochte sich nicht mehr zu erinnern, wie viele fruchtlose Stunden sie mit dem Versuch vergeudet hatte, durch Rands Schild hindurchzuspähen. Wo der abgeschirmte Traum einer Schwester heller erschien, waren seine Träume trüber. Es war, als blicke man in schlammiges Wasser. Manchmal hatte man den Eindruck, als ob sich tief in diesen graubraunen Strudeln etwas bewegt hätte, aber man konnte niemals ausmachen, was es war.
Die unendliche Anordnung von Lichtern wirbelte erneut umher und kam wieder zur Ruhe, und sie näherte sich vorsichtig dem Traum einer dritten Frau. So vieles lag zwischen ihr und Amys, daß es angemessen schien, sich den Träumen ihrer Mutter zu nähern, obwohl sie in Wahrheit zugeben mußte, daß sie Amys auf viele Arten nacheifern wollte. Sie begehrte Amys' Anerkennung genauso sehr wie die des Saals. Sicherlich wurde keine Sitzende höher geschätzt, als sie Amys schätzte. Sie versuchte, eine plötzliche Schüchternheit zu verdrängen, und bemühte sich umsonst, ihre ›Stimme‹ sanfter zu gestalten. AMYS, HIER IST EGWENE. ICH MUß MIT EUCH SPRECHEN.
Wir werden kommen, murmelte ihr eine Stimme zu. Amys' Stimme.
Egwene wich bestürzt zurück. Sie hatte das Gefühl, ausgelacht zu werden. Vielleicht war es gut, daran erinnert zu werden, daß die Weisen Frauen als Traumgängerinnen weitaus mehr Erfahrung hatten. Manchmal fürchtete sie, vielleicht verdorben worden zu sein, weil sie nicht härter um ihre Fähigkeiten mit der Einen Macht kämpfen mußte. Aber wie als Ausgleich erschien alles andere manchmal auch wie das Erklimmen einer Klippe im Regen.
Plötzlich nahm sie am äußersten Rand ihres Sichtfeldes eine Bewegung wahr. Einer der Lichtpunkte glitt durch den Sternenozean, schwebte aus eigenem Entschluß auf sie zu und wurde größer. Nur ein Traum konnte das bewirken, nur eine Träumer. Sie floh entsetzt und wünschte, sie hätte eine Kehle, um schreien oder fluchen oder einfach rufen zu können. Um besonders den kleinen Winkel ihres Selbst anzuschreien oder zu verfluchen, der am Fleck verharren und abwarten wollte.
Dieses Mal bewegten sich nicht einmal mehr die Sterne. Sie verschwanden einfach, und sie lehnte an einer dicken Rotsteinsäule und keuchte, als wäre sie eine Meile gerannt, während ihr Herz zu zerspringen schien. Kurz darauf sah sie an sich hinab, lachte ein wenig unsicher und versuchte ruhiger zu atmen. Sie trug ein Gewand aus schimmernder, mit Goldfäden durchwirkter Seide, das Oberteil und der Saum mit Bändern geschmückt. Das Oberteil verdeckte erheblich mehr Busen, als sie im Wachzustand jemals aufzubieten hätte, und ein breiter, fester Gürtel aus geflochtenem Gold ließ ihre Taille schmaler scheinen, als sie in Wirklichkeit war. Andererseits war sie vielleicht tatsächlich schmaler. Hier in Tel'aran'rhiod konnte man sein, wie immer und was immer man sein wollte. Auch wenn man es nur unbewußt wollte und nicht darauf achtgab. Gawyn Trakand hatte einen verhängnisvollen Einfluß auf sie - einen sehr verhängnisvollen Einfluß.
Ein kleiner Teil ihrer selbst wünschte noch immer, sie hätte abgewartet und sich von seinem Traum einholen und hineinziehen lassen. Wenn eine Traumgängerin jemanden bis zur Raserei liebte oder haßte, besonders wenn diese Empfindung erwidert wurde, konnte sie in den Traum jenes Menschen hineingezogen werden. Sie zog den Traum an oder er zog sie an wie ein Magnet. Sicherlich haßte sie Gawyn nicht, aber sie konnte es sich nicht leisten, in seinem Traum gefangen zu werden - nicht heute nacht -, gefangen zu sein, bis er erwachte, und zu sein, wie er sie sah. Er hielt sie für erheblich hübscher, als sie in Wahrheit war. Seltsamerweise erschien er weniger ansehnlich, als er tatsächlich war. Ein starker Geist oder Aufmerksamkeit waren nutzlos, wenn so heftige Liebe oder Haß im Spiel waren. Wenn man erst in diesen Traum hineingelangt war, blieb man dort, bis der andere Mensch aufhörte, von einem zu träumen. Als sie sich erinnerte, was er mit ihr in seinen Träumen getan hatte, was sie zusammen getan hatten, überzog heftige Röte ihr Gesicht.
»Gut, daß mich jetzt keine der Sitzenden sehen kann«, murrte sie. »Obwohl sie mich immer noch für ein Mädchen halten.« Erwachsene Frauen waren wegen einem Mann nicht derart aufgeregt. Dessen war sie sich sicher. Keine vernünftige Frau jedenfalls. Seine Träume würden wahr werden, aber zu einem Zeitpunkt, den sie erwählte. Es könnte schwierig werden, die Erlaubnis ihrer Mutter zu bekommen, aber sie würde sie gewiß nicht verweigern, auch wenn sie Gawyn noch nie gesehen hatte. Marin al'Vere vertraute dem Urteil ihrer Töchter. Jetzt war es an der Zeit, daß ihre Jüngste ein wenig dieses Urteilsvermögens zeigte und sich ihre Phantasien für einen geeigneteren Zeitpunkt aufsparte.
Sie sah sich um und wünschte fast, sie könnte ihren Gedanken erlauben, sich weiterhin nur um Gawyn zu drehen. Wuchtige Säulen ragten empor und stützten eine hoch aufsteigende Kuppel. Keine der goldverzierten Lampen, die von goldenen Ketten von der Decke herabhingen, brannte, und doch herrschte ein diffuses Licht, das einfach da war, ohne einer Quelle zu entspringen, weder hell noch trübe. Das Herz des Steins in der großen Feste, die der Stein von Tear genannt wurde. Oder eher sein Bild in Tel'aran'rhiod, ein Bild, das auf vielerlei Arten so real wirkte wie das Original selbst. Hier hatte sie früher die Weisen Frauen getroffen - auf deren Wunsch hin. Ein seltsamer Wunsch für Aiel, wie ihr schien. Sie hätte Rhuidean erwartet, jetzt, wo es geöffnet war, oder irgendeinen anderen Treffpunkt in der Aiel-Wüste, oder einfach den Ort, wo auch immer sich die Weisen Frauen gerade befanden. Jeder Ort außer den Ogier-Steddings hatte in der Welt der Träume sein Spiegelbild - in Wahrheit sogar auch die Steddings, aber man konnte sie nicht betreten, genauso wie Rhuidean einst verschlossen gewesen war. Das Aes Sedai-Lager stand natürlich außer Frage. Eine Anzahl Schwestern hatte jetzt Zugriff zu einem Ter'angreal, das es ihnen erlaubte, die Welt der Träume zu betreten, und da keine der Schwestern wirklich wußte, was sie da taten, begannen sie ihre Unternehmen häufig, indem sie im Lager Tel'aran'rhiods erschienen, als begäben sie sich auf eine gewöhnliche Reise.
Wie die Angreale und die Sa'angreale waren auch die Ter'angreale dem Burggesetz zufolge Eigentum der Weißen Burg, gleichgültig, wer sie im Moment zufällig besaß. Die Burg beharrte sehr selten darauf, zumindest wenn sie sich an einem ähnlichen Ort wie der sogenannten Großen Feste in eben diesem Stein von Tear befanden - sie würden schließlich zu den Aes Sedai kommen, und die Weiße Burg hatte stets gut warten können, wenn es nötig war -, aber jene, die tatsächlich in Händen von Aes Sedai waren, wurden vom Saal vergeben, von einzelnen Sitzenden. Tatsächlich wurden sie verliehen - sie wurden fast niemals verschenkt. Elayne hatte gelernt, Traum-Ter'angreale zu kopieren, und sie und Nynaeve hatten zwei an sich genommen, aber die anderen befanden sich jetzt im Besitz des Saals. Was bedeutete, daß Sheriam und ihr kleiner Kreis sie benutzen konnten, wann immer sie wollten, und vermutlich auch Lelaine und Romanda, obwohl diese beiden wahrscheinlich andere sandten, anstatt Tel'aran'rhiod selbst zu betreten. Bis vor kurzem hatte jahrhundertelang keine Aes Sedai Träume begangen, und sie hatten noch immer erhebliche Schwierigkeiten damit, die hauptsächlich dem Glauben entstammten, sie könnten es allein lernen. Dennoch war das letzte, was Egwene wollte, daß eine ihrer Anhängerinnen dieses Treffen heute nacht beobachtete.
Als hätte der Gedanke an Spione sie empfindsamer gemacht, wurde sie sich plötzlich der Tatsache bewußt, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Dieses Gefühl war in Tel'aran'rhiod stets gegenwärtig, und nicht einmal die Weisen Frauen wußten warum, aber obwohl stets verborgene Augen dazusein schienen, waren vielleicht auch tatsächliche Beobachter zugegen. Und dabei dachte sie nicht an Romanda und Lelaine.
Egwene ließ ihre Hand über die Säule gleiten, während sie langsam ganz darum herumging und den in tiefen Schatten liegenden Rotstein-Wald betrachtete. Das sie umgebende Licht wirkte nicht real. Jedermann in den Schatten würde dasselbe Licht um sich herum sehen, während die Schatten sie verbargen. Menschen erschienen, Männer und Frauen, flimmernde Bilder, die selten länger als wenige Herzschläge lang verweilten. Sie hatte kein Interesse an den Menschen, welche die Welt der Träume in ihrem Schlaf berührten. Jedermann könnte dies zufällig tun, aber glücklicherweise nur für Augenblicke und selten lange genug, um sich einer der Gefahren stellen zu müssen. Die Schwarze Ajah besaß auch Traum-Ter'angreale, die sie der Burg gestohlen hatte. Schlimmer noch -Moghedien kannte Tel'aran'rhiod genauso gut wie jede Traumgängerin. Vielleicht sogar noch besser. Sie konnte diesen Ort und jedermann darin sehr leicht kontrollieren.
Egwene wünschte einen Moment, sie hätte Moghediens Träume ausspioniert, als die Frau eine Gefangene war, nur einmal, gerade so weit, um in der Lage sein zu können, sie zu erkennen. Aber selbst wenn sie ihre Träume identifizieren könnte, wüßte sie nicht, wo sie jetzt war. Außerdem hätte noch die Möglichkeit bestanden, gegen ihren Willen hineingezogen zu werden. Sie verachtete Moghedien gewiß genug, und die Verlorene haßte sie höchstwahrscheinlich grenzenlos. Was drinnen geschah, war nicht real, nicht einmal so real wie in Tel'aran'rhiod, aber man erinnerte sich daran, als wäre es so. Eine Nacht in Moghediens Gewalt wäre ein Alptraum gewesen, den sie wahrscheinlich den Rest ihres Lebens jedes Mal neu erlebt hätte, wenn sie schlafen gegangen wäre. Und im Wachzustand vielleicht ebenso.
Eine weitere Umrandung. Was war das? Eine dunkle, königlich schöne Frau mit einer perlenbesetzten Haube und einem Gewand mit Spitzenhalskrause schritt aus den Schatten und verschwand wieder. Eine träumende Tairenerin, eine hohe Dame oder jemand, der eine zu sein träumte. Vielleicht war sie im Wachzustand eine einfache, rundliche Frau, eine Bäuerin oder Händlerin.
Sie hätte besser Logain anstatt Moghedien ausspionieren sollen. Sie würde zwar auch nicht wissen, wo er sich befand, aber sie bekäme vielleicht eine Ahnung von seinen Plänen. Natürlich wäre es nicht wesentlich erfreulicher gewesen, in seine Träume hineingezogen zu werden als in Moghediens. Er haßte alle Aes Sedai. Es war notwendig gewesen, seine Flucht einzufädeln. Sie hoffte nur, der Preis würde nicht zu hoch sein. Vergiß Logain. Moghedien war die Gefahr, Moghedien, die sie vielleicht sogar hier -besonders hier - verfolgen könnte, Moghedien, die...
Sie bemerkte plötzlich, wie schwerfällig sie sich bewegte und stieß einen verärgerten Laut aus, fast ein Stöhnen. Das wunderschöne Gewand war zu einer vollständigen Kettenpanzer-Rüstung geworden, wie sie Gareth Brynes schwere Kavallerie trug. Es fühlte sich so an, als ruhte ein Helm ohne Visier mit einer Spitze in der Form der Flamme von Tar Valon auf ihrem Kopf. Es war sehr ärgerlich. Sie mochte diese Art Kontrollverlust nicht.
Sie verwandelte die Rüstung entschlossen zu dem, was sie bei ihren früheren Treffen mit den Weisen Frauen getragen hatte. Es war einfach eine Willenssache. Jetzt trug sie einen dunklen Tuchrock und eine lockere weiße Algodebluse - genau wie diejenigen, die sie getragen hatte, während sie bei ihnen gelernt hatte - mit einem tief dunkelgrünen, fast schwarzen, mit Fransen versehenen Schal und einem gefalteten Kopftuch, das ihr schwarzes Haar zurückhielt. Natürlich ahmte sie nicht ihren Schmuck nach, die vielen Halsketten und Armbänder, denn dafür hätten sie sie ausgelacht. Eine Frau erweiterte ihre Schmucksammlung über die Jahre und nicht im Handumdrehen in einem Traum.
»Logain ist auf dem Weg zur Schwarzen Burg«, sagte sie laut. Sie hoffte gewiß, daß dem so sei. Zumindest wäre er dann wieder etwas besser unter Kontrolle - zumindest hoffte sie auch das -, und wenn er gefangengenommen und wieder gedämpft wurde, konnte Rand keiner Schwester vorwerfen, ihr zu folgen. »Und Moghedien kann nicht wissen, wo ich bin.« Sie versuchte, es wie eine Gewißheit klingen zu lassen.
»Warum solltet Ihr die Schattenbeseelten fürchten?« fragte eine Stimme hinter ihr, und Egwene schrak zusammen. Da dies Tel'aran'rhiod und sie eine Traumgängerin war, befand sie sich bereits mehr als ihre Körpergröße hoch über dem Boden, bevor sie wieder zu sich kam. O ja, dachte sie, während sie schwebte, ich bin weit über Anfängerfehler hinausgelangt. Wenn dies so weiterging, würde sie als nächstes noch zusammenzucken, wenn Chesa ihr einen guten Morgen wünschte.
Sie hoffte, daß sie nicht zu stark errötete, während sie sich langsam wieder herabsinken ließ. Vielleicht konnte sie einen Rest Würde bewahren.
Bairs betagtes Gesicht hatte möglicherweise durch das fast bis zu ihren Ohren reichende Grinsen mehr Falten als üblich. Anders als die beiden anderen Frauen, die bei ihr waren, konnte sie die Macht lenken, aber das hatte nichts mit dem Traumgehen zu tun. Sie war genauso begabt wie alle anderen und auf manchen Gebieten noch begabter. Amys lächelte ebenfalls, wenn auch nicht so breit, aber die blonde Melaine warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen.
»Ich habe niemals jemanden gesehen...«, brachte Melaine mühsam hervor. »Wie ein Kaninchen.« Sie vollführte einen kleinen Sprung und stieg damit einen vollen Schritt in die Luft.
»Ich habe Moghedien vor kurzem ziemlich verletzt.« Egwene war recht stolz auf ihre Haltung. Sie mochte Melaine - die Frau war jetzt weitaus weniger schwierig als zu der Zeit, bevor sie schwanger gewesen war, tatsächlich mit Zwillingen -, aber in diesem Moment hätte Egwene sie mit Vergnügen erwürgt. »Einige Freunde und ich haben ihren Stolz, wenn nicht mehr, verletzt. Ich glaube, sie würde die Möglichkeit begrüßen, es mir heimzuzahlen.« Sie wechselte erneut ihre Kleidung, zu einer Art Reitgewand in glänzendem Grün, das sie jetzt jeden Tag trug. Der Große Schlangenring umgab golden ihren Finger. Sie konnte ihnen nicht alles sagen, aber diese Frauen waren auch Freundinnen und verdienten, das Nötige zu wissen.
»Verletzter Stolz bleibt länger in Erinnerung als Verletzungen des Körpers.« Bairs Stimme klang dünn und hoch, aber stark - ein eisernes Schilfrohr.
»Erzählt uns davon«, sagte Melaine mit eifrigem Lächeln. »Wie habt Ihr sie beschämt?« Bairs Stimme klang genauso begeistert. In einem grausamen Land lernte man entweder, über Grausamkeit zu lachen, oder man verbrachte sein ganzes Leben mit Weinen. Im Dreifaltigen Land hatten die Aiel schon lange lachen gelernt. Außerdem wurde das Beschämen eines Feindes als Kunst angesehen.
Amys betrachtete einen Moment Egwenes neue Kleidung. »Ich denke, das kann warten. Ihr sagtet, wir müßten reden.« Sie deutete auf die Stelle, an der sich die Weisen Frauen gern unterhielten, auf der freien Fläche unter der gewaltigen Kuppel mitten im Raum.
Warum sie diesen Platz wählten, war ein weiteres Geheimnis, das Egwene nicht enträtseln konnte. Die drei Frauen ließen sich mit gekreuzten Beinen nieder und breiteten ihre Röcke ordentlich aus, nur wenige Schritte von etwas entfernt, das wie ein Schwert aus schimmerndem Kristall aussah und mit dem Heft nach oben aus der Stelle im Boden herausragte, in die es hineingetrieben worden war. Sie achteten jedoch nicht mehr darauf - es wurde in ihren Prophezeiungen nicht erwähnt - als auf die Menschen, die in dem großen Raum blitzartig auftauchten, denn sie kamen stets hierher.
Das sagenhafte Callandor würde, trotz seiner Erscheinungsform, tatsächlich wie ein Schwert zu handhaben sein, aber es war in Wahrheit ein männliches Sa'angreal, eines der mächtigsten, die im Zeitalter der Legenden jemals geschaffen worden waren. Egwene erschauderte leicht, als sie an männliche Sa'angreale dachte. Es war anders gewesen, als nur Rand dagewesen war. Und natürlich die Verlorenen. Aber jetzt waren da auch diese Asha'man. Mit Callandor konnte ein Mann genug der Einen Macht in sich aufnehmen, um eine Stadt während eines Herzschlags dem Erdboden gleichzumachen und auf Meilen alles zu verwüsten. Sie machte einen großen Bogen darum und nahm ihre Röcke mechanisch zur Seite. Rand hatte Callandor in Erfüllung der Prophezeiungen aus dem Herzen des Steins gezogen und dann aus seinen eigenen Gründen wieder zurückgebracht. Er hatte es zurückgebracht und es rundum mit aus Saidin gewobenen Fallen versehen, die ebenfalls ihr Spiegelbild hätten, eines, das vielleicht genauso entschieden ausgelöst würde wie das Original, wenn in der Nähe falsche Gewebe ausprobiert würden. Einige Dinge waren in Tel'aran'rhiod nur allzu real.
Egwene versuchte, nicht an das Schwert, das kein Schwert ist zu denken und stellte sich vor die drei Weisen Frauen. Diese befestigten die Stolen um ihre Taillen und schnürten ihre Blusen auf. So saßen Aiel in ihren Zelten unter einer heißen Sonne mit Freunden zusammen. Sie setzte sich nicht hin, und wenn sie das wie eine Bittstellerin oder Angeklagte erscheinen ließ, dann sollte es so sein. Im Herzen war sie es in gewisser Weise. »Ich habe Euch nicht gesagt, warum ich von Euch fortberufen wurde, und Ihr habt nicht danach gefragt.«
»Ihr werdet es uns erzählen, wenn Ihr dazu bereit seid«, sagte Amys selbstgefällig. Obwohl ihr das Haar, das ebenso weiß war wie Bairs, bis auf die Taille reichte, wirkte sie als wäre sie im gleichen Alter wie Melaine - ihr Haar hatte sich zu verfärben begonnen, als sie nur wenig älter als Egwene gewesen war -, aber sie war die Anführerin unter den dreien, nicht Bair. Egwene fragte sich zum ersten Mal, wie alt sie tatsächlich war. Aber diese Frage stellte man einer Weisen Frau genauso wenig wie einer Aes Sedai.
»Als ich Euch verließ, war ich eine der Aufgenommenen. Ihr wißt von der Spaltung der Burg.« Bair schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Sie wußte, aber sie verstand nicht. Keine von ihnen verstand. Für Aiel war dies genauso unvorstellbar, als würde sich eine Clan oder Kriegergemeinschaft zu ihrem eigenen Schaden spalten. Vielleicht bedeutete es in ihren Augen auch eine Bestätigung, daß Aes Sedai nicht das waren, was sie sein sollten. Egwene fuhr fort, überrascht, daß ihre Stimme gesammelt und fest klang. »Die Schwestern, die Elaida bekämpfen, haben mich zu ihrer Amyrlin erhoben. Wenn Elaida gestürzt ist, werde ich den Amyrlin-Sitz in der Weißen Burg einnehmen.« Sie legte sich die gestreifte Stola um und wartete ab. Sie hatte sie einst belogen, unter dem Ji'e'toh ein ernstes Vergehen, und war sich nicht sicher, wie sie auf die von ihr verheimlichte Wahrheit reagieren würden. Wenn sie es ihr zumindest nur glaubten. Sie sahen sie lediglich an.
»Es gibt etwas, was Kinder tun«, sagte Melaine nach einiger Zeit zögernd. Die Schwangerschaft war ihr noch nicht anzusehen, aber sie zeigte bereits dieses innere Strahlen, das sie noch schöner als sonst erscheinen ließ, sowie eine unerschütterliche Ruhe. »Kinder wollen alle Speere handhaben, und sie wollen alle Clanhäuptling sein, aber schließlich erkennen sie, daß der Clanhäuptling die Speere nur selten selbst führt. Also erfinden sie eine Figur und erheben sie auf ein Podest.« Auf einer Seite wölbte sich der Boden plötzlich, bestand nicht mehr aus Fliesen, sondern war ein Grat aus von der Sonne ausgedörrtem braunen Fels. Darauf stand eine vage an einen Menschen erinnernde Gestalt aus gebogenen Zweigen und Stoffetzen. »Dies ist der Clanhäuptling, der ihnen von dem Hügel aus, von wo er die Schlacht beobachten kann, die Speere zu führen befiehlt. Aber die Kinder laufen, wohin sie wollen, denn ihr Clanhäuptling ist nur eine Gestalt aus Stöcken und Lumpen.« Wind peitschte die Stoffstreifen und enthüllte so die Falschheit der Gestalt, und dann waren Hügelkamm und Gestalt fort.
Egwene atmete tief ein. Natürlich. Sie hatte ihre Lüge, dem Ji'e'toh gemäß, selbstgewählt wiedergutgemacht, und das bedeutete, daß es so war, als wäre die Lüge niemals ausgesprochen worden. Sie hätte es besser wissen sollen. Sie hatten ihre Situation so genau erfaßt, als befänden sie sich schon wochenlang im Lager der Aes Sedai. Bair schaute zu Boden, wollte nicht Zeuge ihrer Scham sein. Amys saß mit in die Hand gestütztem Kinn da, und ihre durchdringenden blauen Augen versuchten, bis in ihr Herz zu blicken.
»Einige sehen mich so.« Sie atmete erneut tief ein und stieß dann die Wahrheit hervor. »Alle bis auf eine Handvoll sehen mich so. Jetzt. Wenn unser Kampf beendet ist, werden sie erkennen, daß ich tatsächlich ihr Häuptling bin, und sie werden tun, was ich sage.«
»Kommt zu uns zurück«, sagte Bair. »Ihr habt zuviel Ehre für diese Frauen. Sorilea läßt bereits ein Dutzend junge Männer für Euch suchen, die Ihr Euch im Schwitzzelt ansehen sollt. Sie verspürt den starken Wunsch, Euch einen Brautkranz winden zu sehen.«
»Ich hoffe, sie wird dort sein, wenn ich heirate, Bair.« Gawyn, wie sie hoffte; sie wußte von der Deutung ihrer Träume her, daß sie sich mit ihm verbinden würde, aber nur die Hoffnung und die Sicherheit der Liebe besagten, daß sie heiraten würden. »Ich hoffe, Ihr alle werdet dasein, aber ich habe meine Wahl getroffen.«
Bair hätte noch weiter debattiert und Melaine ebenso, aber Amys hob eine Hand, und sie schwiegen, wenn auch ungern. »Ihre Entscheidung beinhaltet viel Ji. Sie wird ihre Feinde ihrem Willen beugen, nicht vor ihnen davonlaufen. Ich wünsche Euch, daß Ihr Euren Kampf gut führt, Egwene al'Vere.« Amys war eine Tochter des Speers gewesen und dachte auch häufig noch so. »Setzt Euch. Setzt Euch.«
»Sie besitzt ihre eigene Ehre«, sagte Bair, während sie Amys stirnrunzelnd ansah. »Aber ich habe noch eine andere Frage.« Ihre Augen waren von einem fast wäßrigen Blau, aber als sie sich Egwene zuwandte, wirkten sie genauso durchdringend wie Amys'. »Werdet Ihr diese Aes Sedai dazu bringen, vor dem Car'a'carn niederzuknien?«
Egwene war bestürzt, aber sie zögerte nicht mit der Antwort. »Das kann ich nicht tun, Bair. Und ich würde es auch nicht tun, wenn ich es könnte. Unsere Treuezugehörigkeit gilt der Burg, den Aes Sedai insgesamt, noch vor den Ländern, in denen wir geboren wurden.« Das war die Wahrheit, oder sollte es sein, obwohl sie sich fragte, wie die Behauptung in ihren Gedanken mit ihrem und der anderen Aufruhr übereinstimmte. »Aes Sedai schwören nicht einmal der Amyrlin die Treue und sicherlich keinem Mann.
Das wäre, als würde eine von Euch vor einem Clanhäuptling niederknien.« Sie gebrauchte ein ähnliches Bild, wie Melaine es benutzt hatte, indem sie sich auf seine Wirklichkeit konzentrierte. Tel'aran'rhiod war unendlich formbar, wenn man wußte wie. Jenseits Callandors knieten drei Weise Frauen vor einem Clanhäuptling nieder. Der Mann erinnerte sehr an Rhuarc, und die Frauen waren die drei vor ihr Sitzenden. Sie hielt dieses Bild nur einen Augenblick fest, aber Bair betrachtete es und rümpfte die Nase. Die Vorstellung war lächerlich.
»Vergleicht diese Frauen nicht mit uns.« Melaines grüne Augen blitzten fast so heftig wie früher, und ihre Stimme klang rasiermesserscharf.
Egwene schwieg. Die Weisen Frauen schienen die Aes Sedai zu verachten, oder vielleicht sollte man besser sagen: Sie schätzten sie gering. Sie glaubten, sie könnten die Prophezeiungen, die sie mit den Aes Sedai verbanden, tatsächlich zurückweisen. Bevor Egwene vom Saal gerufen worden war, um zur Amyrlin erhoben zu werden, hatten sich Sheriam und ihr Kreis regelmäßig mit diesen drei Frauen getroffen, aber das hatte ebenso aus dem Grund aufgehört, daß die Weisen Frauen sich weigerten, ihre Verachtung zu verbergen, wie aus dem Grund, daß Egwene schließlich berufen worden war. In Tel'aran'rhiod konnte eine Auseinandersetzung mit jemandem, der den Ort besser kannte, im äußersten Falle tödlich enden. Selbst zu Egwene hielten sie jetzt Abstand, und gewisse Angelegenheiten würden sie nicht besprechen - wie zum Beispiel, was immer sie über Rands Pläne wußten. Vorher hatte sie zu ihnen gehört, als eine Schülerin des Traumgehens. Jetzt war sie eine Aes Sedai, schon bevor sie erfuhren, was sie ihnen gerade erzählt hatte.
»Egwene al'Vere wird tun, was sie tun muß«, sagte Amys. Melaine sah sie lange an und richtete Wichtigtuerisch ihre Stola, wobei mehrere lange Halsketten aus Elfenbein und Gold klimperten, aber sie schwieg. Amys schien noch mehr die Anführerin als zuvor. Die einzige Weise Frau, bei der Egwene jemals erlebt hatte, daß sie andere Weise Frauen auch so leicht dazu bringen konnte, ihr nachzugeben, war Sorilea.
Bair hatte Tee vor sich heraufbeschworen, wie es vielleicht in den Zelten angebracht gewesen wäre, eine goldene, mit Löwen verzierte Teekanne aus einem fernen Land, ein mit schnurartigen Verzierungen versehenes Silbertablett aus einem anderen Land und kleine grüne Becher aus erlesenem MeervolkPorzellan. Der Tee schmeckte natürlich real, und man hatte tatsächlich das Gefühl, ihn hinunterzuschlucken. Egwene erkannte den Tee, trotz eines vagen Geschmacks nach süßen Beeren oder Kräutern, nicht - er war für ihr Empfinden zu bitter. Sie stellte sich ein wenig Honig darin vor und nahm einen weiteren Schluck. Zu süß. Ein Hauch weniger Honig. Jetzt schmeckte er richtig. Das war etwas, was man mit der Einen Macht nicht bewerkstelligen konnte. Egwene bezweifelte, daß irgend jemand so feine Stränge Saidars weben konnte, daß man damit Honig aus dem Tee entfernen konnte.
Sie saß einen Moment nur da, schaute in ihren Becher und dachte über Honig und Tee und feine Stränge Saidars nach, aber nicht das ließ sie schweigen. Die Weisen Frauen wollten Rand genauso gängeln wie Elaida oder Romanda oder Lelaine oder sehr wahrscheinlich jede andere Aes Sedai. Sie wollten den Car'a'carn natürlich nur auf die für die Aiel beste Art anleiten, aber jene Schwestern wollten den Wiedergeborenen Drachen auf etwas hinführen, was ihrer Meinung nach für die Welt das beste war. Sie schonte sich nicht. Rand zu helfen, ihn davor zu bewahren, einen nicht wiedergutzumachenden Streit mit Aes Sedai einzugehen, bedeutete auch, ihn anzuleiten. Nur daß ich recht habe, erinnerte sie sich. Was auch immer ich tue, ist genauso sehr zu seinem Nutzen wie zum Nutzen aller anderen. Niemand sonst denkt jemals darüber nach, was für ihn richtig ist. Aber sie sollte besser daran denken, daß diese Frauen mehr als lediglich ihre Freundinnen und Anhänger des Car'a'carn waren. Sie lernte allmählich, daß niemand jemals nur irgend etwas war.
»Ich glaube nicht, daß Ihr uns nur sagen wolltet, daß Ihr jetzt ein weiblicher Häuptling unter den Feuchtländern seid«, sagte Amys über ihren Teebecher hinweg. »Was beunruhigt Euch, Egwene al'Vere?«
»Mich beunruhigt was mich stets beunruhigt.« Sie lächelte, um die Stimmung aufzulockern. »Manchmal denke ich, daß Rand mir vorzeitig graue Haare bescheren wird.«
»Ohne die Männer hätte keine Frau graue Haare.« Das wäre von Melaine normalerweise als Scherz gemeint gewesen, und dann hätte Bair ebenfalls einen Scherz über Melaines tiefgründiges Wissen über Männer gemacht, das sie in nur wenigen Monaten Ehe erlangt hatte. Aber jetzt war es nicht so. Alle drei Frauen beobachteten Egwene einfach nur und warteten ab.
Sie wollten also ernst sein. Nun, Rand war eine ernste Angelegenheit. Sie wünschte nur, sie könnte sicher sein, daß sie alles genauso beurteilten wie sie. Egwene balancierte ihren Teebecher auf den Fingerspitzen und erzählte ihnen alles. Von Rand ohnehin und von ihren Ängsten, seit sie von dem Schweigen aus Caemlyn erfahren hatte. »Ich weiß nicht, was er getan hat - oder was Merana getan hat. Jeder sagt mir, wie erfahren sie sei, aber sie hat noch nicht mit Menschen wie ihm zu tun gehabt. Wenn es um Aes Sedai geht - würdet Ihr diesen Becher auf einer Wiese verstecken, würde es ihm dennoch gelingen, innerhalb von drei Schritten hineinzutreten. Ich weiß, daß ich es besser machen könnte als Merana, aber...«
»Ihr könntet zurückkehren«, schlug Bair erneut vor, doch Egwene schüttelte entschlossen den Kopf.
»Ich kann dort, wo ich bin, mehr tun - als Amyrlin. Aber es gibt auch für den Amyrlin-Sitz Regeln.« Sie verzog einen Moment den Mund. Sie gab es nicht gern zu, besonders nicht diesen Frauen gegenüber. »Ich kann ihn ohne die Erlaubnis des Saals nicht einmal besuchen. Ich bin jetzt eine Aes Sedai, und ich muß unseren Gesetzen gehorchen.« Es klang heftiger, als sie beabsichtigt hatte. Es war ein törichtes Gesetz, aber sie hatte noch keine Möglichkeit gefunden, es zu umgehen. Zudem blieben ihre Gesichter so ausdruckslos, daß sie ohne Zweifel innerlich ungläubig kicherten. Nicht einmal ein Clanhäuptling hatte das Recht zu sagen, wann oder wohin eine Weise Frau gehen sollte.
Die drei Frauen wechselten lange Blicke. Dann stellte Amys ihren Teebecher ab. »Merana Ambrey und andere Aes Sedai folgen dem Car'a'carn zur Stadt der Baummörder. Ihr braucht nicht zu befürchten, daß er sie falsch behandelt oder umgekehrt. Wir werden feststellen, daß es keine Schwierigkeiten zwischen ihm und irgend einer Aes Sedai gibt.«
»Das klingt kaum nach Rand«, sagte Egwene zweifelnd. Also hatte Sheriam wegen Merana recht gehabt. Aber warum blieb sie noch immer stumm?
Bair lachte vergnügt. »Die meisten Eltern haben mehr Probleme mit ihren Kindern als der Car'a'carn mit den Frauen, die mit Merana Ambrey kamen.«
»Solange er nicht das Kind ist«, sagte Egwene kichernd, erleichtert, daß jemand über etwas belustigt war. So wie diese Frauen Aes Sedai gegenüber empfanden, hätten sie sich die Haare gerauft, wenn sie geglaubt hätten, daß irgendeine Schwester Einfluß auf Rand gewänne. Andererseits mußte Merana einigen Einfluß gewinnen, sonst könnte sie genausogut aufgeben. »Aber Merana hätte berichten sollen. Ich verstehe nicht, warum sie es nicht getan hat. Seid Ihr sicher, daß es keine...?« Sie wußte nicht, wie sie ihren Satz beenden sollte. Rand hätte Merana in keiner Weise davon abhalten können, eine Taube loszuschicken.
»Vielleicht hat sie einen Boten zu Pferde gesandt.« Amys verzog leicht das Gesicht. Ihr widerstrebte das Reiten genauso sehr wie jeder anderen Aiel. Die eigenen Beine genügten. »Sie hat keinen der Vögel geschickt, die die Feuchtländer benutzen.«
»Das war töricht von ihr«, murmelte Egwene. Töricht traf es nicht einmal annähernd. Meranas Träume würden abgeschirmt sein, so daß kein Versuch möglich war, dort mit ihr zu sprechen, selbst wenn sie gefunden werden könnten. Licht, es war ärgerlich! Sie beugte sich angespannt vor. »Amys, versprecht mir, daß Ihr nicht versuchen werdet, ihn davon abzuhalten, mit ihr zu sprechen, oder sie so sehr zu verärgern, daß sie etwas Törichtes tut.« Sie waren sehr wohl in der Lage dazu. Sie hatten das Erzürnen von Aes Sedai zu einem Talent perfektioniert. »Sie soll ihn nur davon überzeugen, daß wir ihm nicht schaden wollen. Ich befürchte, daß Elaida irgendeine häßliche Überraschung bereit hat, aber wir nicht.« Sie würde dafür sorgen, falls jemand anderer Ansicht war. Irgendwie würde sie es tun. »Versprecht Ihr es mir?« Sie wechselten ausdruckslose Blicke. Der Gedanke, eine Schwester ungehindert in Rands Nähe zu lassen, konnte ihnen nicht gefallen. Eine von ihnen würde es zweifellos einrichten, anwesend zu sein, wann immer Merana es war, aber sie konnte damit leben, solange sie sie nicht zu stark behinderten.
»Ich verspreche es, Egwene al'Vere«, sagte Amys schließlich mit vollkommen tonloser Stimme.
Sie war wahrscheinlich gekränkt, weil Egwene ihr Versprechen für nötig gehalten hatte, aber Egwene fühlte sich, als wäre ein Gewicht von ihr genommen worden. Zwei Gewichte. Rand und Merana würden einander nicht an die Kehle gehen, und Merana bekäme eine Gelegenheit, ihre Mission zu erfüllen. »Ich wußte, daß ich von Euch die unverblümte Wahrheit hören würde, Amys. Ich kann Euch nicht sagen, wie froh ich bin, das zu hören. Wenn etwas zwischen Rand und Merana falsch liefe... Danke.«
Sie blinzelte bestürzt. Amys trug einen Moment den Cadin'sor. Sie vollführte auch eine Art kleiner Geste - vielleicht die Zeichensprache der Töchter des Speers. Weder Bair noch Melaine, die ihren Tee tranken, ließen sich anmerken, ob sie es bemerkt hatten. Amys mußte sich woandershin gewünscht haben, fort von dem Wirrwarr, das Rand aus dem Leben aller gemacht hatte. Es wäre für eine Traumgängerin der Weisen Frauen peinlich und beschämend, in Tel'aran'rhiod auch nur einen Moment die Selbstbeherrschung zu verlieren. Und Aiel verletzte Scham weitaus mehr als Schmerz, aber es mußte bezeugte Scham sein. Wenn sie nicht bemerkt wurde, oder jene, die sie erkannten, sich weigerten, sie zu bestätigen, dann konnte sie genausogut niemals aufgetreten sein. Ein seltsames Volk, aber sie wollte Amys sicherlich nicht beschämen. Sie setzte ein unbeteiligtes Gesicht auf und fuhr fort, als sei nichts geschehen.
»Ich muß Euch um einen Gefallen bitten. Um einen wichtigen Gefallen. Sagt Rand - oder auch sonst jemandem - nichts von mir. Hierüber, meine ich.« Sie hob ein Ende ihrer Stola an. Ihre Gesichter ließen den ruhigsten Ausdruck einer Aes Sedai aufgebracht wirken. »Ich meine nicht, daß Ihr lügen sollt«, fügte sie hastig hinzu. Jemanden unter dem Ji'e'toh um eine Lüge zu bitten, war kaum besser, als selbst zu lügen. »Bringt das Thema einfach nicht zur Sprache. Er hat bereits jemanden geschickt, um mich zu ›retten‹.« Und wird er nicht wütend werden, wenn er herausfindet, daß ich Mat mit Nynaeve und Elayne nach Ebou Dar geschickt habe? dachte sie. Sie hatte es jedoch tun müssen. »Ich brauche keine Rettung und will sie nicht, aber er denkt, er weiß es besser als jeder andere. Ich fürchte, er könnte mich selbst holen wollen.« Was ängstigte sie mehr - daß er zornig allein im Lager erscheinen könnte, mit ungefähr dreihundert Aes Sedai um sich herum? Oder daß er mit einigen der Asha'man kommen könnte? Es wäre in beiden Fällen eine Katastrophe.
»Das wäre ... unglücklich«, murmelte Melaine, obwohl sie selten untertrieb, und Bair murrte: »Der Car'a'carn ist dickköpfig, so schlimm wie jeder andere Mann, den ich jemals kennengelernt habe. Und auch einige Frauen.«
»Wir werden Euer Vertrauen nicht enttäuschen, Egwene al'Vere«, sagte Amys ernst.
Egwene wunderte sich über die schnelle Zustimmung. Aber vielleicht kam sie doch nicht so überraschend. Für die Weisen Frauen war der Car'a'carn nur ein weiterer Häuptling, und sie waren gewiß dafür bekannt, Dinge vor einem Häuptling geheimzuhalten, die er nicht wissen sollte.
Danach blieb nicht mehr viel zu sagen, obwohl sie noch eine Weile bei weiteren Bechern Tee verharrten. Egwene sehnte sich nach einer Lektion im Traumgehen, konnte aber nicht darum bitten, solange Amys dabei war. Dann würde Amys gehen, aber sie wünschte sich ihre Gesellschaft mehr als das Lernen. Was Rand tatsächlich tat, hatten die Weisen Frauen ihr am ehesten vermittelt, als Melaine murrte, er sollte die Shaido und Sevanna sofort vernichten, woraufhin sowohl Bair als auch Amys sie dermaßen stirnrunzelnd ansahen, daß sie zutiefst errötete. Sevanna war immerhin eine Weise Frau, wie Egwene nur zu gut wußte. Nicht einmal dem Car'a'carn würde es erlaubt sein, auch nur eine Weise Frau der Shaido zu stören. Und sie konnte ihnen keine Einzelheiten über ihre eigenen Umstände mitteilen. Es verminderte die Scham auch nicht, die sie empfinden würden, wenn sie darüber spräche, daß sie sofort den peinlichsten Teil ihrer Lage erfaßt hatten - es war sehr schwer, nicht in das Verhalten und die Denkungsart der Aiel zurückzufallen, wenn sie mit ihnen zusammen war; diesbezüglich glaubte sie, es wäre vielleicht beschämend für sie gewesen, wenn sie niemals einer Aiel begegnet wäre -, und ihrem einzigen in letzter Zeit geäußerten Rat über den Umgang mit Aes Sedai würde nicht einmal Elaida selbst zu folgen versuchen. Ein Aes Sedai-Aufruhr könnte, so unwahrscheinlich es auch klang, einen Erfolg zeitigen. Schlimmer noch - sie dachten bereits ausreichend schlecht über die Aes Sedai, ohne daß sie das Feuer noch schürte. Eines Tages wollte sie ein Verbindungsglied zwischen den Weisen Frauen und der Weißen Burg schmieden, aber das würde erst geschehen, wenn es ihr gelang, dieses Feuer niederzuschlagen. Aiel waren manchmal sehr empfindlich. Aber sie akzeptierten ihre Meinung, ohne gekränkt zu sein.
»Ich denke, wenn die Schattenbeseelten uns bedrohen wollten«, sagte Melaine, »dann hätten sie es inzwischen getan. Vielleicht erachten sie uns nicht als eine Gefahr für sie.«
»Wir haben diejenigen flüchtig gesehen, die Traumgänger sein müssen - sogar Männer.« Bair schüttelte ungläubig den Kopf. Egal, was sie über die Verlorenen wußte - sie hielt männliche Traumgänger für genauso alltäglich wie Schlangen mit Beinen. »Sie gehen uns aus dem Weg. Alle.«
»Ich denke, wir sind genauso stark wie sie«, fügte Amys hinzu. Sie und Melaine waren in der Einen Macht nicht stärker als Theodrin und Faolain - alles andere als schwach und tatsächlich stärker als die meisten Aes Sedai, wenn auch nicht annähernd so stark wie ein Verlorener -, aber in der Welt der Träume war das Wissen Tel'aran'rhiods oft genauso mächtig wie Saidar und manchmal sogar mächtiger.
Hier war Bair jeder anderen Schwester ebenbürtig. »Aber wir werden aufpassen. Der Feind tötet dich, den du unterschätzt.«
Egwene nahm Amys' und Melaines Hand und hätte auch Bairs ergriffen, wenn es möglich gewesen wäre. Statt dessen schloß sie Bair in ihr Lächeln mit ein. »Ich werde Euch niemals vermitteln können, was mir Eure Freundschaft bedeutet, was Ihr mir bedeutet.« Das war, trotz allem, die einfache Wahrheit. »Die ganze Welt scheint sich mit jedem Wimpernschlag zu verändern. Ihr drei seid einer der wenigen festen Anhaltspunkte darin.«
»Die Welt verändert sich tatsächlich«, sagte Amys traurig. »Sogar die Berge werden vom Wind abgetragen, und niemand kann denselben Hügel zweimal erklimmen. Ich hoffe, daß wir für Euch immer Freundinnen bleiben werden, Egwene al'Vere. Mögt Ihr stets Wasser und Schatten finden.« Und mit diesen Worten verschwanden sie, kehrten in ihre Körper zurück.
Egwene stand einige Zeit nur da und betrachtete Callandor stirnrunzelnd, ohne es zu sehen, bis sie sich verärgert zur Ordnung rief. Sie hatte über dieses endlose Sternenfeld nachgedacht. Wenn sie hier noch lange verweilte, würde Gawyns Traum sie erneut finden und sie umschlingen, wie seine Arme es bald danach tun würden. Eine erfreuliche Art, die restliche Nacht zu verbringen. Und eine törichte Zeitverschwendung.
Sie zwang sich entschlossen zur Rückkehr in ihren schlafenden Körper, aber nicht in tiefen Schlaf. Das tat sie nie mehr. Ein Winkel ihres Bewußtseins blieb stets vollkommen wach, verzeichnete ihre Träume und ordnete diejenigen ein, die die Zukunft voraussagten oder zumindest Hinweise auf ihren möglichen Verlauf gaben. Soviel konnte sie inzwischen immerhin feststellen, obwohl der einzige Traum, den sie bisher hatte deuten können, derjenige Traum gewesen war, der besagt hatte, daß Gawyn ihr Behüter würde. Aes Sedai nannten dies Träumen und die Frauen, die es tun konnten, Träumerinnen, aber außer ihr waren alle schon tot, und doch hatte es nicht mehr mit der Einen Macht zu tun als das Traumgehen.
Vielleicht war es unvermeidlich, daß sie zuerst von Gawyn träumte, weil sie an ihn gedacht hatte.
Sie stand in einem großen, trübe beleuchteten Raum, in dem alles undeutlich war. Alles außer Gawyn, der langsam auf sie zukam. Ein großer, gutaussehender Mann - hatte sie jemals geglaubt, sein Halbbruder Galand sähe besser aus? - mit goldenem Haar und wundervoll tiefblauen Augen. Er hatte noch einige Entfernung zurückzulegen, aber er konnte sie sehen. Sein Blick war auf sie gerichtet wie der Blick eines Bogenschützen auf sein Ziel. Ein schwach knirschendes und reibendes Geräusch schwebte in der Luft. Sie schaute hinab und spürte, wie sich in ihr ein Schrei aufbaute. Gawyn schritt barfuß über einen geborstenen Glasboden und zerbrach mit jedem Schritt weitere Scherben. Sie konnte selbst bei dieser schwachen Beleuchtung sehen, daß seine zerschnittenen Füße eine Blutspur hinterließen. Sie streckte eine Hand aus, wollte ihm zurufen stehenzubleiben, versuchte, zu ihm zu laufen, aber sie befand sich im Handumdrehen woanders.
Sie schwebte, wie in ihren Träumen üblich, über eine lange gerade Straße, die durch eine grasbewachsene Ebene führte, und blickte auf einen Mann auf einem schwarzen Hengst herab. Gawyn. Dann stand sie auf der Straße vor ihm, und er verhielt das Pferd. Nicht weil er sie jetzt sah, sondern weil sich die bisher gerade Straße nun genau an der Stelle gabelte, an der sie stand, und dann über hohe Hügel verlief, so daß man nicht sehen konnte, was jenseits lag. Sie wußte es jedoch. Der eine Weg führte zu seinem baldigen gewaltsamen Tod und der andere zu einem langen Leben mit einem natürlichen Tod. Auf dem einen Weg würde er sie heiraten, auf dem anderen nicht. Sie wußte, was vor ihm lag, aber sie wußte nicht, welcher Weg wohin führte. Plötzlich sah er sie oder schien sie zu sehen, lächelte und führte sein Pferd dann einen der Wege entlang... Und sie befand sich in einem anderen Traum. Und wieder in einem anderen. Und wieder in einem anderen. Und wieder.
Nicht alle deuteten auf die Zukunft hin. Träume, in denen sie Gawyn küßte, in denen sie mit ihren Schwestern auf eine Frühlingswiese lief, wie sie es als Kinder getan hatten, glitten ebenso vorüber wie Alpträume, in denen Aes Sedai sie mit Ruten durch endlose Gänge jagten, in denen überall häßliche Wesen in den Schatten lauerten, eine grinsende Nicola sie vor dem Saal bloßstellte und Thom Merrilin als Zeuge auftrat. Sie entließ jene Träume und verdrängte die anderen, um sie später in der Hoffnung darauf zu überprüfen, daß sie vielleicht verstand, was sie bedeuteten.
Sie stand vor einer gewaltigen Mauer, klammerte sich daran, versuchte, sie mit bloßen Händen einzureißen. Die Mauer war nicht aus Ziegeln oder anderem Stein, sondern aus zahllosen Tausenden Scheiben, deren jede zur Hälfte weiß und zur Hälfte schwarz war, das uralte Symbol der Aes Sedai, wie die sieben Siegel, die einst das Gefängnis des Dunklen Königs verschlossen hielten. Einige jener Siegel waren jetzt gebrochen, obwohl nicht einmal die Eine Macht Cuendillar brechen konnte, und die restlichen waren auf irgendeine Weise schwächer geworden, aber die Mauer hielt stand, wie sehr sie auch dagegen anging. Sie konnte sie nicht einreißen. Vielleicht war das Symbol von Bedeutung. Vielleicht versuchte sie, die Aes Sedai niederzuzwingen, die Weiße Burg einzureißen. Vielleicht...
Mat saß auf einem von der Nacht verhüllten Hügelkamm und beobachtete das Schauspiel eines großen Feuerwerkers, und plötzlich hob er ruckartig die Hand und ergriff eines jener aufbrechenden Lichter am Himmel. Feuerpfeile schossen aus seiner geschlossenen Faust, und Egwene war von Furcht durchdrungen. Deswegen würden Menschen sterben. Die Welt würde sich verändern. Aber die Welt veränderte sich tatsächlich bereits. Sie veränderte sich ständig.
Riemen um Taille und Schultern hielten sie auf dem Block fest, und die Axt des Henkers sank herab, aber sie wußte, daß irgendwo jemand lief, und wenn er schnell genug lief, würde die Axt innehalten. Wenn nicht... Sie verspürte in jenem Winkel ihres Bewußtseins ein Schaudern.
Logain trat lachend über etwas auf dem Boden hinweg und stieg auf einen schwarzen Fels. Als Egwene hinabschaute, glaubte sie, es sei Rands Körper gewesen, über den er hinweggetreten war, der mit auf der Brust gekreuzten Händen auf einer Totenbahre lag, aber als sie sein Gesicht berührte, zerfiel es.
Ein goldener Falke streckte seine Flügel aus und berührte sie, und sie und der Falke waren irgendwie aneinander gebunden. Sie wußte nur, daß der Falke weiblich war. Ein Mann lag sterbend in einem schmalen Bett, und es war wichtig, daß er nicht starb, aber draußen wurde ein Scheiterhaufen zur Leichenverbrennung errichtet, und Stimmen erhoben Gesänge von Freude und Trauer. Ein dunkelhäutiger junger Mann hielt einen Gegenstand in der Hand, der so hell leuchtete, daß sie nicht sehen konnte, was es war.
Sie kamen immer näher, und sie überlegte fieberhaft, versuchte verzweifelt zu verstehen. Sie kam nicht zur Ruhe, aber es mußte getan werden. Sie würde tun, was nötig war.