11 Ein Eid

»Ihr wolltet vor Sonnenaufgang geweckt werden, Mutter.«

Egwene öffnete ruckartig die Augen - sie hatte sich selbst kurz darauf aufwecken wollen - und schrak wider Willen vor dem Gesicht über ihr zurück. Der strenge Ausdruck des von einem Schweißfilm überzogenen Gesichts war kein erfreulicher erster Anblick am Morgen. Meri verhielt sich vollkommen respektvoll, aber sie rümpfte die Nase und hatte ständig die Mundwinkel nach unten gezogen. Ihre dunklen Augen blickten kritisch drein und vermittelten den Eindruck, als habe sie niemals jemanden kennengelernt der auch nur halb so gut war, wie er sein sollte oder wie er zu sein vorgab, und ihre tonlose Stimme verlieh allen Worten eine andere Bedeutung.

»Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht, Mutter«, sagte sie, während ihr Gesichtsausdruck besagte, sie halte Egwene für faul. Ihr schwarzes Haar, das in festen Rollen über den Ohren aufgesteckt war, schien ihr Gesicht schmerzhaft zu verziehen. Das ungemilderte, triste Dunkelgrau, das sie stets trug, wie sehr sie auch darin schwitzte, trug noch zu dem düsteren Eindruck bei.

Egwene hatte nicht mehr richtig geschlafen. Sie stand gähnend von ihrem schmalen Bett auf, putzte sich die Zähne mit Salz und wusch sich Gesicht und Hände, während Meri ihr die Kleidung für diesen Tag zurechtlegte und sie dann drängte, sich anzuziehen. ›Drängen‹ war die richtige Bezeichnung.

»Ich fürchte, es wird ziepen, Mutter«, murmelte die freudlose Frau, während sie die Bürste durch Egwenes Haare zog, und Egwene hätte beinahe erwidert, sie habe ihr Haar nicht absichtlich im Schlaf verwirrt.

»Ich nehme an, daß wir hier heute einen Ruhetag einlegen, Mutter.« Bleierne Trägheit umgab Meris Spiegelbild.

»Diese Blauschattierung wird Eure Hautfarbe gut hervorheben, Mutter«, sagte sie, während sie Egwenes Knöpfe schloß, wohingegen ihr Gesichtsausdruck Egwene der Eitelkeit bezichtigte.

Voller Erleichterung darüber, daß heute abend Chesa dasein würde, legte Egwene sich die Stola um und floh beinahe, bevor die Frau ihre Aufgabe beendet hatte.

Über den Hügeln im Osten war noch keine Sonne zu sehen. Das Land erhob sich ringsumher zu langgezogenen Gebirgskämmen und unregelmäßigen Hügeln, manche Hunderte Fuß hoch, was häufig den Eindruck erweckte, als hätten gewaltige Finger sie zusammengepreßt. Schatten und Zwielicht überzogen das in einem der dazwischen liegenden Täler errichtete Lager, das aber in der niemals wirklich schwindenden Hitze schon erwacht war. Frühstücksdüfte erfüllten die Luft, und Menschen liefen geschäftig umher, obwohl sie sich nicht so hastig fortbewegten wie vor dem nächsten Tagesmarsch. Weiß gekleidete Novizinnen eilten fast im Laufschritt umher, denn eine kluge Novizin führte ihre Aufgaben stets so schnell wie möglich aus. Behüter schienen es natürlich niemals eilig zu haben, aber auch die Diener, die den Aes Sedai das Frühstück brachten, schlenderten heute morgen beinahe - zumindest im Vergleich zu den Novizinnen. Das ganze Lager nutzte die Rast. Ein Klappern und Flüche, als ein Wagenheber abrutschte, verkündeten, daß die Wagenbauer Reparaturen durchführten, und ein fernes Hämmern ließ vermuten, daß Hufschmiede Pferde neu beschlugen. Ein Dutzend Kerzenmacher hatte ihre Gußformen bereits aufgereiht wie auch die Kessel, in denen die sorgfältig gehorteten Kerzenstummel geschmolzen wurden. Weitere große schwarze Kessel standen auf Feuern, um Wasser für Bäder und die Wäsche zu kochen, und Männer und Frauen häuften in der Nähe Kleidungsstücke auf. Egwene beachtete alle diese Aktivitäten kaum.

Sie war zu der Überzeugung gelangt, daß Meri es nicht absichtlich tat - sie konnte für ihr Gesicht nichts. Dennoch war es genauso schlimm, als wäre Romanda ihre Dienerin gewesen. Der Gedanke daran ließ sie laut auflachen. Ein grauhaariger Koch hielt beim Stochern der Kohlen auf einem Eisenherd inne, um sie belustigt anzulächeln - wenigstens einen Moment.

Dann erkannte er, daß er den Amyrlin-Sitz anlächelte, nicht nur einfach irgendeine vorbeigehende junge Frau, und das Grinsen verzerrte sich, während er sich hastig verbeugte, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.

Wenn sie Meri fortschickte, würde Romanda nur eine neue Spionin besorgen. Und Meri müßte sich erneut mühsam von Dorf zu Dorf durchschlagen. Egwene richtete ihr Gewand - sie war tatsächlich geflohen, bevor die Frau ganz fertig war - und betastete einen kleinen Leinenbeutel, dessen Bänder an ihrem Gürtel befestigt waren. Sie mußte ihn nicht an die Nase führen, um Rosenblätter und eine Kräutermischung mit kühlem Duft zu riechen. Sie seufzte. Meri hatte ein Gesicht wie ein Scharfrichter, war zweifellos eine Spionin für Romanda und versuchte, ihre Pflichten so gut wie möglich zu erfüllen. Warum waren diese Dinge niemals einfach?

Während sie sich dem Zelt näherte, das sie als Arbeitsraum benutzte - viele nannten es das Studierzimmer der Amyrlin, als sei es ein Raum in der Burg -, wurde der Ärger um Meri von einer feierlichen Zufriedenheit ersetzt. Wann immer sie einen Tag rasteten, war Sheriam mit dicken Bündeln Bittschriften schon vor ihr da. Eine Wäscherin, die mit in den Saum ihres Gewandes eingenähtem Schmuck erwischt worden war, flehte um Gnade, oder ein Hufschmied bat um ein Arbeitszeugnis, das er erst verwenden könnte, wenn er fortgehen wollte, und wahrscheinlich nicht einmal dann. Eine Geschirrmacherin bat die Amyrlin, darum zu beten, daß sie eine Tochter gebar. Einer von Lord Brynes Soldaten ersuchte um den persönlichen Segen der Amyrlin für seine Heirat mit einer Näherin. Zudem gab es stets eine Menge Bittschriften von älteren Novizinnen, die darum baten, Tiana aufsuchen zu dürfen und zusätzliche Aufgaben zu bekommen. Jedermann hatte das Recht, die Amyrlin um etwas zu bitten, aber jene, die der Burg dienten, taten dies selten und Novizinnen der Burg niemals. Egwene vermutete, daß Sheriam sich bemühte, Bittsteller aufzutreiben, um sie beschäftigt zu halten und sie von Sheriams Angelegenheiten abzulenken, während sich die Behüterin der Chroniken um das kümmerte, was sie für wichtig hielt. Egwene dachte, daß sie Sheriam die Bittschriften heute morgen vielleicht zum Frühstück verspeisen lassen sollte.

Als sie das Zelt betrat, war Sheriam jedoch nicht da. Egwene hätte vielleicht nicht überrascht sein sollen, wenn sie die letzte Nacht bedachte. Aber das Zelt war dennoch nicht leer.

»Das Licht erleuchte Euch, Mutter«, sagte Theodrin und vollführte einen riefen Hofknicks, der die braunen Fransen ihrer Stola zum Schwingen brachte. Sie besaß die berühmte Domani-Anmut, obwohl ihr hochgeschlossenes Gewand wirklich recht bescheiden war. Aber Domani-Frauen waren nicht für Bescheidenheit bekannt. »Wir haben Eure Befehle befolgt, aber niemand hat gestern abend jemanden in der Nähe von Marigans Zelt gesehen.«

»Einige der Männer erinnern sich, Halima gesehen zu haben«, fügte Faolain mürrisch an, während sie sich weitaus knapper verbeugte, »aber abgesehen davon erinnern sie sich kaum daran, ob sie überhaupt schlafen gegangen sind.« Viele Frauen waren gegen Delanas Schriftführerin eingestellt, aber erst ihre nächste Bemerkung ließ Faolains Gesicht sich verdüstern. »Wir begegneten Tiana, als wir uns umhörten. Sie befahl uns, schleunigst zu Bett zu gehen.« Sie strich unbewußt über die blauen Fransen ihrer Stola. Siuan behauptete, neu ernannte Aes Sedai trügen ihre Stolen häufiger als notwendig.

Egwene gönnte ihnen ein, wie sie hoffte, freundliches Lächeln und nahm dann ihren Platz hinter dem kleinen Tisch ein. Sie tat dies vorsichtig, da sich der Stuhl einen Moment neigte, bis sie hinabgriff und ein Stuhlbein gerade zog. Der Rand eines gefalteten Pergaments lugte unter dem steinernen Tintenfaß hervor. Ihre Hände zuckten in die Richtung, aber sie zwang sie zur Ruhe. Zu viele Schwestern hielten Höflichkeit für unnötig. Sie würde nicht dazu gehören. Außerdem hatten diese beiden ein Anrecht auf sie.

»Es tut mir leid, daß Ihr Probleme habt, Tochter.« Sie waren durch Egwenes nach ihrer Ernennung zum Amyrlin-Sitz verkündeten Erlaß zu Aes Sedai erhoben worden und befanden sich in der gleichen mißlichen Lage wie sie selbst, ohne den zusätzlichen Schutz der Stola der Amyrlin zu haben, als wie gering sich dieser auch erwiesen hatte. Die meisten Schwestern verhielten sich, als wären sie noch immer nur Aufgenommene. Was innerhalb der Ajahs vor sich ging, gelangte nur selten nach draußen, aber es hieß, daß sie wahrhaftig um Zutritt hatten bitten müssen und daß Wächter bestimmt worden waren, ihr Verhalten zu überprüfen. Niemand hatte jemals etwas Derartiges gehört, aber alle nahmen es als gegeben. Sie hatte ihnen keinen Gefallen erwiesen. Aber auch dies war notwendig gewesen. »Ich werde mit Tiana sprechen.« Vielleicht nützte es etwas. Einen Tag oder eine Stunde lang.

»Danke, Mutter«, sagte Theodrin, »aber bemüht Euch nicht.« Sie berührte ebenfalls ihre Stola und ließ die Hände darauf ruhen. »Tiana wollte wissen, warum wir so spät noch auf waren«, fügte sie kurz darauf hinzu. »Aber wir haben es ihr nicht gesagt.«

»Es brauchte nicht geheimgehalten werden, Tochter.« Aber es war bedauerlich, daß sie keinen Zeugen gefunden hatten. Moghediens Retter würde ein flüchtiger Schatten bleiben - immer von der furchteinflößendsten Art. Sie betrachtete den Rand des Pergaments, wollte es so gern lesen. Vielleicht hatte Siuan etwas herausgefunden. »Ich danke Euch beiden.« Theodrin erkannte die Entlassung und machte sich bereit zu gehen, aber Faolain blieb sitzen.

»Ich wünschte, ich hätte die Eidesrute bereits gehalten«, erklärte Faolain enttäuscht, »damit Ihr wüßtet, daß ich die Wahrheit sage.«

»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, die Amyrlin noch weiter zu stören«, begann Theodrin, faltete die Hände und wandte ihre Aufmerksamkeit Egwene zu.

Ihr geduldiger Gesichtsausdruck veränderte sich geringfügig. Sie war im Gebrauch der Macht eindeutig die Stärkere der beiden und führte sie stets an, aber dieses Mal war sie bereit zurückzustehen. Warum? fragte sich Egwene.

»Nicht die Eidesrute macht eine Frau zur Aes Sedai, Tochter.« Was auch immer einige glaubten. »Sagt mir die Wahrheit, und ich werde sie glauben.«

»Ich mag Euch nicht.« Faolains dichte dunkle Lokken schwangen, als sie nachdrücklich den Kopf schüttelte. »Das solltet Ihr wissen. Ihr hieltet mich wahrscheinlich für boshaft, als Ihr noch eine Novizin wart und zur Weißen Burg zurückkamt, nachdem Ihr davongelaufen wart, aber ich glaube noch immer, daß Ihr nicht halb so streng bestraft worden seid, wie es hätte geschehen sollen. Vielleicht wird mein Eingeständnis helfen, daß Ihr mir glaubt Es ist nicht so, daß wir auch jetzt keine andere Wahl hätten. Romanda hat uns ihren Schutz angeboten, und Lelaine ebenfalls. Sie sagten, sie würden dafür sorgen, daß wir geprüft und angemessen erhoben würden, sobald wir zur Burg zurückkehren.« Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, und Theodrin verdrehte die Augen und schaltete sich ein.

»Mutter, was Faolain auf ihre umständliche Art sagen will, ist, daß wir uns Euch nicht angeschlossen haben, weil wir keine andere Wahl gehabt hätten. Und wir haben es auch nicht aus Dankbarkeit für die Stola getan.« Sie schürzte die Lippen, als glaubte sie, daß ihre Erhebung zur Aes Sedai auf Egwenes Art nicht wirklich ein Geschenk war, das große Dankbarkeit bewirken sollte.

»Warum dann?« fragte Egwene und lehnte sich zurück. Der Stuhl verschob sich, hielt aber stand.

Faolain ergriff das Wort, bevor Theodrin auch nur den Mund öffnen konnte. »Weil Ihr der Amyrlin-Sitz seid.« Sie klang noch immer verärgert. »Wir erkennen, was vor sich geht. Einige der Schwestern glauben, Ihr wärt Sheriams Marionette, aber die meisten denken, Romanda oder Lelaine sagten Euch, wann Ihr wohin gehen sollt. Es ist nicht richtig.« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe die Burg verlassen, weil Elaida falsch gehandelt hat. Dann hat man Euch zur Amyrlin erhoben. Also gehöre ich zu Euch, wenn Ihr mich haben wollt und Ihr mir ohne die Eidesrute vertrauen könnt. Ihr müßt mir glauben.«

»Und Ihr, Theodrin?« fragte Egwene schnell und mit unbewegtem Gesicht. Es war schlimm genug zu wissen, wie die Schwestern empfanden, aber es zu hören, war ... schmerzlich.

»Ich gehöre auch zu Euch«, antwortete Theodrin seufzend, »wenn Ihr mich haben wollt.« Sie spreizte verächtlich die Hände. »Ich weiß, wir sind nicht viele, aber es sieht so aus, als wären wir die einzigen, die Ihr habt. Ich muß zugeben, daß ich zögerlich war, Mutter. Faolain bestand darauf, daß wir dies tun. Offen gesagt...« Sie richtete unnötigerweise erneut ihre Stola, und ihre Stimme wurde fester. »Offen gesagt, kann ich nicht erkennen, wie Ihr gegen Romanda und Lelaine obsiegen wollt. Aber wir versuchen, uns wie Aes Sedai zu verhalten, auch wenn wir es noch nicht wirklich sind. Wir werden es auch nicht sein, Mutter, was immer Ihr sagt, bis die anderen Schwestern uns als Aes Sedai anerkennen, und das wird erst geschehen, wenn wir geprüft wurden und die Drei Eide geleistet haben.«

Egwene zog das gefaltete Pergament unter dem Tintenfaß hervor und betastete es, während sie nachdachte. Faolain war die treibende Kraft hinter alledem? Das schien genauso unwahrscheinlich wie ein sich mit einer Schafherde anfreundender Wolf ›Abneigung‹ war ein milder Ausdruck für das, was Faolain für sie empfunden hatte, und die Frau mußte wissen, daß Egwene sie kaum als zukünftige Freundin ansah. Wenn sie die Anordnung aller Sitzenden akzeptiert hatten, wäre die Erwähnung des Angebots vielleicht ein gutes Mittel, ihr Mißtrauen zu entkräften.

»Mutter«, sagte Faolain und hielt dann inne, wobei sie über sich selbst überrascht schien. Es war das erste Mal, daß sie Egwene auf diese Weise angesprochen hatte. Sie atmete tief durch und fuhr fort, »Mutter, ich weiß, es muß Euch schwergefallen sein, uns zu glauben, da wir die Eidesrute niemals in der Hand hielten, aber...«

»Ich wünschte, Ihr würdet dieses Thema fallenlassen«, sagte Egwene. Es war angemessen, vorsichtig zu sein, aber sie konnte es sich aus Angst vor Komplotten nicht leisten, ein Hilfsangebot auszuschlagen. »Denkt Ihr, jedermann glaubt einer Aes Sedai nur wegen der Drei Eide? Menschen, welche die Aes Sedai kennen, wissen, daß eine Schwester die Wahrheit auf den Kopf stellen und umkehren kann, wenn sie es will. Ich selbst glaube.

daß die Drei Eide genauso viel schaden wie nützen, vielleicht sogar mehr. Ich werde Euch glauben, bis ich erfahre, daß Ihr mich belogen habt. Genauso wie jeder andere es mit Menschen macht.« Wenn man darüber nachdachte, änderten die Eide nicht wirklich etwas daran. Man mußte einer Schwester die meiste Zeit einfach vertrauen. Die Eide machten die Menschen nur vorsichtiger darin, weil sie sich fragten, ob und wie sie manipuliert wurden. »Noch etwas. Ihr beide seid Aes Sedai. Ich will nichts mehr über Prüfungen oder das Halten der Eidesrute hören. Es ist schlimm genug, daß Ihr diesen Unsinn ertragen müßt, ohne es selbst noch zu wiederholen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Die beiden Frauen, die auf zwei Seiten des Tisches standen, murmelten hastig, daß dem so sei, und wechselten darin lange Blicke. Dieses Mal wirkte Faolain unentschlossen. Schließlich trat Theodrin um den Tisch herum, kniete sich neben Egwenes Stuhl und küßte ihren Ring. »Unter dem Licht und bei meiner Hoffnung auf Erlösung und Wiedergeburt, schwöre ich, Theodrin Dabei, Euch, Egwene al'Vere, Treue. Ich werde Euch treu dienen und bei meinem Leben gehorchen und ehren.« Sie sah Egwene fragend an.

Egwene konnte nur nicken. Dies gehörte nicht zum Ritual der Aes Sedai. So verschworen sich Adlige ihrem Herrscher. Und selbst manche Herrscher hörten keinen solch streng gefaßten Eid. Aber kaum hatte sich Theodrin mit erleichtertem Lächeln erhoben, als Faolain auch schon ihren Platz einnahm.

»Unter dem Licht und bei meiner Hoffnung auf Erlösung und Wiedergeburt schwöre ich, Faolain Orande...«

Das war mehr, als Egwene sich hätte wünschen können. Zumindest nicht von irgendeiner anderen höhergestellten Schwester.

Als Faolain geendet hatte, verharrte sie, steif aufgerichtet, auf den Knien. »Mutter, ich muß noch Buße tun.

Für das, was ich zu Euch gesagt habe - daß ich Euch nicht mag. Ich werde die Buße selbst festlegen, wenn Ihr wollt, aber Ihr habt das Recht dazu.« Ihre Stimme klang genauso starr, wie es ihre Haltung war, aber überhaupt nicht furchtsam. Sie wirkte bereit, einem Löwen gegenüberzutreten. Und sogar begierig darauf.

Egwene biß sich auf die Lippen, um nicht laut herauszulachen. Es kostete sie Mühe, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten. Vielleicht hielten sie ihre erstickten Laute für einen Schluckauf. Wie sehr sie es auch abstritten - sie waren wirkliche Aes Sedai. Faolain hatte gerade bewiesen, wieviel sie von einer Aes Sedai hatte. Manchmal legten Schwestern ihre Buße selbst fest, um die richtige Ausgewogenheit zwischen Stolz und Demut zu erhalten - diese Ausgewogenheit wurde vermutlich hoch geschätzt und war üblicherweise der einzige Grund -, aber sicherlich strebte niemand danach. Eine von jemand anderem auferlegte Buße konnte recht hart sein, und von der Amyrlin wurde erwartet, daß sie darin noch härter vorging als die Ajahs. In jedem Fall unterwarfen sich viele Schwestern stolz dem stärkeren Willen der Aes Sedai - eine anmaßende Vorführung ihres Mangels an Anmaßung. Der Stolz der Demut, wie Siuan es nannte. Egwene erwog, der Frau zu befehlen, eine Handvoll Seife zu essen, nur um ihren Gesichtsausdruck zu sehen - Faolain hatte eine böse Zunge -, aber statt dessen...

»Ich erlege niemandem Buße auf, der die Wahrheit sagt, Tochter. Oder deshalb, weil er mich nicht mag. Folgt auch in der Abneigung Eurem Herzen, solange Ihr den Eid einhaltet.« Nicht daß jemand anderer außer einem Schattenfreund diesen besonderen Eid tatsächlich brechen würde. Dennoch gab es Möglichkeiten, fast alles zu umgehen. Aber schwache Stöcke waren besser als gar keine Stöcke, wenn man sich gegen einen Bären wehren mußte.

Faolains Augen weiteten sich, und Egwene seufzte, während sie der Frau bedeutete, sich zu erheben. Wären ihre Positionen umgekehrt gewesen, dann hätte Faolain ihr eine gehörige Buße auferlegt.

»Ich übertrage Euch zu Beginn zwei Aufgaben, Töchter«, fuhr sie fort.

Sie lauschten aufmerksam. Faolain blinzelte nicht einmal, Theodrin hatte einen Finger nachdenklich an die Lippen gelegt, und als Egwene sie dieses Mal entließ, sagten sie im Chor: »Wie Ihr befehlt, Mutter« und vollführten Hofknickse.

Aber Egwenes gute Stimmung wich. Meri trat mit dem Frühstückstablett ein, als Theodrin und Faolain gingen, und als Egwene ihr für eine wie Rosenblätter geformte Duftkugel dankte, sagte sie: »Ich hatte noch ein wenig Zeit, Mutter.« Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hätte dies eine Anklage sein können, daß Egwene sie zu schwer arbeiten ließ oder sie selbst nicht genug arbeitete. Keine erfreuliche Frühstücksbeilage. Egwene schickte sie fort, bevor sie zu frühstücken begann. Der Tee war ohnehin schwach. Tee war eines der karg bemessenen Dinge.

Die Notiz unter dem Tintenfaß stellte sich als wenig erfreulich heraus. »Nichts Interessantes im Traum«, hatte Siuan geschrieben. Also war Siuan letzte Nacht auch in Tel'aran'rhiod gewesen. Sie spionierte dort häufig. Es war eigentlich unwichtig, ob sie nach einem Hinweis auf Moghedien oder sonst etwas gesucht hatte, obwohl das unglaublich töricht gewesen wäre. Nichts war nichts.

Egwene verzog das Gesicht, und nicht nur wegen des »nichts«. Wenn Siuan letzte Nacht in Tel'aran'rhiod gewesen war, bedeutete das, daß Leane heute irgendwann käme und sich beschweren würde, Siuan war mit großer Sicherheit kein Traum-Ter'angreal mehr gestattet, seit sie versucht hatte, einigen der anderen Schwestern über die Welt der Träume zu berichten. Es ging weniger darum, daß Siuan kaum mehr wußte als die anderen oder auch, daß nur wenige Schwestern glaubten, sie brauchten wirklich einen Lehrer, um etwas zu lernen, sondern darum, daß Siuan wahrhaft eine scharfe und ungeduldige Zunge besaß. Gewöhnlich konnte sie sich im Zaum halten, aber zwei Wutausbrüche hatten bewirkt, daß sie froh sein konnte, nur den Zugriff auf das Ter'angreal verweigert zu bekommen. Leane gewährte ihr dennoch einen, wann immer sie darum bat, und Siuan benutzte häufig auch heimlich einen. Das war eine der wenigen Übereinstimmungen zwischen ihnen. Beide wären jede Nacht nach Tel'aran'rhiod gegangen, wenn es möglich gewesen wäre.

Egwene beschwor mit der Macht einen winzigen Funken Feuer herauf, um eine Ecke des Pergaments anzuzünden, und hielt es dann fest, bis es fast bis auf ihre Fingerspitzen herabgebrannt war. Es sollte nichts übrigbleiben, was jemand finden könnte, der ihre Sachen durchsuchte und Bericht erstattete, wo dies Mißtrauen erwecken könnte.

Sie hatte ihr Frühstück beinahe beendet und war noch immer allein, und das war ungewöhnlich. Sheriam ging ihr vielleicht aus dem Weg, aber Siuan hätte dasein sollen. Sie steckte sich den letzten Bissen in den Mund, spülte ihn mit einem Schluck Tee hinunter, erhob sich dann und wollte sich auf die Suche nach Siuan begeben, als diese ins Zelt stolzierte.

»Wo wart Ihr?« fragte Egwene, während sie einen Schutz gegen Lauscher wob.

»Aeldene hat mich schon früh beansprucht«, grollte Siuan und ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Sie denkt noch immer, sie könnte die Namen der Augen-und-Ohren der Amyrlin aus mir herauspressen. Das kann niemand! Niemand!«

Als Siuan gerade in Salidar eingetroffen war, eine gedämpfte Frau auf der Flucht, eine abgesetzte Amyrlin, die von der Welt für tot gehalten wurde, hätten die Schwestern sie durchaus fortschicken können, wenn sie nicht das Spione-Netz des Amyrlin-Sitzes sowie das der Blauen Ajah gekannt hätte, die sie geführt hatte, bevor sie zur Stola erhoben worden war. Das hatte ihr einen gewissen Einfluß verschafft, genau wie Leanes Spione in Tar Valon dieser einen gewissen Einfluß verschafft hatten. Die Ankunft Aeldene Steinbrückes, die ihren Platz bei den Augen-und-Ohren der Blauen eingenommen hatte, änderte für Siuan einiges. Aeldene war zornig darüber gewesen, daß Berichte der Handvoll Spione der Blauen Ajah, die Siuan hatte gewinnen können, an Frauen außerhalb der Ajah weitergegeben worden waren. Und daß Aeldenes eigene Position offenbart wurde -selbst innerhalb der Blauen wußten vermutlich nur zwei oder drei Schwestern davon -, erzürnte sie fast bis zur Weißglut. Sie riß nicht nur die Leitung der Blauen Ajah wieder an sich, sondern schalt Siuan auch in einer Lautstärke, daß man sie wohl noch eine Meile entfernt hören konnte, und ging ihr beinahe an die Kehle. Aeldene stammte aus einem andoranischen Bergbaudorf in den Verschleierten Bergen, und es hieß, ihre gekrümmte Nase sei ein Ergebnis der Faustkämpfe, die sie als Mädchen bestritten habe. Aeldenes Handlungen hatten viele nachdenklich gemacht.

Egwene setzte sich wieder auf ihren wackeligen Stuhl und schob das Frühstückstablett beiseite. »Aeldene wird es Euch nicht abnehmen, Siuan, und auch niemand sonst.« Als Aeldene die Augen-und-Ohren der Blauen wieder beanspruchte, waren andere zu dem Entschluß gekommen, daß die Blauen nicht auch noch die Augen-und-Ohren der Amyrlin haben sollten. Aber niemand machte den Vorschlag, daß sie Egwenes Kontrolle unterliegen sollten. Der Saal sollte sie haben - das sagten Romanda und Lelaine. Natürlich wollten sie beide diese Aufgabe übernehmen und diejenige sein, die diese Berichte als erste erhielt, denn es war von Vorteil, als erste Bescheid zu wissen. Aeldene fand, die Spione sollten dem Netz der Blauen einverleibt werden, da Siuan eine Blaue war. Zumindest war Sheriam damit zufrieden, alle Berichte ausgehändigt zu bekommen, die Siuan erhielt. »Sie können Euch nicht zwingen, es aufzugeben.«

Egwene goß sich Tee nach und stellte die Tasse und den blau glasierten Honigtopf neben Siuan auf die Ecke des Tisches, aber diese betrachtete die Gegenstände nur. Der Zorn war aus ihr gewichen. Sie sank auf dem Stuhl zusammen. »Ihr denkt niemals wirklich über die Kraft nach«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Ihr seid Euch bewußt, wenn Ihr stärker seid als eine andere, aber Ihr denkt nicht darüber nach. Ihr wißt einfach, daß sie Euch nachgibt, oder daß Ihr nachgebt. Früher gab es niemanden, der stärker war als ich. Niemand, seit...« Sie senkte den Blick auf ihre nervösen Hände. »Manchmal, wenn Romanda oder Lelaine mich beschimpfen, trifft es mich wie ein Schlag. Sie stehen jetzt so weit über mir, daß ich den Mund halten sollte, bis sie mir die Erlaubnis erteilen zu sprechen. Selbst Aeldene steht über mir, und sie ist nur Mittelmaß.« Sie zwang sich, den Kopf zu heben und fuhr verbittert fort. »Ich passe mich vermutlich der Realität an. Auch das liegt in uns, wird tief in uns verwurzelt, bevor wir die erste Prüfung zur Stola ablegen. Aber es gefällt mir nicht. Es gefällt mir nicht!«

Egwene hob die neben dem Tintenfaß liegende Feder auf und spielte damit, während sie ihre Worte sorgfältig wählte. »Siuan, Ihr wißt, wie ich über notwendige Veränderungen denke. Wir tun vieles, weil die Aes Sedai es stets auf diese Art getan haben. Aber die Dinge ändern sich, gleichgültig, ob jemand glaubt, alles kehre zum Urzustand zurück. Ich bezweifle, daß schon jemals eine Amyrlin erhoben wurde, die nicht zuvor eine Aes Sedai gewesen war.« Das hätte eine Bemerkung über die verborgenen Aufzeichnungen der Weißen Burg bewirken sollen -Siuan sagte häufig, es gäbe nichts, was in der Geschichte der Burg nicht mindestens einmal vorgekommen sei, auch wenn es zum ersten Mal zu geschehen schien -, aber Siuan saß nur entmutigt da. »Siuan, die Aes-Sedai-Art ist nicht die einzige und auch nicht immer die beste Möglichkeit. Ich möchte sicherstellen, daß wir den besten Weg wählen, und wer auch immer sich nicht ändern kann oder will, sollte besser damit zu leben lernen.« Sie beugte sich über den Tisch und versuchte, Siuan Mut zu geben. »Ich habe niemals herausgefunden, wie Weise Frauen Vorrang bestimmen, aber es geschieht nicht durch die der Macht innewohnende Kraft. Es gibt Frauen, die die Macht lenken können, sich aber Frauen fügen, die dies nicht können. Eine, Sorilea, hätte es niemals zur Aufgenommenen gebracht, und doch folgen selbst die Stärksten ihrem Befehl.«

»Wilde«, sagte Siuan verächtlich, aber ohne große Überzeugung.

»Und die Aes Sedai. Ich wurde nicht zur Amyrlin erhoben, weil ich die stärkste bin. Die weisesten und geschicktesten Frauen werden als Gesandte oder Beraterinnen für den Saal erwählt, nicht die stärksten.« Worin dieses Geschick bestand, sollte besser unerwähnt bleiben, obwohl Siuan diese besonderen Geschicke gewiß auch besaß.

»Der Saal? Der Saal würde mich vielleicht Tee holen schicken.«

Egwene lehnte sich zurück und legte die Feder hin. Sie hatte die Frau am liebsten geschüttelt. Siuan hatte weitergemacht, als sie die Macht gar nicht lenken konnte, und jetzt zitterten ihr die Knie? Egwene wollte ihr gerade von Theodrin und Faolain erzählen - das sollte sie aufrichten -, als sie eine Frau mit olivfarbener Haut am geöffneten Zelteingang vorbeireiten sah, die unter dem breiten grauen Hut, den sie zum Schutz gegen die Sonne trug, gedankenverloren wirkte.

»Siuan, das ist Myrelle.« Sie ließ den Lauschschutzfahren und eilte hinaus. »Myrelle!« rief sie. Siuan brauchte einen Sieg, um das Gefühl, unterdrückt worden zu sein, zu vertreiben, und dies könnte genau der richtige Weg sein. Myrelle gehörte zu Sheriams Leuten und hütete offenbar ihr eigenes Geheimnis.

Myrelle verhielt ihren Fuchswallach, blickte sich um und erschrak, als sie Egwene erkannte. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte die Grüne Schwester nicht bemerkt, durch welchen Teil des Lagers sie ritt. Ein leichter Staubmantel hing über die Schultern ihres hellgrauen Reitgewands herab. »Mutter«, sagte sie zögernd, »bitte vergebt mir, aber ich...«

»Ich werde Euch nicht vergeben«, unterbrach Egwene sie, und Myrelle zuckte zusammen. Aller Zweifel schwand, daß Myrelle von Sheriam über die Ereignisse der letzten Nacht unterrichtet worden war. »Ich möchte mit Euch sprechen. Jetzt.«

Siuan war ebenfalls herausgekommen, aber anstatt zu beobachten, wie die Schwester unbehaglich vom Pferd stieg, blickte sie die Zeltreihen entlang zu einem untersetzten, bereits ergrauenden Mann mit einem über seinen lederfarbenen Umhang geschnürten, verbeulten Brustpanzer, der einen großen Kastanienbraunen in ihre Richtung führte. Seine Anwesenheit im Lager überraschte. Lord Bryne verständigte sich für gewöhnlich durch Boten mit dem Saal, und seine seltenen Besuche endeten meist schon, bevor Egwene erfuhr, daß er gekommen war, Siuan nahm einen solchen Ausdruck von Aes-Sedai-Ruhe an, daß man ihr jugendliches Gesicht fast vergaß.

Bryne schaute kurz zu Siuan und machte sich dann wenig anmutig an seinem Schwert zu schaffen. Sein Gesicht war wettergegerbt, und der Mann war nicht übermäßig groß, wenn ihn sein Verhalten auch größer erscheinen ließ. Es war nichts Auffallendes an ihm. Der Schweiß auf seinem breiten Gesicht vermittelte den Eindruck von Geschäftigkeit. »Mutter, kann ich Euch sprechen? Allein?«

Myrelle wandte sich zum Gehen, und Egwene fauchte: »Ihr bleibt hier stehen! Genau hier!« Myrelles Kinn sank herab. Sie schien ebenso erstaunt darüber, daß sie gehorchte, wie über Egwenes bestimmten Tonfall, und dann wurde die Überraschung zu verbitterter Resignation, die sie schnell hinter einer kühlen Fassade verbarg, die aber durch ihr nervöses Spiel mit den Zügeln Lügen gestraft wurde.

Bryne blinzelte nicht einmal, obwohl sich Egwene dessen gewiß war, daß er ihre Situation zumindest erahnte. Sie vermutete, daß ihn nur wenig überraschen oder beunruhigen konnte. Allein sein Anblick hatte in Siuan den Wunsch erweckt zuzuschlagen, denn es war nur zu offensichtlich, daß sie die meisten ihrer Streitigkeiten begann. Sie hatte die Fäuste bereits in die. Hüften gestemmt und ihren Blick auf ihn gerichtet, einen unheilvollen Blick, der jedermann Unbehagen hätte bereiten sollen, auch wenn es nicht der Blick einer Aes Sedai gewesen wäre. Myrelle bot jedoch mehr als nur Hilfe für Siuan an. Vielleicht. »Ich hatte vor, Euch zu bitten, heute nachmittag zu kommen, Lord Bryne. Ich bitte Euch jetzt darum.« Sie mußte ihn einiges fragen. »Wir können dann miteinander sprechen. Wenn Ihr mich entschuldigt.«

Anstatt ihre Entschuldigung anzunehmen, sagte er: »Mutter, einer meiner Spähtrupps hat unmittelbar vor Sonnenaufgang etwas gefunden, was Ihr Euch, wie ich meine, selbst ansehen solltet. Ich kann eine Eskorte bereitstellen...«

»Das ist nicht nötig«, unterbrach sie ihn schnell. »Myrelle, Ihr kommt mit uns. Siuan, würdet Ihr bitte jemanden mein Pferd bringen lassen? Unverzüglich.«

Mit Myrelle hinauszureiten wäre besser, als sich ihr hier gegenüberzustellen, wenn Siuans bruchstückhafte Hinweise wirklich etwas bedeuteten, und sie konnte Bryne auch bei einem Ritt befragen, aber sie hatte es mit beidem nicht eilig. Sie hatte Lelaine und Takima gerade durch die Zeltreihen auf sich zukommen sehen. Alle Frauen, die Sitzende gewesen waren, bevor Siuan abgesetzt worden war, hatten sich mit einer Ausnahme entweder Lelaine oder Romanda angeschlossen. Die meisten der neugewählten Sitzenden gingen ihren eigenen Weg, was nach Egwenes Ansicht etwas besser war. Nur etwas.

Selbst aus einer gewissen Entfernung war Lelaines Anspannung erkennbar. Sie schien bereit, durch alles hindurchzubrechen, was ihr in den Weg geriet. Siuan bemerkte die Anspannung ebenfalls und eilte davon, ohne auch nur für einen Hofknicks innezuhalten, aber für Egwene reichte die Zeit nicht mehr aus, ungesehen davonzukommen.

Lelaine pflanzte sich vor ihr auf, aber ihr scharfer, nachdenklicher Blick war auf Bryne gerichtet, während sie zu überlegen schien, was er hier tat. Sie hatte jedoch Wichtigeres zu bedenken. »Ich muß mit der Amyrlin sprechen«, sagte sie herrisch und deutete dann auf Myrelle. »Ihr werdet warten. Mit Euch spreche ich später.« Bryne verbeugte sich nicht allzu tief und führte sein Pferd zu der von ihr angezeigten Stelle. Männer, die auch nur ein wenig Verstand besaßen, lernten nur allzu schnell, daß es wenig Sinn hatte, mit Aes Sedai zu streiten, und bei Sitzenden ging diese Rechnung noch weniger auf.

Bevor Lelaine etwas erwidern konnte, beherrschte Romandas Gegenwart plötzlich alles so sehr, daß Egwene Varilin, die bei Romanda war, zunächst gar nicht bemerkte, obwohl die schlanke, rothaarige Sitzende für die Graue Ajah mehrere Zoll größer war als die meisten Männer. Überraschend war nur, daß Romanda nicht früher aufgetaucht war. Sie und Lelaine beobachteten einander wie Falken. Keine von beiden ließ die andere allein in Egwenes Nähe. Das Schimmern Saidars umgab beide Frauen gleichzeitig, und beide woben einen Lauschschutz um sie alle. Ihre Blicke begegneten sich, forderten einander mit zutiefst unbewegten und gefaßten Gesichtern heraus, aber keine ließ den Schutz fahren. Egwene biß sich auf die Zunge. An einem öffentlichen Ort oblag es der stärksten anwesenden Schwester zu entscheiden, ob eine Unterhaltung geschützt werden sollte oder nicht, und das Protokoll besagte, daß die Amyrlin diese Entscheidung traf, wann immer sie anwesend war. Sie hatte jedoch kein Verlangen nach halbherzigen Entschuldigungen, die eine Erwähnung dieses Umstands nach sich zog. Sie würden ihr natürlich beipflichten, wenn sie darauf bestünde. Sie biß sich erneut auf die Zunge und kochte innerlich. Wo war Siuan? Es war nicht fair, denn Pferde satteln zu lassen, dauerte seine Zeit.

Romanda senkte den Blick zuerst, obwohl sie sich damit nicht geschlagen gab. Sie wandte sich Egwene so abrupt zu, daß Lelaine jetzt an ihr vorbei blickte, was töricht aussah. »Delana macht wieder Schwierigkeiten.« Ihre schrille Stimme klang beinahe freundlich, aber doch mit einem scharfen Unterton, der das Fehlen jeglicher respektvollen Anrede noch unterstrich. Romandas Haar war vollkommen grau, im Nacken zu einem ordentlichen Knoten zusammengenommen, aber das Alter hatte sie sicherlich nicht weicher gemacht. Takima mit ihrem langen schwarzen Haar und dem matten Elfenbeinteint war fast neun Jahre lang eine Sitzende der Braunen Ajah gewesen, im Saal genauso energisch wie im Klassenzimmer, und doch stand sie bescheiden einen Schritt hinter Romanda, die Hände an der Taille gefaltet. Romanda führte ihre Splittergruppe mit genauso fester Hand wie Sorilea die ihre. Für sie war Stärke überaus wichtig, und Lelaine schien ihr darin nicht viel nachzustehen.

»Sie beabsichtigt, dem Saal einen Antrag vorzulegen«, schaltete sich Lelaine verbittert ein und mied es jetzt völlig, Romanda anzusehen. Mit ihr übereinzustimmen gefiel ihr sicherlich genauso wenig, wie erst das zweite Wort zu haben. Als Romanda merkte, daß sie einen Vorteil errungen hatte, lächelte sie kaum merklich.

»Worüber?« fragte Egwene, auf Zeitgewinn bedacht. Sie ahnte es bereits. Es fiel ihr schwer, nicht zu seufzen. Es fiel ihr sehr schwer, sich nicht die Schläfen zu reiben.

»Natürlich über die Schwarze Ajah, Mutter«, erwiderte Varilin und hob den Kopf, als überrasche sie die Frage. Nun, vielleicht war dem so. Delana wurde bei dem Thema wütend. »Sie will, daß der Saal Elaida öffentlich zur Schwarzen erklärt.« Sie hielt jäh inne, als Lelaine eine Hand hob. Lelaine gewährte ihren Gefolgsleuten mehr Spielraum als Romanda, oder vielleicht hatte sie diese einfach nicht so fest im Griff, aber es genügte.

»Ihr müßt mit ihr sprechen, Mutter.« Lelaine lächelte herzlich, wenn sie den Titel benutzte. Siuan zufolge waren sie einst Freunde gewesen - Lelaine hatte sie einigermaßen wohlwollend wieder aufgenommen -, und doch hielt Egwene dieses Lächeln für sorgfältig eingeübt.

»Um ihr was zu sagen?« Es drängte sie, sich die Schläfen zu reiben. Diese beiden sorgten dafür, daß der Saal nur erließ, was sie wollte und sicherlich wenig, was Egwene vorschlug, mit dem Ergebnis, daß überhaupt kaum etwas erlassen wurde, und sie wollten jetzt, daß sie sich für eine Sitzende einsetzte? Gewiß unterstützte Delana ihre Vorschläge - wenn sie ihr paßten. Delana war eine wetterwendische Person, drehte sich manchmal noch mit dem letzten Windzug, und wenn sie sich in letzter Zeit häufig in Egwenes Richtung drehte, dann bedeutete das nicht allzu viel. Die Schwarze Ajah schien ihr einziger Fixpunkt. Was hielt Siuan auf?

»Sagt Ihr, sie muß damit aufhören, Mutter.« Lelaines Lächeln und Tonfall erweckten den Anschein, als berate sie eine Tochter. »Dieser Unsinn - schlimmer als Unsinn - bringt alle auf. Einige der Schwestern beginnen es schon zu glauben, Mutter. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich diese Vorstellung auch unter den Dienern und Soldaten verbreitet.« Sie warf Bryne einen überaus zweifelnden Blick zu. Bryne versuchte anscheinend, mit Myrelle zu reden, welche die von einem Schutz umgebene Gruppe beobachtete und die Zügel ihres Pferdes immer wieder unruhig durch die behandschuhten Hände gleiten ließ.

»Es ist kaum töricht, das Offensichtliche zu glauben«, blaffte Romanda. »Mutter...« Aus ihrem Munde klang dies entschieden zu sehr wie ›Mädchen‹. »Delana muß aufgehalten werden, weil sie nichts Gutes, sondern erheblichen Schaden bewirkt. Vielleicht ist Elaida eine Schwarze - obwohl ich es stark bezweifle, welche Gerüchte aus zweiter Hand auch immer diese Halima mitbrachte; Elaida ist schrecklich verbohrt, aber ich kann nicht glauben, daß sie schlecht ist -, aber selbst wenn sie es ist und es herausposaunt wird, werden Außenstehende jeder Aes Sedai mit Mißtrauen begegnen und die Schwarzen in noch entlegenere Verstecke treiben. Es gibt Methoden, sie hervorzulocken, wenn wir sie nicht wieder verjagen.«

Lelaine rümpfte heftig die Nase. »Selbst wenn dieser Unsinn zuträfe, würde sich keine Schwester mit Selbstachtung Euren Methoden unterordnen, Romanda. Euer Vorschlag wird in Frage gestellt werden.« Egwene blinzelte verwirrt. Weder Siuan noch Leane hatten ihr auch nur ansatzweise hiervon berichtet. Glücklicherweise achteten die Sitzenden nicht genug auf sie, um es zu bemerken. Wie üblich.

Romanda stemmte die Fäuste in die Hüften und fuhr zu Lelaine herum. »Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Taten. Einige könnten vielleicht fragen, warum jemand seine Würde hintanstellt um die Diener des Dunklen Königs zu entlarven.«

»Das klingt verdächtig nach einer Anschuldigung«, sagte Lelaine mit verengten Augen.

Jetzt lächelte Romanda, ein kaltes, schnippisches Lächeln. »Ich werde die erste sein, die sich meinen Methoden unterordnet, Lelaine, wenn Ihr die zweite seid.«

Lelaine grollte jetzt tatsächlich und trat einen halben Schritt auf die andere Frau zu, und Romanda neigte sich ihr mit vorgerecktem Kinn entgegen. Sie wirkten bereit, einander an den Haaren zu ziehen, sich im Staub zu wälzen und ihre Aes-Sedai-Würde aufzugeben. Varilin und Takima sahen einander an, als wären auch sie kampfbereit, ein langbeiniger Stelzvogel in erbittertem Kampf mit einem Zaunkönig. Sie alle schienen Egwene vollkommen vergessen zu haben.

Siuan kam herbei, einen breiten Strohhut auf dem Kopf, und führte eine dicke, mausgraue Stute mit zur Hälfte weißen Hinterbeinen mit sich. Als sie die von einem Schutz umgebene Versammlung sah, blieb sie jäh stehen. Einer der Stallknechte war bei ihr, ein schlaksiger Bursche in einer langen, abgenutzten Weste und einem geflickten Hemd, der die Zügel eines großen Rotgrauen führte. Er konnte den Lauschschutz nicht sehen, aber Saidar verbarg nicht die Gesichter. Seine Augen weiteten sich, und er leckte sich die Lippen. Vorübergehende machten einen weiten Bogen um das Zelt und gaben vor, nichts zu sehen - Aes Sedai, Behüter und Diener gleichermaßen. Nur Bryne runzelte die Stirn und betrachtete sie, als frage er sich, was seinen Ohren verborgen blieb. Myrelle band ihre Satteltaschen fest und wollte eindeutig gehen.

»Wenn Ihr beschlossen habt, was ich sagen sollte«, verkündete Egwene, »kann ich beschließen, was zu tun ist.« Sie hatten sie wirklich vergessen. Alle vier starrten sie erstaunt an, als sie zwischen Romanda und Lelaine hindurch und aus dem doppelten Lauschschutz hinaustrat. Sie spürte natürlich nichts, als sie das Gewebe streifte. Sie waren nicht dafür geschaffen, etwas so Massives wie einen menschlichen Körper aufzuhalten.

Als Egwene auf den Rotgrauen gestiegen war, atmete Myrelle tief ein und tat es ihr resigniert gleich. Der Schutz war verschwunden, obwohl die beiden Sitzenden noch immer von Schimmern umgeben waren und ein Bild der Enttäuschung boten, während sie dastanden und schauten. Egwene zog eilig den dünnen Leinenstaubmantel an, der vor dem Sattel des Wallachs befestigt war, und die Reithandschuhe, die in einer kleinen Tasche in dem Mantel steckten. Ein Hut mit breiter Krempe hing am Sattelknauf, passend zu ihrem Gewand tiefblau und mit an der Vorderseite festgesteckten weißen Federn, die nach Chesas Handschrift aussahen. Die Hitze konnte sie mißachten, aber das grelle Licht war eine andere Sache. Sie entfernte die festgesteckten Federn, stopfte sie in die Satteltaschen, setzte sich den Hut auf den Kopf und band die Bänder unter dem Kinn fest.

»Wollen wir aufbrechen, Mutter?« fragte Bryne. Er war bereits aufgestiegen, und der Helm, der an seinem Sattel gehangen hatte, verbarg jetzt sein Gesicht. Es wirkte bei ihm recht natürlich - als sei er für die Rüstung geboren.

Egwene nickte. Niemand versuchte, sie aufzuhalten. Lelaine würde sich natürlich nicht soweit erniedrigen, öffentlich Halt zu rufen, aber Romanda... Egwene empfand Erleichterung, als sie davonritten, aber ihr Kopf schien zu platzen. Was sollte sie tatsächlich mit Delana tun? Was konnte sie tun?

Die Hauptstraße in diesem Gebiet - ein breiter Streifen derart festgetretener Erde, daß nichts Staub aufwirbeln konnte - verlief durch das Lager des Heeres und zwischen diesem und dem Lager der Aes Sedai.

Obwohl sich im Heerlager mindestens dreißig Mal soviele Menschen befanden wie im Lager der Aes Sedai, schienen kaum mehr Zelte als bei den Schwestern errichtet worden zu sein. Die Diener verteilten sich alle über die Ebenen und die Hügel hinauf. Die meisten Soldaten schliefen im Freien. Man konnte sich kaum daran erinnern, wann der letzte Regen gefallen war, und es war nicht eine Wolke zu sehen. Seltsamerweise hielten sich dort mehr Frauen auf als im Lager der Schwestern, obwohl sie, unter so vielen Männern, zunächst weniger erschienen. Köche kümmerten sich um große Kessel, und Wäscherinnen nahmen große Berge schmutziger Kleidung in Angriff, während andere bei den Pferden oder den Wagen arbeiteten. Eine Anzahl Frauen schienen Ehefrauen zu sein. Zumindest saßen sie über Strickarbeiten oder besserten Kleider oder Hemden aus oder rührten in kleinen Kochtöpfen. Waffenschmiede hatten sich fast überall aufgestellt, wo Egwene hinsah. Ihre Hämmer ließen Stahl auf den Ambossen klingen, Pfeilmacher fügten Pfeilbündeln zu ihren Füßen weitere Pfeile hinzu, und Hufschmiede überprüften die Pferde. Wagen aller Arten und Größen standen überall herum, Hunderte, vielleicht Tausende. Das Heer schien jedermann aufzulesen, der ihnen unterwegs begegnete. Die meisten der Kuriere waren bereits draußen, um Verpflegung zu besorgen, aber einige hochrädrige Karren und schwerfällige Wagen rollten auf der Suche nach Bauernhöfen und Dörfern auch jetzt noch aus dem Lager. Hier und da jubelten ihnen Soldaten zu, wenn sie vorüberzogen. »Lord Bryne!« und »Der Bulle! Der Bulle!« Das war sein Siegel. Nichts über die Aes Sedai oder den Amyrlin-Sitz.

Egwene drehte sich im Sattel, um sich zu vergewissern, daß Myrelle noch immer dichtauf folgte. Das tat sie, ließ ihr Pferd selbständig folgen, mit entrückter, etwas überdrüssiger Miene. Siuan hatte eine Position in der Nachhut eingenommen. Aber vielleicht hatte sie auch einfach nur Angst, ihr Pferd vorwärts zu drängen.

Gewiß war es lammfromm, aber Siuan würde wahrscheinlich sogar ein Pony wie ein Schlachtroß behandeln.

Egwene war über ihr eigenes Pferd ein wenig verärgert. Sein Name war Daishar, was in der Alten Sprache Ruhm bedeutete. Sie hätte viel lieber Bela geritten, eine zottige kleine Stute, die nicht wesentlich schlanker als Siuans Pferd war und die sie geritten hatte, als sie die Zwei Flüsse verlassen hatte. Sie dachte manchmal, sie müßte wie eine Puppe wirken, die auf einem Wallach saß, der für ein Schlachtroß gehalten werden könnte, aber die Amyrlin mußte ein angemessenes Pferd reiten, keine zottigen Zugpferde. Obwohl sie selbst diese Regel geschaffen hatte, fühlte sie sich eingeschränkt wie eine Novizin.

Sie wandte sich im Sattel um. »Erwartet Ihr voraus irgendwelchen Widerstand, Lord Bryne?«

Er sah sie von der Seite an. Sie hatte dieselbe Frage schon einmal gestellt, bevor sie Salidar verlassen hatten, und zwei weitere Male, während sie Altara durchquerten. Nicht häufig genug, um Mißtrauen zu erregen, dachte sie.

»Murandy ist wie Altara, Mutter. Nachbarn sind zu sehr damit beschäftigt, gegeneinander zu intrigieren oder sich direkt zu bekämpfen, um sich für etwas anderes als einen bevorstehenden Krieg zu verbünden, und selbst dann wahrscheinlich nur halbherzig.« Sein Tonfall klang sehr trocken. Er war Befehlshaber der Königlichen Garde von Andor gewesen und hatte entlang den Grenzen jahrelang Scharmützel gegen die Murandianer bestritten. »Ich fürchte, in Andor wird es anders sein. Darauf freue ich mich nicht.« Er änderte die Richtung und ritt einen leichten Hang hinauf, um drei Wagen auszuweichen, die vor ihnen über die Felsen rumpelten.

Egwene behielt nur mühsam einen unbeteiligten Gesichtsausdruck bei. Andor. Zuvor hatte er es gerade abgestritten. Sie waren am Fuß der Cumbar-Berge, ein Stück südlich Lugards, der Hauptstadt von Murandy. Selbst wenn sie zügig vorankamen, lag die Grenze zu Andor noch mindestens zehn Tage voraus.

»Und wenn wir Tar Valon erreichen, Lord Bryne -wie wollt Ihr die Stadt dann einnehmen?«

»Das hat mich noch niemand gefragt, Mutter.« Zuvor hatte sie nur geglaubt, seine Stimme klinge trocken - jetzt klang sie wirklich trocken. »Wenn wir Tar Valon, wenn das Licht es will, erreichen, werde ich zwei bis drei Mal mehr Männer zur Verfügung haben als jetzt.« Egwene zuckte bei dem Gedanken daran zusammen, so viele Soldaten bezahlen zu müssen. Er schien es nicht zu bemerken. »Zunächst werde ich die Stadt belagern. Der schwerste Teil wird sein, Schiffe zu bekommen und sie zu versenken, um den Nordhafen und den Südhafen zu blockieren. Die Häfen sind ebensolche Schlüsselpositionen wie die Stadtbrücken, Mutter. Tar Valon ist größer als Cairhien und Caemlyn zusammen. Wenn erst keine Lebensmittel mehr hineingelangen...« Er zuckte die Achseln. »Der größte Teil der Soldaten wartet ab, wenn sie nicht voranmarschieren.«

»Und wenn Ihr nicht so viele Soldaten zur Verfügung habt?« Sie hatte niemals daran gedacht, daß so viele Menschen, Frauen und Kinder, hungern müßten. Sie hatte niemals wirklich geglaubt, daß jemand anderer außer den Aes Sedai und den Soldaten in diese Angelegenheit verwickelt werden könnte. Wie hatte sie so töricht sein können? Sie hatte die Kriegsfolgen in Cairhien gesehen. Bryne schien es so leicht zu nehmen. Andererseits war er Soldat. Entbehrung und Tod müßten für Soldaten alltäglich sein. »Was geschieht, wenn Ihr nur ... sagen wir ... so viele Männer wie jetzt habt?«

»Eine Belagerung?« Anscheinend war schließlich etwas von ihrer Unterhaltung in Myrelles wie auch immer geartete Gedanken vorgedrungen. Sie trieb den Fuchs vorwärts, so daß mehrere Männer beiseite springen mußten, von denen einige hinfielen. Nur wenige öffneten verärgert den Mund, sahen dann ihre alterslosen Züge und schlossen ihn finster dreinblickend wieder. Sie hätten von ihr aus genausogut gar nicht da sein können. »Artur Falkenflügel hat Tar Valon zwanzig Jahre lang belagert und ist gescheitert.« Sie erkannte plötzlich, daß sie belauscht werden konnten, und senkte die Stimme, aber sie klang noch immer bissig. »Erwartet Ihr von uns, daß wir zwanzig Jahre lang abwarten?«

Ihr Unmut beeindruckte Bryne nicht. »Würdet Ihr einen unmittelbaren Angriff vorziehen, Myrelle Sedai?« Er hätte genausogut fragen können, ob sie ihren Tee süß oder herb wollte. »Mehrere von Falkenflügels Heerführern haben es versucht, und ihre Männer wurden abgeschlachtet. Keinem Heer ist es jemals gelungen, die Mauern Tar Valons niederzureißen.«

Egwene wußte, daß dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. In den Trolloc-Kriegen hatte ein von Schattenlords angeführtes Heer von Trollocs tatsächlich einen Teil der Weißen Burg selbst geplündert und niedergebrannt. Am Ende des Krieges des Zweiten Drachen hatte ein Heer, das Guaire Amalasan zu retten versuchte, bevor er gedämpft wurde, die Burg ebenfalls erreicht. Myrelle konnte dies jedoch nicht wissen, und Bryne noch weniger. Der Zugriff zu jenen geheimen, tief in der Burgbibliothek verborgenen Geschichten wurde durch ein Gesetz geregelt, das selbst geheim war, und es galt als Verrat, die Existenz entweder der Aufzeichnungen oder des Gesetzes preiszugeben. Siuan sagte, man fände, wenn man zwischen den Zeilen lese, Hinweise auf Dinge, die nicht einmal dort festgehalten waren. Aes Sedai waren gut darin, die Wahrheit zu verbergen - sogar vor ihnen selbst -, wenn sie es für notwendig erachteten.

»Mit hunderttausend Mann, oder wie viele auch immer ich im Moment zur Verfügung habe, werde ich der erste sein«, fuhr Bryne fort. »Sofern ich die Häfen blockieren kann. Falkenflügels Befehlshabern ist dies niemals gelungen. Die Aes Sedai hoben stets rechtzeitig die Eisenketten an, welche die Einfahrt der Schiffe in die Hafenmündung verhinderten, und versenkten sie, bevor sie auf eine Position gebracht werden konnten, in der sie jeglichen Handel verhindert hätten. Nahrungsmittel und Vorräte gelangten weiterhin in die Stadt. Es wird schließlich zu Eurem Angriff kommen, aber erst, wenn die Stadt geschwächt ist, wenn es auf meine Art geschieht.« Seine Stimme klang noch immer ... ungerührt. Ein Mann, der über einen Ausflug sprach. Er blickte zu Myrelle, und obwohl sich sein Tonfall nicht veränderte, war seine Anspannung hinter der Schutzmaske an seinen Augen erkennbar. »Und Ihr habt alle zugestimmt, daß es auf meine Art geschehen soll, wenn das Heer einbegriffen wäre. Ich will keine Menschenleben opfern.«

Myrelle öffnete den Mund und schloß ihn dann langsam wieder. Sie wollte eindeutig etwas sagen, wußte aber nicht was. Sie hatten tatsächlich ihr Wort gegeben, sie und Sheriam und jene, die alles geregelt hatten, als er in Salidar auftauchte, so sehr es sie jetzt auch ärgerte. So sehr die Sitzenden es auch zu umgehen versucht hatten. Sie hatten ihr Wort nicht gegeben. Bryne handelte jedoch, als hätten sie es getan, und war bisher damit durchgekommen. Bisher.

Egwene fühlte sich schlecht. Sie hatte den Krieg gesehen. Bilder flammten in ihrem Geist auf, von kämpfenden Männern, die sich mordend ihren Weg durch Tar Valon bahnten, sterbende Männer. Ihr Blick fiel auf einen Burschen mit kantigem Kinn, der sich auf die Zunge biß, während er eine Pfeilspitze schärfte. Würde er in jenen Straßen sterben? Und der grauhaarige, bereits kahl werdende Mann, der seine Finger so vorsichtig jeden Pfeil hinabgleiten ließ, bevor er den Pfeilschaft in den Köcher steckte? Und dieser Bursche, der in seinen hohen Reitstiefeln einherstolzierte. Er wirkte noch zu jung, sich zu rasieren. Licht, so viele waren noch Jungen. Wie viele würden sterben? Für den Amyrlin-Sitz. Für die Gerechtigkeit, für das Recht, für die Welt, aber im Herzen für sie. Siuan hob die Hand, vollendete die Geste aber nicht. Selbst wenn sie ausreichend nahe gewesen wäre, hätte sie dem Amyrlin-Sitz dort, wo jedermann es sehen konnte, nicht auf die Schulter klopfen dürfen.

Egwene richtete sich auf. »Lord Bryne«, sagte sie mit angespannter Stimme, »was wollt Ihr mir verdeutlichen?« Sie glaubte zu bemerken, daß er Myrelle einen Seitenblick zuwarf, bevor er antwortete. »Ihr solltet es besser selbst erkennen, Mutter.« Egwene dachte, ihr Kopf würde bersten. Wenn Siuans Hinweise überhaupt etwas bedeuteten, würde sie Myrelle die Haut über die Ohren ziehen. Wenn dem nicht so war, würde sie vielleicht Siuan die Haut abziehen. Und sie könnte, der Ausgewogenheit halber, auch Gareth Bryne mit einbeziehen.

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