7 Fallgruben und Stolperdrähte

Rand fühlte das Drachenszepter in seiner Hand, spürte jede Linie der eingravierten Drachen an seinem mit einem Reiher versehenen Griff so deutlich, als ließe er die Finger darübergleiten, und doch schien es die Hand eines anderen zu sein. Wenn eine Klinge sie abschnitte, würde er Schmerz verspüren - und weitermachen. Es wäre der Schmerz eines anderen.

Er schwebte im Nichts, umgeben von unsäglicher Leere, und Saidin erfüllte ihn, versuchte ihn unter Stahl vernichtender Kälte und Hitze, die Gestein entbrennen würde, zu Staub zu zermahlen, trug den Makel des Dunklen Königs mit sich, zwang Fäulnis in seine Knochen. Und in seine Seele, wie er manchmal fürchtete. Aber er fühlte sich nicht mehr so elend, wie es einst gewesen war. Das fürchtete er noch mehr. Rand mästete sich an diesem reißenden Strom aus Feuer, Eis und Schmutz - am Leben. Das war das beste Wort. Saidin versuchte, ihn zu vernichten. Saidin erfüllte ihn bis zum Überfließen mit Lebenskraft. Es drohte ihn zu verbrennen und lockte ihn zugleich. Der Kampf ums Überleben, der Kampf darum, nicht vereinnahmt zu werden, verstärkte die Freude am reinen Leben. Selbst mit der so süßen Fäulnis. Wie wäre es in reinem Zustand? Das war unvorstellbar. Er wollte mehr heranziehen, alles heranziehen, was vorhanden war.

Darin lag die tödliche Verführung. Ein Fehler - und die Fähigkeit, die Macht zu lenken, würde für immer in ihm verdorren. Ein Fehler - und sein Verstand wäre verloren, wenn er, und vielleicht auch alles andere um ihn herum, nicht einfach auf der Stelle vernichtet würde. Es war kein Wahnsinn, sich auf den Kampf ums Dasein zu konzentrieren. Es war, als würde man mit verbundenen Augen über eine Grube voller zugespitzter Pfähle springen, sich in einem solch reinen Gefühl fürs Leben sonnend, daß der Gedanke daran, es aufzugeben, die Vorstellung einer für immer in Grauschattierungen versinkenden Welt war. Es war kein Wahnsinn.

Seine Gedanken drehten sich durch den Tanz mit Saidin, glitten durch das Nichts. Da war Annoura, die ihn mit diesem Aes-Sedai-Blick beobachtete. Und worauf wollte Berelain hinaus? Sie hatte niemals einen Aes-Sedai-Berater erwähnt. Und auch nicht jene andere Aes Sedai in Cairhien. Wo waren sie hergekommen und warum? Da waren die Aufrührer außerhalb der Stadt. Was hatte sie ermutigt, sich zu regen? Was hatten sie jetzt vor? Wie konnte er sie aufhalten oder benutzen? Er wurde gut darin, Menschen zu benutzen. Manchmal machte er sich selbst krank. Da waren Sevanna und die Shaido. Rhuarc hatte bereits Kundschafter auf den Weg nach Brudermörders Dolch geschickt, aber sie würden bestenfalls herausfinden, wo und wann. Die Weisen Frauen, die herausfinden konnten warum, würden es nicht tun. Es gab in Verbindung mit Sevanna eine Menge offene Fragen. Elayne und Aviendha. Nein, an sie wollte er nicht denken. Keine Gedanken an sie. Keine. Perrin und Faile. Eine leidenschaftliche Frau, dem Namen und dem Wesen nach ein Falke. Hatte sie sich Colavaere wirklich nur angeschlossen, um den Beweis zu erbringen? Sie würde Perrin beschützen wollen, wenn der Wiedergeborene Drache fiel. Und sie würde ihn vor dem Wiedergeborenen Drachen beschützen, wenn sie es für nötig hielte. Ihre Treue galt Perrin, aber sie allein würde entscheiden, wie sie ihre Treue einhielt. Faile war keine Frau, die sanftmütig tat, was ihr Ehemann sagte, wenn es eine solche Frau überhaupt gab.

Goldene Augen, starre Herausforderung zum Trotz. Warum reagierte Perrin in bezug auf die Aes Sedai so heftig? Er war mit Kiruna und ihren Begleitern lange zu den Brunnen von Dumai unterwegs gewesen. Konnten Aes Sedai wirklich mit ihm tun, was jedermann befürchtete? Aes Sedai. Er schüttelte den Kopf, ohne sich dessen bewußt zu sein. Niemals wieder. Niemals! Zu vertrauen bedeutete, verraten zu werden. Vertrauen bedeutete Schmerz.

Er bemühte sich, diesen Gedanken zu vertreiben. Er kam Raserei ein wenig zu nahe. Niemand konnte leben, ohne irgendwem zu vertrauen. Nur nicht Aes Sedai. Mat, Perrin. Wenn er ihnen nicht vertrauen konnte... Min. Er hätte niemals erwogen, Min nicht zu vertrauen.

Er wünschte, sie wäre bei ihm anstatt in ihrem Bett. All jene Tage als Gefangene, Tage der Angst - mehr um ihn als um sich selbst, wenn er sie ausreichend gut kannte -, Tage der Verhöre durch Galina und Mißhandlungen, wenn ihre Antworten nicht gefielen... Er knirschte unbewußt mit den Zähnen. Das alles, und obendrein noch die Anstrengung, Geheilt zu werden, hatten sie letztendlich erschöpft. Sie war an seiner Seite geblieben, bis ihre Knie nachgaben und er sie in ihren Schlafraum tragen mußte, wobei sie auf dem ganzen Weg schläfrig protestierte, daß er sie in seiner Nähe brauche. Min war nicht hier, keine tröstliche Gegenwart, die ihn zum Lachen brachte, die ihn den Wiedergeborenen Drachen vergessen ließ. Nur der Kampf mit Saidin, und der Wirbelwind seiner Gedanken...

Sie müssen beseitigt werden. Du mußt es tun. Erinnerst du dich nicht an das letzte Mal? Das Geschehen bei den Brunnen war erbärmlich. Städte, die ganz vom Antlitz der Erde getilgt wurden, bedeuteten nichts. Wir haben die Welt zerstört! HÖRST DU MICH? SIE MÜSSEN GETÖTET WERDEN, VON DER OBERFLÄCHE VERSCHWINDEN...

Diese in seinem Kopf schreiende Stimme gehörte nicht ihm. Nicht Rand al'Thor, sondern Lews Therin Telamon, der seit über dreitausend Jahren tot war. Und er sprach in Rand al'Thors Kopf. Die Macht zog ihn häufig aus seinem Versteck in die Schatten von Rands Geist. Rand fragte sich bisweilen, wie das sein konnte. Er war der wiedergeborene Lews Therin, der Wiedergeborene Drache, das konnte er nicht leugnen, aber jedermann war ein Wiedergeborener, hundert Jemande, tausend und mehr. So bestimmte es das Muster. Jedermann starb und wurde wiedergeboren, immer wieder, während sich das Rad drehte, ewig, ohne Ende. Aber niemand sonst sprach mit demjenigen, der er einmal gewesen war. Niemand sonst hatte Stimmen in seinem Kopf. Außer Wahnsinnigen.

Was ist mit mir? dachte Rand. Er hatte eine Hand fest um das Drachenszepter und die andere auf sein Schwertheft gelegt. Was ist mit dir? Wie unterscheiden wir uns von ihnen?

Da war nur Schweigen. Lews Therin antwortete allzu oft nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er niemals geantwortet hätte.

Bist du real? fragte die Stimme schließlich verwundert. Dieses Leugnen von Rands Dasein geschah genauso häufig wie das Verweigern der Antwort. Bin ich real? Ich habe mit jemandem gesprochen. In einer Schachtel. Einer Kiste. Leises, keuchendes Lachen. Bin ich tot, oder wahnsinnig, oder beides? Gleichgültig. Ich bin verdammt, und dies ist der Krater des Verderbens. Ich bin ... v-verdammt, jetzt wildes Lachen, und d-dies -ist der K-Krater des...

Rand dämpfte die Stimme, bis sie wie ein Insektensummen klang, etwas, was er gelernt hatte, während er eingeengt in der Kiste gesessen hatte. Allein in der Dunkelheit. Nur er, und der Schmerz, und der Durst, und die Stimme eines schon lange toten Wahnsinnigen. Die Stimme war mitunter ein Trost gewesen, sein einziger Gefährte. Sein Freund. Etwas blitzte in seinem Geist auf. Keine Bilder, nur das Flackern von Farbe und Bewegung. Es erinnerte ihn aus irgendeinem Grund an Mat und an Perrin. Das Aufblitzen hatte in der Kiste begonnen, das und tausend weitere Halluzinationen. In der Kiste, in die Galina und Erian und Katerine und die anderen ihn jeden Tag, nachdem er geschlagen worden war, hineingepfercht hatten. Er schüttelte den Kopf. Nein. Er befand sich nicht mehr in der Kiste. Seine Finger, die er um Szepter und Schwert geklammert hatte, schmerzten. Nur Erinnerungen waren geblieben, und Erinnerungen hatten keine Macht. Er war nicht...

»Wenn wir diese Reise unternehmen müssen, bevor Ihr etwas eßt, dann sollten wir das tun. Für alle anderen ist die Abendmahlzeit schon längst beendet.«

Rand blinzelte, und Sulin wich vor seinem Blick zurück. Sulin, die sich einem Leopard Auge in Auge gegenüberstellen würde. Er entkrampfte seine Gesichtsmuskeln, versuchte es. Es fühlte sich wie eine Maske an, wie die Maske eines anderen Menschen.

»Geht es Euch gut?« fragte sie.

»Ich habe nachgedacht.« Er zwang seine Hände auseinander und zuckte in seinem Umhang die Achseln. Es war ein besser passender Umhang als der, den er von den Brunnen von Dumai an getragen hatte, dunkelblau, schlicht. Er fühlte sich auch nach einem Bad nicht sauber, nicht solange Saidin in ihm war. »Manchmal denke ich zu viel nach.«

Fast zwanzig weitere Töchter des Speers drängten sich an einem Ende des fensterlosen, mit dunklen Paneelen getäfelten Raums zusammen. Acht goldüberzogene Kandelaber an den Wänden, die vor Spiegeln standen, um mehr Licht zu erhalten, lieferten die Beleuchtung. Er war froh darüber. Er mochte dunkle Orte nicht mehr. Auch drei der Asha'man waren da. Die Aielfrauen standen auf einer Seite des Raums und die Asha'man auf der anderen. Jonan Adley, trotz seines Namens ein Altarener, stand mit gekreuzten Armen da und wölbte tief in Gedanken die Augenbrauen. Er war vielleicht vier Jahre älter als Rand und wollte das silberne Schwert der Geweihten erringen. Eben Hopwil hatte mehr Fleisch auf den Knochen und weniger Hautflecke im Gesicht als zu der Zeit, als Rand ihm zum ersten Mal begegnet war, obwohl seine Nase und die Ohren noch immer seine größten Körperteile zu sein schienen. Er betastete die Anstecknadel in Form eines Schwerts am Kragen, als sei er überrascht, sie dort vorzufinden. Fedwin Morr hätte das Schwert ebenfalls getragen, wenn er nicht in einen grünen, einem wohlhabenden Händler oder niederen Adligen angemessenen und an Manschetten und Kragen mit Silberstickerei versehenen Umhang gekleidet gewesen wäre. Er war im gleichen Alter wie Eben, aber gedrungener und fast ohne Hautflecke. Wegen ihnen hatte Lews Therin gewütet, wegen ihnen und den übrigen Asha'man. Asha'man, Aes Sedai, jedermann, der die Macht lenken konnte, regte ihn auf.

»Ihr denkt scheinbar zuviel nach, Rand al'Thor.« Enaila ergriff mit einer Hand einen kurzen Speer und ihren Schild und mit der anderen drei weitere Speere, und sie klang, als wollte sie ihm mit dem Finger drohen. »Euer Problem ist, daß Ihr überhaupt nicht nachdenkt.« Einige der anderen Töchter des Speers lachten leise, aber sie spaßte nicht. Fast eine Handbreit kleiner als jede andere anwesende Tochter des Speers, war ihr Haar genauso feurig wie ihr Temperament, und sie hatte eine seltsame Ansicht über ihre Beziehung zu ihm. Ihre flachshaarige Freundin Somara, die erheblich größer war, nickte zustimmend. Sie hatte dieselbe merkwürdige Ansicht.

Er überging die Bemerkung, konnte aber ein Seufzen nicht unterdrücken. Somara und Enaila waren die Schlimmsten, obwohl keine der Töchter des Speers sich entscheiden konnte, ob er der Car'a'carn war, dem man gehorchen mußte, oder das einzige Kind einer Tochter des Speers, um das sie sich wie um einen Bruder kümmern mußten. Selbst Jalani, die dem Puppenalter noch nicht lange entwachsen war, schien ihn für einen jüngeren Bruder zu halten, während Corana, die bereits ergraute und ein fast so lederartiges Gesicht wie Sulin besaß, ihn wie einen älteren Bruder behandelte. Zumindest taten sie dies, wenn sie unter sich waren, wenn auch weniger häufig, wenn andere Aiel in der Nähe waren. Wenn es darauf ankam, war er der Car'a'carn. Und das schuldete er ihnen auch. Sie waren bereit, für ihn zu sterben. Er schuldete ihnen, was immer sie verlangten.

»Ich habe nicht die Absicht, die ganze Nacht hier zu verbringen, während Ihr Eure Spiele treibt«, sagte er. Sulin gewährte ihm einen dieser Blicke - ob sie in Gewänder oder in den Cadin'sor gekleidet waren, Frauen streuten diese Blicke aus wie Bauern ihre Saat -, aber die Asha'man sahen die Töchter des Speers nicht an, sondern schlangen nur ihre Taschen über ihre Schultern. Nehmt sie hart ran, hatte er Taim aufgetragen, schmiedet sie zu Waffen, und Taim hatte geliefert. Eine gute Waffe bewegte sich so, wie der Mann, der sie führte, sie lenkte. Wenn er nur sicher sein könnte, daß sie sich in seiner Hand nicht wenden würde.

Er verfolgte heute abend drei Ziele, aber von einem dieser Ziele durften die Töchter des Speers nichts wissen. Niemand außer ihm selbst durfte etwas davon wissen. Er hatte schon im voraus entschieden, welches der beiden anderen Ziele vorrangig war, aber er zögerte dennoch. Die Reise würde nur zu bald bekannt werden, und doch gab es Gründe, sie so geheim wie möglich zu halten.

Als sich das Wegetor mitten im Raum öffnete, schwebte ein jedem Bauer vertrauter süßlicher Geruch heran. Pferdemist. Sulin rümpfte die Nase, während sie sich verschleierte, und führte die Hälfte der Töchter des Speers im Laufschritt durch das Tor. Die Asha'man folgten ihnen nach einem Blick zu Rand, während sie so viel der Wahren Quelle heranzogen, wie sie aufzunehmen vermochten.

Rand spürte ihre Macht, als sie an ihm vorübergingen. Ohnedies war es schwer festzustellen, daß ein Mann die Macht lenken konnte. Aber keiner war auch nur annähernd so mächtig wie er. Zumindest noch nicht. Es war nicht vorherzusehen, wie stark ein Mann würde, bevor er keine Fortschritte mehr machte. Fedwin war der Stärkste der drei, aber er hatte das, was Taim eine Schranke nannte. Fedwin glaubte nicht wirklich, daß er auf gewisse Entfernung mit der Macht etwas bewirken konnte. Das Ergebnis war, daß seine Fähigkeit auf fünfzig Schritte nachzulassen begann und er auf hundert Schritte nicht einmal mehr einen Strang Saidins weben konnte. Männer erlangten anscheinend schneller Kraft als Frauen, und das war gut so. Diese drei waren alle ausreichend stark, ein Wegetor ausreichender Größe zu eröffnen, wenn auch in Jonans Fall nur knapp. Jeder der Asha'man war dazu in der Lage.

Ich töte sie, bevor es zu spät ist, bevor sie wahnsinnig werden, flüsterte Lews Therin. Ich töte sie und hetze Sammael und Demadred und alle Verlorenen nieder. Ich muß sie alle töten, bevor es zu spät ist!

Er kämpfte einen Moment darum, Rand die Macht zu entringen, aber es mißlang ihm. Er schien ihn in letzter Zeit häufiger herauszufordern oder auch zu versuchen, Saidin selbst zu ergreifen. Ersteres bedeutete eine größere Gefahr als letzteres. Rand bezweifelte, daß Lews Hierin die Wahre Quelle einnehmen konnte, wenn er sie erst festhielt. Er war sich aber auch nicht sicher, daß er sie Lews Therin nehmen könnte, wenn dieser sie zuerst erreichte.

Was ist mit mir? dachte Rand erneut. Es war fast ein Grollen. Da er ganz in Macht gehüllt war, kroch der Zorn über das Äußere des Nichts. Ich kann die Macht auch lenken. Der Wahnsinn wartet auf mich, aber dich hat er bereits vereinnahmt! Du hast dich selbst getötet, Brudermörder, nachdem du deine Frau und deine Kinder und, nur das Licht allein weiß, wie viele Menschen noch getötet hast. Ich werde nicht töten, wenn ich es nicht tun muß! Hörst du mich, Brudermörder? Nur Schweigen antwortete.

Er atmete tief, aber ungleichmäßig ein. Der Zorn flackerte auf wie entferntes Blitzen. Er hatte niemals zuvor so mit dem Mann gesprochen - es war der Mann, nicht nur eine Stimme, ein Mensch, voller Erinnerungen. Vielleicht ließ sich Lews Therin auf diese Weise endlich vertreiben. Die Hälfte der verrückten Phrasen des Mannes war Gejammer über den Tod seiner Frau. Aber wollte er Lews Therin vertreiben? Er war in der Kiste sein einziger Freund gewesen.

Er hatte Sulin versprochen, bis hundert zu zählen, bevor er folgen würde, aber er hörte bei fünf auf und überbrückte dann mit einem Schritt die hundertfünfzig Meilen bis Caemlin.

Die Nacht hatte sich auf den Königlichen Palast von Andor herabgesenkt, Mondschatten verhüllten filigrane Türme und goldene Kuppeln. Die sanft wehende Brise konnte die Hitze nicht vertreiben. Der noch immer fast volle Mond hing am Himmel und spendete Licht. Verschleierte Töchter des Speers machten sich um die hinter den Ställen des größten Palasts aufgereihten Karren herum zu schaffen. Der Geruch des Stallmists, den die Karren jeden Tag abtransportierten, war schon lange in das Holz eingedrungen. Die Asha'man hielten sich die Hände vors Gesicht, und Eben kniff tatsächlich die Nase zu.

»Der Car'a'carn zählt schnell«, murrte Sulin, aber sie senkte ihren Schleier. Hier würde es keine Überraschungen geben. Niemand würde sich in der Nähe der Karren aufhalten, der dies nicht tun mußte.

Rand schloß das Wegetor, sobald die verbliebenen Töchter des Speers direkt hinter ihm hindurchgelangt waren, und als es verschwand, flüsterte Lews Therin: Sie ist fort. Fast fort. Erleichterung schwang in seiner Stimme mit. Im Zeitalter der Legenden hatte es den Bund von Behütern und Aes Sedai nicht gegeben.

Alanna war nicht wirklich fort, nicht mehr als sie jemals sonst fortgewesen war, seit sie sich gegen seinen Willen mit Rand verbunden hatte, aber ihre Gegenwart war weniger spürbar geworden, und genau das machte es Rand wahrhaft bewußt. Man konnte sich an alles gewöhnen, wenn man es als gegeben hinnahm. In ihrer Nähe war er sich ihrer Empfindungen und ihrer seelischen Verfassung bewußt und ebenso, wenn er nur darüber nachdachte, wußte er genauso gut, wo sie war, wie er wußte, wo seine Hand war. Nur Abstand zeitigte Wirkung, auch wenn er noch immer spüren konnte, daß sie irgendwo östlich von ihm war. Er wollte sich ihrer bewußt sein. Sollte Lews Therin in Schweigen verfallen und alle Erinnerungen an die Kiste irgendwie aus seinem Geist gelöscht werden, wollte er den Bund noch immer als Erinnerung an folgende Worte bewahren: »Vertraue niemals einer Aes Sedai.«

Er erkannte jäh, daß Jonan und Eben Saidin immer noch festhielten. »Laßt es los«, befahl er scharf - es war der Befehl, den Taim benutzte -, und er spürte, wie die Macht von ihnen wich. Ich töte sie, bevor es zu spät ist, murmelte Lews Therin. Auch Rand ließ die Quelle widerwillig los. Er haßte es stets, dieses Leben, die verstärkten Sinne loszulassen. Den Kampf loszulassen. Innerlich war er jedoch angespannt, sprungbereit und darauf vorbereitet, die Quelle erneut zu ergreifen. Dazu war er jetzt immer bereit. Ich muß sie töten, flüsterte Lews Therin.

Rand verdrängte die Stimme, schickte eine der Töchter des Speers - Nerilea, eine Frau mit kantigem Gesicht - in den Palast und ging dann an den Karren entlang, während seine Gedanken erneut und schneller als zuvor zu kreisen begannen. Er hätte nicht hierher kommen sollen. Er hätte Fedwin mit einem Brief schicken sollen. Die Gedanken kreisten. Elayne. Aviendha. Perrin. Faile. Berelain. Mat. Licht, er hätte nicht kommen sollen. Elayne und Aviendha. Annoura und Berelain. Faile und Perrin und Mat. Farbblitze, schnelle Bewegung - unmittelbar jenseits des Sichtfeldes. Ein Wahnsinniger, der in der Ferne zornig murrte.

Er bemerkte allmählich, daß sich die Töchter des Speers über den Geruch unterhielten. Sie deuteten an, er käme von den Asha'man. Sie wollten gehört werden, sonst hätten sie die Zeichensprache benutzt. Der Mond spendete genug Licht. Der Mond spendete auch genug Licht, um Ebens gerötetes Gesicht zu sehen und zu erkennen, wie fest Fedwin die Zähne zusammenbiß. Vielleicht waren sie keine Jungen mehr, aber sie waren dennoch erst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Jonan hatte die Augenbrauen so weit gesenkt, daß sie seine Wangen zu berühren schienen. Zumindest hatte niemand erneut Saidin ergriffen. Noch nicht.

Er wollte zuerst zu den drei Männern hinübergehen, erhob aber dann statt dessen nur seine Stimme. Sollten sie es doch alle hören. »Wenn ich die Torheiten der Töchter des Speers verkrafte, könnt ihr es auch.«

Wenn überhaupt eine Reaktion erkennbar war, vertiefte sich Ebens Gesichtsröte noch. Jonan brummte. Sie alle entboten Rand einen Gruß, indem sie die Faust an die Brust legten, und wandten sich dann einander zu. Jonan sagte leise etwas, während er zu den Töchtern des Speers schaute, und Fedwin und Eben lachten. Als sie zum ersten Mal Töchter des Speers gesehen hatten, waren sie im Zweifel gewesen, ob sie diese fremdartigen Wesen, über die sie nur gelesen hatten, anstarren oder lieber davonlaufen sollten, bevor die mörderischen Aiel der Geschichten sie töteten. Kaum etwas anderes konnte sie mehr erschrecken. Sie mußten die Angst von neuem lernen.

Die Töchter des Speers sahen Rand an und verständigten sich jetzt in der Zeichensprache, wobei sie manchmal leise lachten. Sie waren sich vielleicht der Asha'man bewußt, aber da Töchter des Speers Töchter des Speers waren - wie Aiel Aiel waren -, machte das Risiko den Spott noch reizvoller. In den Geschichten führte niemand jemals ein solch verwickeltes Leben.

Sobald Nerilea mit der Nachricht zurückkehrte, sie habe Bashere und Bael gefunden und der Clanhäuptling führe die Aiel hier in Caemlyn an, nahm Rand seinen Schwertgürtel ab, und Fedwin tat es ihm gleich. Jalani holte einen großen Lederbeutel für die Schwerter und das Drachenszepter hervor, den sie hielt, als wären die Schwerter Giftschlangen. Rand zog einen mit einer Kapuze versehenen Umhang über, den Corana ihm gereicht hatte, und hielt die Handgelenke auf dem Rücken verschränkt, die Sulin dann, angespannt vor sich hinmurmelnd, mit einem Strick zusammenband.

»Das ist Unsinn. Sogar Feuchtländer würden es als Unsinn bezeichnen.«

Er bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. Sie war kräftig und setzte ihre ganze Kraft auch ein. »Ihr seid zu oft vor uns davongelaufen, Rand al'Thor. Ihr paßt nicht auf Euch auf.« Sie betrachtete ihn als etwa gleichaltrigen Bruder, der aber manchmal unverantwortlich handelte.

Fedwin blickte finster drein, während seine Handgelenke ebenfalls zusammengebunden wurden, obwohl ihn zu fesseln die Tochter des Speers kaum Mühe kostete. Jonan und Eben sahen mit zutiefst gerunzelter Stirn zu. Ihnen gefiel dieser Plan ebenso wenig wie Sulin. Und sie verstanden ihn ebensowenig. Aber der Wiedergeborene Drache mußte keine Erklärungen abgeben, und der Car'a'carn tat es selten. Aber alle schwiegen. Eine Waffe beschwerte sich nicht.

Als Sulin vor Rand trat, sah sie ihm ins Gesicht und hielt dann den Atem an. »Das haben sie Euch angetan«, sagte sie sanft und griff nach dem schweren Dolch an ihrem Gürtel. Vielleicht nur etwas mehr als ein Fuß langer Stahl, fast ein Kurzschwert, aber das würde einer Aiel gegenüber nur ein Narr äußern.

»Zieht die Kapuze hoch«, befahl ihr Rand rauh. »Alles hängt davon ab, daß mich niemand erkennt, bevor ich Bael und Bashere erreicht habe.« Sie zögerte und sah ihm in die Augen. »Ich sagte, zieht sie hoch«, grollte er. Sulin könnte die meisten Männer mit bloßen Händen töten, aber ihre Finger gingen sehr sanft zu Werke, als sie die Kapuze um sein Gesicht zurechtzog.

Dann zog Jalani ihm die Kapuze lachend bis über die Augen. »Jetzt könnt Ihr sicher sein, daß Euch niemand erkennen wird, Rand al'Thor. Ihr müßt darauf vertrauen, daß wir Eure Schritte lenken.« Mehrere Töchter des Speers lachten.

Er erstarrte und hätte fast Saidin ergriffen. Fast. Lews Therin brummte in der Ferne. Rand zwang sich, ruhig zu atmen. Es herrschte keine völlige Dunkelheit. Er konnte unter dem Rand seiner Kapuze Mondlicht sehen. Dennoch stolperte er, als Sulin und Enaila seine Arme nahmen und ihn vorwärts führten.

»Ich dachte, Ihr wärt alt genug, besser laufen zu können«, murmelte Enaila mit gespielter Überraschung, Sulins Hand bewegte sich. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, daß sie seinen Arm streichelte.

Er konnte nur sehen, was unmittelbar vor ihm lag, die mondbeschienenen Fliesen des Hofs und dann Steinstufen und Marmorfliesen bei Lampenlicht, bisweilen mit einem langen Teppichläufer bedeckt. Er strengte seine Augen an, wenn Schatten sich bewegten, spürte nach der verräterischen Gegenwart Saidins oder, schlimmer noch, dem Kribbeln, das verkündete, daß eine Frau Saidar festhielt. Blind wie er war, würde er einen Angriff vielleicht erst bemerken, wenn es zu spät wäre. Er hörte das leise Geräusch dahineilender Füße der wenigen Diener, die ihren nächtlichen Aufgaben nachgingen, aber niemand sprach fünf Töchter des Speers an, die anscheinend zwei mit Kapuzen verhüllte Gefangene begleiteten. Da Bael und Bashere im Palast lebten und Caemlyn mit ihren Männern überwachten, waren in diesen Gängen zweifellos schon seltsamere Anblicke gesichtet worden. Es war, als ginge man durch ein Labyrinth. Aber immerhin hatte Rand, seit er Emondsfeld verlassen hatte, bereits eines oder zwei Labyrinthe durchschritten, auch wenn er geglaubt hatte, einen deutlichen Weg zu verfolgen.

Würde ich einen deutlichen Weg erkennen, wenn ich ihn sähe? fragte er sich. Oder mißtraue ich allem schon so sehr, daß ich ihn für eine Falle halten würde?

Es gibt keine deutlichen Wege. Nur Fallgruben und Stolperdrähte und Dunkelheit. Lews Therins Brummen klang dumpf und verzweifelt. Es klang so, wie Rand sich fühlte.

Als Sulin sie schließlich in einen Raum führte und die Tür schloß, hob Rand heftig den Kopf, um die Kapuze abzuwerfen - und erstarrte. Er hatte Bael und Davram erwartet, aber nicht Davrams Frau, Deira, und auch nicht Melaine oder Dorindha.

»Ich grüße Euch, Car'a'carn.« Bael, der größte Mann, den Rand je gesehen hatte, saß in seinem Cadin'sor mit gekreuzten Beinen auf den grünweißen Bodenfliesen und erweckte trotz der behaglich wirkenden Atmosphäre den Eindruck, als wäre er im Handumdrehen zum Angriff bereit. Der Clanhäuptling war nicht jung -kein Clanhäuptling war jung -, und Grau durchzog sein dunkles, leicht rötliches Haar, aber jedermann, der glaubte, er sei mit dem Alter verweichlicht, würde eine böse Überraschung erleben. »Möget Ihr stets Wasser und Schatten finden. Ich stehe hinter dem Car'a'carn, und meine Speere stehen hinter mir.«

»Wasser und Schatten sind vielleicht recht gut«, sagte Davram Bashere, während er ein Bein über die goldüberzogene Lehne seines Sessels legte, »aber mir persönlich wäre eisgekühlter Wein lieber.« Davram war ein wenig größer als Enaila; er hatte seinen kurzen blauen Umhang geöffnet, und Schweiß glänzte auf seinem dunklen Gesicht. Er wirkte mit seinen wild dreinblickenden, schrägstehenden Augen und seiner hakenförmigen Adlernase über einem dichten, von Grau durchzogenen Schnurrbart, trotz seiner augenscheinlichen Gleichgültigkeit, noch härter als Bael. »Ich gratuliere Euch zu Eurer Flucht und Eurem Sieg. Aber warum kommt Ihr wie ein Gefangener verkleidet hierher?«

»Ich möchte eher wissen, ob er uns Aes Sedai auf den Hals hetzt«, warf Deira ein. Failes Mutter war eine große Frau in einem golddurchwirkten, grünen Seidengewand und ebenso groß wie jede Tochter des Speers außer Somara, das lange schwarze Haar an den Schläfen von Weiß durchzogen, ihre Nase nur eine Spur weniger kühn als die ihres Ehemanns. Tatsächlich konnte er aber von ihr noch etwas lernen, und sie war ihrer Tochter in einer Beziehung sehr ähnlich: Ihre Treue galt ihrem Gemahl, nicht Rand. »Ihr habt Aes Sedai gefangengenommen! Müssen wir jetzt erwarten, daß uns die gesamte Weiße Burg angreift?«

»Wenn sie das tun«, sagte Melaine scharf, während sie ihre Stola richtete, »werden sie bekommen, was sie verdienen.« Blond, grünäugig und wunderschön, dem Gesicht nach zu urteilen nur wenige Jahre älter als Rand, war sie eine Weise Frau - und mit Bael verheiratet. Was auch immer die Weisen Frauen dazu veranlaßt hatte, ihre Ansicht über Aes Sedai zu ändern, so hatten Melaine, Amys und Bair doch die meisten Veränderungen bewirkt.

»Ich möchte wissen«, sagte die dritte Frau, »was Ihr wegen Colavaere Saighan zu unternehmen gedenkt.« Obwohl Deira und Melaine eine starke Präsenz besaßen, übertraf Dorindha sie beide noch, obwohl nur schwer festzustellen war weshalb. Die Dachherrin der Rauchquellenfeste war eine kräftige, mütterliche Frau, eher ansehnlich als hübsch, mit Falten um die blauen Augen und genauso viel Weiß im hellroten Haar, wie Bael Grau aufwies, und doch beherrschte sie die drei Frauen, was für jeden vernünftigen Menschen erkennbar war. »Melaine sagt, Bair messe Colavaere Saighan nur wenig Bedeutung zu«, fuhr Dorindha fort, »aber Weise Frauen können genauso blind sein wie jeder andere Mensch, wenn es darum geht, einen vor sich liegenden Kampf zwar zu sehen, den Skorpion unter ihren Füßen aber zu übersehen.« Ein Lächeln für Melaine nahm den Worten ihre Schärfe. Und Melaines Lächeln sollte gewiß besagen, daß sie sich nicht angegriffen fühlte. »Die Arbeit einer Dachherrin besteht darin, jene Skorpione zu finden, bevor jemand gestochen wird.« Sie war ebenfalls Baels Frau, eine Tatsache, die Rand noch immer aus der Fassung brachte, auch wenn sie und Melaine es sich so erwählt hatten. Vielleicht teilweise, weil sie es sich so erwählt hatten. Bei den Aiel hatte ein Mann wenig zu sagen, wenn seine Ehefrau eine Schwester-Frau erwählte. Auch bei ihnen war dies keine übliche Vereinbarung.

»Colavaere widmet sich jetzt dem Ackerbau«, grollte Rand. Sie sahen ihn blinzelnd an und fragten sich, ob das ein Scherz sei. »Der Sonnenthron ist wieder frei und wartet auf Elayne.« Er hatte erwogen, einen Schutz gegen Lauscher zu weben, aber ein Schutz konnte von einem Suchenden, Mann oder Frau, entdeckt werden, und seine Anwesenheit würde bedeuten, daß etwas Interessantes besprochen wurde. Nun, alles, was hier gesagt würde, würde ohnehin nur allzu bald von der Drachenmauer bis zum Meer bekannt sein.

Fedwin rieb sich die Handgelenke, während Jalani ihr Messer in die Scheide zurücksteckte. Niemand gönnte ihnen einen zweiten Blick. Aller Augen ruhten auf Rand. Er sah Nerilea stirnrunzelnd an und wedelte mit seinen zusammengebundenen Händen, bis Sulin die Fesseln durchschnitt. »Ich wußte nicht, daß dies ein Familientreffen werden sollte.« Nerilea wirkte als einzige ein wenig verlegen.

»Wenn Ihr erst verheiratet seid«, murmelte Davram lächelnd, »werdet Ihr lernen, daß Ihr sehr sorgfältig erwägen müßt, was Ihr vor Euren Ehefrauen verbergt.« Deira sah ihn mit geschürzten Lippen an.

»Ehefrauen sind ein großer Trost«, sagte Bael lachend, »wenn ein Mann ihnen nicht zu viel erzählt.« Dorindha fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar und packte einen Moment so fest zu, als wolle sie ihm den Kopf abreißen. Bael brummte, aber nicht nur deshalb. Melaine wischte ihr kleines Gürtelmesser an ihrem Rock ab und steckte es in die Scheide zurück. Die beiden Frauen grinsten einander über Baels Kopf hinweg an, während er sich die Schultern rieb, wo ein kleiner Blutfleck seinen Cadin'sor beschmutzte. Deira nickte nachdenklich. Anscheinend hatte sie gerade eine Idee.

»Welche Frau könnte ich ausreichend hassen, um sie mit dem Wiedergeborenen Drachen zu verheiraten?« bemerkte Rand kalt. Daraufhin entstand eisiges Schweigen.

Er versuchte seinen Zorn zu zügeln. Er hätte dies erwarten sollen. Melaine war nicht nur eine Weise Frau, sie war auch eine Traumgängerin, wie auch Amys und Bair. Sie konnten sich in ihren Träumen miteinander und mit anderen verständigen. Eine nützliche Gabe, obwohl sie dieses Talent für ihn erst einmal eingesetzt hatten. Es war eine Angelegenheit der Weisen Frauen und überhaupt nicht verwunderlich, daß Melaine mit allem, was geschah, Schritt hielt. Es war auch kein Wunder, daß sie Dorindha alles erzählte, ob es eine Angelegenheit der Weisen Frauen war oder nicht. Die beiden Frauen waren beste Freundinnen und gleichzeitig Schwestern. Sobald Melaine Bael über die Entführung unterrichtet hatte, hatte er es natürlich Bashere erzählt. Von Bashere zu erwarten, dies vor seiner Frau geheimzuhalten, war genauso, als erwarte man von ihm geheimzuhalten, daß das Haus brenne. Rand zügelte seinen Zorn allmählich.

»Ist Elayne schon eingetroffen?« Er versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen, was ihm aber mißlang. Unwichtig. Er hatte allen bekannte Gründe, zornig zu sein. Andor war vielleicht nicht so voller Aufruhr wie Cairhien, aber Elayne auf den Thron zu bringen, war die beste Gelegenheit, beide Länder zur Ruhe zu bringen. Und vielleicht die einzige Möglichkeit.

»Noch nicht.« Bashere zuckte die Achseln. »Aber aus dem Norden kam eine Nachricht über Aes Sedai bei einem Heer, die irgendwo in Murandy und Altara gesehen wurden. Das könnte der junge Mat und seine Bande der Roten Hand mit der Tochter-Erbin und den Schwestern sein, die der Burg entflohen, als Siuan Sanche abgesetzt wurde.«

Rand rieb sich die Handgelenke an den Stellen, an denen die Stricke gescheuert hatten. Sie hatten die Gefangennahme nur vorgetäuscht, weil Elayne schon hätte hier sein können. Elayne, und Aviendha. So hätte er kommen und gehen können, ohne daß sie es erfahren hätten, bis er wieder fort gewesen wäre. Vielleicht hätte er einen Weg gefunden, einen Blick auf sie zu werfen. Vielleicht... Er war ein Narr - nicht nur vielleicht.

»Wollt Ihr, daß sich Euch auch diese Schwestern verschwören?« Deiras Stimme wirkte genauso eisig wie ihr Gesicht. Sie mochte ihn nicht. Aus ihrer Sicht hatte ihr Mann einen Weg eingeschlagen, der wahrscheinlich mit seinem Kopf auf einer Lanze über einem Tor von Tar Valon enden würde, und Rand hatte ihn auf diesen Weg gebracht. »Die Weiße Burg wird nicht stillhalten, während Ihr Aes Sedai bezwingt.«

Rand verbeugte sich leicht vor ihr, und sie faßte es bestimmt nicht als Spott auf. Deira ni Ghaline t'Bashere hatte ihm niemals einen Titel gewährt, noch jemals seinen Namen benutzt. Sie hätte genausogut zu einem Bediensteten sprechen können - zu einem nicht sehr intelligenten oder vertrauenswürdigen Bediensteten. »Falls sie erwählen, sich mir zu verschwören, werde ich ihren Schwur annehmen. Ich bezweifle, daß viele von ihnen tatsächlich bald nach Tar Valon zurückkehren wollen. Wenn sie eine andere Wahl treffen, können sie ihres Weges gehen, so lange sie sich nicht gegen mich stellen.«

»Die Weiße Burg hat sich gegen Euch gestellt«, sagte Bael, der sich mit den Fäusten auf den Knien vorbeugte. Der Blick seiner blauen Augen ließ Deiras Stimme im nachhinein herzlich wirken. »Ein Feind, der einmal kommt, wird wiederkommen. Es sei denn, er wird aufgehalten. Meine Speere werden dem Car'a'carn folgen, wohin auch immer er geht.« Melaine nickt natürlich dazu. Sie wollte höchstwahrscheinlich jede einzelne Aes Sedai abgeschirmt und auf Knien unter Bewachung sehen, wenn nicht sogar an Händen und Füßen gefesselt. Aber Dorindha und Sulin nickte ebenfalls, und Bashere zog nachdenklich an seinem Schnurrbart. Rand wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

»Meint Ihr nicht, daß ich auch ohne einen Krieg gegen die Weiße Burg bereits genug zu bewältigen habe? Elaida ist mir an die Kehle gegangen und wurde abgewehrt.« Wobei die verbrannte Erde von Leichen bedeckt gewesen war. Raben und Geier hatten sich an ihnen genährt. Wie viele waren getötet worden? »Wenn sie vernünftig genug ist, an diesem Punkt innezuhalten, werde ich es ebenfalls tun.« Solange sie ihn nicht aufforderten zu vertrauen. Die Kiste. Er schüttelte den Kopf und war sich Lews Therins halbwegs bewußt, der plötzlich wegen der Dunkelheit und dem Durst stöhnte. Er konnte ignorieren, er mußte ignorieren, aber er konnte nicht vergessen und nicht vertrauen.

Er überließ Bael und Bashere den Streit darüber, ob Elaida vernünftig genug wäre innezuhalten, und trat zu einem Tisch unter einem Wandteppich mit einer Schlachtszene, bei der der Weiße Löwe Andors herausragte, der mit einer Landkarte bedeckt war. Bael und Bashere benutzten diesen Raum offensichtlich für ihre Planungen. Er suchte eine Weile herum und fand dann die Karte, die er brauchte, eine große Rolle, die ganz Andor von den verschleierten Bergen bis zum Fluß Erinin sowie auch zum Teil die Länder im Süden - Ghealdan, Altara und Mundy - zeigte.

»Den Frauen, die in den Ländern der Baummörder gefangengehalten werden, wird nicht gestattet, Schwierigkeiten zu machen - warum sollten also andere es tun?« sagte Melaine offensichtlich als Antwort auf etwas, was er nicht gehört hatte. Sie klang verärgert.

»Wir werden tun, was wir tun müssen, Deira t'Bashere«, sagte Dorindha ruhig. Sie war selten aufgeregt. »Bewahrt Euren Mut, und wir werden unser Ziel erreichen.«

»Wenn Ihr von einer Klippe springt«, erwiderte Deira, »ist es zu spät, sich noch an etwas anderes als an Euren Mut zu klammern. Und zu hoffen, daß unten ein Heuwagen steht, in dem man landen kann.« Ihr Ehemann kicherte, als habe sie einen Scherz gemacht. Sie hatte nicht danach geklungen.

Rand breitete die Karte aus, beschwerte die Ecken mit Tintenfässern und Sandflaschen und maß mit den Fingern Entfernungen ab. Mat kam nicht sehr schnell voran, wenn die Gerüchte zutrafen, daß er in Altara oder Murandy war. Er war stets stolz darauf, wie schnell die Bande vorangehen konnte. Vielleicht behinderten ihn die Aes Sedai mit ihren Dienern und Wagen. Vielleicht waren mehr Schwestern dort, als er gedacht hatte. Rand merkte, daß er seine Hände zu Fäusten ballte, und öffnete sie mühsam. Er brauchte Elayne. Damit sie die Throne hier und in Cairhien einnahm. Dafür brauchte er sie. Nur dafür. Aviendha... Sie brauchte er nicht, überhaupt nicht, und sie hatte verdeutlicht, daß sie ihn auch nicht brauchte. Sie war fern von ihm sicher. Er konnte ihnen beiden Sicherheit geben, indem er sie stets so weit wie möglich von sich fernhielt. Licht, wenn er sie nur sehen könnte. Er brauchte Mat jedoch, da Perrin eigensinnig war. Er fragte sich, wie es kam, daß Mat plötzlich zum Fachmann für alles geworden war, was mit Schlachten zu tun hatte, aber sogar Bashere respektierte seine Meinung.

Zumindest seine Meinung über den Krieg.

»Sie haben ihn wie einen Da'tsang behandelt«, grollte Sulin, und einige der anderen Töchter des Speers äußerten ebenfalls leise ihren Unmut.

»Das wissen wir«, sagte Melaine grimmig. »Sie haben keine Ehre.«

»Wird er sich nach dem, was ihr beschrieben habt, wirklich zurückhalten?« fragte Deira ungläubig.

Die Landkarte erstreckte sich nicht weit genug südlich, daß auch Illian darauf zu sehen gewesen wäre -keine Landkarte auf dem Tisch zeigte dieses Land auch nur teilweise -, aber Rand führte seine Hand müßig bis Murandy hinab, und er konnte sich die Doirlon-Hügel, nicht weit jenseits der Grenze zu Illian, mit ihrer Reihe von Hügelfestungen vorstellen; kein einmarschierendes Heer konnte es sich leisten, sie zu mißachten. Und ungefähr zweihundertfünfzig Meilen östlich, jenseits der Ebenen von Maredo, stand ein Heer, wie es seit dem Zusammenschluß der Nationen im Aiel-Krieg und vielleicht seit der Zeit Artur Falkenflügels keines mehr gegeben hatte. Tairener, Cairhiener, Aiel, alle wohlerwogen erwählt, in Illian einzufallen. Wenn Perrin die Führung nicht übernehmen wollte, dann mußte Mat es tun. Aber es war nicht genug Zeit. Es war niemals genug Zeit.

»Verdammt«, murrte Davram. »Das habt Ihr niemals erwähnt, Melaine. Lady Caraline und Lord Toram haben unmittelbar außerhalb der Stadt gelagert, und Hochlord Darlin ebenso? Sie sind sich nicht zufällig begegnet, nicht zu diesem Zeitpunkt. Das ist, als hätte man ein Schlangennest auf der Türschwelle.«

»Sollen die Algai'd'siswai tanzen«, erwiderte Bael. »Tote Schlangen beißen nicht.«

Sammael hatte sich stets gut verteidigt. Daran erinnerte sich Lews Therin vom Schattenkrieg her. Wenn zwei Männer in einem Schädel hausten, sollte man vielleicht erwarten, daß Erinnerungen zwischen ihnen hin und her trieben. Hatte sich Lews Therin plötzlich daran erinnert, Schafe gehütet oder Feuerholz gehackt oder Hühner gefüttert zu haben? Rand konnte ihn schwach wüten hören, daß er töten wollte, vernichten wollte. Gedanken an die Verlorenen trieben Lews Therin fast immer zum Äußersten.

»Deira t'Bashere hat recht«, sagte Bael. »Wir müssen auf dem Weg bleiben, den wir eingeschlagen haben, bis unsere Feinde vernichtet sind - oder wir.«

»So habe ich es nicht gemeint«, sagte Deira trocken. »Aber Ihr habt recht. Wir haben jetzt keine Wahl mehr. Bis unsere Feinde vernichtet sind - oder wir.«

Tod, Vernichtung und Wahnsinn überschwemmten Rands Geist, während er die Landkarte betrachtete. Sammael würde bald nach dem Angriff des Heers bei diesen Festungen sein, Sammael mit der Kraft eines Verlorenen und dem Wissen des Zeitalters der Legenden. Lord Brend nannte er sich, einer des Konzils der Neun, und Lord Brend nannten ihn auch jene, die nicht zugeben wollten, daß die Verlorenen befreit waren, aber Rand kannte ihn. Durch die Erinnerung Lews Therins kannte er Sammaels Gesicht und ihn selbst genau.

»Was hat Dyelin Taravin mit Naean Arawn und Elenia Sarand vor?« fragte Dorindha. »Ich gebe zu, daß ich nicht verstehe, warum man Menschen fortschließt.«

»Es ist unwichtig, was sie dort tut«, sagte Davram. »Mich beunruhigen eher ihre Treffen mit diesen Aes Sedai.«

»Dyelin Taravin ist eine Närrin«, murrte Melaine. »Sie glaubt die Gerüchte, daß der Car'a'carn vor dem Amyrlin-Sitz niederkniet. Sie wird sich nicht einmal das Haar bürsten, wenn es ihr die Aes Sedai nicht erlauben.«

»Ihr verkennt sie«, sagte Deira fest. »Dyelin ist stark genug, Andor zu regieren. Das hat sie in Aringill bewiesen. Natürlich hört sie den Aes Sedai zu - nur ein Narr ignoriert Aes Sedai -, aber zuhören heißt nicht gehorchen.«

Die Wagen, die von den Brunnen von Dumai herangebracht worden waren, mußten erneut durchsucht werden. Der Angreal in Form eines fetten kleinen Mannes mußte irgendwo sein. Keine der entkommenen Schwestern hätte ahnen können, was er war. Es sei denn, eine von ihnen hätte vielleicht ein Andenken an den Wiedergeborenen Drachen eingesteckt. Nein. Er mußte irgendwo in den Wagen sein. Damit war er jedem Verlorenen mehr als ebenbürtig. Ohne ihn... Tod, Vernichtung und Wahnsinn.

Plötzlich drängte herauf, was er gehört hatte. »Was war das?« fragte er und wandte sich von dem mit Elfenbein-Intarsien versehenen Tisch um.

Überraschte Gesichter wandten sich ihm zu. Tonan richtete sich am Türrahmen auf, an dem er lässig gelehnt hatte. Die Töchter des Speers, die mühelos auf ihren Fersen hockten, schienen plötzlich alarmiert. Sie hatten sich beiläufig unterhalten, aber jetzt betrachteten sie ihn aufmerksam.

Melaine betastete eine ihrer Elfenbein-Halsketten, sah mit entschlossenem Blick zwischen Bael und Davram hin und her und sprach dann vor allen anderen. »In einem Gasthaus namens Silberschwan in der - wie Davram Bashere sie nennt - Neustadt befinden sich neun Aes Sedai.« Sie sprach das Wort ›Gasthaus‹ seltsam aus, und auch das Wort ›Stadt‹. Sie hatte diese Wörter nur aus Büchern gekannt, bevor sie über die Drachenmauer gekommen war. »Er und Bael sagen, wir sollten sie in Ruhe lassen, bis sie etwas gegen uns unternehmen. Ich denke, Ihr habt es gelernt, auf Handlungen der Aes Sedai zu warten, Rand al'Thor.«

»Mein Fehler«, seufzte Bashere, »wenn ein Fehler begangen wurde. Aber ich weiß nicht, was Melaine zu tun gedenkt. Acht Schwestern machten vor fast einem Monat im Silberschwan halt, direkt nachdem Ihr abgereist wart. Hin und wieder kommen und gehen einige, aber es sind niemals mehr als zehn zugleich dort. Sie bleiben für sich, machen keine Schwierigkeiten und stellen keine Fragen, von denen Bael oder ich wüßten. Zweimal kamen auch einige Rote Schwestern in die Stadt. Die Schwestern im Silberschwan haben Behüter, aber die Roten Schwestern nicht. Ich bin überzeugt, daß sie Rote sind. Zwei oder drei tauchen auf, fragen nach Männern, die zum Schwarzen Turm wollen und reisen nach einem oder zwei Tagen wieder ab. Ohne viel erfahren zu haben, würde ich sagen. Diese Schwarze Burg bewahrt Geheimnisse so gut wie eine Festung. Keine der Schwestern hat Schwierigkeiten gemacht, und ich würde sie lieber nicht belästigen, bis ich weiß, daß es notwendig ist.«

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Rand zögernd. Er setzte sich in einen Sessel gegenüber Bashere und umklammerte die Armlehnen, bis seine Knöchel schmerzten. Hier versammelten sich Aes Sedai, in Cairhien versammelten sich Aes Sedai. Zufall? Lews Therin stieß in der Ferne wütende Tiraden über Tod und Verrat aus. Er würde Taim warnen müssen. Nicht wegen der Aes Sedai im Silberschwan - das wußte Taim sicher bereits, aber warum hatte er es nicht erwähnt? -, sondern damit sie ihnen fernblieben, damit er die Asha'man von ihnen fernhielt. Wenn die Brunnen von Dumai ein Ende bedeuten sollten, durfte es hier keine neuen Anfänge geben. Zu vieles schien außer Kontrolle zu geraten. Je stärker er alle zusammenzuhalten versuchte, desto schneller lösten sie sich. Früher oder später würde alles zusammenbrechen und zerfallen. Der Gedanke ließ seine Kehle trocken werden. Thom Merrilin hatte ihn gelehrt, ein wenig zu jonglieren, aber er war niemals sehr geschickt darin gewesen. Jetzt mußte er in der Tat sehr geschickt vorgehen. Er wünschte, er hätte etwas, womit er seine Kehle benetzen könnte.

Er hatte nicht gemerkt, daß er den letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte, bis Jalani sich aus ihrer hockenden Stellung aufrichtete und zu einem hohen Silberkrug trat, der auf einem kleinen Tisch stand. Sie füllte einen Silberbecher, brachte ihn Rand mit einem Lächeln und öffnete den Mund, als sie ihm den Trank reichte. Er erwartete schon eine heftige Äußerung, als sich ihr Gesichtsausdruck änderte. Sie sagte nur »Car'a'carn« und ging dann so würdevoll zu ihrem Platz bei den anderen Töchtern des Speers zurück, daß man den Eindruck gewann, sie imitierte Dorindha oder vielleicht auch Deira. Somara sagte etwas in der Zeichensprache, und plötzlich erröteten alle Töchter des Speers und bissen sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Alle Töchter des Speers außer Jalani, die nur errötet war.

Der gewürzte Wein schmeckte nach Pflaumen. Rand konnte sich an die dicken süßen Pflaumen aus den Obstgärten seiner Kindheit jenseits des Flusses erinnern, die er selbst gepflückt hatte... Er legte den Kopf zurück und leerte den Becher. Es gab in den Zwei Flüssen zwar Pflaumenbäume, aber keine Obstgärten, und sicherlich nicht jenseits irgendeines Flusses. Behalte deine verdammten Erinnerungen für dich, knurrte er Lews Therin an. Der Mann in seinem Kopf lachte über etwas, kicherte still in sich hinein.

Bashere sah zuerst die Töchter des Speers und dann Bael und seine Frauen stirnrunzelnd an, die alle unbewegt wie Stein blieben, und schüttelte den Kopf. Er kam mit Bael gut zurecht, aber die Aiel im allgemeinen verwirrten ihn. »Da mir niemand etwas zu trinken bringt...«, sagte er, erhob sich und goß sich selbst einen Becher Wein ein. Er trank einen großen Schluck, der seinen dichten Schnurrbart benetzte. »Das erfrischt. Taims Art, Männer zu erheben, scheint jeden Burschen zutage zu fördern, der dem Wiedergeborenen Drachen gern folgen würde. Er hat mir ein ansehnliches Heer geliefert, Männer, denen fehlt, was immer es ist, was Eure Asha'man brauchen. Sie wandern alle umher und starren mit großen Augen Löcher in die Luft, aber keiner war jemals in der Nähe der Schwarzen Burg. Ich versuche, einige der Gedanken des jungen Mat nachzuvollziehen.«

Rand winkte mit seinem geleerten Becher ab. »Erzählt mir von Dyelin.« Dyelin vom Hause Taravin wäre der nächste in der Thronfolge, falls Elayne etwas zustieße, aber er hatte ihr gesagt, daß er Elayne nach Caemlyn bringen ließ. »Wenn sie glaubt, sie könnte den Löwenthron einnehmen, kann ich auch für sie einen Bauernhof finden.«

»Den Thron einnehmen?« fragte Deira ungläubig, und ihr Mann lachte laut auf.

»Ich verstehe die Art der Feuchtländer nicht«, sagte Bael, »aber ich glaube nicht, daß sie daran gedacht hat.«

»Nicht im geringsten.« Davram nahm Rands Becher und goß ihm noch mehr Wein ein. »Einige niedriger gestellte Herren und Damen, die glaubten, sie könnten ihre Gunst erringen, haben sie in Aringill öffentlich zur Königin erklärt. Lady Dyelin handelt rasch. Innerhalb von vier Tagen ließ sie die beiden Anführer wegen Verrat an der Tochter-Erbin Elayne hängen und befahl die Auspeitschung weiterer zwanzig Leute.« Er kicherte anerkennend. Seine Frau rümpfte die Nase. Sie hätte wahrscheinlich den ganzen Weg von Aringill bis Caemlyn mit Galgen säumen lassen.

»Woher kam dann das Gerücht, daß sie Andor regiere?« fragte Rand. »Und Elenia und Naean gefangengesetzt habe?«

»Es gibt Leute, die den Thron beanspruchen wollten«, sagte Deira, deren dunkle Augen zornig funkelten.

Bashere nickte. Er war bedeutend ruhiger. »Erst vor drei Tagen. Als die Nachricht von Colavaeres Krönung und die Gerüchte aus Cairhien eintrafen, begann die Möglichkeit, daß Ihr nach Tar Valon gegangen wärt, glaubhaft zu klingen. Da der Handel wieder beginnt, sind so viele Tauben zwischen Cairhien und Caemlyn in der Luft, daß man auf ihren Rücken einhergehen könnte.« Er brachte den Becher zu Rand und kehrte zu seinem Sessel zurück. »Naean hat den Thronfolger für den Löwenthron morgens früh verkündet, Elayne vormittags und Dyelin bei Sonnenuntergang. Pelivar und Luan ließen die beiden einsperren. Sie erklärten Dyelin am nächsten Morgen zur Herrscherin. In Elaynes Namen, bis sie zurückkehrt. Die meisten Mitglieder des Hauses Andor haben Dyelin ihre Unterstützung zugesagt. Ich glaube, einige sähen es gern, wenn sie selbst den Thron einnähme, aber Aringill läßt auch die Mächtigsten ihre Zunge hüten.« Bashere schloß ein Auge und deutete auf Rand. »Ihr wurdet gar nicht erwähnt. Ob das gut oder schlecht ist - das zu bestimmen, ist ein klügerer Kopf nötig als meiner.«

Deira lächelte kühl und blickte an ihrer Nase hinab. »Jene ... Speichellecker, denen Ihr erlaubtet, den Palast zu verlassen, scheinen alle aus der Stadt geflohen zu sein. Einige sogar aus Andor, wie Gerüchte besagen. Ihr solltet es wissen, denn sie standen alle entweder hinter Elayne oder hinter Naean.«

Rand stellte seinen vollen Becher auf den Boden neben seinem Sessel. Er hatte nur Lir und Arymilla und den anderen zu bleiben erlaubt, um Dyelin und jene, die sie unterstützten, zur Zusammenarbeit mit ihm zu drängen. Sie hätten Andor niemals einem Mann wie Lord Lir überlassen. Aber mit ein wenig Zeit und durch Elaynes Rückkehr könnte es vielleicht dennoch gelingen. Aber alles drehte sich immer schneller und entglitt seinen Händen. Nur einige wenige Dinge konnte er noch kontrollieren.

»Fedwin dort drüben ist ein Asha'man», sagte er. »Er kann mir in Cairhien Nachrichten überbringen, wenn es nötig ist.« Er sagte dies mit einem Blick auf Melaine, die Fedwin überaus sanft anschaute. Deira betrachtete Fedwin ungefähr so, wie sie eine tote Ratte betrachten würde, die ein übereifriger Hund auf ihrem Teppich abgelegt hatte. Davram und Bael wirkten eher nachdenklich. Fedwin versuchte, sich unter ihrem Blick noch höher aufzurichten. »Niemand soll wissen, wer er ist«, fuhr Rand fort. »Niemand. Darum trägt er kein Schwarz. Ich nehme heute abend zwei weitere Asha'man mit zu Lord Semaradrid und Hochlord Weiramon, Sie werden sie brauchen, wenn sie Sammael in den Doirlon-Hügeln gegenübertreten. Ich werde anscheinend noch eine Weile an Cairhien zu kauen haben.« Und vielleicht auch an Andor.

»Bedeutet das, daß Ihr die Speere endlich vorwärts schickt?« fragte Bael. »Ihr gebt heute abend die entsprechenden Befehle?«

Rand nickte, und Bashere lachte dröhnend. »Nun, das verlangt nach einem guten Wein. Oder es verlangte zumindest danach, wenn es nicht so heiß wäre, Blut zu Brei zu verdicken.« Das Lachen wurde zu einer Grimasse. »Verdammt, ich wünschte, ich könnte dabeisein. Aber Caemlyn zu halten, ist für den Wiedergeborenen Drachen vermutlich keine leichte Aufgabe.«

»Du willst immer dort sein, wo die Schwerter gezogen werden, mein Gemahl.« Deira klang recht angetan.

»Das Fünftel«, sagte Bael. »Ihr laßt das Fünftel in Illian, wenn Sammael gefallen ist?« Ein Aielbrauch gestattete es, den fünften Teil von allem zu nehmen, was sich an einem mit Waffengewalt eingenommenen Ort befand. Rand hatte das in Caemlyn verboten. Er würde Elayne nicht einmal eine so geringfügig geplünderte Stadt übergeben.

»Sie werden das Fünftel bekommen«, sagte Rand, aber er dachte dabei nicht an Sammael oder Illian. Bring Elayne schnell her, Mat. Dieser Satz kreiste in seinem Kopf und übertönte auch Lews Therins Gemurmel. Bring sie schnell her, bevor Andor und Cairhien beide vor meinen Augen aufbrechen.

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