33 Ein Bad

Die Tage erschienen Rand endlos, seit er Perrin fortgeschickt hatte, und die Nächte noch endloser. Er zog sich in seine Räume zurück und wies die Töchter des Speers an, niemanden zu ihm zu lassen. Nur Nandera durfte die Türen mit den vergoldeten Sonnen passieren, um ihm seine Mahlzeiten zu bringen. Die kräftige Tochter des Speers stellte dann ein abgedecktes Tablett ab, nannte jene, die ihn aufsuchen wollten, und sah ihn anklagend an, wenn er wiederholte, daß er niemanden empfangen wolle. Er hörte häufig mißbilligende Kommentare der Töchter des Speers im Gang, bevor Nandera die Tür hinter sich schloß. Er sollte sie hören, sonst hätten sie die Zeichensprache benutzt. Aber wenn sie ihn zermürben wollten, indem sie behaupteten, er schmolle... Die Töchter des Speers verstanden nicht und würden es vielleicht auch dann nicht verstehen, wenn er es ihnen erklärte. Sofern er sich dazu hätte überwinden können.

Er stocherte ohne Appetit in seinem Essen herum und versuchte dann zu lesen, aber selbst seine Lieblingsbücher konnten ihn nur einige Seiten lang ablenken. Mindestens einmal an jedem Tag hob er, obwohl er sich selbst versprochen hatte, es nicht zu tun, den schweren Kleiderschrank aus poliertem Schwarzholz und Elfenbein in seinem Schlafraum auf Stränge von Luft, ließ ihn beiseite gleiten und löste vorsichtig die Fallen, die er aufgestellt hatte, und die Spiegelmaske, welche eine glatte Wand vorgetäuscht hatte. Dort, in einer mit der Macht ausgehöhlten Nische, standen zwei kleine, ungefähr einen Fuß hohe Statuen aus weißem Stein, eine Frau und ein Mann, beide in fließenden Gewändern und mit einem über den Kopf gehaltenen Kristallspeer in der Hand. In jener Nacht, in der er das Heer nach Illian marschieren ließ, war er allein nach Rhuidean gegangen, um diese Ter'angreale zu holen: Wenn er sie brauchte, blieb ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit, hatte er sich gesagt. Seine Hand würde sich nach dem bärtigen Mann ausstrecken - der einzigen Figur des Paars, die ein Mann benutzen konnte - und dann zitternd innehalten. Ein Finger würde die Statuette berühren, und mehr von der Einen Macht, als er sich vorstellen konnte, würde ihm zur Verfügung stehen. Damit konnte ihn niemand besiegen, niemand ihm widerstehen. Mit dieser Macht, hatte Lanfear einst gesagt, konnte er den Schöpfer herausfordern.

»Sie gehört rechtmäßig mir«, murmelte er stets, wenn seine Hand kurz vor der Figur zitternd innehielt. »Mir! Ich bin der Wiedergeborene Drache!«

Und er zwang sich jedesmal, sich wieder zurückzuziehen, wob die Spiegelmaske neu und die unsichtbaren Fallen, die jedermann zu Asche verbrennen würden, der sie ohne das dazugehörige Paßwort zu überwinden versuchte. Der riesige Kleiderschrank bewegte sich leicht wie eine Feder wieder auf seinen Platz. Er war der Wiedergeborene Drache. Aber genügte das? Es würde genügen müssen.

»Ich bin der Wiedergeborene Drache«, flüsterte er den Wänden manchmal zu, und manchmal schrie er sie an: »Ich bin der Wiedergeborene Drache!« Er wütete leise und laut gegen jene, die sich ihm entgegenstellten, die blinden Narren, die nicht sehen konnten und sich aus Ehrgeiz oder Habsucht oder Angst auch weigerten zu sehen. Er war der Wiedergeborene Drache, die einzige Hoffnung der Welt gegen den Dunklen König. Das Licht möge der Welt dabei helfen.

Aber sein Wüten und seine Gedanken daran, das Ter'angreal zu benutzen, waren nur Versuche, anderem zu entkommen, und das wußte er. Allein stocherte er in seinem Essen herum, wenn auch jeden Tag lustloser, und versuchte zu lesen, wenn auch selten, und Schlaf zu finden. Er schlief im Verlauf der Zeit häufiger, wobei es ihn nicht kümmerte, ob die Sonne tief oder hoch stand. Der Schlaf kam in unregelmäßigen Abständen, und was seine wachen Gedanken quälte, schlich sich auch in seine Träume ein und ließ ihn zu bald aufschrecken, um erholt zu sein. Kein noch so sorgfältiges Abschirmen konnte fernhalten, was bereits hineingelangt war. Er mußte sich den Verlorenen und früher oder später auch dem Dunklen König selbst stellen. Er mußte sich Narren stellen, die ihn bekämpften oder davonliefen, obwohl ihre einzige Hoffnung darin bestand, sich hinter ihn zu stellen. Warum ließen ihn seine Träume nicht in Ruhe? Er erwachte stets ruckartig aus einem Traum, noch bevor er recht begonnen hatte, um dann von Abscheu gegen sich selbst erfüllt und durch den mangelnden Schlaf verwirrt dazuliegen, aber die anderen... Er wußte, daß er sie alle verdiente.

Colavaere stellte sich ihm im Traum entgegen, ihr Gesicht schwarz und das Halstuch, mit dem sie sich erhängt hatte, noch immer im geschwollenen Fleisch ihres Halses eingesunken. Colavaere, schweigsam und anklagend, und all die Töchter des Speers, die für ihn gestorben waren, reihten sich hinter ihr auf, alle Frauen, die meinetwegen gestorben waren. Er kannte jedes einzelne Gesicht so gut wie sein eigenes und wußte auch alle Namen außer einem. Er erwachte schluchzend aus diesen Träumen.

Hundertmal schleuderte er Perrin durch die Große Halle der Sonne, und hundertmal wurde er von lodernder Angst und Zorn überwältigt. Hundertmal tötete er Perrin in seinen Träumen und wachte von seinen eigenen Schreien auf. Warum hatte der Mann die Aes Sedai-Gefangenen als Gegenstand ihres Streits erwählt? Rand wollte nicht über sie nachdenken. Er hatte sein Bestes getan, ihre Existenz von Anfang an zu ignorieren. Sie waren zu gefährlich, um sie lange als Gefangene zu halten, und er hatte keine Ahnung, was er mit ihnen tun sollte. Sie ängstigten ihn. Manchmal träumte er, wieder in der Kiste gefesselt zu sein, daß Galina und Erian und Katerine und die anderen ihn daraus hervorholten und schlugen, und erwachte wimmernd, selbst nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß seine Augen geöffnet und er längst aus der Kiste befreit war. Sie ängstigten ihn, weil er befürchtete, er könnte seiner Angst und seinem Zorn nachgeben und dann... Er versuchte, nicht daran zu denken, was er dann tun würde, aber manchmal träumte er es und wachte schweißgebadet auf. Er würde es nicht tun. Was auch immer er bisher getan hatte - das würde er nicht tun.

In Träumen versammelte er die Asha'man, um die Weiße Burg anzugreifen und Elaida zu bestrafen. Er sprang aus einem von gerechtem Zorn und Saidin erfüllten Wegetor - und erfuhr, daß Alviarins Brief eine Lüge gewesen war, er sah sie neben Elaida stehen, sah auch Egwene neben ihr und Nynaeve und sogar Elayne, alle mit Aes Sedai-Gesichtern, weil er zu gefährlich war, um ihn frei herumlaufen zu lassen. Er beobachtete, wie die Asha'man von Frauen vernichtet wurden, die Jahre des Studiums der Einen Macht hinter sich gebracht hatten - nicht nur wenige Monate unvollständiger Ausbildung -, und aus diesen Träumen erwachte er niemals, bevor nicht jeder Mann in einer schwarzen Jacke tot war und er der Macht der Aes Sedai allein gegenüberstand. Allein.

Cadsuane äußerte immer wieder diese Worte über Verrückte, die Stimmen hörten, bis er darunter zusammenfuhr wie unter Peitschenhieben, in seinem Schlaf zusammenzuckte, wenn sie erschien. In Träumen und im Wachen rief er Lews Therin, schrie ihn an, doch nur Schweigen antwortete. Allein. Diese wenigen Empfindungen und Gefühle in seinem Hinterkopf, das Spüren von Alannas Fast-Berührung, wurde allmählich zum Trost. Und das ängstigte ihn auf vielerlei Art am allermeisten.

Am vierten Morgen erwachte er benommen aus einem Traum von der Weißen Burg und hob hastig eine Hand, um seine brennenden Augen vor dem abzuschirmen, was er für das Aufflammen eines mit Saidar entfachten Feuers hielt. Staub tanzte durch das Fenster bis zu seinem Bett, dessen wuchtige, kantige SchwarzholzPfosten mit keilförmigen Elfenbeinverzierungen versehen waren, im strömenden Sonnenlicht. Alle Möbelstücke im Raum bestanden aus poliertem Schwarzholz und Elfenbein, kantig und ausreichend schwer, daß sie zu seiner Stimmung paßten. Er lag einen Moment da, aber wenn der Schlaf zurückkehrte, würde er nur einen weiteren Traum bringen.

Bist du da, Lews Therin? dachte er ohne Hoffnung auf eine Antwort, stand müde auf und zog seine zerknitterte Jacke zurecht. Er hatte seine Kleider seit seinem Rückzug nicht mehr gewechselt.

Als er in den Vorraum taumelte, dachte er zuerst, er träume wieder jenen Traum, der ihn stets augenblicklich voller Scham und Schuld und Abscheu aufwachen ließ, aber Min schaute von einem der hohen, vergoldeten Stühle zu ihm hoch, ein in Leder gebundenes Buch auf den Knien, und er erwachte nicht. Dunkle Locken umrahmten ihr Gesicht, und große dunkle Augen blickten so angespannt, daß er fast ihre Berührung spüren konnte. Ihre Hose aus brokatdurchwirkter grüner Seide saß wie eine zweite Haut, und die dazu passende Seidenjacke war geöffnet, so daß er ihre cremefarbene, sich mit jedem Atemzug hebende und senkende Bluse sehen konnte. Er betete darum aufzuwachen. Nicht Angst oder Zorn oder Schuld wegen Colavaere oder Lews Therins Verschwinden hatten ihn dazu getrieben, sich zurückzuziehen.

»In vier Tagen findet ein Fest statt«, sagte sie heiter, »bei Halbmond. ›Tag der Reue‹ nennen sie es aus einem unbestimmten Grund, aber in dieser Nacht wird getanzt. Gesittete Tänze, wie ich hörte, aber jeder Tanz ist besser als gar keiner.« Sie legte vorsichtig einen dünnen Lederstreifen in das Buch und legte es auf den Boden neben sich. »Wenn ich die Näherin heute beauftrage, reicht die Zeit gerade noch, ein neues Kleid anfertigen zu lassen. Das heißt, wenn du mit mir tanzen willst.«

Er riß den Blick von ihr los und bemerkte ein mit einem Tuch abgedecktes Tablett neben den hohen Türen. Schon der Gedanke an Essen war ihm unangenehm. Die verdammte Nandera sollte niemanden hereinlassen! Und am wenigsten Min. Er hatte ihren Namen nicht erwähnt, hatte aber gesagt niemand! »Min, ich... Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich...«

»Schafhirte, du siehst aus wie durch die Mangel gedreht. Jetzt verstehe ich, warum Alanna so außer sich war, auch wenn ich nicht begreife, woher sie es wußte. Sie hat mich geradezu angefleht, mit dir zu sprechen, nachdem die Töchter des Speers sie ungefähr zum fünften Mal abgewiesen hatten. Nandera hätte sogar mich nicht hineingelassen, wenn sie nicht in Sorge gewesen wäre, weil du nicht ißt, und selbst dann mußte ich noch ein wenig betteln. Du schuldest mir etwas, Bauernjunge.«

Rand zuckte zusammen. Bilder von ihm selbst blitzten in seinem Kopf auf - wie er an ihren Kleidern zerrte und sich Min wie ein geistloses Tier aufzwang. Er schuldete ihr mehr, als er jemals wiedergutmachen konnte. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und zwang sich dann, sich zu ihr umzuwenden. Sie hatte die Füße hochgezogen, so daß sie jetzt im Schneidersitz auf dem Stuhl saß, und hatte die Fäuste auf die Knie gestützt. Wie konnte sie ihn so ruhig ansehen? »Min, es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, würde ich an den Galgen wandern. Wenn ich es könnte, würde ich mir den Strick selbst um den Hals legen. Ich schwöre, daß ich es tun würde.« Die Worte schmeckten bitter. Er war der Wiedergeborene Drache, und sie würde bis zur Letzten Schlacht auf Gerechtigkeit warten müssen. Welch ein Narr er gewesen war, daß er über Tarmon Gai'don hinaus hatte leben wollen. Er verdiente es nicht.

»Wovon sprichst du, Schafhirte?« fragte sie zögernd.

»Ich spreche von dem, was ich dir angetan habe«, stöhnte er. Wie hatte er ausgerechnet ihr das antun können? »Min, ich weiß, wie schwer es für dich ist, mit mir im gleichen Raum zu sein.« Wie konnte er sich so an ihre Weichheit erinnern, an die Seidigkeit ihrer Haut, nachdem er ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte? »Ich hätte niemals geglaubt, daß ich ein Tier wäre, ein Ungeheuer.« Aber er war es. Er verabscheute sich für das, was er getan hatte, und er verabscheute sich noch mehr, weil er es erneut tun wollte. »Die einzige Entschuldigung, die ich vorbringen kann, ist Wahnsinn. Cadsuane hatte recht. Ich habe Stimmen gehört. Lews Therins Stimme, dachte ich. Kannst du...? Nein. Nein, ich habe kein Recht, dich zu bitten, mir zu vergeben. Aber du sollst wissen, wie leid es mir tut, Min.« Es tat ihm leid, doch seine Hände sehnten sich verzweifelt danach, ihren bloßen Rücken hinab zu gleiten und über ihre Hüften. Er war ein Ungeheuer. »Es tut mir schrecklich leid. Das sollst du zumindest wissen.«

Sie saß regungslos da und sah ihn an, als hätte sie niemals zuvor jemanden wie ihn gesehen. Jetzt konnte sie aufhören, etwas vorzugeben. Jetzt konnte sie sagen, wie sie wirklich über ihn dachte, und wie abscheulich auch immer es wäre - es wäre nicht halbwegs ausreichend abscheulich.

»Darum hast du mich also von dir ferngehalten«, sagte sie schließlich. »Hör mir zu, du Einfaltspinsel. Ich hätte mich beinahe zu Tode geheult, weil ich einen Tod zuviel erlebt habe, und du, du hättest beinahe aus demselben Grund das gleiche getan. Was wir getan haben, mein unschuldiges Lamm, war, einander Trost zu spenden. Freunde trösten einander in solchen Zeiten. Mach den Mund zu, du Strohkopf.«

Das tat er, aber nur, um zu schlucken. Er dachte, ihm würden die Augen aus dem Kopf fallen. Er verhaspelte sich fast beim Sprechen. »Min, wenn wir vor dem Frauenzirkel zu Hause das, was wir getan haben, als Trost bezeichneten, würden sie sich darum drängen, uns zu häuten.«

»Zumindest heißt es jetzt ›wir‹ anstatt ›ich‹«, sagte sie grimmig. Sie erhob sich behende und kam auf ihn zu, während sie zornig mit dem Finger auf ihn zeigte. »Hältst du mich für eine Puppe, Bauernjunge? Glaubst du, ich wäre zu dämlich, es dich wissen zu lassen, wenn ich nicht wollte, daß du mich berührst? Glaubst du, ich könnte es dir nicht unmißverständlich klarmachen?« Sie zog einen Dolch unter ihrer Jacke hervor, schwang ihn und steckte ihn zurück, ohne an Schnelligkeit verloren zu haben. »Ich erinnere mich daran, daß ich dir das Hemd vom Leib gerissen habe, weil du es dir nicht schnell genug über den Kopf ziehen konntest, um mir zu folgen. So wenig wollte ich deine Arme um mich spüren! Ich habe mit dir getan, was ich noch niemals mit einem anderen Mann getan habe -und glaube nicht, ich sei niemals in Versuchung gewesen! -, und du sagst, es sei alles deine Schuld! Als wäre ich nicht einmal dabeigewesen!«

Er stieß mit den Waden gegen einen Stuhl und erkannte, daß er vor ihr zurückgewichen war. Sie sah stirnrunzelnd zu ihm hoch und murrte: »Ich glaube nicht, daß es mir gefällt, wie du gerade jetzt auf mich herabblickst.« Sie trat ihn jäh fest vors Schienbein und stemmte beide Hände gegen seine Brust. Er fiel so hart auf den Stuhl, daß dieser fast umkippte. Ihre Locken schwangen, als sie den Kopf zurückwarf und ihre brokatdurchwirkte Jacke richtete.

»Vielleicht war es so, Min, aber...«

»So war es, Schafhirte«, unterbrach sie ihn energisch, »und wenn du wieder etwas anderes behaupten willst, solltest du lieber die Töchter des Speers rufen und die Macht lenken, so gut du es vermagst, weil ich dich dann durch diesen Raum prügeln werde, bis du um Gnade flehst. Und jetzt brauchst du eine Rasur und ein Bad.«

Rand atmete tief ein. Perrin führte eine solch heitere Ehe, mit einer lächelnden, sanften Frau. Warum fühlte er selbst sich stets zu Frauen hingezogen, die ihn vollkommen verwirrten? Wenn er nur über ein Zehntel von Mats Wissen über Frauen verfügte, hätte er gewußt, was er zu alledem sagen sollte, aber so konnte er nur weiter herumdrucksen. »Auf jeden Fall«, sagte er vorsichtig, »kann ich nur eines tun.«

»Und was könnte das sein?« Sie verschränkte die Arme fest unter ihren Brüsten und tippte unheilvoll mit dem Fuß auf, aber er wußte, daß es das richtige war.

»Dich fortschicken.« Genauso wie er Elayne und Aviendha fortgeschickt hatte. »Wenn ich mich nur irgendwie beherrschen könnte, hätte ich nicht...« Ihr Fuß tippte schneller auf. Vielleicht sollte er das lieber lassen. Getröstet? Licht! »Min, jedermann, der sich in meiner Nähe aufhält, ist in Gefahr. Die Verlorenen sind nicht die einzigen, die jedem in meiner Umgebung auf die bloße Möglichkeit hin Schaden zufügen würden, daß es auch mir schaden könnte. Und auch ich bin eine Gefahr. Ich kann meine Stimmungen nicht mehr kontrollieren. Min, ich hätte Perrin beinahe getötet! Cadsuane hatte recht. Ich werde wahnsinnig oder bin es bereits. Ich muß dich fortschicken, damit du in Sicherheit bist.«

»Wer ist diese Cadsuane?« fragte sie so ruhig, daß er zusammenzuckte, als er bemerkte, daß sie noch immer mit dem Fuß auftippte. »Alanna hat diesen Namen betont, als wäre sie die Schwester des Schöpfers. Nein, sage es mir nicht. Es ist mir gleichgültig.« Nicht daß sie ihm auch nur die kleinste Möglichkeit ließ, ihr zu widersprechen. »Auch Perrin kümmert mich nicht. Du würdest mich genauso wenig verletzen wie ihn. Ich glaube, daß dein großer öffentlicher Kampf ein Schwindel war. Mich kümmern deine Stimmungen nicht, und es ist mir auch egal, ob du wahnsinnig bist. Du kannst nicht wahnsinnig sein, sonst würdest du dich nicht so darüber sorgen. Aber mich kümmert...«

Sie beugte sich herab, bis jene sehr großen, sehr dunklen Augen auf gleicher Höhe mit seinen und ganz nah waren, und plötzlich funkelte ein solches Licht darin, daß er Saidin ergriff, bereit, sich zu verteidigen. »Mich fortschicken, damit ich in Sicherheit bin?« grollte sie. »Wie kannst du es wagen? Du hast kein Recht, mich überhaupt irgendwohin zu schicken! Du brauchst mich, Rand al'Thor! Wenn ich dir auch nur von der Hälfte der Visionen erzählen würde, die ich von dir gehabt habe, würden dir die Haare zu Berge stehen! Wage es! Du hast zugelassen, daß sich die Töchter des Speers jedem Risiko gestellt haben, dem sie sich stellen wollten, und du willst mich wie ein Kind fortschicken?«

»Ich liebe die Töchter des Speers nicht.« Tief im unbewegten Nichts treibend, hörte er diese Worte seinem Munde entströmen, und das Entsetzen zerschmetterte die Leere und vertrieb

Saidin.

»Nun«, sagte Min und richtete sich auf. Ein kleines Lächeln verlieh ihren Lippen mehr Schwung. »Es kommt nicht in Frage.« Und sie setzte sich auf seinen Schoß.

Sie hatte gesagt, er würde sie genauso wenig verletzen wie Perrin, aber jetzt mußte es sein. Er mußte es tun, zu ihrem eigenen Besten. »Ich liebe auch Elayne«, sagte er grob. »Und Aviendha. Siehst du, was ich bin?« Aus einem unbestimmten Grund schien sie dies nicht im geringsten zu stören.

»Rhuarc liebt auch mehr als eine Frau«, entgegnete sie. »Wie auch Bael, und ich habe an beiden niemals Trolloc-Hörner bemerkt. Nein, Rand, du liebst mich, und du kannst dich dem nicht widersetzen. Ich sollte dich nach allem, was du mich hast durchmachen lassen, eigentlich auf die Folter spannen, aber... Nur damit du es weißt, ich liebe dich auch.« Das Lächeln wich bei ihrem inneren Kampf einem Stirnrunzeln, und schließlich seufzte sie. »Das Leben wäre manchmal erheblich leichter, wenn meine Tanten mich nicht zur Aufrichtigkeit erzogen hätten«, murrte sie. »Und um aufrichtig zu sein, Rand, muß ich dir sagen, daß Elayne dich auch liebt. Und Aviendha ebenso. Wenn beide Frauen Mandelains ihn lieben können, dann mag es vermutlich auch drei Frauen gelingen, dich zu lieben. Aber ich bin hier, und wenn du versuchst, mich fortzuschicken, werde ich mich dir ans Bein binden.« Sie rümpfte die Nase. »Wenn du gebadet hast jedenfalls. Aber ich werde nicht gehen, egal was geschieht.«

In seinem Kopf drehte sich alles. »Du ... liebst mich?« fragte er ungläubig. »Und woher weißt du, was Elayne empfindet? Woher weißt du etwas über Aviendha? Licht! Mandelain kann tun, was er will, Min. Ich bin kein Aiel.« Er runzelte die Stirn. »Was hast du damit gemeint, daß du mir nicht einmal die Hälfte von dem erzählst, was du siehst? Ich dachte, du erzählst mir alles. Ich muß dich in Sicherheit bringen. Und hör auf, die Nase zu rümpfen! Ich rieche nicht!« Er zog ruckartig die Hand unter seiner Jacke hervor, mit der er sich gekratzt hatte.

Ihre gewölbten Augenbrauen sprachen Bände, aber sie mußte ihre Gedanken dennoch aussprechen. »Du wagst es, diesen Ton anzuschlagen? Als würdest du es nicht glauben?« Ihre Stimme wurde plötzlich mit jedem Wort lauter, und sie bohrte ihm drohend einen Finger in die Brust. »Glaubst du, ich würde mit einem Mann schlafen, den ich nicht liebe? Glaubst du das? Oder denkst du vielleicht, du wärst es nicht wert, geliebt zu werden? Ist es das?« Sie gab einen Laut von sich wie eine gequälte Katze. »Also bin ich ein Betthäschen ohne Hirn im Kopf, weil ich mich in einen wertlosen Rüpel verliebt habe? Du sitzt da, stierst wie ein kranker Ochse vor dich hin und verleumdest meinen Verstand, meinen Geschmack, meine... «

»Wenn du dich nicht beruhigst und vernünftig redest«, grollte er, »dann schwöre ich, daß ich dir den Hintern versohlen werde!« Die Worte drangen aus dem Nichts hervor, aus schlaflosen Nächten und Verwirrung, aber bevor er auch nur eine Entschuldigung ersinnen konnte, lächelte sie. Die Frau lächelte!

»Zumindest schmollst du nicht mehr«, sagte sie. »Jammere niemals, Rand, denn du bist nicht gut darin. Nun denn. Du willst Vernünftiges hören? Ich liebe dich, und ich werde nicht gehen. Wenn du mich fortschickst, werde ich den Töchtern des Speers erzählen, du hättest mich zugrunde gerichtet und beiseite geschoben. Ich werde es jedermann erzählen, der zuhören wird. Ich werde...«

Er hob seine rechte Hand, betrachtete die Handfläche mit dem eingebrannten Reiher und sah dann Min an. Sie blickte argwöhnisch ebenfalls auf seine Hand, regte sich auf seinen Knien und ignorierte dann deutlich sichtbar alles andere außer seinem Gesicht.

»Ich werde nicht gehen, Rand«, sagte sie ruhig. »Du brauchst mich.«

»Wie machst du das?« seufzte er und sank auf dem Stuhl zurück. »Selbst wenn du mir den Kopf zurechtrückst, läßt du noch alle meine Sorgen schwinden.«

Min rümpfte die Nase. »Man sollte dir häufiger den Kopf zurechtrücken. Erzähle von dieser Aviendha. Es besteht vermutlich keine Hoffnung, daß sie knochendürr und narbig wie Nandera ist.«

Er lachte wider Willen. Licht, wie lange hatte er nicht mehr vor Vergnügen gelacht? »Min, ich würde sagen, sie ist genauso hübsch wie du, aber wie kann man zwei Sonnenaufgänge vergleichen?«

Sie sah ihn einen Moment mit leisem Lächeln an, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie überrascht oder erfreut sein sollte. »Du bist ein sehr gefährlicher Mann, Rand al'Thor«, murmelte sie und beugte sich langsam vor. Er glaubte in ihren Augen zu versinken und verloren zu sein. All die Male zuvor, wenn sie auf seinem Schoß gesessen und ihn geküßt hatte, all die Male hatte er geglaubt, sie necke nur einen Bauernjungen, während er fast aus der Haut gefahren wäre, weil er sie ständig küssen wollte. Nun, wenn sie ihn jetzt erneut küßte...

Er ergriff sie fest an den Armen, erhob sich und stellte sie auf die Füße. Er liebte sie, und sie liebte ihn, aber er mußte daran denken, daß er auch Elayne ständig küssen wollte, wenn er an sie dachte, und Aviendha ebenfalls. Was immer Min über Rhuarc oder jeden anderen Aiel sagte, war sie doch an dem Tag, an dem sie sich in ihn verliebt hatte, schlecht beraten gewesen. »Du hast mir nicht einmal die Hälfte erzählt, Min«, sagte er ruhig. »Welche Visionen hast du mir vorenthalten?«

Sie sah zu ihm hoch, und Enttäuschung spiegelte sich auf ihrem Gesicht, aber das konnte nicht sein. »Du liebst den Wiedergeborenen Drachen, Min Farshaw«, murrte sie, »und solltest stets daran denken. Und du besser auch, Rand«, fügte sie hinzu und entzog sich ihm. Er ließ sie widerwillig und auch erleichtert los. Er wußte nicht, was von beidem eher zutraf. »Du bist schon eine halbe Woche wieder in Cairhien und hast noch immer nichts wegen des Meervolks unternommen. Berelain dachte, du könntest dich vielleicht dazu aufraffen. Sie hat mir einen Brief hinterlassen, in dem sie mich bittet, dich immer wieder daran zu erinnern, aber du hast es nicht zugelassen. Nun, es macht nichts. Berelain glaubt, das Meervolk wäre irgendwie wichtig für dich. Sie sagt, du seist die Erfüllung irgendeiner ihrer Prophezeiungen.«

»Ich weiß alles darüber, Min. Ich...« Er hatte erwogen, sich nicht auf das Meervolk einzulassen. Es wurde in den Prophezeiungen des Drachen, die er finden konnte, nicht erwähnt. Aber wenn er Min in seiner Nähe bleiben ließ, sie die Gefahren auf sich nehmen ließ... Er erkannte, daß sie gewonnen hatte. Er hatte Elayne mit bangem Herzen und Aviendha mit verkrampftem Magen fortgehen sehen. Er konnte es nicht noch einmal ertragen. Min stand abwartend da. »Ich werde sie noch heute auf ihrem Schiff aufsuchen. Das Meervolk soll vor dem Wiedergeborenen Drachen in all seinem Glanz niederknien. Vermutlich bestand niemals Hoffnung auf etwas anderes. Entweder gehören sie zu meinen Leuten, oder sie sind meine Feinde. So ist es anscheinend immer. Wirst du mir jetzt von deinen Visionen erzählen?«

»Rand, du solltest um ihre Eigenheiten wissen, bevor du...«

»Die Visionen?«

Sie verschränkte die Arme und blickte stirnrunzelnd zu ihm hoch. Sie schüttelte den Kopf und murrte leise etwas. Schließlich sagte sie: »In Wirklichkeit gibt es nur eine Vision. Ich habe übertrieben. Ich sah dich und einen anderen Mann. Ich konnte eure beiden Gesichter nicht erkennen, aber ich wußte, daß du einer der Männer warst. Ihr berührtet euch und schient ineinander zu verschmelzen und...« Sie preßte besorgt die Lippen zusammen und fuhr dann sehr bedrückt fort. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, Rand, nur daß einer von euch stirbt und einer überlebt. Ich... Warum grinst du? Das ist kein Scherz, Rand. Ich weiß nicht, wer von euch stirbt.«

»Ich grinse, weil du mir damit sehr gute Nachrichten überbracht hast«, sagte er und berührte ihre Wange. Der andere Mann mußte Lews Therin sein. Ich bin nicht einfach wahnsinnig und höre Stimmen, dachte er frohlockend. Einer lebte und einer starb, aber er hatte schon lange gewußt, daß er sterben würde. Zumindest war er nicht wahnsinnig. Oder bei weitem nicht so wahnsinnig, wie er befürchtet hatte, obwohl er seine Launen noch immer kaum beherrschen konnte. »Verstehst du, ich...«

Plötzlich erkannte er, daß er ihr Gesicht nicht mehr nur berührte, sondern es mit beiden Händen umfaßte. Er ließ sie los, als hätte er sich verbrannt. Min schürzte die Lippen und sah ihn tadelnd an, aber er würde sie nicht zu seinem Vorteil benutzen. Es wäre ihr gegenüber ungerecht. Glücklicherweise begann sein Magen laut zu knurren.

»Ich muß etwas essen, wenn ich das Meervolk aufsuchen soll. Ich habe ein Tablett gesehen...«

Min schnaubte, als er sich abwandte, aber im nächsten Moment eilte sie auf die hohen Türen zu. »Du brauchst ein Bad, wenn wir das Meervolk aufsuchen.«

Nandera freute sich über die Wendung, nickte begeistert und verteilte Aufträge an die Töchter des Speers. Sie beugte sich nahe zu Min und sagte: »Ich hätte Euch schon am ersten Tag zu ihm lassen sollen. Ich wollte ihn am liebsten treten, aber den Car'a'carn darf man nicht treten.« Ihrem Tonfall nach hätte man es dennoch tun sollen. Sie sprach leise, aber doch nicht so leise, daß er sie nicht hören konnte. Er war sich sicher, daß dies wohlüberlegt geschah. Sie sah ihn zu scharf an, als daß es anders sein konnte.

Töchter des Speers schleppten eigenhändig die große Kupferwanne herein, verständigten sich in der Zeichensprache, sobald sie abgestellt war, lachend und zu aufgeregt, um die Palastdiener ihre Arbeit tun oder sie auch nur den beständigen Strom von Eimern mit heißem Wasser hereinbringen zu lassen. Rand hatte Mühe, sich seiner Kleidung selbst zu entledigen. Und er hatte Mühe, sich selbst waschen zu dürfen, und konnte auch der sein Haar einschäumenden Nandera nicht entkommen. Die flachshaarige Somera und die rothaarige Enaila bestanden darauf, ihn zu rasieren, als er brusttief in der Wanne saß, und konzentrierten sich dabei so sehr, als befürchteten sie, ihm die Kehle durchzuschneiden. Er war von anderen Gelegenheiten daran gewöhnt, als man es ihm verweigert hatte, Bürste oder Rasierklinge selbst handzuhaben. Er war daran gewöhnt, daß Töchter des Speers ihn umstanden und ihm beim Baden zusahen, ihm anboten, ihm Rücken oder Füße zu schrubben, wobei sie sich in der Zeichensprache lautlos verständigten, und stets verwundert über einen Menschen waren, der im Wasser saß. Es gelang ihm dann meist, zumindest einige loszuwerden, indem er sie mit Aufträgen fortschickte.

Aber er war nicht an Min gewöhnt die im Schneidersitz auf dem Bett saß, das Kinn auf die Hände gestützt, und das Ganze offensichtlich fasziniert beobachtete. Er hatte sie in der Menge der Töchter des Speers erst bemerkt, als er schon nackt war, und dann konnte er sich nur noch so schnell wie möglich hinsetzen, wobei das Wasser über die Seiten der Wanne hinweg schwappte. Die Frau wäre selbst eine sehr gute Tochter des Speers gewesen. Sie sprach mit den Töchtern des Speers recht offen über ihn - ohne auch nur zu erröten! Tatsächlich war er derjenige, der errötete.

»Ja, er ist sehr bescheiden«, sagte sie und stimmte darin mit Malindare überein, einer Frau, die rundlicher war als die meisten anderen Töchter des Speers, mit dem dunkelsten Haar, das Rand jemals bei einer Aiel gesehen hatte. »Bescheidenheit ziert einen Mann.« Malindare nickte ernst, aber Min grinste breit.

Und dann kam: »O nein, Domeille. Es wäre eine Schande, solch ein hübsches Gesicht durch eine Narbe zu verschandeln.« Domeille, die grauer und hagerer als Nandera war, beharrte mit vorgerecktem Kinn darauf, daß eine Narbe seine Schönheit nicht verschandeln könnte. Ihre Worte. Der Rest war schlimmer. Die Töchter des Speers hatten schon immer Spaß daran gehabt, ihn zum Erröten zu bringen. Für Min galt das sicherlich ebenfalls.

»Früher oder später mußt du dich abtrocknen, Rand«, sagte sie und hielt mit beiden Händen ein großes weißes Handtuch hoch. Sie stand gute drei Schritt von der Wanne entfernt, und die Töchter des Speers waren kreisförmig zurückgewichen und beobachteten sie. Min lächelte so unschuldig, daß jeder Richter sie allein schon deshalb für schuldig befunden hätte. »Komm und trockne dich ab, Rand.«

Er war noch niemals in seinem Leben so erleichtert gewesen, sich anziehen zu können.

Inzwischen waren seine Befehle ausgeführt worden, und alles war vorbereitet. Rand al'Thor war vielleicht in einer Badewanne herumkommandiert worden, aber der Wiedergeborene Drache würde dem Meervolk in einer Weise gegenübertreten, daß sie vor Ehrfurcht auf die Knie sinken würden.

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