37 Eine Nachricht vom Palast

Der Tag nach dem Vogelfest dämmerte mit starken Winden vom Meer der Stürme herauf, welche die Hitze in Ebou Dar tatsächlich durchbrachen. Ein wolkenloser Himmel und die rotgoldene Sonne am Horizont versprachen jedoch neuerliche Hitze, wenn der Wind sich legen würde. Mat eilte durch den Tarasin-Palast hinab, seine grüne Jacke geöffnet und das Hemd vorahnungsvoll nur halbwegs geschlossen. Er zuckte zwar nicht bei jedem Laut zusammen, aber er erschrak mit erheblich stärker geweiteten Augen, als ihm lieb war, wann immer eine der Dienerinnen vorüberging, ihre Röcke rascheln ließ und ihn anlächelte. Jede einzelne von ihnen lächelte auf eine besondere ... wissende ... Art. Es kostete ihn Mühe, nicht zu laufen. Schließlich verlangsamte er seine Schritte und betrat vorsichtig, fast auf Zehenspitzen, den schattigen Gang, der den Stallhof umsäumte. Zwischen den kannelierten Säulen des Ganges hingen gelbliche, lange schlanke Pflanzen aus großen roten Tontöpfen und Weinranken mit großen, rotgestreiften Blättern aus Metallkörben an Ketten herab, die einen dünnen Schirm bildeten. Er zog sich seinen Hut unbewußt tiefer ins Gesicht. Dann strich er mit den Händen über seinen Speer - ein Ashandarei, hatte Birgitte ihn genannt - und betastete gedankenlos das Heft, als müsse er sich vielleicht verteidigen. Die Würfel in seinem Kopf rollten wild umher, aber sie hatten nichts mit seinem Unbehagen zu tun. Die Quelle dessen war Tylin.

Sechs geschlossene Kutschen mit dem auf die Türen gemalten grünen Anker und Schwert des Hauses Mitsobar warteten bereits vor den hohen Außentoren, die Pferde eingespannt und die livrierten Diener aufgestiegen. Auf ihrer anderen Seite konnte er Nalesean in einer gelb gestreiften Jacke gähnen sehen, und Vanin saß nicht weit von den Stalltüren entfernt zusammengesunken auf einem umgedrehten Faß und schlief anscheinend. Die meisten der übrigen Rotwaffen hockten geduldig auf dem gepflasterten Hof. Einige würfelten im Schatten der gewaltigen weißen Ställe. Elayne stand zwischen Mat und den Kutschen, genau auf der anderen Seite des Schirms aus Pflanzen. Reanne Corly war bei ihr, und sieben weitere der Frauen, die an diesem seltsamen Treffen teilgenommen hatten, in das Mat am Vorabend hineingeplatzt war, befanden sich ganz in der Nähe. Reanne trug als einzige den roten Gürtel einer Weisen Frau. Er hatte halbwegs erwartet, daß sie heute morgen nicht erscheinen würden. Sie besaßen die Züge von Frauen, die es gewohnt waren, ihr eigenes Leben und das Leben anderer zu beherrschen, und die meisten hatten zumindest ein wenig Grau im Haar, und doch beobachteten sie Elayne mit dem frischen Gesicht in erwartungsvoller Haltung, anscheinend auf Zehenspitzen, als seien sie bereit, auf ihren Befehl hin zu springen. Sie alle zogen jedoch nicht einmal die Hälfte von Mats Aufmerksamkeit auf sich. Keine von ihnen war die Frau, bei der er am liebsten aus der Haut gefahren wäre. Tylin bewirkte, daß er sich fühlte wie ... nun ... ›hilflos‹ war das einzige Wort, das anscheinend paßte, wie lächerlich es auch schien.

»Wir brauchen sie nicht, Herrin Corly«, sagte Elayne. Die Tochter-Erbin klang wie eine Frau, die einem Kind den Kopf tätschelte. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen hierbleiben, bis wir zurückkehren. Wir werden weniger Aufmerksamkeit erregen, besonders bei der Überquerung des Flusses, wenn keine der älteren Aes Sedai dabei ist.« Ihre Vorstellung davon, was man beim Besuch des verrufensten Teils der Stadt tragen sollte, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zeigte sich in einem breiten grünen Hut mit grün gefärbten Federn, einem leichtem Staubmantel aus grünem Leinen mit den Rücken hinab verlaufenden, eingearbeiteten goldenen Schnörkeln und einem hochgeschlossenen grünen Seidenreitgewand mit goldener Stickerei auf den geteilten Röcken und um den ovalen Ausschnitt, der die Hälfte ihres Busens freigab. Sie trug sogar eine jener Halsketten für einen Hochzeitsdolch. Das breite Band aus geflochtenem Gold würde die Hand jedes Diebes im Rahad zucken lassen. Außer einem kleinen Gürtelmesser hatte sie keine Waffe bei sich. Aber welche Waffe brauchte eine Frau auch, welche die Macht lenken konnte? Natürlich steckte in jedem jener roten Gürtel ein gebogener Dolch. Wie auch in Reannes Gürtel aus schlicht gearbeitetem Leder.

Reanne nahm ihren großen blauen Strohhut ab, betrachtete ihn stirnrunzelnd, setzte ihn dann wieder auf und band ihn erneut zu. Anscheinend störte sie Elaynes Tonfall nicht. Sie setzte ein zaghaftes Lächeln auf und fragte in schüchternem Tortfall: »Aber warum glaubt Merilille Sedai, daß wir lügen, Elayne Sedai?«

»Sie tun es alle«, erwiderte eine der Rotgürtel atemlos. Sie alle trugen Ebou Dari-Gewänder in gedeckten Farben mit schmalen, riefen Ausschnitten und an einer Seite hochgenähten Röcken, die mehrere Unterröcke freigaben, aber nur diese hagere Frau mit mehr Weiß als Schwarz in ihrem langen Haar hatte die olivfarbene Haut und die dunklen Augen einer Ebou Dari. »Sareitha Sedai hat mir ins Gesicht gesagt, ich sei eine Lügnerin, was unsere Anzahl betrifft und unsere... «

Sie brach ab, als Reanne die Stirn runzelte und sagte: »Seid still, Tamarla.« Herrin Corly würde vielleicht bereitwillig einen Hofknicks vollführen und ein Kind einfältig anlächeln, wenn das Kind eine Aes Sedai war, aber ihre Begleiterinnen hatte sie fest im Griff.

Mat blickte stirnrunzelnd zu den Fenstern im Hof hinauf, die er von seinem Standort aus sehen konnte. Einige wurden von kunstvoll gearbeiteten, weißen, schmiedeeisernen Sichtschutzen verdeckt, andere von weißen Holzschirmen mit kunstvoll geschnitztem Lochmuster. Tylin war vermutlich nicht dort oben, und sie würde wahrscheinlich auch nicht im Stallhof auftauchen. Er hatte sich sehr leise angezogen, um sie nicht aufzuwecken. Außerdem würde sie hier nichts versuchen. Zumindest glaubte er nicht, daß sie es tun würde. Andererseits - würde die Frau, die ihn gestern abend in den Gängen von einem halben Dutzend Dienerinnen ergreifen und in ihre Räume zerren ließ, vor irgend etwas zurückschrecken? Die verdammte Frau behandelte ihn wie ein Spielzeug! Er würde sich das nicht mehr gefallen lassen. Er würde es nicht tun. Licht, wen wollte er zum Narren halten? Wenn sie nicht diese Schale der Winde fanden und Ebou Dar verließen, würde Tylin ihn heute abend erneut in den Hintern zwicken und ihn ihre kleine Taube nennen.

»Es liegt an Eurem Alter, Reanne.« Elayne klang eigentlich nicht zögernd - das tat sie niemals -, aber sie äußerte sich sehr vorsichtig. »Aes Sedai empfinden es als unhöflich, vom Alter zu sprechen, aber... Reanne, offensichtlich hat keine Aes Sedai solange gelebt, wie Ihr im Frauenzirkel behauptet.« Das war der seltsame Name, den diese Schwesternschaft ihrem herrschenden Konzil gegeben hatte. »In Eurem Fall seit über hundert Jahren nicht.« Die Rotgürtel keuchten, und ihre Augen weiteten sich. Eine schlanke Frau mit braunen Augen und honigfarbenem Haar kicherte nervös und bedeckte auf Reannes Peitschenhieb hin - ein rasches »Famelle!« - sofort den Mund.

»Das kann nicht sein«, sagte Reanne schwach zu Elayne. »Sicherlich müssen Aes Sedai...«

»Guten Morgen«, sagte Mat und trat - um dem Schirm aus Pflanzen herum. Die ganze Diskussion war idiotisch. Jedermann wußte, daß Aes Sedai länger lebten als jeder andere. Anstatt Zeit zu verschwenden, sollten sie bereits zum Rahad unterwegs sein. »Wo sind Thom und Juilin? Und Nynaeve?« Sie mußte gestern abend zurückgekommen sein, sonst wäre Elayne in Aufruhr gewesen. »Blut und Asche, ich sehe auch Birgitte nicht. Wir sollten schon längst unterwegs sein, Elayne, und nicht hier herumstehen. Kommt Aviendha auch mit?«

Sie sah mit leichtem Stirnrunzeln zunächst ihn, danach ein wenig unsicher Reanne an, und er erkannte, daß sie gerade überlegte, welche Darstellung sie ihm liefern wollte. Die großäugige Unschuld könnte ihr schaden, da sie mit diesen Frauen genauso stand, wie sie mit ihm stehen würde, wenn sie ihm ihr Grübchenlächeln gönnte. Elayne erwartete stets, daß dieses Grübchen wirkte, wenn alles andere fehlschlug. Sie reckte leicht das Kinn. »Thom und Juilin beobachten mit Aviendha und Birgitte Carridins Palast. Und Nynaeve wird gewiß gleich herunterkommen. Es gibt keinen Grund dafür, daß Ihr mitkommen müßtet, Mat. Nalesean und Eure Soldaten bilden eine mehr als angemessene Leibwache. Ihr könnt Euch hier im Palast vergnügen, bis wir zurückkommen.«

»Carridin!« brüllte er. »Elayne, wir sind nicht in Ebou Dar, um die Angelegenheit mit Jaichim Carridin zu regeln. Wir holen die Schale, dann bildet Ihr und Nynaeve ein Wegetor, und wir verschwinden. Ist das klar? Und ich begleite Euch zum Rahad.« Sich amüsieren! Nur das Lacht wußte, was Tylin sich einfallen lassen würde, wenn er den ganzen Tag im Palast bliebe. Allein der Gedanke daran erweckte in ihm den Wunsch, hysterisch zu lachen.

Eisige Blicke der Weisen Frauen durchbohrten ihn. Die stämmige Sumeko schürzte verärgert die Lippen, und Melore, eine rundliche Domani in mittlerem Alter, deren Busen zu beäugen er gestern das Vergnügen hatte, stemmte mit finsterer Miene die Fäuste in die Hüften. Sie hatten von gestern noch wissen sollen, daß Aes Sedai ihn nicht einschüchtern konnten, und doch sah sogar Reanne ihn dermaßen stirnrunzelnd an, daß er halbwegs glaubte, sie würde ihn vielleicht zu ohrfeigen versuchen. Wenn sie sich in der Nähe von Aes Sedai alle miteinander entzweiten, dann mußten das offensichtlich auch alle anderen tun.

Elayne kämpfte sichtlich mit sich. Sie preßte die Lippen zusammen, aber eines mußte er ihr zugestehen: Sie war zu klug, um mit dem fortzufahren, was anscheinend nicht funktionierte. Andererseits war sie äußerst hochnäsig, auch wenn sie sich bemühte, es nicht zu sein. Die anderen Frauen beobachteten sie. »Mat, Ihr wißt, daß wir Ebou Dar nicht verlassen können, bevor wir die Schale nicht geprüft haben.« Das hochmütige Kinn blieb gereckt, und ihr Tonfall war bestenfalls gönnerhaft. »Es dauert vielleicht Tage, bis wir sicher sind, wie wir sie benutzen können, vielleicht sogar eine halbe Woche oder länger, und in der Zeit könnten wir, wenn möglich, genausogut noch mit Carridin zu einem Ende kommen.« Eine solche Anpassung trat bei der Nennung des Namens des Weißmantels in ihre Stimme, daß man hätte denken können, sie hege einen persönlichen Groll gegen den Mann, aber etwas anderes drang hervor und umklammerte fest Mats Gedanken.

»Eine halbe Woche!« Er fühlte sich beengt, schob einen Finger hinter den um seinen Hals geknoteten Schal und zog daran, um ihn zu lockern. Tylin hatte dieses Stück schwarze Seide letzte Nacht benutzt, um ihm die Hände zu fesseln, bevor er erkannte, was sie tat. Eine halbe Woche. Oder länger! Seine Stimme wurde wider Willen ein wenig hektisch. »Elayne, Ihr könnt die Schale gewiß überall benutzen. Es muß nicht hier geschehen. Egwene ist sicher daran gelegen, daß Ihr so bald wie möglich zurückkommt. Sie kann eine oder zwei Freundinnen bestimmt brauchen.« Nach dem zu urteilen, was er zuletzt gesehen hatte, konnte sie einige hundert Freundinnen brauchen. Vielleicht würde Egwene, wenn er diese Frauen erst zurückgebracht hätte, bereit sein, den Unsinn mit der Amyrlin aufzugeben und zulassen, daß er sie zusammen mit Elayne und Nynaeve und Aviendha zu Rand brachte. »Und was ist mit Rand, Elayne? Caemlyn. Der Löwenthron. Blut und Asche, Ihr wißt, daß Ihr Caemlyn so bald wie möglich erreichen solltet, damit Rand Euch den Löwenthron übergeben kann.« Ihre Miene wurde aus einem unbestimmten Grund düsterer, und ihre Augen blitzten. Er hätte behauptet, sie sei empört, nur daß sie natürlich keinen Grund dazu hatte.

Sie öffnete verärgert den Mund, um mit ihm zu streiten, sobald er geendet hätte, und er beruhigte sich, bereit, ihre Versprechungen aufzuzählen. In den Krater des Verderbens mit dem, was das in den Augen Reannes und der übrigen für sie anrichtete. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, hätten sie ihn an ihrer Stelle bereits kurz abgefertigt.

Bevor jedoch jemand etwas sagen konnte, vollführte eine rundliche, bereits ergrauende Frau in der Livree des Hauses Mitsobar einen Hofknicks, erst vor Elayne, dann vor den Frauen mit den roten Gürteln und zuletzt vor ihm. »Königin Tylin schickt dies, Meister Cauthon«, sagte Laren und hielt ihm einen mit einem gestreiften Tuch abgedeckten und mit kleinen roten Blumen um den Henkel geschmückten Korb hin. »Ihr habt nicht gefrühstückt, und Ihr müßt Eure Kräfte bewahren.«

Mat errötete. Die Frau sah ihn nur an, aber sie hatte bereits erheblich mehr von ihm gesehen, als sie ihn das erste Mal in Tylins Gegenwart erblickte. Erheblich mehr. Sie hatte gestern abend das Abendessen gebracht, während er sich unter dem seidenen Bettlaken zu verbergen versuchte. Er verstand es nicht. Diese Frauen ließen ihn ständig zusammenfahren und wie ein Mädchen erröten. Er konnte es einfach nicht verstehen.

»Seid Ihr sicher, daß Ihr nicht lieber hierbleiben würdet?« fragte Elayne. »Tylin würde Eure Gesellschaft beim Frühstück gewiß genießen.

Die Königin sagte, sie fände Euch wunderbar unterhaltsam und liebenswürdig willfährig«, fügte sie in zweifelndem Tonfall hinzu.

Mat floh mit dem Korb in einer Hand und seinem Ashandarei in der anderen zu den Kutschen.

»Sind alle nordischen Männer so schüchtern?« fragte Laren.

Er riskierte einen Blick über die Schulter, ohne aber stehenzubleiben, und seufzte dann erleichtert. Die Dienerin raffte bereits ihre Röcke und wandte sich zu dem Pflanzenschirm um, während Elayne die Weisen Frauen und Reanne in einem dichten Kreis um sich versammelte. Dennoch erschauderte er. Frauen würden noch einmal sein Tod sein.

Er umrundete die nächststehende Kutsche und ließ fast den Korb fallen, als er Beslan auf der Kutschentreppe sitzen sah. Das Sonnenlicht auf der schmalen Klinge seines Schwertes glitzerte, während er die Schneide prüfte. »Was tust du hier?« rief Mat aus.

Beslan ließ das Schwert in die Scheide gleiten und grinste breit. »Ich komme mit Euch in den Rahad. Dort haben wir vermutlich noch mehr Spaß.«

»Es sollte besser kurzweilig sein«, gähnte Nalesean hinter vorgehaltener Hand. »Ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen, und jetzt zerrt Ihr mich fort, obwohl Meervolkfrauen in der Nähe sind.« Vanin richtete sich auf seinem Faß auf, sah sich um, bemerkte keinerlei Bewegung und lehnte sich mit geschlossenen Augen wieder zurück.

»Es wird keinen Spaß geben, wenn ich es verhindern kann«, murrte Mat. Nalesean hatte nicht viel geschlafen? Ha! Sie alle waren während des Festes ausgegangen und hatten sich amüsiert Nicht daß er sich nicht auch amüsiert hätte, aber nur, wenn er vergessen konnte, daß er mit einer Frau zusammen war, die ihn für eine verdammte Puppe hielt. »Welche Meervolkfrauen?«

»Als Nynaeve Sedai letzte Nacht zurückkam, brachte sie ein Dutzend oder mehr von ihnen mit.« Beslan stieß den Atem aus und machte mit den Händen wiegende Bewegungen. »Wie sie sich bewegen, Mat...«

Mat schüttelte den Kopf. Er konnte nicht klar denken. Tylin raubte ihm den Verstand. Nynaeve und Elayne hatten ihm von den Windsucherinnen erzählt, widerwillig und in verschwörerischem Tonfall, nachdem sie ihm zunächst nicht sagen wollten, wo Nynaeve hingehen wollte, und noch viel mehr warum. »Frauen halten Versprechen stets auf ihre eigene Art«, hieß ein Sprichwort. Wenn er darüber nachdachte, waren Lawtin und Belvyn nicht bei den übrigen Rotwaffen gewesen. Vielleicht wollte Nynaeve etwas wiedergutmachen, indem sie sie jetzt bei sich behielt.

»Auf ihre eigene Art.« Aber wenn sie die Windsucherinnen bereits in den Palast gebracht hatte, würde es sicherlich keine halbe Woche dauern, die Schale zu benutzen. Licht, bitte nicht!

Als hätten seine Gedanken sie herbeigerufen, schritt Nynaeve durch den Pflanzenschirm in den Hof. Mats Kinn sank herab. Der große Mann in einer dunkelgrünen Jacke an ihrem Arm war Lan! Oder genauer gesagt ging sie an seinem Arm, klammerte sich mit beiden Händen daran und schaute lächelnd zu ihm auf. Bei jeder anderen Frau hätte Mat behauptet, es sei ein erstaunter und träumerischer Blick, aber hier ging es um Nynaeve.

Sie zuckte zusammen, als sie erkannte, wo sie sich befand, trat hastig einen Schritt zur Seite, hielt sich aber noch einen Moment an Lans Hand fest. Sie hatte ihre Kleidung nicht besser erwählt als Elayne, ganz in blauer Seide mit grüner Stickerei, ausreichend tief ausgeschnitten, um einen schweren Goldring freizugeben, der bequem über ihre beiden Daumen gepaßt hatte und an einer dünnen Goldkette in ihrem Dekollete hing. Der breite Hut, den sie an den Bändern hielt, war mit blauen Federn geschmückt, und ihr Staubmantel war aus grünem Leinen mit blauer Stickerei. Nynaeve und Elayne ließen die anderen Frauen in ihrer Tuchkleidung vergleichsweise fade erscheinen.

Auf jeden Fall war Nynaeve, auch wenn sie eben noch große Augen gemacht hatte, jetzt wieder ganz sie selbst, während sie sich an ihrem Zopf zu schaffen machte. »Schließ dich jetzt den anderen Männern an, Lan«, sagte sie gebieterisch, »dann können wir gehen. Die letzten vier Kutschen sind für die Männer bestimmt.«

»Wie du meinst«, erwiderte Lan und verbeugte sich mit einer Hand auf dem Schwertheft.

Sie beobachtete mit verwundertem Gesichtsausdruck, wie er auf Mat zuschritt - wahrscheinlich konnte sie nicht glauben, daß er so sanftmütig gehorchte -, schüttelte sich dann und gewann ihr sprödes Selbst zurück. Sie versammelte Elayne und die anderen Frauen und drängte sie wie eine Gänsehirtin auf die ersten beiden Kutschen zu. So wie sie jemanden anschrie, er solle die Hoftore öffnen, hatte niemand vermutet, daß sie den Aufbruch verzögert hatte. Sie schrie auch die Kutscher an und veranlaßte sie damit, die Zügel hochzureißen und ihre langen Peitschen zu schwingen. Es war ein Wunder, daß sie noch warteten, bis jedermann eingestiegen war.

Mat kletterte hinter Lan und Nalesean und Beslan unbeholfen in die dritte Kutsche, lehnte seinen Speer quer vor die Tür und setzte sich mit dem Korb auf dem Schoß unsanft hin, als die Kutsche schwankend losfuhr. »Wo seid Ihr hergekommen, Lan?« platzte er heraus, sobald die Vorstellungen beendet waren. »Euch hätte ich als letzten hier erwartet. Wo wart Ihr? Licht, ich dachte, Ihr wärt tot. Ich weiß, daß Rand das auch befürchtet. Und Euch von Nynaeve herumkommandieren zu lassen. Warum, im Licht, tut Ihr das?«

Der Behüter mit dem starren Gesicht schien zu überlegen, welche Frage er zuerst beantworten sollte. »Nynaeve und ich wurden gestern abend von der Herrin der Schiffe getraut«, sagte er schließlich. »Die Atha'an Miere haben mehrere ... unübliche ... Hochzeitsbräuche. Sie waren für uns beide Überraschungen.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, wenn es auch nichts sonst mit einbezog. Er zuckte kaum merklich die Achseln. Anscheinend wollte er keine weiteren Antworten geben.

»Das Licht segne Euch und Eure Frau«, murmelte Beslan höflich und mit einer der Beengtheit der Kutsche angemessenen Verbeugung, und Nalesean murmelte etwas, obwohl seine Miene eindeutig vermittelte, daß er Lan für verrückt hielt. Nalesean hatte Nynaeves Gesellschaft oft genug genossen.

Mat saß nur da, paßte sich jedem Schwanken der Kutsche an und starrte vor sich hin. Nynaeve war verheiratet? Lan war mit Nynaeve verheiratet? Der Mann war verrückt. Kein Wunder, daß seine Augen so trübe wirkten. Nur ein Narr heiratete, und nur ein Wahnsinniger würde Nynaeve heiraten.

Wenn Lan bemerkte, daß nicht alle überglücklich waren, zeigte er es nicht. Bis auf seine Augen wirkte er nicht anders, als Mat ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht noch ein wenig härter, wenn das möglich war. »Aber etwas anderes ist noch wichtiger«, sagte Lan. »Nynaeve möchte nicht, daß Ihr es erfahrt, Mat, aber Ihr müßt es wissen. Eure beiden Männer sind tot, von Moghedien getötet. Es tut mir leid, aber wenn es einen Trost für Euch bedeutet - sie waren wahrhaftig tot, bevor sie Schmerzen litten. Nynaeve glaubt, Moghedien müsse fort sein, sonst hätte sie es erneut versucht, aber ich bin mir dessen nicht so sicher. Anscheinend hegt sie eine persönliche Feindschaft gegen Nynaeve, obwohl es Nynaeve gelungen ist, mir den Grund dafür nicht zu verraten.« Erneut dieses Lächeln. Lan schien sich dessen nicht bewußt zu sein. »Zumindest nicht alles, und es spielt auch keine Rolle. Ihr solltet jedoch wissen, was uns vielleicht jenseits des Flusses bevorsteht.«

»Moghedien«, keuchte Beslan mit glänzenden Augen. Der Mann sah wahrscheinlich Spaß voraus.

»Moghedien«, keuchte auch Nalesean, aber in seinem Fall war es eher ein Stöhnen, und er riß dazu passend an seinem Spitzbart.

»Diese verdammten leidenschaftlichen Frauen«, murrte Mat.

»Ich hoffe, Ihr meint damit nicht auch meine Frau«, sagte Lan kalt, eine Hand um sein Schwertheft gelegt, und Mat hob schnell die Hände.

»Natürlich nicht. Nur Elayne und ... die Schwesternschaft.«

Kurz darauf nickte Lan, und Mat seufzte erleichtert. Es sähe Nynaeve ähnlich, ihn durch ihren Ehemann - ihren Ehemann! - töten zu lassen, nachdem sie den Umstand verschwiegen hatte, daß vielleicht eine der Verlorenen in der Stadt war. Selbst Moghedien ängstigte ihn nicht wirklich, nicht solange er den Fuchskopf um den Hals trug, aber das Medaillon konnte Nalesean und die übrigen nicht schützen. Zweifellos dachte Nynaeve, sie und Elayne würden das übernehmen. Sie ließen ihn die Rotwaffen mitbringen, während sie sich die ganze Zeit über ihn ins Fäustchen lachten, während sie...

»Wollt Ihr die Nachricht meiner Mutter nicht lesen, Mat?«

Bis Beslan es erwähnte, hatte er nicht bemerkt, daß ein klein zusammengefalteter Zettel zwischen dem Korb und dem gestreiften Abdecktuch steckte. Es war gerade genug davon zu sehen, um das grüne Siegel mit dem aufgeprägten Anker und Schwert zu erkennen.

Er brach das Wachs mit dem Daumen, entfaltete das Blatt und hielt es so, daß Beslan nicht sehen konnte, was darauf stand. Aber andererseits war es, wenn man bedachte, wie der Mann die Dinge sah, vielleicht ohnehin egal. Wie auch immer - Mat war einfach froh, daß niemand anderer diese Worte sah. Sein Herz sank mit jeder Zeile tiefer.

Mat, mein Liebling! Ich lasse Deine Sachen in meine Räume bringen. So ist es viel bequemer. Wenn Du zurückkehrst, wird Riselle Deine alten Räume bezogen haben, um sich um den jungen Olver zu kümmern. Er scheint ihre Gesellschaft zu genießen. Ich habe Näherinnen beauftragt, Deine Maße zu nehmen. Dabei werde ich gerne zusehen. Du mußt kürzere Jacken tragen. Und neue Hosen natürlich. Du hast einen herrlichen Hintern. Entchen, wer ist diese Tochter der Neun Monde, an die ich Dich erinnert habe? Ich dachte an mehrere köstliche Arten, Dich dazu zu bringen, es mir zu erzählen.

Tylin

Die anderen sahen ihn alle erwartungsvoll an. Nun, Lan schaute nur, aber sein Blick war zermürbender als die Blicke der anderen. Dieser Blick schien fast ... leblos.

»Die Königin ist der Ansicht ich brauchte neue Kleidung«, sagte Mat und stopfte den Brief in seine Jackentasche. »Ich denke, ich werde ein wenig schlafen.« Er zog die Krempe seines Hutes tief über die Augen, aber er schloß sie nicht sondern blickte aus dem Fenster, dort hinaus, wo die zurückgebundenen Vorhänge gelegentlich Staubwirbel hereinließen. Sie ließen jedoch auch Wind herein, was erheblich besser war als die Hitze in der geschlossenen Kutsche.

Moghedien und Tylin. Von diesen beiden würde er lieber Moghedien gegenübertreten. Er berührte den im geöffneten Halsausschnitt seines Hemdes hängenden Fuchskopf, Gegen Moghedien besaß er zumindest etwas Schutz. Gegen Tylin besaß er nicht mehr Schutz als gegen die Tochter der verdammten Neun Monde, wer auch immer sie war. Wenn er Nynaeve und Elayne nicht dazu bewegen könnte, Ebou Dar noch vor heute abend zu verlassen, würde jedermann es erfahren. Er zog seinen Hut verdrossen noch tiefer. Diese leidenschaftlichen Frauen ließen ihn sich wirklich wie ein Mädchen benehmen. Er fürchtete, daß er vielleicht jeden Moment zu weinen begänne.

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