Mat wäre ausgestiegen und hätte die Kutsche selbst gezogen, wenn er gekonnt hätte. Er dachte, daß sie schneller hätten vorwärtskommen können. Die Straßen waren bereits von der Morgensonne ausgeleuchtet Wagen und Karren bahnten sich geräuschvoll ihren Weg durch die Menge und durch vom Wind aufgewirbelten Staub, begleitet von den Rufen und Flüchen sowohl der Kutscher als auch jener, die aus dem Weg gehen mußten. So viele Lastkähne wurden auf den Kanälen entlanggestakt, daß ein Mensch die Kanäle fast wie Straßen hätte überqueren können, indem er von einem Lastkahn auf den nächsten gestiegen wäre. Ein lautes Summen schwebte über der gleißenden weißen Stadt. Ebou Dar schien die gestern verlorene Zeit wieder aufholen zu wollen, ganz zu schweigen von der Zeit während Hoch Chasaline und dem Lichterfest, und das sollte es wohl auch, wenn man bedachte, daß morgen abend das Fest der glühenden Kohle stattfand, zwei Tage später gefolgt vom Maddinstag, an dem man den Gründer Altaras feierte, und dem Fest des Halbmonds am darauffolgenden Abend. Südländer waren für ihren Fleiß bekannt, aber Mat vermutete den Grund dafür darin, daß sie so schwer arbeiten mußten, um alle diese Feste und Feiertage wieder wettzumachen. Wundersamerweise hatten sie die Kraft dafür.
Schließlich erreichten die Kutschen den Fluß und fuhren in langer Reihe an eine der gemauerten Anlegesteilen, die ins Wasser hinausragten und mit Stufen versehen waren, damit man die dort verankerten Boote besteigen konnte. Mat steckte ein Stück dunklen, gelben Käse und einen Kanten Brot in seine Tasche und verstaute den Korb dann sorgfältig unter dem Sitz. Er hatte Hunger, aber jemand in den Küchen war zu sehr in Eile gewesen. Den meisten Raum im Korb nahm ein Tontopf voller Austern ein, welche die Köche aber zu kochen vergessen hatten.
Mat stieg hinter Lan aus und überließ es Nalesean und Beslan, Vanin und den anderen aus den letzten Kutschen zu helfen. Fast ein Dutzend Männer, von denen nicht einmal die Cairhiener als wirklich klein bezeichnet werden konnten, waren wie Äpfel in einem Faß hineingepfercht worden und kletterten jetzt steif hervor. Mat schritt vor dem Behüter auf die erste Kutsche zu, den Ashandarei schräg über der Schulter. Er würde Nynaeve und Elayne einen Teil seiner Gedanken mitteilen, ungeachtet dessen, wer zuhörte. Zu versuchen, Moghediens Gegenwart zu verheimlichen! Ganz zu schweigen davon, daß zwei seiner Männer tot waren! Er würde...! Er wurde sich jäh des hinter ihm wie eine Steinstatue aufragenden Lan mit dem Schwert an der Hüfte bewußt und berichtigte seine Gedanken. Die Tochter-Erbin würde zumindest etwas darüber zu hören bekommen, ein solches Geheimnis bewahrt zu haben.
Nynaeve stand am Landesteg, band ihren mit blauen Federn versehenen Hut fest und sprach gerade zur Kutsche gewandt, als er sie erreichte. »...wird sich natürlich herausstellen, aber wer würde glauben, daß ausgerechnet das Meervolk so etwas fordern würde, selbst wenn es unter vier Augen geschieht?«
»Aber Nynaeve«, sagte Elayne, während sie ausstieg, ihren mit grünen Federn geschmückten Hut in der Hand, »wenn der gestrige Abend so glorreich verlaufen ist, wie du sagst, wie kannst du dich dann beschweren über...?«
In dem Moment bemerkten sie ihn und Lan. Hauptsächlich Lan. Nynaeves Augen wurden immer größer und füllten fast ihr ganzes, zutiefst errötetes Gesicht aus. Elayne erstarrte, den Fuß noch immer auf der Kutschentreppe, und sah den Behüter dermaßen finster an, daß man hätte denken können, er hätte sich an sie herangeschlichen. Lan blickte jedoch vollkommen ausdruckslos zu Nynaeve herab, und auch wenn Nynaeve bereit gewesen zu sein schien, unter die Kutsche zu kriechen und sich zu verstecken, schaute sie jetzt zu Lan auf, als existiere niemand sonst auf der Welt. Elayne erkannte, daß ihre finstere Miene hier verschwendet war, stieg aus und trat Reanne und den beiden Weisen Frauen aus dem Weg - Tamarla und eine bereits ergrauende saldaeanische Frau namens Janira -, welche die Kutsche mit ihnen geteilt hatten, aber die Tochter-Erbin gab nicht auf. O nein! Sie übertrug ihre finstere Miene auf Mat Cauthon, und wenn sie sich ein wenig änderte, dann nur noch zum Schlechteren. Er schnaubte und schüttelte den Kopf. Normalerweise konnte eine Frau, wenn sie im Unrecht war, so viele Dinge finden, die sie dem nächststehenden Mann vorwerfen konnte, daß er letztendlich glaubte, er selbst sei im Irrtum. Seiner Erfahrung nach, ob es um alte oder neue Erinnerungen ging, gab es nur zwei Gelegenheiten, bei denen eine Frau zugab, im Unrecht zu sein: wenn sie etwas wollte und wenn es mitten im Sommer schneite.
Nynaeve zog an ihrem Zopf, aber nur sehr halbherzig. Sie betastete ihn, ließ ihn dann wieder los und knetete statt dessen ihre Hände. »Lan«, begann sie unsicher, »du darfst nicht denken, daß ich reden würde über...«
Der Behüter unterbrach sie sanft, verbeugte sich und bot ihr seinen Arm. »Wir befinden uns in der Öffentlichkeit, Nynaeve. Was immer du vor allen Leuten sagen willst, kannst du auch sagen. Darf ich dich aufs Boot begleiten?«
»Ja«, antwortete sie und nickte so heftig, daß ihr fast der Hut vom Kopf fiel. Sie richtete ihn mit beiden Händen hastig wieder. »Ja. In der Öffentlichkeit. Du wirst mich begleiten.« Sie nahm seinen Arm und gewann ein gewisses Maß an Haltung zurück, zumindest was ihre Miene betraf. Sie nahm mit der freien Hand ihren Staubmantel zusammen und zog Lan über den Kai auf die Anlegestelle zu.
Mat fragte sich, ob sie vielleicht krank war. Es gefiel ihm durchaus zu erleben, wie Nynaeve einen Dämpfer bekam, aber sie ließ es kaum jemals zwei Atemzüge lang andauern. Aes Sedai konnten sich nicht selbst Heilen. Vielleicht sollte er Elayne vorschlagen, sich um Nynaeve zu kümmern. Er selbst mied das Heilen genauso wie den Tod und die Ehe, aber für andere Menschen war es, so wie er es sah, anders, Zunächst hatte er jedoch einige auserwählte Worte zu Geheimnissen zu sagen.
Er öffnete den Mund und hob mahnend einen Finger...
...und Elayne bohrte ihm ihren Finger in die Brust und blickte ihn unter ihrem Federhut hervor kalt an. »Herrin Corly«, sagte sie im eisigen Tonfall einer Königin, die ein Urteil verkündet, »hat Nynaeve und mir die Bedeutung jener roten Blumen auf dem Korb erklärt, die Ihr, wie ich sehe, wenigstens schamhaft verborgen habt.«
Sein Gesicht rötete sich stärker, als Nynaeve es sich hätte vorstellen können. Nur wenige Schritte entfernt banden Reanne Corley und die beiden anderen ihre Hüte fest und richteten ihre Gewänder so, wie Frauen es stets taten, wenn sie aufstanden, sich hinsetzten oder drei Stufen erklommen. Aber obwohl sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Kleidung richteten, warfen sie doch Blicke in seine Richtung, die dieses eine Mal weder mißbilligend noch bestürzend waren. Er hatte nicht gewußt, daß die verdammten Blumen etwas bedeuteten! Zehn Sonnenuntergänge hätten nicht gegen seine Gesichtsröte konkurrieren können.
»Also!« Elaynes Stimme erklang leise, nur für seine Ohren gedacht, aber sie troff vor Widerwillen und Verachtung. »Es stimmt tatsächlich! Ich konnte es nicht glauben, nicht einmal von Euch! Und Nynaeve konnte es gewiß auch nicht glauben. Jegliches Euch gegenüber gegebenes Versprechen ist aufgehoben! Ich werde kein einem Mann gegebenes Versprechen halten, der imstande ist, einer Frau seine Aufmerksamkeit aufzuzwingen, irgendeiner Frau, aber besonders einer Königin, die ihm angeboten hat...«
»Ich soll ihr meine Aufmerksamkeit aufgezwungen haben!« schrie er. Oder vielmehr versuchte er zu schreien. Ein Würgen ließ es zu einem Keuchen werden.
Er ergriff Elaynes Schultern und zog sie ein Stück von den Kutschen fort. Dockarbeiter in fleckigen grünen Lederwesten ohne Hemd darunter eilten vorüber, die Säcke auf ihren Schultern trugen oder Fässer den Kai entlang rollten. Einige schoben niedrige, mit Kisten beladene Karren, und alle machten einen großen Bogen um die Kutschen. Die Königin von Altara hatte vielleicht nicht viel Macht, aber ihr Siegel an einer Kutschentür sorgte dafür, daß Bürgerliche ihr Platz machten. Nalesean und Beslan plauderten miteinander, während sie die Rotwaffen auf den Anlegesteg führten, während Vanin die Nachhut heranbrachte und düster auf den trüben Fluß starrte. Er behauptete, einen empfindlichen Magen zu haben, wenn es um Boote ging. Die Weisen Frauen aus beiden Kutschen hatten sich um Reanne versammelt und beobachteten sie, aber sie waren zu weit entfernt, um zu lauschen. Mat flüsterte dennoch rauh.
»Hört mir zu! Diese Frau läßt kein Nein als Antwort gelten. Ich sage nein, und sie lacht mich aus. Sie hat mich hungern lassen, mich tyrannisiert, mich wie einen Hirsch gejagt. Sie besitzt mehr Hände als jegliche andere Frauen, denen ich jemals begegnet bin. Sie drohte mir, mich von Dienerinnen ausziehen zu lassen, wenn ich nicht zuließe, daß sie...« Plötzlich wurde ihm bewußt, was er sagen wollte. Und zu wem er es sagen wollte. Es gelang ihm, hastig den Mund zu schließen. Er interessierte sich auf einmal sehr für einen der dunklen Metallraben, die in das Heft des Ashandarei eingelassen waren, so daß er Elaynes Blick nicht begegnen mußte. »Ihr habt alles mißverstanden.« Er wagte es, sie unter seiner Hutkrempe hervor anzusehen.
Ihre Wangen waren leicht gerötet, aber ihre Miene wurde ernst. »Es ... scheint, als hätte ich tatsächlich etwas mißverstanden«, sagte sie sachlich. »Das ist ... sehr ungezogen von Tylin.« Er glaubte, ihre Lippen zucken gesehen zu haben. »Habt Ihr erwogen, vor dem Spiegel verschiedene Arten des Lächelns zu erproben, Mat?«
Er blinzelte überrascht. »Was?«
»Ich habe aus zuverlässiger Quelle gehört, daß junge Frauen, welche die Aufmerksamkeit von Königen erregen wollen, genau das tun.« Etwas sprengte die Nüchternheit in ihrer Stimme, und dieses Mal zuckten ihre Lippen eindeutig. »Ihr könntet vielleicht auch versuchen, die Lider niederzuschlagen.« Sie biß sich auf die Unterlippe, wandte sich mit zuckenden Schultern ab, und der Staubmantel wehte hinter ihr her, als sie auf den Anlegesteg zueilte. Bevor sie außer Hörweite geriet, hörte er sie glucksend etwas über ›Kostprobe seiner eigenen Medizin‹ murmeln. Reanne und die Weisen Frauen eilten hinter ihr her, eine Schar Hennen, die einem Küken folgten anstatt umgekehrt. Die wenigen Bootsleute mit bloßen Oberkörpern auf ihren Schiffen hielten damit inne, Taue aufzurollen oder was immer sie sonst gerade taten, und beugten respektvoll die Köpfe, während die Prozession vorüberzog.
Mat riß sich den Hut vom Kopf und erwog, ihn auf den Boden zu werfen und darauf herumzutrampeln. Frauen! Er hätte es besser wissen müssen, als Mitleid zu erwarten. Er hätte die verdammte Tochter-Erbin gern erwürgt. Und Nynaeve aus Prinzip ebenfalls. Nur daß er es natürlich nicht tun konnte. Er hatte sein Versprechen gegeben. Jene Würfel benutzten seinen Kopf noch immer als Würfelbecher, und eine der Verlorenen war vielleicht irgendwo in der Nähe. Er setzte seinen Hut auf, marschierte den Anlegeplatz hinab, fegte an den Weisen Frauen vorbei und holte Elayne ein. Sie bemühte sich noch immer, nicht zu lachen, aber jedesmal, wenn sie in seine Richtung blickte, errötete sie erneut und kicherte stärker.
Er blickte starr geradeaus. Verdammte Frauen! Verdammte Versprechen. Er nahm seinen Hut ausreichend lange ab, um das Lederband um seinen Hals zu lösen und schob es ihr widerwillig zu. Der silberne Fuchskopf schwang unter seiner Faust hin und her. »Ihr und Nynaeve werdet entscheiden müssen, wer von Euch beiden dies trägt. Aber ich will es zurückhaben, wenn wir Ebou Dar verlassen. Versteht Ihr? In dem Moment, in dem wir Ebou Dar verlassen...«
Plötzlich erkannte er, daß er allein weitergegangen war. Als er sich umwandte, sah er Elayne stocksteif zwei Schritte hinter ihm stehen, die ihn anstarrte, während Reanne und die übrigen sich hinter ihr zusammendrängten.
»Was ist jetzt los?« fragte er. »O ja, ich weiß über Moghedien Bescheid.« Ein magerer Bursche mit roten Steinen an seinen Messingcreolen, der sich über eine Halteleine beugte, fuhr bei diesem Namen so schnell herum, daß er mit einem lauten Schrei und noch lauterem Platschen über Bord fiel. Es kümmerte Mat nicht, wer zuhörte. »Zu versuchen, es zu verheimlichen -und daß zwei meiner Männer tot sind! -, nachdem Ihr Euer Versprechen gegeben habt. Nun, darüber werden wir später reden. Ich habe auch ein Versprechen gegeben. Ich habe versprochen, Euch zu beschützen. Wenn Moghedien auftaucht, wird sie Euch jagen. Jetzt nehmt es.« Er schob ihr das Medaillon erneut zu.
Elayne schüttelte zögernd und verwundert den Kopf und wandte sich dann um, um sich flüsternd mit Reanne zu beraten. Erst nachdem die älteren Frauen auf dem Weg zu Nynaeve waren, die ihnen von einer Bootstreppe aus zuwinkte, nahm Elayne den Fuchskopf und drehte ihn in den Händen.
»Habt Ihr auch nur die geringste Ahnung, was ich alles getan hätte, um dies zu erforschen?« fragte sie leise. »Auch nur die geringste Ahnung?« Sie war groß für eine Frau, aber sie mußte dennoch zu ihm aufsehen. Sie hatte ihn vielleicht noch niemals zuvor wirklich gesehen. »Ihr seid ein schwieriger Mann, Mat Cauthon. Lini würde sagen, ich wiederhole mich, aber Ihr...!« Elayne stieß geräuschvoll den Atem aus und langte aufwärts, um ihm den Hut abzunehmen und ihm das Band wieder über den Kopf zu streifen. Tatsächlich steckte sie den Fuchskopf in sein Hemd zurück und tätschelte ihn, bevor sie ihm seinen Hut zurückgab. »Ich werde ihn nicht tragen, solange Nynaeve keinen besitzt, oder Aviendha, und ich glaube, die beiden empfinden ähnlich. Tragt Ihr ihn. Immerhin könnt Ihr Euer Versprechen kaum halten, wenn Moghedien Euch tötet. Nicht daß ich glaube, daß sie noch hier ist. Wahrscheinlich denkt sie, Nynaeve getötet zu haben, und es würde mich nicht überraschen, wenn das der einzige Grund für ihr Kommen war. Ihr müßt dennoch vorsichtig sein. Nynaeve sagt, ein Sturm käme auf, und sie meint damit nicht diesen Wind. Ich...« Sie errötete erneut. »Es tut mir leid, daß ich über Euch gelacht habe.« Sie räusperte sich und wandte den Blick ab. »Manchmal vergesse ich meine Pflichten meinen Untertanen gegenüber. Ihr seid ein achtbarer Untertan, Matrim Cauthon. Ich werde dafür sorgen, daß Nynaeve erfährt, was mit ... mit Euch und Tylin vorgeht. Vielleicht können wir Euch helfen.«
»Nein«, platzte er heraus. »Ich meine, ja. Ich meine... Das ist... Oh, verdammt sei ich, wenn ich weiß, was ich meine. Ich wünschte fast, Ihr würdet die Wahrheit nicht kennen.« Nynaeve und Elayne, die sich zusammensetzten und beim Tee über ihn und Tylin diskutierten. Könnte er jemals damit leben? Könnte er danach jemals wieder einer von ihnen in die Augen sehen? Aber wenn sie es nicht taten... Er saß ohne Ausweg in der Falle. »Oh, verdammt! Verdammt noch mal!« Er wünschte fast, sie würde ihn für seine Flüche rügen, wie Nynaeve es getan hätte, nur um das Thema zu wechseln.
Sie bewegte lautlos die Lippen, und er hatte einen Moment den seltsamen Eindruck, sie wiederhole, was er gerade gesagt hatte. Natürlich nicht. Er hatte Halluzinationen. Das war alles. Laut sagte sie: »Ich verstehe.« Und sie klang, als verstehe sie tatsächlich. »Nun kommt, Mat. Wir dürfen keine Zeit damit verschwenden, hier herumzustehen.«
Er beobachtete staunend, wie sie ihre Röcke und den Umhang raffte und über den Anlegeplatz schritt. Sie verstand? Sie verstand, und es kam kein bissiger Kommentar, nicht eine verletzende Bemerkung? Und er war ihr Untertan. Ihr achtbarer Untertan. Das Medaillon betastend, folgte er ihr. Er war sich sicher gewesen, daß er darum kämpfen müßte, es jemals wiederzubekommen. Und wenn er so lange lebte wie zwei Aes Sedai, würde er die Frauen doch niemals verstehen, und adlige Frauen waren die schlimmsten.
Als er die Stufen erreichte, die Elayne hinabgestiegen war, benutzten die beiden Ruderer des Bootes bereits ihre langen Ruder, um das Boot abzustoßen. Elayne drängte Reanne und die letzte der Weisen Frauen in die Kabine, und Lan stand mit Nynaeve am Bug. Beslan rief ihn zum nächsten Boot, in dem sich alle Männer außer dem Behüter befanden.
»Nynaeve sagte, es sei nicht genug Platz für einen von uns«, erklärte Nalesean, als das Boot schaukelnd auf den Eldar hinausfuhr. »Sie sagte, wir würden sie beengen.« Beslan lachte, während er sich auf dem Boot umsah. Vanin saß mit geschlossenen Augen neben der Kabinentür und gab vor, er befände sich woanders. Harnan und Tad Kandel, trotz seiner ebenso dunklen Hautfarbe wie die der Bootsleute ein Andoraner, waren auf das Kabinendach geklettert. Die übrigen Rotwaffen hockten an Deck und versuchten, den Ruderern aus dem Weg zu bleiben. Niemand betrat die Kabine, sondern alle warteten offensichtlich ab, ob Mat und Nalesean und Beslan hineingehen wollten.
Mat stellte sich neben den hohen Bugmast und spähte zu dem anderen Boot, das sich unmittelbar vor ihnen befand. Der Wind peitschte das düstere Wasser und seinen Schal ebenso, und er mußte seinen Hut festhalten. Was hatte Nynaeve vor? Die anderen neun Frauen auf dem zweiten Boot befanden sich alle in der Kabine und überließen ihr und Lan das Deck. Sie standen am Bug, Lan mit gekreuzten Armen und Nynaeve gestikulierend, als erkläre sie etwas. Nur daß Nynaeve äußerst selten etwas erklärte.
Was auch immer sie tat - es dauerte nicht lange. Draußen in der Bucht, wo die Klipper und Wogentänzer des Meervolks ihre Anker lichteten, waren weiße Schaumkronen zu sehen. Der Fluß war nicht sehr unruhig, aber das Boot schaukelte dennoch stärker, als Mat es von jeder vorangegangenen Fahrt in Erinnerung hatte. Es dauerte nicht lange, bis Nynaeve sich über die Reling beugte und sich von ihrem Frühstück befreite, während Lan sie festhielt. Das erinnerte Mat an seinen eigenen Magen. Er klemmte sich den Hut unter den Arm, damit er nicht davonwehen konnte, und nahm sein Stück Käse hervor.
»Beslan, wird dieser Sturm wohl losbrechen, bevor wir vom Rahad zurückkehren können?« Er biß ein Stück von dem würzigen Käse ab. Es gab in Ebou Dar fünfzig verschiedene Sorten Käse, die alle wohlschmeckend waren. Nynaeve hing noch immer über der Reling. Wieviel hatte die Frau heute morgen gegessen? »Ich weiß nicht, wo wir Schutz suchen sollen, wenn wir hineingeraten.« Er konnte sich an kein einziges Gasthaus im Rahad erinnern, in das er die Frauen mitnehmen würde.
»Es kommt kein Sturm auf«, sagte Beslan und setzte sich auf die Reling. »Dies sind nur die winterlichen Passatwinde. Diese Winde kommen zweimal im Jahr, im Spätwinter und im Spätsommer, aber sie müssen noch viel stärker werden, bevor ein Sturm daraus wird.« Er blickte verdrossen in die Bucht hinaus. »Jedes Jahr bringen - brachten - diese Winde Schiffe von Tarabon und Arad Doman heran. Ich frage mich, ob das jemals wieder geschehen wird.«
»Das Rad webt«, begann Mat und verschluckte sich dann an einem Krümel Käse. Blut und Asche - er klang bereits wie ein alter Mann, der seine schmerzenden Gelenke vor einem Kamin ausruhte. Sich darüber zu sorgen, die Frauen in ein schäbiges Gasthaus mitzunehmen. Vor einem Jahr, vor einem halben Jahr, hätte er sie mit hinein genommen, hätte gehöhnt, wenn ihnen die Augen herausfielen, und hätte über jedes gekünstelte Naserümpfen gelacht. »Nun, vielleicht wirst du im Rahad doch ein wenig Spaß haben, Zumindest wird jemand uns bestehlen wollen oder versuchen, Elayne die Halskette abreißen.« Vielleicht brauchte er das, um den Geschmack nach Nüchternheit auf seiner Zunge zu tilgen, Nüchternheit. Licht, welcher Begriff, um ihn auf Mat Cauthon anzuwenden! Er mußte sich mehr vor Tylin fürchten, als er gedacht hatte, wenn er so verkümmerte. Vielleicht brauchte er etwas von Beslans Art von Spaß. Das war verrückt - er hatte noch niemals einen Kampf gesehen, um den er nicht lieber einen Bogen gemacht hätte -, aber vielleicht...
Beslan schüttelte den Kopf. »Wenn jemand ihn finden kann, dann Ihr, aber... Wir werden sieben Weise Frauen bei uns haben, Mat. Sieben. Mit je einer an Eurer Seite könntet Ihr, sogar im Rahad, jemanden schlagen, und er würde seine Zunge verschlucken und davongehen. Und die Frauen. Was ist spaßig daran, eine Frau ohne das Risiko zu küssen, daß sie vielleicht einen Dolch in Euch versenken könnte?«
»Verdammt sei meine Seele«, murrte Nalesean in seinen Bart. »Das klingt, als hätte ich mich für einen langweiligen Vormittag aus dem Bett gequält.«
Beslan nickte mitleidig. »Aber wenn wir Glück haben... Die Bürgerwehr schickt gelegentlich Patrouillen in den Rahad, und wenn sie Schmuggler verfolgen, sind sie stets wie alle anderen gekleidet. Sie glauben anscheinend, daß niemand ein Dutzend Männer mit Schwertern bemerken wird, was auch immer sie tragen, und sind stets überrascht, wenn die Schmuggler sie aus dem Hinterhalt überfallen, was fast immer geschieht. Wenn Mats Ta'veren-Glück auch uns einschließt, werden wir vielleicht für die Bürgerwehr gehalten, und einige Schmuggler greifen uns vielleicht an, bevor sie die roten Gürtel sehen.« Nalesean strahlte und rieb sich die Hände.
Mat sah sie an. Vielleicht war Beslans Art von Spaß doch nicht das, was er brauchte. Außerdem hatte er genug von Frauen mit Dolchen. Nynaeve hing noch immer über die Reling des Bootes vor ihnen. Das würde sie lehren, nicht mehr so viel in sich hineinzuschlingen. Er aß gierig den letzten Rest Käse, griff dann zum Brot und versuchte, die Würfel in seinem Kopf zu ignorieren. Eine unbeschwerte Reise ohne Schwierigkeiten klang überhaupt nicht schlecht. Eine schnelle Reise, mit einem schnellen Aufbruch von Ebou Dar.
Der Rahad war alles, woran er sich erinnerte, und alles, was Beslan fürchtete. Der Wind ließ das Erklimmen der aufgesprungenen grauen Steinstufen am Bootsanlegeplatz zu einem gefährlichen Kraftakt werden, und danach wurde es noch schlimmer. Kanäle verliefen überall, genau wie auf der anderen Seite des Flusses, aber hier waren die Brücken schmal, die schmutzigen Steinbrüstungen zerfallen und brüchig. Zahlreiche Kanäle waren so verschlammt, daß Jungen bis zur Taille darin wateten, und kaum ein Lastkahn war zu sehen. Hohe Gebäude standen an engen Straßen mit aufgerissenem Straßenpflaster dicht zusammengedrängt, klotzige Gebilde mit rauhem, einst weißem Verputz, der in großen Flecken verwitterte rote Ziegelsteine freigab. In diesen Straßen erreichte das Morgenlicht die Schatten der Gebäude nicht wirklich. Schmuddelige Wäsche hing zum Trocknen vor jedem dritten Fenster, außer dort, wo ein Gebäude leerstand. Das galt für einige, deren Fenster wie Augenhöhlen in einem Schädel gähnten. Ein süßsaurer Geruch nach Verfall durchdrang die Luft, nach Nachttöpfen vom letzten Monat und uraltem Abfall, der verrottete, wo immer er hingeworfen wurde, und für jede Fliege auf der anderen Seite des Eldar summten hier hundert in graugrünen Wolken umher. Er erspähte die abblätternde blaue Tür der Goldenen Krone des Himmels und erschauderte, trotz Beslans Worten, bei dem Gedanken, die Frauen dort hineinzubringen, wenn der Sturm losbräche. Dann erschauderte er erneut, weil er erschaudert war. Etwas geschah mit ihm, und es gefiel ihm nicht.
Nynaeve und Elayne bestanden darauf, mit Reanne die Führung zu übernehmen, während die Weisen Frauen dicht hinter ihnen gingen. Lan blieb wie ein Wolfshund an Nynaeves Seite. Die Hand am Schwertheft, die Blicke ständig schweifend, wirkte er bedrohlich. Tatsächlich bot er selbst hier wahrscheinlich ausreichenden Schutz für zwei Dutzend hübsche junge Mädchen mit Säcken voller Gold, aber Mat bestand darauf, daß Vanin und die übrigen ebenfalls die Augen offenhielten. Der frühere Pferdedieb und Wilderer blieb so dicht bei Elayne, daß man jedermann hätte verzeihen können, der ihn für ihren Behüter gehalten hätte, wenn auch ein eher dicker und abgerissener Behüter. Belan rollte bei Mats Anweisungen ausdrucksvoll mit den Augen, und Nalesean strich sich verärgert über den Bart und murrte, daß er noch immer im Bett liegen könnte.
Männer stolzierten, oft in zerlumpten Westen und ohne Hemd, die Straßen entlang, trugen große Messingcreolen in den Ohren und Messingringe mit eingelassenen Buntglassteinen an den Händen und hatten oft einen oder manchmal zwei Dolche hinter dem Gürtel stecken. Ihre Hände ruhten in der Nähe der Dolche, und sie schauten, als wollten sie jedermann warnen, sie nur nicht schief anzusehen. Andere schlichen mit gesenkten Blicken von Ecke zu Ecke, von Eingang zu Eingang, ahmten die Hunde mit den hervorstehenden Rippen nach, die manchmal aus einem düsteren Eingang heraus knurrten, der kaum breit genug war, daß sich ein Mensch hindurchzwängen konnte. Jene Männer rechneten mit allem, und man konnte nicht sagen, welcher davonlaufen und welcher zustechen würde. Die Frauen ließen die Männer im großen und ganzen unauffällig erscheinen, da sie in abgetragenen Gewändern und mit doppelt soviel Messingschmuck wie die Männer einherstolzierten. Sie trugen natürlich auch Dolche, und ihre kühnen dunklen Augen forderten mit jedem Blick auf zehn verschiedene Arten heraus. Kurz gesagt, der Rahad war ein Ort, an dem niemand, der Seide trug, hoffen konnte, zehn Schritte gehen zu können, ohne niedergeschlagen zu werden. Bestenfalls konnten sie darauf hoffen, bis auf die Haut entkleidet in einer Gasse auf einem Haufen Abfall aufzuwachen, da die Alternative darin bestand, überhaupt nicht mehr aufzuwachen. Aber...
Kinder mit angeschlagenen Steingutbechern mit Wasser schossen aus jedem zweiten Eingang, von ihren Müttern geschickt, falls die Weisen Frauen etwas zu trinken wünschten. Männer mit narbigen Gesichtern und mordgierigen Augen starrten die sieben Weisen Frauen mit offenem Mund an, verbeugten sich dann ruckartig und fragten höflich, ob sie helfen könnten, ob sie irgend etwas getragen haben wollten? Frauen, manchmal mit ebenso vielen Narben und mit Augen, die selbst Tylin hätten zusammenzucken lassen, vollführten unbeholfen Hofknickse und fragten atemlos, ob sie ihnen vielleicht die Richtung weisen sollten.
Die Soldaten betrachteten sie dennoch genauso feurig wie immer, obwohl selbst die Hartnäckigsten nach einem einzigen Blick vor Lan zurückzuckten.
Und seltsamerweise auch vor Vanin. Einige der Männer schimpften über Beslan und Nalesean, wann immer sie einer Frau zu lange in den tiefen Ausschnitt blickten. Einige schimpften auch über Mat, obwohl er nicht verstand warum. Anders als seine beiden Gefährten lief er niemals Gefahr, daß ihm die Augen in den Ausschnitt einer Frau fallen könnten. Er wußte, wie man taktvoll schaute. Nynaeve und Elayne wurden trotz all ihres Putzes ignoriert, und Reanne in ihrem roten Tuchgewand ebenso. Sie trugen keinen roten Gürtel, aber sie standen unter dem Schutz jener Gürtel. Mat erkannte, daß Beslan recht gehabt hatte. Er könnte seine Geldbörse auf den Boden ausschütten, und niemand würde eine Münze aufheben, zumindest so lange die Weisen Frauen in der Nähe waren. Er konnte jede in Sichtweite befindliche Frau in den Hintern zwicken, und sie würde lediglich davongehen, selbst wenn sie beinahe einen Schlaganfall erlitt.
»Welch erfreulicher Spaziergang«, sagte Nalesean trocken, »mit solch interessanten Ansichten und Gerüchen. Sagte ich Euch bereits, daß ich letzte Nacht nicht viel Schlaf bekommen habe, Mat?«
»Wollt Ihr im Bett sterben?« grollte Mat. Sie hätten ebenso gut alle im Bett bleiben können. Sie waren hier mit Sicherheit verdammt nutzlos. Der Tairener schnaubte ungehalten. Beslan lachte, aber er glaubte wahrscheinlich, Mat hätte etwas anderes gemeint.
Sie marschierten durch den Rahad, bis Reanne schließlich vor einem unscheinbaren Gebäude mit abblätterndem Verputz und zerbröckelnden Ziegelsteinen stehenblieb, dasselbe Gebäude, bis zu dem Mat gestern einer anderen Frau gefolgt war. Vor den Fenstern hing keine Wäsche. Hier lebten nur Ratten. »Hier drinnen«, sagte sie.
Elaynes Blick wanderte langsam bis zum Flachdach des Hauses. »Sechs«, murmelte sie im Tonfall zutiefster Zufriedenheit.
»Sechs«, seufzte Nynaeve, und Elayne tätschelte ihren Arm, als fühle sie mit ihr.
»Ich war mir nicht wirklich sicher«, sagte sie, also lächelte Nynaeve und tätschelte ihr ebenfalls den Arm. Mat verstand kein Wort. Das Gebäude hatte also sechs Stockwerke. Frauen benahmen sich manchmal eigenartig. Nun, meistens.
In dem Gebäude verlief ein langer, mit abgewetzten Teppichen ausgelegter, düsterer Gang zur Rückseite, dessen Ende in Schatten verborgen lag. Nur wenige der Durchgänge besaßen Türen, und die wenigen vorhandenen bestanden nur aus groben Brettern. Eine Türöffnung, fast ein Drittel des Weges den Gang hinab, ging zu einer engen, steil aufwärts führenden Steintreppe. Das war der Weg, den Mat am Vortag genommen hatte, den Fußspuren im Staub folgend, aber er glaubte, daß einige der anderen Türen noch zu quer verlaufenden Gängen führen müßten. Er hatte sich gestern nicht die Zeit genommen , sich umzusehen, aber das Gebäude war zu tief und zu breit, als daß nur diese eine Treppe aus dem untersten Stockwerk nach oben konnte. Und es war zu groß, als daß es nur einen Eingang geben konnte.
»Wirklich, Mat«, sagte Nynaeve, als er Harnan und die Hälfte der Rotwaffen aussandte, um sich nach einem Hintereingang umzusehen und diesen zu bewachen. Lan blieb so nah an ihrer Seite, daß er dort festzuhaften schien. »Erkennt Ihr inzwischen nicht, daß dies nicht nötig ist?«
Ihre Stimme klang so sanft, daß Elayne die Wahrheit über Tylin weitererzählt haben mußte, aber wenn dies überhaupt etwas bewirkte, trübte es seine Stimmung eher noch stärker. Er wollte nicht, daß irgend jemand es wußte. Es war verdammt nutzlos! Aber jene Würfel rollten noch immer in seinem Kopf umher. »Vielleicht mag Moghedien Hintertüren«, sagte er trocken. Etwas pfiff am dunklen Ende des Ganges, und einer der Männer bei Harnan fluchte laut über Ratten.
»Du hast es ihm gesagt!« fuhr Nynaeve Lan wütend an, während sie mit einer Hand heftig an ihrem Zopf zog.
Elayne stieß einen aufgebrachten Laut aus. »Jetzt ist nicht die Zeit zu streiten, Nynaeve. Dort oben befindet sich die Schale! Die Schale der Winde!« Plötzlich erschien eine kleine Lichtkugel und schwebte vor ihr her, und sie raffte ihre Röcke und eilte die Treppe hinauf, ohne nachzusehen, ob Nynaeve ihr folgte oder nicht. Vanin eilte ihr in Anbetracht seines Leibesumfangs mit erstaunlicher Schnelligkeit hinterher, gefolgt von Reanne und den meisten der Weisen Frauen. Sumeko mit dem runden Gesicht und Ieine, groß und dunkel und trotz der Linien in den Augenwinkeln hübsch, zögerten, blieben aber dann bei Nynaeve.
Mat wäre auch mit hinaufgegangen, wenn ihm Nynaeve und Lan nicht im Weg gestanden hätten. »Würdet Ihr mich wohl vorbeilassen, Nynaeve?« fragte er. Er verdiente es dabeizusein, wenn diese verdammte Schale geborgen wurde. »Nynaeve?« Sie war so auf Lan konzentriert, daß sie alle anderen vergessen zu haben schien. Mat wechselte Blicke mit Beslan, der grinste. Er saß bei Corevin und den übrigen Rotwaffen bequem in der Hocke. Nalesean lehnte an der Wand und gähnte betont. Was bei all dem aufgewirbelten Staub ein Fehler war. Das Gähnen wurde zu einem Hustenanfall, und sein Gesicht rötete sich.
Selbst das lenkte Nynaeve nicht ab. Sie nahm die Hand bedacht von ihrem Zopf. »Ich bin nicht böse, Lan«, sagte sie.
»Doch, das bist du«, erwiderte er ruhig. »Aber er mußte es erfahren.«
»Nynaeve?« sagte Mat. »Lan?« Beide blickten ihn nicht einmal an.
»Ich hätte es ihm gesagt, wenn ich dazu bereit gewesen wäre, Lan Mandragoran!« Sie schloß jäh den Mund, aber ihre Lippen bewegten sich weiterhin, als spräche sie mit sich selbst. »Ich bin dir nicht böse«, fuhr sie in erheblich milderem Tonfall fort, und es schien ebenso an sie selbst gerichtet. Sie warf ihren Zopf ganz bewußt über ihre Schulter, richtete energisch den mit blauen Federn geschmückten Hut und stemmte die Hände in die Hüften.
»Wenn du es sagst«, antwortete Lan sanft.
Nynaeve bebte. »Sprich nicht in diesem Ton mit mir!« schrie sie. »Ich sagte dir, ich bin dir nicht böse! Hörst du mich?«
»Blut und Asche, Nynaeve«, grollte Mat. »Er denkt nicht, daß du böse bist. Ich denke nicht, daß du böse bist.« Es war gut, daß Frauen ihn gelehrt hatten, mit unbewegter Miene zu lügen. »Könnten wir jetzt hinaufgehen und diese verdammte Schale der Winde holen?«
»Eine fabelhafte Idee«, sagte die Stimme einer Frau von der Tür zur Straße aus. »Sollen wir zusammen hinaufgehen und Elayne überraschen?« Mat hatte die beiden Frauen, die den Gang betraten, noch nie zuvor gesehen, aber ihre Gesichter waren Aes Sedai-Gesichter. Das Antlitz der Sprecherin war länglich und kalt wie ihre Stimme, während das ihrer Begleiterin von einer Vielzahl dünner, dunkler Zöpfe eingerahmt wurde, die mit bunten Perlen verziert waren. Fast zwei Dutzend Männer drängten hinter ihnen herein, große Burschen mit breiten Schultern und Knüppeln und Dolchen in Händen. Mat verlagerte seinen Griff um den Ashandarei. Er erkannte Schwierigkeiten, wenn er sie sah, und der Fuchskopf auf seiner Brust lag kalt, fast kalt, an seiner Haut. Jemand umarmte die Eine Macht.
Die beiden Weisen Frauen fielen bei ihren Hofknicksen fast vornüber, sobald sie jene alterslosen Züge sahen, aber Nynaeve erkannte die Schwierigkeiten gewiß ebenfalls. Sie bewegte lautlos die Lippen, als die beiden den Gang herab kamen, das Gesicht vollkommen bestürzt und selbstanklagend. Mat hörte, wie hinter ihm ein Schwert gezogen wurde, aber er drehte sich nicht um, um nachzusehen, wessen Schwert es war. Lan stand nur da, was natürlich bedeutete, daß er wie ein sprungbereiter Leopard lauerte.
»Sie gehören der Schwarzen Ajah an«, sagte Nynaeve schließlich. Ihre Stimme klang zunächst schwach, gewann aber, als sie fortfuhr, an Festigkeit. »Falion Bhoda und Ispan Shefar. Sie haben in der Burg gemordet und seitdem noch Schlimmeres getan. Sie sind Schattenfreunde und... « ihre Stimme stockte einen Moment »...haben mich abgeschirmt.«
Die Neuankömmlinge gingen gelassen weiter. »Habt Ihr schon jemals solchen Unsinn gehört, Ispan?« fragte die Aes Sedai mit dem länglichen Gesicht ihre Begleiterin, die den Blick vom Staub zu Nynaeve hob, um sie einfältig anzulächeln. »Ispan und ich kommen von der Weißen Burg, während Nynaeve und ihre Freunde sich gegen den Amyrlin-Sitz erheben. Sie werden ernstlich dafür bestraft werden, wie auch jedermann, der ihnen hilft.« Mat erkannte entsetzt, daß die Frauen nicht Bescheid wußten. Sie dachten, er und Lan und die übrigen seien nur verdungene Schläger. Falion gewährte Nynaeve ein Lächeln, das einen Wolf freundlich erscheinen ließ. »Es gibt jemanden, der hoch erfreut sein wird, Euch zu sehen, wenn wir Euch zurückbringen, Nynaeve. Sie glaubt, Ihr wärt tot. Ihr anderen solltet jetzt besser gehen. Ihr wollt doch nicht in Angelegenheiten der Aes Sedai verwickelt werden. Meine Leute bringen Euch zum Fluß.« Ohne ihren Blick von Nynaeve abzuwenden, bedeutete Falion den Männern hinter ihr vorzutreten.
Lan regte sich. Er zog nicht sein Schwert, und gegen Aes Sedai hätte er damit auch keine Chance gehabt, wenn er es getan hätte, sondern stand in einem Moment still und hatte sich im nächsten Moment bereits auf die Frauen geworfen. Unmittelbar bevor er zuschlug, stöhnte er, als sei er hart getroffen worden, aber er prallte dennoch gegen sie und warf beide Schwarze Schwestern auf den staubigen Boden. Dadurch öffneten sich die Schleusentore weit.
Lan richtete sich auf Hände und Knie auf und schüttelte benommen den Kopf, und einer der großen Burschen hob einen eisenverstärkten Knüppel, um ihm den Schädel einzuschlagen. Mat stach dem Burschen mit seinem Speer in den Bauch, während Beslan und Nalesean und die fünf Rotwaffen dem barschen Angriff der Schattenfreunde ebenfalls rasch begegneten. Lan stand taumelnd auf, holte mit dem Schwert aus und schlitzte einen Schattenfreund vom Bauch bis zum Hals auf. Es war nicht viel Platz in dem Gang, um die Schwerter oder den Ashandarei zu führen, aber die Beengtheit erlaubte es ihnen auch, sich der Übermacht zu stellen, ohne schon im ersten Moment überwältigt zu werden. Schnaufende Männer kämpften von Angesicht zu Angesicht gegen sie, stießen sie mit den Ellbogen fort, um Platz für einen Dolchstoß oder das Schwingen eines Knüppels zu erlangen.
Rund um die Schwarzen Schwestern und Nynaeve blieb ein wenig Raum frei, wofür sie selbst sorgten. Ein drahtiger Andoraner der Rotwaffen prallte fast in Falion, aber im letzten Moment zuckte er in der Luft zusammen, flog durch den Gang, wobei er zwei der breitschultrigen Schattenfreunde niederschlug, bevor er gegen die Wand krachte, herabrutschte und sein Hinterkopf eine Blutspur auf dem aufgesprungenen, staubigen Verputz hinterließ. Ein kahlköpfiger Schattenfreund drängte sich durch die Linie der Verteidiger und stürmte mit ausgestrecktem Dolch auf Nynaeve zu. Er schrie auf, als seine Füße plötzlich unter ihm weggerissen wurden, ein Schrei, der abbrach, als sein Gesicht so hart auf den Boden aufschlug, daß sein Kopf abprallte.
Nynaeve war offensichtlich nicht mehr abgeschirmt, und wenn der kühle Fuchskopf, der auf Mats Brust umhertanzte, kein ausreichender Hinweis darauf war, daß sie und die Schwarzen Schwestern in einen Kampf verstrickt waren, so war es doch überdeutlich die Art, wie sie einander anstarrten und den Kampf um sich herum ignorierten. Die beiden Weisen Frauen beobachteten das Geschehen entsetzt. Sie hielten ihre gebogenen Dolche in der Faust, kauerten aber an der Wand und blickten mit geweiteten Augen und offenen Mündern von Nynaeve zu den beiden anderen.
»Kämpft«, fauchte Nynaeve sie an. Sie drehte den Kopf nur so weit, daß sie sowohl sie als auch Falion und Ispan sehen konnte. »Ich kann es nicht allein schaffen. Sie sind verbunden. Wenn Ihr sie nicht bekämpft, werden sie Euch töten. Ihr wißt doch jetzt über sie Bescheid!« Die Weisen Frauen sahen sie so erstaunt an, als hätte sie vorgeschlagen, der Königin ins Gesicht zu speien. Inmitten der Schreie und des Stöhnens lachte Ispan melodiös. Ein schriller Schrei hallte die Treppe herab.
Nynaeves Kopf fuhr herum. Sie stolperte plötzlich, und ihr Kopf ruckte wie der eines verletzten Dachses zurück, wobei sie so finster blickte, daß Falion und Ispan sofort hätten fliehen müssen, wenn sie bei Verstand gewesen wären. Nynaeve versagte sich einen gequälten Blick zu Mat. »Oben wurde die Macht gelenkt«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne. »Dort gibt es Schwierigkeiten.«
Mat zögerte. Es war wohl wahrscheinlicher, daß Elayne eine Ratte gesehen hatte. Weitaus wahrscheinlicher. Es gelang ihm, einen auf seine Rippen zielenden Dolchstoß abzuwehren aber es war kein Platz, den Stoß mit dem Ashandarei zu erwidern oder das Heft wie einen Stock zu benutzen. Beslan führte einen Stoß an ihm vorbei und traf seinen Angreifer mitten ins Herz.
»Bitte, Mat«, sagte Nynaeve angespannt. Sie bat niemals. Sie würde sich eher die Kehle durchschneiden. »Bitte.«
Mat entzog sich fluchend dem Kampf und jagte alle sechs steilen, engen Treppen hinauf, ohne auch nur einmal innezuhalten. Es gab kein einziges Fenster, das Licht gespendet hätte. Wenn es nur eine Ratte war, würde er Elayne schütteln, bis ihre Zähne... Er stürzte über die letzte Stufe hinaus ins oberste Stockwerk, das nicht viel heller war als das Treppenhaus, da sich nur ein Fenster zur Straße hin befand, und lief in eine Szene aus einem Alptraum hinein.
Überall lagen Frauen am Boden. Elayne war eine davon, halbwegs auf dem Rücken an der Wand liegend, die Augen geschlossen. Vanin kauerte auf Knien, wahrend ihm Blut aus Nase und Ohren strömte und er schwach versuchte, sich an der Wand hochzuziehen. Die letzte Frau, die noch stand, Janira, floh zu Mat, sobald sie ihn sah. Er hatte sie mit ihrer Hakennase und den scharfgeschnittenen Wangenknochen insgeheim mit einem Falken verglichen, aber jetzt drückte ihre Miene pures Entsetzen aus, die dunklen Augen geweitet und starr.
»Helft mir!« schrie sie ihm zu, als ein Mann sie von hinten packte. Er war ein gewöhnlich aussehender Bursche, vielleicht ein wenig älter als Mat, gleich groß und schlank in seiner einfachen grauen Jacke. Er nahm Janiras Kopf lächelnd zwischen beide Hände und drehte ihn scharf. Das Geräusch ihres brechenden Genicks klang wie ein knackender, trockener Zweig. Er ließ sie haltlos zu Boden sinken und blickte auf sie hinab. Sein Lächeln wirkte einen Moment ... verzückt.
Einige Männer unmittelbar jenseits von Vanin stemmten beim Licht zweier Laternen eine sich mit quietschenden Scharnieren bewegende Tür auf, aber Mat bemerkte es kaum. Sein Blick wanderte von Janiras zusammengesunkenem Körper zu Elayne. Er hatte versprochen, sie für Rand zu beschützen. Er hatte es versprochen. Er stürzte sich mit einem Schrei auf den Mörder, den Ashandarei ausgestreckt.
Mat hatte schon Myrddraals gesehen, aber dieser Bursche war schneller, wie schwer das auch zu glauben war. Er schien fast vor der Speerspitze davonzufließen, drehte sich, während er das Heft ergriff, und schleuderte Mat fünf Schritte an sich vorbei den Gang hinab.
Mat entwich der Atem, als er in einer kleinen Staubwolke auf den Boden aufschlug. Wie auch der Ashandarei. Er rang nach Luft und stieß sich hoch, wobei der Fuchskopf aus seinem geöffneten Hemd baumelte. Er zog einen Dolch aus seiner Jacke hervor und warf sich genau in dem Moment erneut auf den Mann, als Nalesean mit dem Schwert in der Hand oben an der Treppe erschien. Jetzt hatten sie ihn, wie schnell auch immer er...
Der Mann ließ einen Myrddraal linkisch erscheinen. Er glitt um Naleseans Stoß herum, als befände sich kein einziger Knochen in seinem Körper, während er die rechte Hand vorschnellen ließ, um Naleseans Kehle zu ergreifen. Seine Hand fiel mit reißendem Geräusch herab. Blut schoß an Naleseans Bart vorbei. Sein Schwert fiel klirrend auf den staubigen Steinboden, und er umklammerte mit beiden Händen seinen verletzten Hals, wobei Blut durch seine Finger quoll, während er zu Boden sank.
Mat krachte in den Rücken des Mörders, und sie prallten alle zusammen auf dem Boden auf. Er hatte keine Bedenken, einen Mann in den Rücken zu stechen, wenn es notwendig war, besonders einen Mann, der jemandem die Kehle herausreißen konnte. Er hätte Nalesean im Bett bleiben lassen sollen. Der Gedanke stellte sich mit einem traurigen Gefühl ein, während er die Klinge tief hineinstieß, und dann ein zweites und ein drittes Mal.
Der Mann wand sich in seinem Griff. Es hätte nicht möglich sein sollen, aber irgendwie rollte sich der Bursche unter ihm herum und riß ihm das Dolchheft aus der Hand. Naleseans starre Augen und seine blutige Kehle waren eine unmittelbar vor Mats Augen befindliche Mahnung. Er ergriff verzweifelt die Handgelenke des Mannes, wobei eine Hand durch das herablaufende Blut des Burschen ein wenig abglitt.
Der Mann lächelte ihn an. Er lächelte, obwohl ein Dolch aus seiner Seite hervorstach! »Er will Euch genauso sehr tot sehen, wie er sie will«, sagte er sanft. Und als ob Mat ihn überhaupt nicht festhielte, bewegten sich seine Hände auf Mats Kopf zu und drückten Mats Arme zurück.
Mat stieß sich heftig ab und warf sich dann mit seinem ganzen Gewicht nutzlos gegen die Arme des Burschen. Licht, er hätte genausogut ein Kind sein können, das gegen einen erwachsenen Mann ankämpfte. Der Bursche machte ein Spiel daraus, nahm sich verdammt viel Zeit. Hände berührten Mats Kopf. Wo war sein strahlendes Glück? Er stemmte sich mit letzter Kraft hoch - und das Medaillon berührte die Wange des Mannes. Der Mann schrie auf. Rauch stieg um die Ränder des Fuchskopfes auf, und ein Zischen erklang. Er schleuderte Mat mit Händen und Füßen krampfhaft von sich. Dieses Mal flog Mat zehn Fuß weit und glitt noch ein Stück weiter.
Als er sich halb benommen aufrichtete, stand der Mann da, die zitternden Hände am Gesicht. Ein offenes rotes Brandmal markierte die Stelle, wo der Fuchskopf ihn berührt hatte. Mat betastete das Medaillon behutsam. Es war kühl. Nicht die Kühle, als würde jemand in der Nähe die Macht lenken - vielleicht geschah dies im unteren Stockwerk noch immer, aber das war zu weit weg -, nur die Kühle des Silbers. Er hatte keine Ahnung, wer dieser Bursche war, nur daß er gewiß kein Mensch war, aber mit dieser Verbrennung und drei Stichwunden, wobei das Dolchheft noch immer unter seinem Arm hervorstach, hätte er ausreichend beeinträchtigt sein müssen, daß Mat an ihm vorbei zur Treppe hätte gelangen können. Elayne und Nalesean zu rächen, wäre schön und gut, aber es würde offensichtlich nicht heute geschehen, und es stand nicht an, einen Grund zu schaffen, Mat Cauthon zu rächen.
Der Mann riß den Dolch aus seiner Seite und schleuderte ihn auf Mat. Mat fing ihn aus der Luft auf, ohne darüber nachzudenken. Thom hatte ihm das Jonglieren beigebracht, und Thom hatte gesagt, Mat besäße die schnellsten Hände, die er jemals gesehen hätte. Er ließ den Dolch herumschnellen, so daß er ihn richtig festhielt, bewußt schräg nach oben gerichtet; er bemerkte die glänzende Klinge, und sein Herz sank. Kein Blut. Es hätte zumindest eine Spur Blut daran sein sollen, aber der Stahl schimmerte hell und sauber. Vielleicht konnten auch drei Stichwunden dieses Wesen nicht aufhalten.
Mat wagte einen Blick über die Schulter. Die übrigen Männer strömten aus der Tür, die sie aufgestemmt hatten, die Tür, zu der ihn gestern die Fußspuren geführt hatten, aber sie trugen anscheinend nur Abfall heraus, kleine, halbwegs verrottete Kisten, ein Faß mit stoffumwickelten Gegenständen, die durch fehlende Dauben hervorquollen, und sogar einen zerbrochenen Stuhl und einen ebensolchen Spiegel. Sie mußten Befehl erhalten haben, alles mitzunehmen. Sie beachteten Mat nicht im geringsten, sondern eilten auf das entgegengesetzte Ende des Ganges zu und verschwanden um eine Ecke. Dort mußte es noch eine Treppe geben. Vielleicht konnte er ihnen in einem gewissen Abstand nach unten folgen. Vielleicht... Unmittelbar vor der Tür, aus der sie herausgekommen waren, versuchte Vanin aufzustehen und fiel wieder zurück. Mat unterdrückte einen Fluch. Vanin hochzuhelfen, würde ihn aufhalten, aber wenn sein Glück wirkte... Es hatte Elayne nicht gerettet, aber vielleicht... Er sah aus dem Augenwinkel, daß sie sich bewegte, daß sie eine Hand an den Kopf hob.
Der Mann in der grauen Jacke sah es ebenfalls. Er wandte sich lächelnd ihr zu.
Mat steckte den nutzlosen Dolch seufzend in die Scheide. »Du kannst sie nicht haben«, sagte er laut. Versprechen. Ein Ruck zerriß das Lederband um seinen Hals. Der silberne Fuchskopf baumelte zwei Handbreit unter seiner Faust. Er summte leise, als er ihn in einer Doppelschleife umherwirbelte. »Du kannst sie, verdammt noch mal, nicht haben.« Er ging vorwärts, wobei er das Medaillon weiterhin umherschleuderte. Der erste Schritt war der schwerste, aber er mußte sein Versprechen halten.
Das Lächeln des Burschen schwand. Er beobachtete den aufblitzenden Fuchskopf argwöhnisch und wich auf Zehenspitzen zurück. Dasselbe Licht von dem einzigen Fenster, das um das umherwirbelnde Silber schimmerte, bildete auch einen Hof um ihn. Wenn Mat ihn so weit treiben könnte, würde er vielleicht erfahren, ob ein Fall aus dem sechsten Stock bewirken könnte, was ein Dolch nicht schaffte.
Mit dem bläulichen Brandmal auf dem Gesicht wich der Bursche zurück, wobei er manchmal halbwegs die Hand ausstreckte, als wollte er an dem Medaillon vorbeigreifen. Plötzlich trat er blitzschnell zur Seite in einen der Räume hinein. Dieser besaß eine Tür, die er hinter sich zuzog. Mat hörte den Riegel an seinen Platz rücken.
Vielleicht hätte er es dabei belassen sollen, aber ohne nachzudenken hob er einen Fuß und trat mit dem Stiefelabsatz gegen die Türmitte. Staub löste sich von dem rauhen Holz. Ein zweiter Tritt, und die verrotteten Riegelhalterungen gaben nach, zusammen mit einem verrosteten Scharnier. Die Tür fiel nach innen und blieb schief an einem Scharnier hängen.
Der Raum war nicht vollkommen dunkel. Von dem Fenster am Ende des Ganges, nur eine Tür entfernt, drang ein wenig Licht herein, und ein zerbrochenes Spiegeldreieck ermöglichte es ihm, alles zu sehen, ohne in den Raum hineinzugehen. Außer dem Spiegel und den Überresten eines Stuhls war nichts zu sehen. Die einzigen Zugänge waren die Tür und ein Rattenloch neben dem Spiegel, aber der Mann in der grauen Jacke war fort.
»Mat«, rief Elayne schwach. Er eilte genauso sehr von dem Raum fort wie zu ihr hin. Irgendwo in den unteren Stockwerken erklangen Rufe, aber Nynaeve und die übrigen würden sich im Moment selbst helfen müssen.
Elayne setzte sich auf, bewegte ihren Kiefer und zuckte zusammen, als Mat sich neben sie kniete. Ihr Gewand war staubbedeckt, ihr Hut hing schief - einige Federn waren gebrochen -, und ihr rotgoldenes Haar sah aus, als sei sie daran umhergezogen worden. »Er hat mich so fest geschlagen«, sagte sie unter Schmerzen. »Ich glaube nicht, daß etwas gebrochen ist, aber...« Ihr Blick verband sich mit seinem, und wenn er jemals gedacht hatte, sie sähe ihn an wie einen Fremden, erkannte er jetzt, daß es stimmte. »Ich habe gesehen, was Ihr mit ihm getan habt, Mat. Wir hätten genausogut mit einem Wiesel in einer Kiste eingesperrte Küken sein können. Die Macht gegen ihn zu lenken, war nutzlos. Die Stränge schmolzen genauso dahin wie bei Eurem...« Sie betrachtete das noch immer von seiner Hand baumelnde Medaillon und atmete tief ein, was eine interessante Wirkung auf ihren ovalen Ausschnitt hatte. »Danke, Mat. Ich entschuldige mich für alles, was ich Euch jemals angetan oder über Euch gedacht habe.« Sie klang, als meinte sie es ernst. »Ich baue immer mehr Toh Euch gegenüber auf«, sagte sie kläglich lächelnd, »aber ich werde nicht zulassen, daß Ihr mich schlagt. Ihr werdet zulassen müssen, daß ich Euch wenigstens einmal rette, um es auszugleichen.«
»Ich werde sehen, was ich einrichten kann«, erwiderte er trocken, während er das Medaillon in seine Jackentasche steckte. Toh? Sie schlagen? Licht! Die Frau verbrachte entschieden zuviel Zeit mit Aviendha.
Als er ihr aufgeholfen hatte, blickte sie den Gang hinab zu Vanin mit seinem blutverschmierten Gesicht und den Frauen, die dort lagen, wo sie zu Boden gesunken waren. »Oh, Licht!« stöhnte sie. »Oh, Blut und verdammte lodernde Flammen!« Er zuckte trotz der Umstände zusammen. Nicht nur, daß er niemals erwartet hätte, jene Worte aus ihrem Mund zu hören. Es schien seltsam, als kenne sie den Klang, nicht aber die Bedeutung der Worte. Irgendwie hatten sie sie jünger klingen lassen.
Sie schüttelte seinen Arm ab, nahm ihren Hut, warf ihn einfach beiseite, kniete sich eilig neben die nächste Weise Frau, Reanne, und nahm ihren Kopf in beide Hände. Die Frau lag leblos da, das Gesicht nach unten gewandt und die Arme ausgestreckt, als sei sie beim Laufen zu Fall gebracht worden, auf dem Weg zu dem Raum, zu dem alle gelangen wollten, auf ihren Angreifer zu, nicht von ihm fort.
»Hier reichen meine Fähigkeiten nicht«, murmelte Elayne. »Wo ist Nynaeve? Warum ist sie nicht mit Euch heraufgekommen, Mat? Nynaeve!« rief sie zur Treppe hin.
»Du brauchst nicht wie eine Katze zu kreischen«, grollte Nynaeve, die im Treppenhaus erschien. Sie schaute über die Schulter die Stufen hinab. »Ihr haltet sie fest, hört Ihr mich?« rief sie. Sie trug ihren Hut in der Hand und schüttelte ihn gegenüber demjenigen, wen auch immer sie meinte. »Wenn Ihr sie auch entkommen laßt, ohrfeige ich Euch!«
Dann wandte sie sich um, und ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Das Licht scheine auf uns«, keuchte sie und beugte sich eilig über Janira. Eine Berührung, und sie richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Mat hätte ihr sagen können, daß die Frau tot war. Nynaeve nahm Tod anscheinend persönlich. Sie schüttelte sich und trat zur nächsten Frau, Tamarla, und es schien, als könnte sie bei ihr noch etwas Heilen. Es schien aber auch, als wäre Tamarla schwer verletzt, weil sie stirnrunzelnd über ihr kniete. »Was ist hier geschehen, Mat?« fragte sie, ohne sich nach ihm umzusehen. Ihr Tonfall veranlaßte ihn zu seufzen. Er hätte wissen sollen, daß sie ihn für all das verantwortlich machen würde. »Nun, Mat? Was ist geschehen? Werdet Ihr reden, Mann, oder muß ich...« Er erfuhr niemals, womit sie ihm drohen wollte.
Lan war Nynaeve natürlich aus dem Treppenhaus gefolgt, und Sumeko erschien gleich hinter ihm. Die rundliche Weise Frau blickte einmal den Gang entlang, raffte dann sofort ihre Röcke und lief zu Reanne.
Sie warf Elayne einen besorgten Blick zu, bevor sie auf die Knie sank und ihre Hände auf eigenartige Weise über Reanne zu bewegen begann. Das lenkte Nynaeve jäh ab.
»Was tut Ihr?« fragte sie scharf. Ohne in dem innezuhalten, was sie mit Tamarla tat, gönnte sie der rundlichen Frau nur kurze, aber bohrende Blicke. »Wo habt Ihr das gelernt?«
Sumeko zuckte zusammen, aber ihre Hände hielten nicht inne. »Verzeiht mir, Aes Sedai«, sagte sie atemlos. »Ich weiß, ich sollte nicht...
Sie wird sterben, wenn ich nicht... Ich weiß, ich sollte nicht ständig versuchen... Ich wollte einfach lernen, Aes Sedai. Bitte.«
»Gut, gut, macht weiter«, sagte Nynaeve wie abwesend. Der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit war auf die Frau unter ihren Händen gerichtet. »Ihr scheint einiges zu wissen, was nicht einmal ich... Das heißt, Ihr verwendet die Stränge auf sehr interessante Art. Ihr werdet vermutlich feststellen, daß viele Schwestern von Euch lernen wollen.« Und sie fügte leise hinzu: »Vielleicht werden sie mich dann in Ruhe lassen.« Sumeko konnte ihre letzten Worte nicht verstanden haben, aber was sie gehört hatte, ließ ihr Kinn auf ihre beachtliche Brust sinken. Ihre Hände hielten jedoch weiterhin nicht inne.
»Elayne«, fuhr Nynaeve fort, »würdest du bitte nach der Schale sehen? Vermutlich ist das die Tür.« Sie deutete mit dem Kopf auf die richtige Tür, die wie ein halbes Dutzend weitere offenstand. Daraufhin blinzelte Mat, bis er zwei kleine stoffumwickelte Bündel wahrnahm, die davor lagen, wo die Plünderer sie verloren haben mußten.
»Ja«, murrte Elayne. »Ja, zumindest das kann ich tun.« Sie hob zögernd eine Hand zu Vanin, der noch immer auf Knien kauerte, ließ sie dann mit einem Seufzen wieder sinken und schritt durch den Eingang, der fast augenblicklich eine Staubwolke und ein hustendes Geräusch freigab.
Die überaus rundliche Weise Frau war nicht die einzige, die Nynaeve und Lan gefolgt war. Ieine trat aus dem Treppenhaus und zwang die tarabonische Schattenfreundin, vor ihr herzugehen, indem sie ihr einen Arm auf den Rücken drehte und eine Faust in den Nacken drückte. Ieines Kiefer war angespannt, ihr Mund fest zusammengepreßt. Ihr Gesicht zeigte halbwegs die erschreckende Sicherheit, daß sie lebendig gehäutet würde, weil sie eine Aes Sedai mißhandelte, und halbwegs Entschlossenheit, ungeachtet dessen, was geschah, weiterzumachen. Nynaeve hatte manchmal diese Wirkung auf Menschen. Die Augen der Schwarzen Schwester waren vor Entsetzen geweitet, und sie sackte zusammen, so daß sie wohl hingefallen wäre, wenn Ieine sie nicht festgehalten hätte. Sie mußte gewiß abgeschirmt worden sein, und ebenso gewiß hatte sie gehäutet zu werden wahrscheinlich dem vorgezogen, was auch immer mit ihr geschehen würde. Tränen rannen über ihre Wangen, und sie schluchzte lautlos.
Hinter ihnen folgte Beslan, der beim Anblick Naleseans und der Frauen traurig aufseufzte, und dann kamen Harnan und drei der Rotwaffen, Fergin, Gorderan und Metwyn, die drei, die auf der Vorderseite des Gebäudes gewesen waren. Harnan und die beiden anderen wiesen blutige Risse in ihren Jacken auf, aber Nynaeve mußte sie unten bereits geheilt haben. Sie bewegten sich nicht, als wären sie noch verletzt. Sie schienen jedoch sehr bedrückt.
»Was ist auf der Rückseite geschehen?« fragte Mat.
»Verdammt sei ich, wenn ich es weiß«, erwiderte Harnan. »Wir sind im Dunkeln unmittelbar in eine Ansammlung von Männern mit Dolchen geraten. Einer hat sich wie eine Schlange bewegt...« Er zuckte die Achseln und berührte wie abwesend den blutbefleckten Riß in seiner Jacke. »Einer rammte mir einen Dolch in den Leib, und das nächste, woran ich mich erinnere ist, daß ich die Augen öffnete, Nynaeve Sedai sich über mich beugte und Mendai und die übrigen tot waren.«
Mat nickte. Einer, der sich wie eine Schlange bewegte und auch wie eine Schlange aus Räumen hinausgelangte. Er sah sich im Gang um. Reanne und Tamarla waren aufgestanden - sie richteten natürlich ihre Gewänder -, und Vanin ebenfalls, der in den Raum spähte, in dem Elayne offensichtlich einige weitere Flüche ausprobierte - anscheinend genauso erfolglos wie zuvor, was aber wegen des Hustens schwer zu sagen war. Nynaeve erhob sich und half Sibella auf, einer hageren blonden Frau. Sumeko war noch mit Famelle mit ihrem honigfarbenen Haar und den großen braunen Augen beschäftigt. Aber Melores Busen könnte er nie wieder bewundern. Reanne kniete sich hin, um deren Glieder auszustrecken und ihr die Augen zu schließen, während Tamarla Janira denselben Dienst erwies. Zwei Weise Frauen waren tot, wie auch sechs seiner Rotwaffen. Getötet von einem ... Mann, den die Macht nicht berühren konnte.
»Ich habe sie gefunden!« rief Elayne aufgeregt. Sie trat wieder auf den Gang heraus und hielt ein rundes Bündel zerschlissenen Stoffs in Händen, das sie sich nicht von Vanin abnehmen lassen wollte. Von Kopf bis Fuß von Grau umhüllt, wirkte sie, als hätte sie sich im Staub gewälzt. »Wir haben die Schale der Winde, Nynaeve.«
»In diesem Fall«, verkündete Mat, »sollten wir, verdammt noch mal, schleunigst von hier verschwinden.« Niemand erhob Einwände. Gewiß, Nynaeve und Elayne bestanden darauf, daß alle Männer mit ihren Jacken für Gegenstände Säcke bildeten, die sie in dem Raum aufgestöbert hatten - sie bepackten sogar die Weisen Frauen und sich selbst -, und Reanne mußte hinabsteigen und Männer verdingen, um ihre Toten zum Bootssteg zu bringen, aber niemand erhob Einwände. Mat bezweifelte, daß der Rahad jemals schon eine solch seltsame Prozession gesehen hatte wie diejenige, die sich jetzt zum Fluß hinab bewegte - oder eine, die schneller vorangegangen wäre.