Laßt uns verdammt noch mal verschwinden«, forderte Mat später erneut, doch dieses Mal wurden Einwände erhoben. Allgemein wurde während der letzten halben Stunde gestritten, und allmählich reichte es Mat. Die Sonne war schon über den Zenit hinausgelangt. Die Passatwinde milderten die Hitze ein wenig. Schwere gelbe Vorhänge, die über den hohen Fenstern angebracht waren, bauschten sich und flatterten im Wind geräuschvoll. Seit drei Stunden waren sie im Tarasin-Palast zurück. Die Würfel rollten noch immer in seinem Kopf umher, und er hatte das Bedürfnis, gegen etwas zu treten. Oder jemanden zu treten. Er zog an dem um seinen Hals befestigten Schal. Es fühlte sich so an, als ob das Seil, das die Narbe hinterlassen hatte, wieder um seinen Hals läge und sich langsam zuzöge. »Liebe des Lichts, seid Ihr alle blind? Oder nur taub?«
Tylin hatte einen großen, mit grünen Wänden und einer hohen blauen Decke und außer mit vergoldeten Stühlen und kleinen, mit Schildpatt verzierten Tischen unmöblierten Raum zur Verfügung gestellt, der aber dennoch überfüllt war. Tylin saß mit übereinandergeschlagenen Beinen vor einem der drei Marmorkamine und beobachtete Mat mit jenen dunklen Adleraugen und einem kleinen Lächeln, während sie müßig ihre blauen und gelben Röcke richtete und ebenso müßig mit dem mit Edelsteinen besetzten Heft ihres gebogenen Dolches spielte. Er vermutete, daß Elayne oder Nynaeve mit ihr gesprochen hatten. Auch sie waren anwesend und saßen jetzt zu beiden Seiten der Königin. Irgendwann hatten sie saubere Kleidung angelegt und anscheinend sogar gebadet, obwohl sie nur jeweils für Minuten außer Sicht gewesen waren, seit sie zum Palast zurückgekehrt waren. Sie waren Tylin in ihrer leuchtenden Seide fast in ihrer königlichen Würde ebenbürtig. Mat war sich nicht sicher, wen sie mit all dieser Spitze und komplizierten Stickerei beeindrucken wollten. Sie schienen bereit für einen königlichen Ball, nicht für eine Reise. Er selbst trug noch immer seine schmutzige Kleidung, die staubige grüne Jacke geöffnet und der silberne Fuchskopf im Ausschnitt seines Hemdes verfangen. Dadurch, daß er das Lederband verknotet hatte, war es kürzer geworden, aber er wollte, daß das Medaillon seine Haut berührte. Er befand sich immerhin in Gegenwart von Frauen, welche die Macht lenken konnten.
Tatsächlich hätten diese drei Frauen den Raum wahrscheinlich allein überfüllt erscheinen lassen können. Auch Tylin allein hätte dies bewirken können, soweit es ihn betraf. Wenn Nynaeve oder Elayne tatsächlich mit ihr gesprochen hatten, war es ratsam, daß er fortging.
»Das ist lächerlich«, verkündete Merilille. »Ich habe niemals von irgendeinem Schattengezücht namens Gholam gehört Und Ihr?« Die Frage war an Adeleas und Vandene, Sareitha und Careane gerichtet. Angesichts Tylin ließ die kühle Aes Sedai-Gelassenheit die Stühle mit den hohen Rückenlehnen fast wie Throne wirken. Mat konnte nicht verstehen, warum Nynaeve und Elayne so schwerfällig dasaßen, ebenfalls kühle Gelassenheit, aber vollkommen schweigsam. Sie erkannten, sie verstanden, und aus einem unbestimmten Grund verhielten sich die anderen ihnen gegenüber jetzt demütig. Mat Cauthon andererseits war ein grober Rüpel, der getreten werden mußte, und von Merilille abwärts waren alle bereit, dies zu übernehmen.
»Ich habe das Wesen gesehen«, fauchte er. »Elayne hat das Wesen gesehen, Reanne und die Weisen Frauen haben es gesehen. Fragt sie!«
An einem Ende des Raumes versammelt, wichen Reanne und die fünf überlebenden Weisen Frauen aus Angst vor den bohrenden Fragen wie sich duckende Hennen zurück. Zumindest alle außer Sumeko. Die Daumen hinter ihren langen roten Gürtel gesteckt, sah die rundliche Frau die Aes Sedai ständig stirnrunzelnd an, schüttelte dann den Kopf, runzelte erneut die Stirn und schüttelte erneut den Kopf. Nynaeve hatte auf dem Rückweg in der Bootskabine ein wichtiges Gespräch unter vier Augen mit ihr geführt, und Mat glaubte, daß diese etwas mit ihrer neu gefundenen Haltung zu tun hatte. Er hatte mehr als einmal Aes Sedai erwähnen hören - nicht daß er zu lauschen versucht hätte. Die übrigen fragten sich wohl, ob sie anbieten sollten, Tee zu holen. Nur Sumeko hatte anscheinend erwogen, Platz anzubieten. Sibella, die entsetzt mit den knochendürren Armen ruderte, war beinahe in Ohnmacht gefallen.
»Niemand zweifelt die Worte von Elayne Aes Sedai an, Meister Cauthon«, sagte Renaile din Calon. Blauer Stern mit kühler, tiefer Stimme. Auch wenn die würdevolle Frau in einem Seidengewand, das zu den rotgelben Bodenfliesen paßte, ihm nicht zuvor benannt worden wäre, hätten die sich mit seinen eigenen vermischenden alten Erinnerungen sie anhand der zehn schweren Goldringe in ihren Ohrläppchen, die jeweils mit einer goldenen Kette verbunden und halbwegs von den schmalen weißen Flügeln in ihrem glatten schwarzen Haar verborgen waren, als Windsucherin der Herrin der Schiffe ausgewiesen. Die dicht nebeneinander hängenden Medaillons an der dünneren Kette, die zu ihrem Nasenring verlief, hätten ihm unter anderem angezeigt, welchem Clan sie angehörte, wie auch die Tätowierungen auf ihren schlanken dunklen Händen. »Wir stellen die Gefahr in Frage«, fuhr sie fort. »Wir verlassen das Wasser nicht gern ohne Grund.«
Fast zwanzig Meervolk-Frauen standen hinter ihrem Stuhl versammelt, eine Orgie farbenprächtiger Seidenstoffe und Ohrringe und Medaillons an Ketten. Die erste Merkwürdigkeit, die Mat an ihnen bemerkt hatte, war ihre Haltung gegenüber den Aes Sedai. Sie verhielten sich vollkommen respektvoll, zumindest oberflächlich, aber er hatte niemals zuvor jemanden Aes Sedai selbstgefällig betrachten sehen. Die zweite Merkwürdigkeit fiel ihm durch die Erinnerungen jener anderen Menschen auf. Er wußte durch sie nicht viel über das Meervolk, aber genügend. Jeder Atha'an Miere, ob Mann oder Frau, begann als niedrigster Matrose, ungeachtet des Umstands, ob es ihm oder ihr bestimmt war, eines Tages der Meister der Klingen oder die Herrin der Schiffe zu werden, und auf jedem Schritt des Weges eiferte das Meervolk auf eine Art um Ränge, die jeden König und jede Aes Sedai gleichgültig wirken ließ. Die Frauen hinter Renaile waren nach jeglichen Maßstäben gemessen ein seltsamer Haufen, aber zwei trugen helle Blusen aus einfachem Tuch über dunklen, schmierigen Matrosenhosen und beide einen einzigen schmalen Ring im linken Ohr. Ein zweiter und dritter Ring im rechten Ohr deuteten an, daß sie zu Windsucherinnen ausgebildet wurden, die sich aber erst noch zwei weitere Ringe verdienen mußten, ganz zu schweigen vom Nasenring, weshalb sie noch lange aufgefordert würden, die Segel niederzuholen, wann immer der Decksmeister sie brauchte, und Schläge vom ihm einstekken würden, wenn sie sich nicht schnell genug rührten. Die beiden gehörten nach all seinen Erinnerungen nicht zu dieser Versammlung. Die Windsucherin der Herrin der Schiffe hätte normalerweise nicht einmal mit ihnen gesprochen.
»Genau wie ich gesagt habe, Renaile«, bemerkte Merilille frostig und herablassend. Sie hatte jene selbstgefälligen Blicke gewiß bemerkt. Ihr Tonfall änderte sich nicht, als sie ihre Aufmerksamkeit ihm zuwandte. »Seid nicht gereizt, Meister Cauthon. Wir sind bereit, Vernunftgründen zuzuhören. Wenn Ihr welche vorbringen könnt.«
Mat bemühte sich um Geduld. Er hoffte, daß er noch genug übrig hatte - vielleicht wenn er beide Hände und Füße zu Hilfe nahm. »Gholam wurden mitten im Krieg der Macht, während des Zeitalters der Legenden, geschaffen«, begann er fast am Anfang dessen, was Birgitte ihm erzählt hatte. Er wandte sich um und sah jede Gruppe von Frauen an, während er sprach. Verdammt sei er, wenn er einer Gruppe das Gefühl vermittelte, wichtiger zu sein als eine andere. Oder das Gefühl, er würde sie um etwas bitten, besonders weil dies der Fall war. »Sie wurden geschaffen, um Aes Sedai zu töten. Aus keinem anderen Grund. Um Menschen zu töten, welche die Macht lenken konnten. Die Eine Macht wird Euch nicht helfen. Die Macht berührt einen Gholam nicht. Tatsächlich können sie die Fähigkeit, die Macht zu lenken, erspüren, wenn sie sich in einem Umkreis von ungefähr fünfzig Fuß von Euch befinden. Sie können auch die Macht in Euch erspüren. Ihr werdet den Gholam erst bemerken, wenn es zu spät ist. Sie sehen genauso aus wie alle anderen Menschen. Äußerlich. Innerlich... Gholam besitzen keine Knochen, Sie können sich unter einer Tür hindurchquetschen, und sie sind ausreichend stark, eine Tür mit einer Hand aus den Angeln zu reißen.« Oder einem Menschen die Kehle herauszureißen. Licht, er hätte Nalesean ausschlafen lassen sollen.
Er unterdrückte einen Schauder und zwang sich zum Weitersprechen. Sämtliche Frauen beobachteten ihn und schienen nicht einmal zu blinzeln. Er würde sie sein Erschaudern nicht merken lassen. »Es wurden nur sechs Gholam erschaffen - drei männliche und drei weibliche. Zumindest sehen sie so aus. Anscheinend empfanden sogar die Verlorenen leichtes Unbehagen, oder vielleicht beschlossen sie auch einfach, daß sechs genügten. Wie auch immer -wir wissen, daß sich ein Gholam in Ebou Dar befindet, der wahrscheinlich seit der Zerstörung in einer Stasis-Kammer am Leben gehalten wurde. Wir wissen nicht, ob noch andere in diese Kammer verbracht wurden, aber einer ist mehr als genug. Wer auch immer ihn geschickt hat -und es muß einer der Verlorenen gewesen sein -, wußte, daß er uns über den Fluß folgen würde. Er mußte wegen der Schale der Winde geschickt worden sein, und nach dem, was er zu mir gesagt hat, auch, um Nynaeve oder Elayne oder vielleicht sogar beide zu töten.« Er warf ihnen kurz einen tröstenden Blick zu. Niemand konnte sich wohl fühlen, wenn er wußte, daß dieses Wesen hinter ihm her war. Als Reaktion sah Elayne ihn verwirrt an und runzelte leicht die Stirn, und Nynaeve machte eine flüchtige, ungeduldige Handbewegung, daß er fortfahren solle.
»Gut«, sagte er und warf den beiden jetzt einen finsteren Blick zu. Man hatte es schwer, wenn man mit Frauen zu tun hatte. »Wer auch immer den Gholam gesandt hat, muß wissen, daß sich die Schale jetzt hier im Tarasin-Palast befindet. Wenn derjenige den Gholam hierherschickt, werden einige von Euch sterben. Vielleicht viele von Euch. Ich kann Euch nicht alle gleichzeitig beschützen. Vielleicht bekommt er sogar die Schale, und das noch zusätzlich zu Falion Bhoda.
Es besteht nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, daß sie allein ist, selbst wenn Ispan gefangengenommen wurde, und das bedeutet, daß wir uns auch um die Schwarze Ajah sorgen müssen. Nur für den Fall, daß Euch die Verlorenen und der Gholam nicht genügen.« Reanne und die Weisen Frauen richteten sich bei Erwähnung der Schwarzen Ajah noch empörter auf als Merilille und ihre Freundinnen, und die Aes Sedai, die starr dasaßen und ihre Röcke richteten, schienen bereit, den Raum verärgert zu verlassen. Er mußte sich zwingen weiterzusprechen, »Nun. Erkennt Ihr jetzt, warum Ihr den Palast verlassen und die Schale an einen Ort bringen müßt, den der Gholam nicht kennt? An einen Ort, den die Schwarze Ajah nicht kennt? Versteht Ihr, warum es jetzt sein muß?«
Renaile schnaubte laut. »Ihr wiederholt Euch, Meister Cauthon. Merilille Sedai sagt, sie hat niemals von diesem Gholam gehört. Elayne Sedai sagt, dort sei ein seltsamer Mann gewesen, ein Wesen, aber kaum mehr. Und was ist diese Stasis-Kammer? Das habt Ihr nicht erklärt. Woher wißt Ihr, was Ihr zu wissen vorgebt? Warum sollten wir uns auf das Wort eines Mannes hin, der Fabelwesen aus der Luft erschafft, noch weiter vom Wasser entfernen?«
Mat schaute zu Nynaeve und Elayne, wenn auch nur mit wenig Hoffnung. Wenn sie nur den Mund aufmachten, hätte dies schon lange beendet sein können, aber sie erwiderten seinen Blick nur und übten die ausdruckslose Aes Sedai-Maske. Er konnte ihr Schweigen nicht verstehen. Sie hatten nur einen kärglichen Bericht über die Ereignisse im Rahad abgegeben, und er war bereit zu wetten, daß sie die Schwarze Ajah überhaupt nicht erwähnt hätten, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte zu erklären, daß sie mit einer gebundenen und abgeschirmten Aes Sedai im Palast erschienen waren. Ispan wurde in einem anderen Teil des Palasts festgehalten, und ihre Anwesenheit war nur einer Handvoll Menschen bekannt. Nynaeve hatte irgendein Gebräu Ispans Kehle hinab gezwungen, eine übelriechende Mischung aus Kräutern, welche die Augen der Frau beim Schlucken hervortreten und sie kurz nacheinander kichern und stammeln ließ. Die übrigen Mitglieder des Frauenzirkels blieben als Wachen bei ihr. Unwillige Wachen, aber sehr aufmerksame. Nynaeve hatte überaus deutlich gemacht, daß sie, wenn sie Ispan entkommen ließen, besser davonlaufen sollten, bevor sie Hand an sie legte.
Mat achtete sehr darauf, nicht zu Birgitte zu blicken, die mit Aviendha neben der Tür stand. Die Aielfrau trug ein Ebou Dari-Gewand. Nicht das einfache Tuch, in dem sie zurückgekehrt war, sondern ein silbergraues, seidenes Reitgewand, das nicht zu ihrem in einer einfachen Scheide steckenden, mit einem Horngriff versehenen Gürtelmesser paßte. Birgitte hatte ihr Gewand rasch gegen ihre übliche kurze Jacke und weite Hose in Dunkelblau und Dunkelgrün eingetauscht. An ihrer Hüfte hing bereits ein Köcher. Abgesehen von dem, was er im Rahad mit eigenen Augen gesehen hatte, war sie die Quelle all dessen, was er über den Gholam wußte -und über Stasis-Kammern. Und was er gesehen hatte, hätte er selbst unter Folter nicht preisgegeben.
»Ich habe einmal ein Buch gelesen, das um...«, begann er, doch Renaile unterbrach ihn.
»Ein Buch«, höhnte sie. »Ich werde Salz nicht gegen ein Buch eintauschen, das Aes Sedai nicht kennen.«
Plötzlich fiel Mat auf, daß er der einzige anwesende Mann war. Lan war auf Nynaeves Befehl gegangen, ebenso folgsam wie Beslan auf den Befehl seiner Mutter. Thom und Juilin packten, um abzureisen, und waren inzwischen wahrscheinlich fertig.
Wenn es einen Sinn hatte. Wenn sie jemals abreisen würden. Der einzige Mann, von einer Mauer von Frauen umgeben, die anscheinend beabsichtigten, ihn den Kopf gegen die Wand schlagen zu lassen, bis sein Gehirn aufweichte. Es ergab keinen Sinn. Keinen. Sie sahen ihn abwartend an.
Nynaeve, in einem blauen, spitzenbesetzten und mit gelben Schlitzen versehenen Gewand, hatte ihren Zopf über die Schulter gezogen, so daß er zwischen ihren Brüsten herabhing, aber dieser schwere goldene King - Lans Ring, wie Mat erfahren hatte - war sorgfältig so plaziert, daß jedermann ihn sehen konnte. Ihr Gesicht war weich, und die Hände ruhten auf ihrem Schoß, und doch zuckten ihre Finger manchmal. Elayne, in grüner Ebou Dari-Seide, erwiderte seinen Blick mit Augen wie kühle Teiche tiefblauen Wassers. Ihre Hände ruhten ebenfalls auf ihrem Schoß, aber sie zog hin und wieder die Goldstik-kerei auf ihren Röcken nach und hielt dann jäh inne. Warum sagten sie nichts? Versuchten sie, sich an ihm zu rächen? »Mat will so sehr verantwortlich sein - soll er doch einmal sehen, wie er ohne uns zurechtkommt.« Ging es nur darum? Von Nynaeve hätte er das vielleicht geglaubt, aber nicht von Elayne - nicht mehr. Warum also?
Reanne und die Weisen Frauen wichen vor ihm nicht so zurück wie vor den Aes Sedai, aber ihre Haltung ihm gegenüber hatte sich geändert. Tamarla nickte ihm unaufdringlich respektvoll zu. Famelle mit dem honigfarbenen Haar ging so weit, freundlich zu lächeln. Reanne errötete seltsamerweise ein wenig. Aber sie waren nicht wirklich als Opposition anzusehen. Die sechs Frauen hatten kein Dutzend spontane Worte miteinander gewechselt, seit sie diesen Raum betreten hatten. Jedermann würde springen, wenn Nynaeve oder Elayne mit den Fingern schnippten, und würde weiterhin springen, bis man ihm aufzuhören befahl.
Er wandte sich an die übrigen Aes Sedai. Unendlich ruhige Gesichter, unendlich geduldig. Außer... Merililles Blick zuckte einen Moment an ihm vorbei zu Nynaeve und Elayne. Sareitha begann unter seinem Blick zögernd ihre Röcke zu glätten, wobei sie sich dessen nicht bewußt zu sein schien. Ein düsterer Verdacht kam in ihm auf. Hände, die sich auf Röcken bewegten. Reannes Erröten. Birgittes Köcher. Ein düsterer Verdacht. Er wußte eigentlich nicht, welcher Verdacht. Nur daß er dies falsch angegangen war. Er sah Nynaeve streng und Elayne noch strenger an. Butter wäre auf ihren verdammten Zungen nicht geschmolzen.
Er ging langsam auf die Meervolk-Frauen zu. Er ging nur voran, aber er hörte jemanden bei Merilille schnauben, und Sareitha murrte: »Solch eine Unverschämtheit!« Nun, er würde ihnen Unverschämtheit zeigen. Wenn es Nynaeve und Elayne nicht gefiel, hätten sie ihn ins Vertrauen ziehen sollen. Licht, er haßte es, benutzt zu werden. Besonders, wenn er nicht wußte wie oder warum.
Er blieb vor Renailes Stuhl stehen und betrachtete die dunklen Gesichter der Atha'an Miere-Frauen hinter ihr prüfend, bevor er zu ihr hinabblickte. Sie runzelte die Stirn und strich mit der Hand über einen mit Mondsteinen besetzten Dolch, der in ihrer Schärpe steckte. Sie war ein eher stattliche als hübsche Frau, ungefähr in mittlerem Alter, und er hätte es unter anderen Umständen vielleicht genossen, ihr in die Augen zu sehen. Es waren große dunkle Teiche, in deren Betrachtung ein Mann den ganzen Abend verbringen konnte. Unter anderen Umständen. Das Meervolk war in einem unbestimmten Sinne die Fliege im Sahnekrug, und er hatte keine Ahnung, wie er sie herausfischen sollte. Es gelang ihm, seine Verärgerung zu beherrschen. Gerade so. Was sollte er, verdammt noch mal, tun?
»Soweit ich es verstanden habe, könnt Ihr alle die Macht lenken«, sagte er ruhig. »Aber das besagt für mich nicht viel« Er konnte genausogut von Anfang an offen reden. »Ihr könnt Adeleas oder Vandene fragen, wieviel es mir bedeutet, ob eine Frau die Macht lenken kann oder nicht.«
Renaile blickte an ihm vorbei zu Tylin, aber sie sprach nicht die Königin an. »Nynaeve Sedai«, sagte sie trocken, »ich glaube, bei Eurem Handel war nicht die Rede davon, daß ich diesem jungen Wergzupfer zuhören müßte...«
»Mich kümmern Eure Absprachen mit jemand anderem verdammt wenig, Ihr Tochter des Sandes«, fauchte Mat. Also beherrschte er seine Verärgerung doch nicht so gut. Ein Mann konnte nur ein gewisses Maß ertragen.
Keuchen erklang von den Frauen hinter ihr.
Vor etwas über eintausend Jahren hatte eine Meervolk-Frau einen essenianischen Soldaten einen Sohn des Sandes genannt, unmittelbar bevor sie versucht hatte, ihm eine Klinge zwischen die Rippen zu stoßen. Die Erinnerung lag in Mat Cauthons Kopf verborgen. Es war nicht die schlimmste Beleidigung unter den Atha'an Miere, aber es kam dem nahe. Renailes Gesicht wurde puterrot. Mit einem Zischen und zornig hervortretenden Augen sprang sie auf, wobei der mit Mondsteinen besetzte Dolch in ihrer Faust aufblitzte.
Mat entriß ihn ihr, bevor die Klinge seine Brust berühren konnte, und stieß sie auf den Stuhl zurück. Er besaß schnelle Hände. Er konnte seine Verärgerung immer noch beherrschen. Ungeachtet dessen, wie viele Frauen glaubten, sie könnten ihn als Marionette benutzen, konnte er... »Hört mir zu, verdammte Närrin.« In Ordnung, vielleicht konnte er sie doch nicht beherrschen. »Nynaeve und Elayne brauchen Euch, sonst würde ich es dem Gholam überlassen, Euch die Knochen zu brechen, und der Schwarzen Ajah, Eure Überreste aufzusammeln. Nun, soweit es Euch betrifft, bin ich der Meister der Klingen, und meine Klingen sind blankgezogen.« Er hatte keine Ahnung, was das genau bedeutete - er hatte es nur einmal gehört. »Wenn die Klingen blankgezogen sind, verbeugt sich selbst die Herrin der Schiffe vor dem Meister der Klingen. Das ist der Handel zwischen Euch und mir. Ihr geht dorthin, wohin Nynaeve und Elayne Euch hinschicken, und ich werde Euch im Gegenzug nicht auf Pferden festbinden wie Packtaschen und Euch dorthin schleppen!«
Es gab keine Möglichkeit fortzufahren. Renaile erschauderte unter der Anstrengung, ihn ungeachtet ihres Dolches in seiner Hand nicht mit bloßen Händen anzugreifen. »Einverstanden, unter dem Licht!« grollte sie. Ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie bewegte mit verwirrter und ungläubiger Miene die Lippen. Dieses Mal klang das Keuchen, als würde der Wind die Vorhänge herabreißen.
»Einverstanden«, sagte Mat rasch, berührte mit den Fingern seine Lippen und drückte sie dann auf ihre.
Kurz darauf tat sie es ihm gleich, wobei ihre Finger an seinen Lippen zitterten. Er streckte den Dolch aus, und sie betrachtete ihn teilnahmslos, bevor sie ihn entgegennahm und die Klinge in die edelsteinbesetzte Scheide zurücksteckte. Es war nicht höflich, jemanden zu töten, mit dem man gerade einen Handel besiegelt hatte. Zumindest solange nicht, bis die Bedingungen erfüllt waren. Murmeln erhob sich von den Frauen hinter ihrem Stuhl, und Renaile klatschte einmal in die Hände. Das brachte die Frauen von den Windsucherinnen bis zu den Herrinnen der Wogen schnell zum Schweigen.
»Ich glaube, ich habe gerade einen Handel mit einem Ta'veren abgeschlossen«, sagte sie mit ihrer kühlen, tiefen Stimme. Die Frau konnte Aes Sedai noch lehren, wie man sich rasch wieder faßte. »Aber eines Tages, Meister Cauthon, wenn es dem Licht gefällt, werde ich Euch vernichten.«
Er wußte nicht, was das bedeutete, nur daß es von ihr unerfreulich klang. Er antwortete diplomatisch. »Alles ist möglich, wenn es dem Licht gefallt«, murmelte er. Die Höflichkeit zahlte sich letztendlich aus, obwohl sie beunruhigend hoffnungsvoll lächelte.
Als Mat sich wieder dem übrigen Raum zuwandte, hätte man den ihm gewährten Blicken nach glauben können, er habe neuerdings Hörner und Flügel. »Gibt es noch weitere Einwände?« fragte er sarkastisch, ohne auf Antworten zu warten. »Das dachte ich mir. In diesem Fall schlage ich vor, daß Ihr einen weit von hier entfernten Ort auswählt, damit wir uns auf den Weg machen können, sobald Ihr Eure Habe gepackt habt.«
Sie debattierten eifrig. Elayne erwähnte Caemlyn und klang dabei zumindest halbwegs ernst, und Careane schlug mehrere abgelegene Dörfer in den Schwarzen Bergen vor, die durch das Wegetor alle gut erreichbar wären. Licht, jeder Ort war durch das Wegetor gut erreichbar.
Vandene sprach von Arafel, und Aviendha schlug Rhuidean in der Aiel-Wüste vor, wobei die Meervolk-Frauen um so verdrossener wurden, je weiter die genannten Orte vom Meer entfernt lagen. Alles nur Theater. Das wurde zumindest Mat durch die ungeduldige Art klar, in der Nynaeve sich an ihrem Zopf zu schaffen machte, obwohl eifrig und rasch Vorschläge gemacht wurden.
»Wenn ich etwas sagen dürfte, Aes Sedai?« schaltete sich Reanne schließlich zaghaft ein. Sie hob sogar eine Hand. »Die Schwesternschaft unterhält auf der anderen Seite des Flusses, wenige Meilen nördlich, einen Bauernhof. Jedermann weiß, daß er ein Zufluchtsort für Frauen ist, die Zeit zum Nachdenken und Ruhe brauchen, aber niemand verbindet ihn mit uns. Die Gebäude sind groß und behaglich, wenn man länger bleiben muß, und...«
»Ja«, unterbrach Nynaeve sie. »Ja, ich denke, das ist ein guter Vorschlag. Was meinst du, Elayne?«
»Ich denke, es klingt wundervoll, Nynaeve. Ich weiß, daß Renaile es zu schätzen wissen wird, wenn sie in der Nahe des Meeres bleiben kann.« Die anderen fünf Schwestern übertrafen sie noch, indem sie sagten, wie angenehm es klang und wieviel besser als jeder andere Vorschlag.
Mat verdrehte die Augen. Tylin war geübt darin, nicht zu sehen, was vor ihrer Nase lag, aber Renaile schnappte danach wie eine Forelle nach einer Florfliege, was natürlich beabsichtigt gewesen war. Sie sollte aus einem unbestimmten Grund nicht wissen, daß Nynaeve und Elayne alles schon zuvor geregelt hatten. Sie führte die übrigen Meervolk-Frauen hinaus, um ihre mitgebrachte Habe zu packen, bevor Nynaeve und Elayne ihre Meinung ändern konnten.
Die beiden wären Merilille und den anderen Aes Sedai gefolgt, aber er winkte sie mit einer Handbewegung heran. Sie wechselten Blicke - er hätte eine Stunde gebraucht, um auszudrücken, was diese Blicke enthielten -, woraufhin sie, worüber er einigermaßen überrascht war, zu ihm kamen. Aviendha und Birgitte beobachteten sie von der Tür und Tylin von ihrem Stuhl aus.
»Es tut mir sehr leid, daß wir Euch benutzt haben«, sagte Elayne, bevor er ein Wort äußern konnte. Sie lächelte ihn mit diesen Grübchen an. »Wir hatten unsere Gründe, Mat, das müßt Ihr uns glauben.«
»Die Ihr nicht erfahren müßt«, wandte Nynaeve schroff ein und warf ihren Zopf mit einer gekonnten Kopfbewegung wieder über die Schulter, so daß der Goldring auf ihrem Busen hüpfte. Lan mußte verrückt sein. »Ich muß sagen, ich hätte niemals erwartet, daß Ihr tun würdet, was Ihr getan habt. Was, um alles in der Welt, hat Euch auf die Idee gebracht zu versuchen, sie einzuschüchtern? Ihr hättet alles verderben können.«
»Was wäre das Leben, wenn man nicht hin und wieder etwas wagte?« meinte er vergnügt. Wenn sie dachten, es sei geplant und nicht ein spontaner Ausbruch gewesen, sollte es ihm recht sein. Aber sie hatten ihn erneut benutzt, ohne ihm etwas davon zu sagen, und dafür wollte er ein wenig entschädigt werden. »Wenn Ihr das nächste Mal einen Handel mit dem Meervolk abschließen müßt, laßt mich es für Euch übernehmen. Dann wird es vielleicht nicht so schlimm wie beim letzten Mal.« Nynaeves leicht gerötete Wangen zeigten ihm, daß er genau ins Schwarze getroffen hatte. Nicht schlecht für einen Blindschuß.
Elayne murmelte im Tonfall kläglicher Belustigung jedoch nur: »Ein höchst aufmerksamer Untertan.« Gut bei ihr angeschrieben zu sein, könnte sich als weniger angenehm erweisen als das Gegenteil.
Sie strebten zur Tür, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, noch mehr zu sagen. Nun, er hatte nicht wirklich erwartet, daß sie Erklärungen abgeben würden. Sie waren beide Aes Sedai bis auf die Knochen. Ein Mann lernte, mit dem zu leben, was er tun mußte.
Er hatte fast nicht mehr an Tylin gedacht, aber sie an ihn. Sie fing ihn ab, bevor er noch zwei Schritte getan hatte. Nynaeve und Elayne blieben mit Aviendha und Birgitte an der Tür stehen und beobachteten sie. Daher sahen sie, wie Tylin ihn in den Hintern zwickte. Mit einigen Dingen zu leben, konnte niemand lernen. Elayne setzte eine mitleidige und Nynaeve eine heftig mißbilligende Miene auf. Aviendha bekämpfte nicht sehr erfolgreich den Drang zu lachen, und Birgitte grinste offen. Sie wußten, verdammt noch mal, alle Bescheid.
»Nynaeve hält dich für einen kleinen Jungen, der Schutz braucht«, hauchte Tylin ihm zu. »Ich aber weiß, daß du ein erwachsener Mann bist.« Ihr rauchiges Kichern machte ihre Worte zum unflätigsten Kommentar, den er jemals gehört hatte. Die vier Frauen an der Tür wurden Zeuge, wie sein Gesicht purpurrot anlief. »Ich werde dich vermissen, Taube. Was du mit Renaile getan hast, war großartig. Ich bewundere gebieterische Männer sehr.«
»Ich werde dich auch vermissen«, murmelte er. Zu seinem Entsetzen war das die reine Wahrheit. Er verließ Ebou Dar gerade rechtzeitig. »Aber wenn wir uns Wiedersehen, werde ich die Jagd übernehmen.«
Sie lachte glucksend, und die dunklen Adleraugen leuchteten fast. »Ich bewundere gebieterische Männer, Entchen. Aber nicht, wenn sie mir zu gebieten versuchen.« Sie zog seinen Kopf an den Ohren zu sich herunter, um ihn zu küssen.
Er sah Nynaeve und die anderen nicht gehen und verließ den Raum auf unsicheren Beinen, während er sein Hemd wieder in die Hose stopfte. Er mußte noch einmal umkehren, um seinen noch in einer Ecke lehnenden Speer und seinen Hut zu holen. Die Frau besaß kein Schamgefühl. Kein bißchen Schamgefühl.
Er fand Thom und Juilin, die aus Tylins Räumen kamen, gefolgt von Nerim und Lopin, Naleseans kräftigern Mann, die beide als Satteltaschen zu benutzende, große Weidenpacktaschen mit sich schleppten. Sie waren mit seiner Habe beladen, wie Mat erkannte. Juilin trug Mats Bogen und seinen Köcher über eine Schulter geschlungen. Nun, sie hatte gesagt, er würde umziehen.
»Ich fand dies auf Eurem Kissen«, sagte Thom und hielt ihm den Ring hin, den er vor einer Zeit, die ihm wie ein Jahr erschien, gekauft hatte. »Anscheinend ein Abschiedsgeschenk. Über beide Kissen waren Liebesbande und einige andere Blumen verstreut.«
Mat steckte sich den Ring mit einer heftigen Bewegung an den Finger. »Er gehört mir, verdammt. Ich habe ihn bezahlt.«
Der alte Gaukler zupfte an seinem Schnurrbart und hustete in dem mißlungenen Versuch, ein jähes breites Grinsen zu verbergen. Juilin riß sich diesen lächerlichen tarabonischen Hut vom Kopf und vertiefte sich in die Betrachtung von dessen Innenseite.
»Blut und flammende...!« Mat atmete tief durch. »Ich hoffe, Ihr beide habt auch einen Moment darauf verwendet, Eure eigene Habe zu packen«, sagte er ruhig, »denn sobald ich Olver am Wickel bekomme, werden wir aufbrechen, selbst wenn wir eine schimmelige Harfe oder einen rostigen Dolch zurücklassen müssen.« Juilin zog mit einem Finger einen Augenwinkel herab, was auch immer das bedeuten sollte, aber Thom runzelte augenblicklich die Stirn. Wer Thoms Flöte oder Harfe beleidigte, beleidigte Thom selbst.
»Mylord«, sagte Lopin düster. Er war ein dunkler, bereits kahl werdender Mann, rundlicher als Sumeko, und seine schwarze, tairenische Jacke eines Bürgerlichen, die bis zur Taille eng ansaß und dann ausgestellt war, paßte wirklich sehr genau. Er wirkte normalerweise beinahe ebenso würdevoll wie Nerim, aber jetzt waren seine Augen gerötet, als hätte er geweint. »Mylord, besteht eine Möglichkeit, daß ich zurückbleiben könnte, um der Bestattung Naleseans beizuwohnen? Er war ein guter Herr.«
Mat haßte es, nein zu sagen. »Jeder, den wir zurückließen, könnte vielleicht für lange Zeit zurückbleiben müssen, Lopin«, sagte er freundlich. »Hört zu, ich brauche jemanden, der mir bei Olvers Aufsicht hilft. Nerim hat schon mit mir alle Hände voll zu tun. Außerdem wird Nerim zu Talmanes zurückgehen. Wenn Ihr wollt, übernehme ich Euch selbst.« Er hatte sich daran gewöhnt, einen Diener zu haben, und es waren harte Zeiten für einen Mann auf Arbeitssuche.
»Das würde mir sehr gefallen, Mylord«, sagte der Bursche schwermütig. »Der junge Olver erinnert mich stark an den Sohn meiner jüngsten Schwester.«
Aber als sie Mats frühere Räume betraten, war Lady Riselle dort, die weitaus schicklicher gekleidet war als zu dem Zeitpunkt, als Mat sie das letzte Mal gesehen hatte, und sie war ganz allein.
»Warum hätte ich ihn an mich binden sollen?« sagte sie, während sich ihr wirklich erstaunlicher Busen vor Gemütsbewegung hob, als sie ihre Fäuste in die Hüften stemmte. Das Entchen der Königin sollte anscheinend Untergebenen der Königin gegenüber keinen schnippischen Ton anschlagen. »Wenn man einem Jungen die Flügel zu stark stutzt, wird er niemals ein richtiger Mann. Er hat seine Leseübungen auf meinen Knien gemacht - er hätte vielleicht den ganzen Tag gelesen, wenn ich es zugelassen hätte -, und er hat seine Zahlen geübt, so daß ich ihn gehen ließ. Warum sorgt Ihr Euch so? Er hat versprochen, bei Sonnenuntergang zurück zu sein, und er scheint großen Wert auf die Einhaltung seiner Versprechen zu legen.«
Mat stellte den Ashandarei in seine alte Ecke und wies die anderen Männer an, ihre Lasten abzulegen und Vanin und die übrigen Rotwaffen zu suchen. Dann ließ er von Riselles aufsehenerregendem Busen ab und ging zu den Räumen, die sich Nynaeve und die anderen Frauen teilten. Sie waren alle im Wohnzimmer und Lan ebenso, den Umhang des Behüters bereits über den Rücken gelegt und die Satteltaschen auf den Schultern. Anscheinend seine und Nynaeves Satteltaschen. Eine beachtliche Anzahl Kleiderbündel und nicht sehr kleiner Kisten lagen und standen überall auf dem Boden. Mat fragte sichr ob sie Lan dazu bringen könnten, diese auch zu tragen.
»Natürlich müßt Ihr ihn suchen, Mat Cauthon«, erklärte Nynaeve. »Glaubt Ihr, wir würden das Kind einfach im Stich lassen?« Wenn man sie hörte, hätte man glauben können, daß genau das seine Absicht gewesen wäre.
Er wurde jäh mit Hilfsangeboten überschwemmt, nicht nur, daß Nynaeve und Elayne vorschlugen, den Aufbruch zum Bauernhof zu verschieben, sondern Lan, Birgitte und Aviendha boten auch an, sich an der Suche zu beteiligen. Lan ging eiskalt daran, grimmig wie immer, aber Birgitte und Aviendha...
»Mir würde das Herz brechen, wenn dem Jungen etwas zustieße«, sagte Birgitte, und Aviendha fügte ebenso herzlich hinzu: »Ich habe schon immer gesagt, daß Ihr nicht richtig für ihn sorgt.«
Mat knirschte mit den Zähnen. Olver könnte in den Straßen der Stadt sehr wohl immer wieder in Gefahr geraten, bevor er bei Sonnenuntergang in den Palast zurückkehrte. Er hielt seine Versprechen, aber es bestand keine große Wahrscheinlichkeit, daß er auch nur einen Moment der Freiheit aufgeben würde, wenn es nicht sein müßte. Mehr Augen würden eine schnellere Suche bedeuten, besonders wenn alle Weisen Frauen sich daran beteiligten. Er zögerte drei Herzschläge lang. Er hatte eigene Versprechen zu halten, obwohl er klug genug war, es nicht zu sagen.
»Die Schale ist zu wichtig«, belehrte er sie. »Dieser Gholam ist noch immer dort draußen und vielleicht auch Moghedien, und natürlich die Schwarze Ajah.« Die Würfel polterten in seinem Kopf. Es würde Aviendha nicht gefallen, mit Nynaeve und Elayne in einen Topf geworfen zu werden, aber in diesem Moment kümmerte es ihn nicht. Er wandte sich an Lan und Birgitte. »Beschützt sie, bis ich zu Euch stoßen kann. Beschützt sie alle.«
Aviendha erwiderte überraschend: »Das werden wir. Ich verspreche es.« Sie betastete das Heft ihres Dolches. Sie erkannte anscheinend nicht, daß sie eine derjenigen war, die beschützt werden mußten.
Nynaeve und Elayne erkannten es. Nynaeves Blick schien sich jäh in seinen Schädel zu bohren. Er erwartete, daß sie an ihrem Zopf ziehen würde, aber seltsamerweise zuckte ihre Hand nur hin, bevor sie sie entschlossen wieder senkte. Elayne begnügte sich damit, das Kinn anzuheben, ihre großen blauen Augen waren eisig. Jetzt war kein Grübchen zu sehen.
Lan und Birgitte erkannten es ebenfalls.
»Nynaeve ist mein Leben«, sagte Lan schlicht, während er eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie wirkte seltsamerweise plötzlich sehr traurig, und dann biß sie, fast ebenso unvermittelt, die Zähne zusammen.
Birgitte warf Elayne einen herzlichen Blick zu, richtete ihre Worte aber an Mat. »Ich werde sie beschützen«, sagte sie. »Ehrenwort.«
Mat zupfte unbehaglich an seiner Jacke. Er war sich noch immer nicht sicher, wieviel er ihr erzählt hatte, als er betrunken gewesen war. Licht, die Frau hatte es in sich aufgenommen wie trockene Erde. Dennoch gab er die angemessene Antwort für einen barashandanischen Herrn und nahm ihr Versprechen an. »Die Ehre des Blutes; die Wahrheit des Blutes.« Birgitte nickte, und den bestürzten Blicken nach zu urteilen, die Nynaeve und Elayne ihm zuwarfen, hatte sie seine Geheimnisse doch bewahrt. Licht, wenn irgendeine Aes Sedai jemals etwas über diese Erinnerungen herausfände, könnten sie vielleicht ebensogut auch wissen, daß er das Horn geblasen hatte. Ob Fuchskopf oder nicht - sie würden ihn bearbeiten, bis sie jedes letzte Warum und Wie aus ihm herausgequetscht hätten.
Als er sich zum Gehen wandte, ergriff Nynaeve seinen Ärmel. »Denkt an den Sturm. Er wird bald losbrechen. Ich weiß es. Paßt auf Euch auf, Mat Cauthon. Hört Ihr? Tylin hält Anweisungen für den Bauernhof bereit, wenn Ihr mit Olver zurückkommt.«
Er rückte und entfloh, das Klappern der Würfel in seinem Kopf wie das Echo des Klangs seiner schnellen Stiefelschritte. Sollte er während der Suche auf sich aufpassen oder während er die Anweisungen von Tylin erhielt? Nynaeve und Tylin hörten Flöhe husten. Glaubten sie, ein wenig Regen würde ihn schmelzen lassen? Tatsächlich würde es nach der Benutzung der Schale wieder regnen. Es schien Jahre her zu sein, daß der letzte Regen gefallen war. Etwas beanspruchte Mats Gedanken, etwas über das Wetter und auch über Elayne, was keinen Sinn ergab, also tat er es achselzuckend ab. Eines nach dem anderen, und das vordringliche war im Moment Olver.
Die Männer warteten in dem langen Raum der Rotwaffen in der Nähe der Ställe, und alle außer Vanin, der mit über dem Bauch verschränkten Fingern auf einem der Betten lag, standen. Vanin war der Ansicht, ein Mann müsse ruhen, wann immer er die Gelegenheit dazu bekäme. Er schwang jedoch seine Stiefel herum und setzte sich auf, als Mat eintrat. Er machte sich um Olver genauso viele Sorgen wie alle übrigen. Mat befürchtete nur, der Mann würde ihn lehren, Pferde zu stehlen und Fasane zu wildern. Sieben Augenpaare sahen Mat angespannt an.
»Riselle sagt, Olver trüge seine rote Jacke«, informierte er sie. »Er gibt seine Jacken manchmal her, aber jeder Bengel in einer guten roten Jacke weiß wahrscheinlich, wo sich Olver zuletzt aufgehalten hat.
Jeder sollte in eine andere Richtung gehen. Zieht vom Mol Hara aus Kreise und versucht, nach ungefähr einer Stunde wieder zurück zu sein. Wartet, bis alle wieder hier sind, bevor Ihr erneut losgeht. Auf diese Weise werden wir anderen nicht noch morgen suchen, wenn jemand ihn bereits gefunden hat. Habt Ihr das alle verstanden?« Sie nickten.
Manchmal erstaunten sie ihn: Der schlaksige Thom mit seinem weißen Haar und Schnurrbart, der einst der Geliebte einer Königin gewesen war - bereitwilliger als Mat selbst, ganz zu schweigen davon, daß er mehr als nur ihr Geliebter gewesen sein sollte, wenn man auch nur die Hälfte der Gerüchte glaubte. Harnan mit dem kantigen Kinn, einer Tätowierung auf der Wange und weiteren an anderen Körperstellen, der schon sein ganzes Leben lang Soldat war. Juilin mit seinem Bambusstock und dem Schwertbrecher an der Hüfte, der sich für ebenso gut wie jeden Herrn hielt, auch wenn ihm der Gedanke, selbst ein Schwert zu tragen, noch immer Unbehagen bereitete, und der dicke Vanin, der Juilin harmlos wirken ließ. Der hagere Fergin und Gorderan, der fast ebenso breite Schultern wie Perrin besaß, und Metwyn, dessen blasses cairhienisches Gesicht noch immer wie das eines Jungen anstatt wie das eines Mannes aussah, der Jahre älter war als Mat. Einige von ihnen folgten Mat Cauthon, weil sie glaubten, er habe Glück und sein Glück könne sie am Leben erhalten, wenn die Schwerter gezogen wurden, und einige folgten ihm aus Gründen, deren er sich nicht wirklich sicher war, aber sie folgten ihm. Nicht einmal Thom hatte jemals gewagt mehr als einmal gegen einen seiner Befehle zu protestieren. Vielleicht hatte Renaile großes Glück bedeutet. Vielleicht bewirkte sein Ta'veren mehr, als ihn nur stets in Schwierigkeiten zu bringen. Er fühlte sich plötzlich verantwortlich für diese Männer. Es war ein beunruhigendes Gefühl. Mat Cauthon und Verantwortung paßten nicht zusammen. Es war unnatürlich.
»Paßt auf Euch auf und haltet die Augen offen«, sagte er. »Ihr wißt, was dort draußen lauert. Ein Sturm kommt auf.« Warum hatte er das gesagt? »Also los. Wir verschwenden Tageslicht.«
Der Wind blies noch immer stark und fegte Staub über den Mol Hara-Platz mit der Statue einer lange verstorbenen Königin über dem Brunnen, und es gab keine anderen Anzeichen für einen Sturm. Die Nachmittagssonne brannte hoch am wolkenlosen Himmel, aber die Menschen eilten genauso schnell über den Platz wie in der Morgenkühle, die hier unten am Boden, trotz des Windes, verschwunden war. Die Pflastersteine brannten unter Mats Stiefeln.
Den Blick über den Platz zur Wanderin gerichtet, strebte Mat dem Fluß zu. Olver war nicht halb so häufig mit den Straßenjungen unterwegs gewesen, als sie noch in dem Gasthaus wohnten. Er war zufrieden damit gewesen, sich mit den Schankmädchen und Setalle Anans Töchtern zu beschäftigen. Soviel dazu, daß ihm die Würfel gesagt hatten, er solle in den Palast ziehen. Alles, was er getan hatte, seit sie umgezogen waren - alles, was er hatte tun wollen, verbesserte er sich, als er an Tylin und ihre Augen dachte, und an ihre Hände -, alles hätte genausogut von dort aus getan werden können. Die Würfel rollten jetzt wieder, und er wünschte, sie würden einfach verschwinden.
Er versuchte, schnell voranzugehen, wich ungeduldig rollenden Karren und Wagen aus, fluchte über bemalte Sänften und Kutschen, die ihn fast umstießen, und blickte sich überall nach einer roten Jacke um, aber das Treiben auf den Straßen behinderte ihn erheblich. Was in Wahrheit ebensogut war, denn es hatte keinen Sinn, an dem Jungen vorbei zu preschen, ohne ihn zu sehen. Er wünschte, er hätte Pips aus den Palastställen mitgenommen, überlegte er stirnrunzelnd, während die Menschen an ihm vorüber strömten. Ein Reiter hätte sich in der Menge nicht schneller vorwärts bewegen können, aber er hätte vom Sattel aus weiter sehen können. Andererseits wäre es umständlich gewesen, vom Pferderücken aus Fragen zu stellen. Tatsächlich ritten in der Stadt nicht viele Leute, und einige Menschen neigten sogar dazu, vor Reitern zurückzuschrek-ken.
Stets dieselbe Frage. Das erste Mal stellte er sie an einer Brücke unmittelbar unterhalb des Mol Hara an einen Burschen, der Äpfel im Schlafrock von einem Tablett verkaufte, das er an einem Band um den Hals trug. »Habt Ihr einen Jungen gesehen, ungefähr so groß, in einer roten Jacke?« Olver liebte Süßigkeiten.
»Einen Jungen, Mylord?« Der Bursche saugte an seinen wenigen noch verbliebenen Zähnen. »Ich habe tausend Jungen gesehen. Ich erinnere mich aber an keine Jacke. Möchte Mylord einen Apfel, oder zwei?« Er hob mit knochigen Fingern zwei Äpfel hoch und schob sie Mat zu. So wie sie unter seinen Fingern nachgaben, waren sie weicher, als es nach dem Backen hätte sein sollen. »Hat Mylord von dem Aufruhr gehört?«
»Nein«, antwortete Mat gereizt und drängte weiter. Am anderen Ende der Brücke hielt er eine rundliche Frau mit einem Tablett voller Bänder an. Bänder interessierten Olver nicht, aber ihre roten Unterröcke blitzten unter einem fast bis zur linken Hüfte hochgenähten Rock auf, und der Schnitt ihres Mieders offenbarte ein rundliches Dekollete, das dem Riselles gleichkam. »Habt Ihr einen Jungen gesehen...«
Auch von ihr hörte er von dem Aufruhr, und ebenso von den übrigen Leuten, die er befragte. Er vermutete, daß dieses Gerücht mit Ereignissen in einem bestimmten Haus im Rahad an diesem Morgen seinen Anfang genommen hatte. Eine Kutscherin mit einer langen, um den Hals geschlungenen Peitsche erzählte ihm, der Aufruhr habe auf der anderen Seite des Flusses stattgefunden, nachdem sie erwähnt hatte, daß sie niemals Jungen bemerke, wenn sie nicht unter ihre Maultiere gerieten. Ein Mann mit kantigem Gesicht, der Honigwaben verkaufte - unglaublich trocken aussehende Honigwaben -, erzählte, der Aufruhr habe in der Nahe des Leuchtturms am östlichen Ende der Mündung der Bucht stattgefunden, was ein genauso wahrscheinlicher Ort für einen Aufruhr war wie mitten in der Bucht selbst. Es gab immer tausend Gerüchte in jeder Stadt, wenn man aufmerksam zuhörte, und Mat war anscheinend gezwungen, sich Bruchstücke von allen anzuhören. Eine der bemerkenswert hübschesten Frauen, die er jemals gesehen hatte, die vor einer Taverne stand - Maylin war Schankmädchen im Alten Schaf, aber ihre einzige Aufgabe schien darin zu bestehen, vor der Tür zu stehen, um Gäste anzulocken, was ihr sicherlich gelang -, sagte ihm, daß am Morgen ein Kampf stattgefunden hätte, in den Cordese-Hügeln westlich der Stadt, wie sie glaubte. Oder vielleicht in den Rhannoh-Hügeln auf der anderen Seite der Bucht. Oder vielleicht... Bemerkenswert hübsch war Maylin, aber nicht sehr klug. Olver hätte sie vielleicht stundenlang betrachtet, solange sie nicht den Mund geöffnet hätte. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, einen Jungen in einer... Was hatte er noch gesagt, welche Farbe die Jacke hatte? Mat hörte von Aufruhr und Kämpfen, er hörte von ausreichend vielen seltsamen Wesen am Himmel oder in den Hügeln, um die Große Fäule zu bevölkern. Er hörte, daß der Wiedergeborene Drache mit Tausenden von Männern, welche die Macht lenken konnten, auf die Stadt herniederkommen würde, daß die Aiel kämen, ein Heer von Aes Sedai - nein, es war ein Heer Weißmäntel -, daß Pedron Niall tot sei und die Kinder ihn rächen wollten, wobei aber nicht ganz klar war, warum in Ebou Dar. Bei all diesen umgehenden Gerüchten hätte man glauben können, die Stadt wäre vollkommen in Panik, aber tatsächlich glaubten selbst jene, die eine Geschichte erzählten, sie üblicherweise nur halbwegs. So hörte er allen möglichen Unsinn, aber kein Wort über einen Jungen in einer roten Jacke.
Wenige Straßen vom Fluß entfernt hörte er den ersten Donner, ein gewaltiges hohles Dröhnen, das vom Meer heranzurollen schien. Menschen schauten neugierig in den wolkenlosen Himmel, kratzten sich den Kopf und wandten sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Mat tat es ihnen gleich und befragte jeden Verkäufer von Süßigkeiten oder Obst, dem er begegnete, und jede hübsche Fußgängerin. Alles vergeblich. Er erreichte den langen Steinkai, der die gesamte Länge der Flußseite der Stadt entlang verlief, hielt inne und betrachtete die grauen, sich in den Fluß erstreckenden Docks und die an ihnen vertäuten Schiffe. Der Wind blies stark, ließ die Schiffe an ihren Halteseilen zerren und sich, trotz der als Puffer dazwischen hängenden, mit Baumwolle gefüllten Säcke, an den Steindocks reiben. Anders als Pferde interessierten Schiffe Olver außer als Beförderungsmittel von einem Ort zum anderen nicht, und Schiffe waren in Ebou Dar Männersache, auch wenn das für ihre Ladung häufig nicht galt, Frauen an diesen Docks waren entweder Kauffrauen, die ein Auge auf ihre Waren hielten, oder Mitglieder der Gilde der Schauerleute, und hier gäbe es keine Süßigkeitenverkäufer.
Mat wollte sich gerade abwenden, als er erkannte, daß sich niemand mehr regte. Normalerweise herrschte auf den Docks geschäftiges Treiben, und doch standen die Besatzungsmitglieder auf jedem in Sichtweite befindlichen Schiff an der Reling oder waren in die Takelage geklettert, um auf die Bucht hinauszublicken. Fässer und Lattenkisten standen verwaist, während sich Männer mit nacktem Oberkörper und drahtige Frauen in grünen Lederwesten am Ende der Docks versammelt hatten, um zwischen den Schiffen hindurch gen Süden, in Richtung des Donners zu blicken. In dieser Richtung stieg schwarzer Rauch in dicken, hoch aufragenden Säulen auf, die sich durch den Wind scharf nach Norden bogen.
Mat zögerte einen Moment und trottete dann auf das nächstgelegene Dock hinaus. Zuerst verstellten die südlich daran vertäuten Schiffe die Sicht auf den Fluß. Durch den Verlauf der Küstenlinie ragte jedoch jedes Dock weiter hinaus als das nächste. Nachdem Mat die murmelnde Menschenmenge am Ende des Docks erreicht hatte, bot der breite Fluß offene Sicht über das aufgewühlte grüne Wasser auf die bewegte Bucht hinaus.
Mindestens zwei Dutzend Schiffe brannten auf der weiten Fläche der Bucht aus, vielleicht sogar mehr, von einem Ende zum anderen von Flammen vereinnahmt. Eine Anzahl anderer war bereits langsam abgesackt, so daß nur noch Bug oder Heck übers Wasser ragten, bis der Rest dann ebenfalls hinabglitt. Noch während Mat hinsah, brach der Bug eines großen Zweimasters mit einem großen rotblaugoldenen Banner, dem Banner von Altara, plötzlich mit lautem Dröhnen auseinander, ein donnergleiches Dröhnen, und sich rasch verdichtende Rauchfäden wehten auf dem Wind, während das Schiff zu sinken begann. Hunderte von Schiffen waren im Aufbruch, jedes Schiff in der Bucht, Klipper und Gleiter mit drei Masten und Wogentänzer des Meervolks mit zwei Masten, Küstenschiffe mit ihren dreieckigen Segeln, Flußschiffe mit oder ohne Segel, die teilweise flußaufwärts flohen, aber die meisten versuchten aufs Meer hinaus zu gelangen. Hunderte anderer Schiffe trieben in der Bucht vor dem Wind umher. Große Schiffe mit schroffem Bug, so hoch wie jeder der Klipper, brachen durch die rollenden Wogen und versprühten Gischt. Mat hielt den Atem an, als er plötzlich quadratische, geriffelte Segel ausmachte.
»Blut und blutige Asche«, murrte er entsetzt. »Es sind die verdammten Seanchaner!«
»Wer?« fragte eine Frau mit hartem Gesicht, die in der Menge neben ihm stand. Ein dunkelblaues, gut geschnittenes Tuchgewand wies sie ebenso als Kauffrau aus wie die Ledermappe, die sie für ihre Frachtbriefe bei sich trug, oder die Guildennadel über einer Brust, ein silberner Federhalter. »Es sind die Aes Sedai«, verkündete sie im Tonfall der Überzeugung. »Ich erkenne Machtlenkung, wenn ich sie sehe. Die Kinder des Lichts werden es mit ihnen aufnehmen, sobald sie eintreffen. Ihr werdet sehen.«
Eine schlaksige, grauhaarige Frau in einer schmutzigen grünen Weste wandte sich zu ihr um und betastete dabei das hölzerne Heft ihres Dolches. »Hütet Eure Zunge, wenn es um Aes Sedai geht, Ihr verdammte Pfennigfuchserin, sonst wird es Euch schlecht ergehen!«
Mat überließ sie ihrem Streit, drängte sich aus der Menge heraus und lief den Kai entlang. Er konnte bereits drei - nein, vier - gewaltige Wesen mit fledermausähnlichen, großen Flügeln südlich über der Stadt kreisen sehen. Gestalten klammerten sich, offensichtlich auf irgendeiner Art Sattel, auf dem Rücken der Tiere fest. Ein weiteres Flugwesen erschien und noch mehr. Unter ihnen brachen über den Häuserdächern plötzlich brüllend Flammen auf.
Jetzt flüchteten die Menschen und stießen Mat herum, während er sich durch die Straßen kämpfte. »Olver!« rief er und hoffte, über den anderen Rufen und Schreien von allen Seiten gehört zu werden. »Olver!«
Plötzlich schienen alle in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen und drängten gewaltsam an Mat vorbei. Er kämpfte stur gegen den Strom an und kam zu einer Straße, wo deutlich wurde, wovor all diese Leute flohen.
Eine seanchanische Kolonne zog vorbei, einhundert oder mehr Männer mit Helmen wie Insektenköpfe und Rüstungen aus einander überlappenden Platten, die alle auf pferdegroßen, katzenähnlichen Tieren ritten, die aber eher mit bronzefarbenen Schuppen anstatt mit Fell bedeckt waren. Die Männer beugten sich auf ihren Sätteln vor, die mit blauen Fahnen versehenen Speere gesenkt, und galoppierten, stur geradeaus blickend, über den Mol Hara-Platz. Obwohl ›galoppieren‹ nicht ganz der richtige Ausdruck für die Fortbewegung dieser Wesen war. Die Geschwindigkeit stimmte, aber sie ... schwebten. Es war Zeit zu gehen. Längst Zeit. Sobald er Olver gefunden hätte...
Als das Ende der Kolonne vorüberzog, erregte ein hüfthoher roter Blitz in der Menge auf der Straße jenseits der Kreuzung seine Aufmerksamkeit. »Olver!« Er schoß fast auf den Fersen des letzten Schuppenwesens über die Kreuzung und drängte sich noch gerade rechtzeitig in die Menge, um eine Frau mit geweiteten Augen ein kleines Mädchen in einem roten Gewand hochreißen und mit dem an ihren Busen gepreßten Kind davonlaufen zu sehen. Mat drängte gewaltsam vorwärts, schob Menschen mit den Schultern beiseite, als sie gegen ihn stießen und stieß auch selbst gegen einige Leute. »Olver! Olver!«
Er sah noch zweimal Feuersäulen kurz über den Häuserdächern aufflammen, und Rauch stieg an einem Dutzend Stellen in den Himmel. Er hörte auch noch mehrere Male dieses donnernde Brüllen, jetzt weitaus näher als in der Bucht. Der Boden erschauderte mehr als einmal unter seinen Stiefeln.
Und dann lichtete sich die Straße erneut, Menschen flohen in alle Richtungen, Gassen hinab und in Häuser und Läden, weil Seanchaner auf Pferden kamen. Nicht alle trugen Rüstungen. Fast an der Spitze des kleinen Dickichts aus Speeren ritt eine dunkle Frau in einem blauen Gewand. Mat erkannte, daß die breiten roten Stoffstreifen auf ihren Röcken und dem Busen silberne Blitze aufwiesen. Eine silberne Koppel, die in der Sonne glänzte, verlief von ihrem linken Handgelenk zum Hals einer Frau in Grau, einer Domäne, die neben dem Pferd der Sul'dam trottete wie ein Schoßhund. Er hatte in Falme mehr von den Seanchanern gesehen, als ihm lieb gewesen war, aber er blieb dennoch unbewußt am Eingang einer Gasse stehen und beobachtete sie. Das Brüllen und die Feuer hatten gezeigt, daß sich jemand in der Stadt zumindest zu wehren versuchte, und jetzt würde er Zeuge eines solchen Versuchs werden.
Die Seanchaner waren nicht der einzige Grund, warum jedermann sonst außer Sicht geeilt war. Am anderen Ende der Straße schwangen gut hundert berittene Männer Speere mit langen Spitzen. Sie trugen bauschige weiße Hosen und grüne Jacken, und die Goldkordeln am Helm des Befehlshabers glitzerten. Mit einem gemeinsamen Aufschrei warfen sich hundert oder mehr von Tylins Soldaten gegen die Angreifer. Sie waren den Seanchanern mindestens zwei zu eins überlegen.
»Verdammte Narren«, murrte Mat. »Nicht so. Diese Sul'dam wird...«
Die einzige Bewegung unter den Seanchanern erfolgte von der Frau in dem mit Blitzen gekennzeichneten Gewand, die ihre Hand anhob, als würde sie einen Falken fliegen lassen oder einen Hund davonschicken.
Die blonde Frau am anderen Ende der silbrigen Koppel machte einen kleinen Schritt vorwärts, und das Fuchskopf-Medaillon an Mats Brust kühlte ab.
Die Straße brach unter der Spitze des Ebou Dari-Ansturms plötzlich auf, und Pflastersteine und Menschen und Pferde flogen mit ohrenbetäubendem Brüllen durch die Luft. Die Erschütterung warf Mat flach auf den Rücken, oder vielleicht geschah es auch dadurch, daß der Boden unter seinen Füßen aufsprang. Er zog sich gerade rechtzeitig hoch, um ein Gasthaus auf der anderen Straßenseite jäh in einer Staubwolke einstürzen zu sehen, so daß die Innenräume freigelegt wurden.
Rund um eine Öffnung im Boden, die halb so breit wie die Straße war, lagen überall Menschen und Pferde oder Teile davon, und wer noch lebte, schlug um sich. Schreie der Verwundeten erfüllten die Luft. Weniger als die Hälfte der Ebou Dari kam taumelnd, benommen und strauchelnd auf die Füße. Einige ergriffen zitternd die Zügel von Pferden, mühten sich in die Sättel und trieben die Tiere zu einem Trab an. Andere liefen zu Fuß davon. Alle wollten fort von den Seanchanern. Stahl konnten sie trotzen, aber dem nicht.
Mat erkannte, daß Davonlaufen im Moment eine ausgesprochen gute Idee war. Ein Blick zurück die Gasse hinab zeigte ihm Staub und Schutt in mindestens einem Stockwerk Höhe. Er rannte vor den fliehenden Ebou Dari die Straße hinab, hielt sich so nahe an den Mauern wie möglich und hoffte, daß keiner der Seanchaner ihn für einen von Tylins Soldaten hielt. Er hätte niemals eine grüne Jacke tragen sollen.
Die Sul'dam war offensichtlich noch nicht zufrieden. Der Fuchskopf kühlte erneut ab, und ein weiteres Dröhnen warf ihn erneut aufs Pflaster, das ihm entgegenkam. Er hörte durch das Klingen in seinen Ohren hindurch Mauerwerk ächzen. Die weiß verputzte Ziegel wand über ihm begann sich nach außen zu neigen. »Was ist aus meinem verdammten Glück geworden?« schrie er. Und dann hatte er gerade noch genug Zeit, um zu erkennen, wie Ziegelsteine und Balken so heftig auf ihn herniederprasselten, daß die Würfel in seinem Kopf einfach anhielten.