25 Geistfalle

Moghedien wollte dem verhaßten Traum entfliehen, aber es nützte nichts, aufwachen oder schreien zu wollen. Der Schlaf hielt sie fester als jegliche Fesseln. Der Anfang ging schnell vorüber, flüchtig, verschwommen, ohne Gnade. Sie würde den Rest um so eher durchleben müssen.

Sie erkannte die Frau kaum, die das Zelt betrat, in dem sie gefangengehalten wurde. Halima, die Schreiberin einer dieser Närrinnen, die sich Aes Sedai nannten. Närrinnen, die sie jedoch durch den Silberring um sie herum ausreichend fest hielten und sie gehorchen ließen. Eine schnelle Bewegung, obwohl sie um Langsamkeit betete. Die Frau lenkte die Macht, um ein Licht zu entzünden, und Moghedien sah nur das Licht. Es mußte Saidan sein - unter den Lebenden konnten nur die Auserwählten die Wahre Macht berühren, die vom Dunklen König kam, und nur wenige waren ausreichend töricht, sie im dringlichsten Notfall auszuschließen -, aber das war unmöglich! Verschwommene Schnelligkeit. Die Frau nannte sich Aran'gar und kannte Moghediens Namen. Sie rief zum Krater des Verderbens, nahm die A'dam-

Halskette ab und zuckte unter einem Schmerz zusammen, den keine Frau empfinden sollte. Wieder - wie viele Male hatte sie dies getan? - wob Moghedien ein kleines Wegetor ins Zelt. Sie glitt, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, durch die endlose Dunkelheit, aber kaum war sie auf ihre Plattform getreten, die wie ein kleiner abgeschlossener Marmorbalkon aussah und einen bequemen Stuhl aufwies, als sie schon auf den schwarzen Hängen Shayol Ghuls ankam, die für immer in Dämmerung gehüllt waren und wo Risse und Krater Dampf und Rauch und beißenden Dunst ausstießen. Ein Myrddraal kam in seiner totenschwarzen Kleidung zu ihr, wie ein fahler, augenloser Mensch, aber größer und wuchtiger als jeder andere Halbmensch. Er betrachtete sie anmaßend, nannte ungebeten seinen seltsamen Namen und befahl ihr mitzukommen. Das taten Myrddraals nicht mit Auserwählten. Jetzt schrie sie in den Tiefen ihres Geistes, daß der Traum schneller ablaufen sollte, so schnell, daß er verschwamm, daß man ihn nicht erkannte, ihn nicht wahrnahm, aber jetzt, als sie Shaidar Haran zurück zum Eingang des Kraters des Verderbens folgte, lief alles in normaler Geschwindigkeit ab und schien realer als Tel'aran'rhiod oder die wache Welt.

Tränen strömten aus Moghediens Augen und die bereits glänzenden Wangen hinab. Sie warf sich auf ihrem harten Lager hin und her, und ihre Arme und Beine zuckten, während sie vergebens aufzuwachen versuchte. Sie war sich nicht mehr bewußt, daß sie träumte - alles schien real -, aber tief vergrabene Erinnerungen blieben, und in deren Tiefen schrie der Instinkt auf und suchte zu entkommen.

Sie war mit dem schräg abfallenden Tunnel, der mit Fangzähnen versehen war und dessen Wände in hellem Licht schimmerten, wohl vertraut. Sie hatte diese Abwärtsreise seit jenem Tag vor langer Zeit, als sie zum erstenmal zum Großen Herrn kam, um Gehorsam zu geloben und ihm ihre Seele zu verschwören, schon viele Male angetreten, aber niemals so wie jetzt, niemals zu einem Zeitpunkt, als ihr Versagen in vollem Umfang bekannt war. Es war ihr zuvor immer gelungen, Fehler sogar vor dem Großen Herrn zu verbergen. Hier konnte man Dinge tun, die man nirgends sonst tun konnte. Hier geschahen Dinge, die nirgends sonst geschehen konnten.

Sie zuckte zusammen, als einer der Steinfangzähne ihr Haar streifte, und faßte sich dann wieder, so gut sie konnte. Die Dornen und Klingen mieden den seltsamen, zu großen Myrddraal, und obwohl er sie mit Kopf und Schultern weit überragt?, war sie gezwungen, den Spitzen mit dem Kopf auszuweichen. Hier war die Realität für den Großen Herrn formbarer Ton, und er drückte sein Mißfallen häufig auf diese Art aus. Ein Steinzahn bohrte sich in ihre Schulter, und sie duckte sich, um unter einem weiteren hindurchzugelangen. Der Tunnel war nicht mehr hoch genug, daß sie aufrecht gehen konnte. Sie beugte sich tiefer hinab, eilte jetzt gebückt hinter dem Myrddraal her und versuchte aufzuschließen. Er veränderte seine

Gangart nicht, aber wie sehr sie sich auch beeilte, wurde der Abstand zwischen ihnen doch nicht geringer. Die Decke senkte sich, damit die Fangzähne des Großen Herrn Verräter und Narren aufspießen konnten, undMoghedien ließ sich auf Hände und Knie nieder, kroch und robbte dann auf Ellbogen und Knien weiter. Licht flammte auf und flackerte im Tunnel, strahlte vom Eingang des Kraters selbst unmittelbar vor ihr aus, und Moghedien rutschte auf dem Bauch weiter, zog sich mit den Händen voran, stieß mit den Füßen nach. Steinspitzen gruben sich in ihre Haut, verfingen sich in ihrem Gewand. Keuchend schlängelte sie sich beim Geräusch zerreißenden Tuchs das letzte Stück voran.

Als sie über die Schulter zurückschaute, erbebte sie krampfartig. Wo der Tunneleingang hätte sein sollen, befand sich eine glatte Steinmauer. Vielleicht hatte der Große Herr das alles genau geplant, und vielleicht, wenn sie langsamer gewesen wäre...

Sie fand sich auf einem Sims über einem schwarz gesprenkelten, roten See aus brodelnder Lava wieder, auf dem menschenhohe Flammen tanzten, erstarben und neu erschienen. Über ihr erhob sich die Höhle ohne obere Begrenzung in einen Himmel, an dem rot und gelb und schwarz gestreifte, drohende Wolken dahinrasten, als strömten sie auf dem Wind der Zeit selbst dahin. Es war nicht der dunkel wolkenverhangene Himmel, den man außerhalb Shayol Ghuls sah und der keinen zweiten Blick verdiente, nicht nur, weil sie ihn schon viele Male gesehen hatte. Der Stollen in

den Bereich, wo der Große Herr gefangengehalten wurde, war hier nicht näher als irgendwo sonst auf der Welt, aber hier konnte sie ihn spüren. Hier konnte sie im strahlenden Glanz des Großen Herrn schwelgen. Die Wahre Macht umströmte sie so stark, daß der Versuch, die Macht zu lenken, sie zu Schlacke verbrennen würde. Nicht, daß sie den Wunsch verspürte, den Preis irgendwo sonst zu bezahlen.

Sie wollte sich gerade auf die Knie aufrichten, als sie etwas zwischen die Schulterblätter traf, sie fest auf den Steinsims drückte und ihr die Luft aus den Lungen preßte. Sie rang benommen nach Atem und blickte dann wieder über die Schulter. Der Myrddraal stand, einen wuchtigen Stiefel fest auf ihrem Rücken, über ihr. Sie hätte fast Saidar umarmt, aber hier ohne ausdrückliche Erlaubnis die Macht zu lenken, käme dem Tod gleich. Die Anmaßung auf den Hängen in der Oberwelt war eine Sache, aber dies...!

»Wißt Ihr, wer ich bin?« fragte sie. »Ich bin Moghedien!« Der augenlose Blick beobachtete sie wie vielleicht auch ein Insekt. Sie hatte Myrddraals gewöhnliche Menschen häufig auf diese Art betrachten sehen.

MOGHEDIEN. Die Stimme in ihrem Kopf verscheuchte alle Gedanken an den Myrddral. Sie verscheuchte beinahe jeden Gedanken. Neben dieser Empfindung war auch die innigste Umarmung eines menschlichen Geliebten nur wie ein Tropfen im Vergleich zu einem Ozean. WIE SEHR HAST DU GEFEHLT, MOGHEDIEN, DIE AUSERWÄHLTEN

SIND STETS DIE STÄRKSTEN, ABER DU LÄSST DICH EINNEHMEN. DU HAST JENE GELEHRT, DIE SICH MIR ENTGEGENSTELLEN WERDEN, MOGHEDIEN.

Sie kämpfte mit flatternden Augenlidern um Klarheit. »Großer Herr, ich habe sie nur kleine Dinge gelehrt, und ich habe sie so gut bekämpft, wie ich konnte. Ich habe sie einen möglichen Weg gelehrt, einen die Macht lenkenden Mann zu entdecken.« Es gelang ihr zu lachen. »Dies auszuführen, verursacht ihnen solche Kopfschmerzen, daß sie die Macht stundenlang nicht mehr lenken können.« Schweigen. Vielleicht auch gut. Sie hatten den Versuch zu lernen schon lange vor ihrer Rettung aufgegeben, aber das brauchte der Große Herr nicht zu erfahren. »Großer Herr, Ihr wißt, wie ich Euch gedient habe. Ich diene in den Schatten, und Eure Feinde spüren meinen Biß erst, wenn mein Gift wirkt.« Sie wagte nicht zu sagen, sie habe sich freiwillig gefangennehmen lassen, um von innen zu wirken, aber sie könnte es vorschlagen. »Großer Herr, Ihr wißt, wie viele Eurer Feinde ich im Krieg der Macht zu Fall gebracht habe. Aus den Schatten, ungesehen, oder wenn man mich doch sah, unbeachtet, weil ich nicht als Bedrohung angesehen wurde.« Schweigen, Und dann...

MEINE AUSERWÄHLTEN SIND STETS DIE STÄRKSTEN. MEINE HAND FÜHRT.

Die Stimme hallte in ihrem Schädel wider, verwandelte ihre Knochen in brodelnden Honig und setzte ihr Gehirn in Flammen. Der Myrddraal hatte die Hand um ihr Kinn gelegt und zwang ihren Kopf hoch, bevor sich ihre Sicht weit genug geklärt hatte, daß sie das Messer in seiner anderen Hand sehen konnte. Alle ihre Träume endeten hier mit einem Durchschneiden ihrer Kehle, während ihr Körper den Trollocs verfüttert würde. Vielleicht würde Shaidar Haran einen Schnitt für sich selbst bewahren. Vielleicht...

Nein. Sie wußte, daß sie sterben würde, aber dieser Myrddraal würde keine Faser von ihr verspeisen! Sie streckte sich nach Saidar ausf und ihre Augen traten hervor. Da war nichts. Nichts! Es war, als wenn sie von der Quelle abgetrennt wäre! Sie wußte, daß dem nicht so war - es hieß, daß dies der stärkste Schmerz war, der einem Menschen widerfahren konnte, jenseits jeglicher Macht zu töten - aber...!

In jenen benommenen Momenten zwang der Myrddraal ihren Mund auf, strich mit der Klinge ihre Zunge entlang und kerbte dann ihr Ohr ein. Und als er sich mit ihrem Blut und Speichel aufrichtete, wußte sie es, noch bevor er einen kleinen, zerbrechlichen Käfig aus Golddraht mit einem Kristall hervorbrachte. Einige Dinge konnten nur hier getan werden, einige nur jenen angetan werden, welche die Macht lenken konnten. Sie selbst hatte zahlreiche Männer und Frauen genau zu diesem Zweck hierher gebracht.

»Nein«, keuchte sie. Sie konnte den Blick nicht von dem Cour'souvra abwenden. »Nein, nicht ich! NICHT ICH!«

Shaidar Haran ignorierte sie und strich Blut und Speichel vom Messer auf den Cour'souvra. Der

Kristall wurde milchig rot, der erste Schritt. Mit einem Schwung des Handgelenks warf er die Geistfalle zum zweiten Schritt über den geschmolzenen Felsen hinaus. Der goldene Käfig mit dem Kristall wölbte sich hoch in die Luft und hielt plötzlich inne, schwebte genau an der Stelle, wo sich anscheinend der Stollen befand, der Ort, an dem das Muster am dünnsten war.

Moghedien vergaß den Myrddraal. Sie streckte die Hände nach dem Stollen aus. »Gnade, Großer Herr!« Sie hatte niemals erlebt, daß der Große Herr der Dunkelheit Erbarmen walten ließ, aber auch wenn sie mit rasenden Wölfen in einer Zelle angekettet gewesen wäre, hätte sie um dasselbe gebeten. Unter den richtigen Umständen bat man auch um das Unmögliche. Der Cour'souvra schwebte in der Luft und wandte sich im Licht der auflodernden Flammen langsam um. »Ich habe Euch mit ganzem Herzen gedient, Großer Herr. Ich bitte um Gnade. Ich bitte darum, GNA-DEEEEEEE!« DU KANNST MIR NOCH IMMER DIENEN.

Die Stimme versetzte sie in unvorstellbare Verzückung, aber gleichzeitig glühte die funkelnde Geistfalle plötzlich wie die Sonne auf, und sie erfuhr in ihrer Entzückung einen Schmerz, als sei sie in den Feuersee, eingetaucht. Sie verschmolz damit, heulte und schlug wie wahnsinnig um sich, schlug in endlosem Schmerz um sich, bis sie nach Jahrhunderten, nachdem nichts als Todesqual und die Erinnerung an den Schmerz geblieben war, von der Gnade der Dunkelheit vereinnahmt wurde.

Moghedien regte sich auf ihrem Lager. Nicht wieder. Bitte!

Sie erkannte die Frau kaum, die das Zelt betrat, in dem sie gefangengehalten wurde.

Bitte, schrie sie in den Tiefen ihres Geistes.

Die Frau lenkte die Macht, um ein Licht zu entzünden, und Moghedien sah nur das Licht.

Sie erschauderte tief im Schlaf und zitterte von Kopf bis Fuß. Bitte!

Die Frau nannte sich Aran'gar und kannte Moghediens Namen. Sie rief zum Krater des Verderbens und...

»Wacht auf, Frau«, sagte eine rauhe Stimme, und Moghedien öffnete ruckartig die Augen. Sie wünschte fast, der Traum kehrte wieder.

Keine Tür und kein Fenster durchbrach die nichtssagenden Steinmauern ihres kleinen Gefängnisses, und es gab auch keine Lampen, aber dennoch kam von irgendwoher Licht. Sie wußte nicht, wie viele Tage sie schon hier war, nur daß in unregelmäßigen Abständen fades Essen gebracht wurde, daß der einzige Eimer als sanitäre Einrichtung noch unregelmäßiger geleert wurde und Seife und ein Eimer mit parfümiertem Wasser irgendwo für sie bereitstanden, damit sie sich waschen konnte. Sie war sich nicht sicher, ob das eine Gnade war oder nicht. Die freudige Erregung beim Anblick eines Eimers Wasser hatte ihr verdeutlicht, wie tief sie gesunken war. Shaidar Haran war jetzt bei ihr in der Zelle.

Sie rollte sich eilig von ihrem Lager, kniete sich hin und führte ihr Gesicht zum bloßen Steinboden. Sie hatte stets getan, was auch immer nötig war, um zu überleben, und der Myrddraal hatte es sie auch nur zu gern gelehrt. »Ich grüße Euch bereitwillig, Mia'cova.« Der zusammengezogene Titel brannte auf ihrer Zunge. Er bedeutete ›Einer der mich besitzt‹ oder einfach ›Mein Besitzern Der seltsame Schild, den Shaidar Haran bei ihr verwandt hatte - Myrddraal konnten dies nicht tun, aber er tat es - war nicht ersichtlich, aber sie erwog dennoch nicht die Macht zu lenken. Die Wahre Macht war ihr natürlich verwehrt -sie konnte nur mit dem Segen des Großen Herrn herangezogen werden -, aber die Quelle marterte sie, obwohl das gerade außer Sicht befindliche Schimmern irgendwie seltsam schien. Sie erwog es noch immer nicht. Jedes Mal, wenn der Myrddraal sie aufsuchte, zeigte er ihr die Geistfalle. Es war äußerst schmerzhaft, die Macht in zu naher Entfernung des eigenen Cour'souvra zu lenken, und desto schmerzhafter, je näher er war. In dieser Nähe hätte sie vermutlich nicht einmal eine einfache Berührung der Quelle überlebt. Und das war noch die geringste der Gefahren einer Geistfalle.

Shaidar Haran kicherte rauh, beinahe trocken. Das war noch ein Unterschied bei diesem Myrddraal. Weitaus grausamer als nur blutdürstige Trollocs waren Myrddraals kalt und leidenschaftslos. Shaidar Haran zeigte jedoch häufig Belustigung. Bisher war sie froh, daß sie nur blaue Flecken hatte. Die meisten Frauen hätten jetzt schon am Rande des Wahnsinns gestanden, wenn sie nicht bereits darüber hinaus gelangt wären.

»Und wollt Ihr auch bereitwillig gehorchen?« fragte die rauhe, knirschende Stimme.

›Ja, ich möchte bereitwillig gehorchen, Mia'cova.« Was auch immer nötig war, um zu überleben. Aber sie keuchte noch immer, wenn sich kalte Finger plötzlich in ihr Haar gruben. Sie richtete sich so weit auf wie möglich, aber er half dennoch nach. Zumindest blieben ihre Füße dieses mal auf dem Boden. Der Myrddraal betrachtete sie ausdruckslos. Als sich Moghedien an vergangene Besuche erinnerte, fiel es ihr schwer, nicht zusammenzuzucken oder zu schreien oder einfach Saidar zu umarmen und dem ein Ende zu bereiten.

»Schließt Eure Augen«, befahl er ihr, »und haltet sie geschlossen, bis ich Euch erlaube, sie wieder zu öffnen.«

Moghedien schloß eilig die Augen. Eine von Shaidar Harans Lektionen hatte darin bestanden, ihr augenblicklichen Gehorsam beizubringen. Außerdem konnte sie mit geschlossenen Augen versuchen vorzugeben daß sie jemand anderer sei. Was auch immer nötig war.

Die Hand in ihrem Haar bewegte sich jäh, und sie schrie wider Willen auf. Der Myrddraal preßte sie gegen die Wand. Sie hob schutzsuchend die Hände, und Shaidar Haran ließ sie los. Sie taumelte mindestens zehn Schritte - aber ihre Zelle maß keine zehn Schritte. Sie roch Wald. Sie roch einen schwachen Hauch harzigen Rauch. Sie hielt die Augen jedoch fest geschlossen. Sie wollte sich auch weiterhin nicht mehr als blaue Flecke einheimsen und auch davon nur so wenige wie möglich, so lange es ihr gelang.

»Ihr könnt die Augen jetzt wieder öffnen.«

Sie tat es vorsichtig. Der Sprecher war ein großer, breitschultriger junger Mann in schwarzen Stiefeln und Hose und einem weißen, oben geöffneten Hemd, der sie mit erschreckend blauen Augen aus einem gepolsterten Lehnstuhl vor einem Marmorkamin ansah, in dem die Flammen an langen Scheiten entlang züngelten. Sie stand in einem mit Holzpaneelen versehenen Raum, der vielleicht einem reichen Kaufmann oder einem Adligen bescheidenen Ranges in dieser Zeit hätte gehören können. Die Möbel waren mit Schnitzereien versehen und goldverziert und die Teppiche in rotgoldenen Arabesken gewoben. Sie war sich jedoch sicher, daß sich dieser Raum irgendwo in der Nähe Shayol Ghuls befand. Er fühlte sich nicht an wie Tel'aran'rhiod, die einzige andere Möglichkeit. Sie wandte hastig den Kopf und atmete tief durch. Der Myrddraal war nirgendwo zu sehen. Der feste Silberring Cuande um ihre Brust schien verschwunden.

»Habt Ihr Eure Zeit in der Vakuole genossen?«

Moghedien spürte eiskalte Finger nach ihrer Kopfhaut greifen. Sie war keine Forscherin und keine Schöpferin, aber sie kannte das Wort. Sie dachte nicht einmal daran zu fragen, woher ein junger Mann dieser Zeit es kannte. Manchmal gab es Blasen im Muster, obwohl jemand wie Mesaana sagen würde, das sei eine zu einfache Erklärung. Man konnte Vakuolen betreten, wenn man wußte wie, und sie konnten wie der Rest der Welt beeinflußt werden - Forscher hatten in Vakuolen oft große Experimente durchgeführt, wie sie sich vage erinnerte -, aber sie befanden sich tatsächlich außerhalb des Musters, und manchmal schlossen sie sich oder lösten sich vielleicht und entschwebten. Selbst Mesaana wußte nicht, was geschah, nur daß alles zu der Zeit darin Befindliche für immer verschwand .

»Wie lange?« Es überraschte sie, daß ihre Stimme fest klang. Sie wandte sich zu dem jungen Mann um, der dort saß und sie anlächelte. »Ich fragte, wie lange? Oder wißt Ihr es nicht?«

»Ich sah Euch...« Er hielt inne, langte nach einem Silberbecher auf dem Tisch neben seinem Stuhl und lächelte sie über den Rand hinweg weiterhin an, während er trank. »...vorletzte Nacht ankommen.«

Sie konnte ihr erleichtertes Seufzen nicht zurückhalten. Der einzige Grund, warum jemand eine Vakuole betreten wollte, bestand darin, daß die Zeit dort anders verging - manchmal langsamer, manchmal schneller. Manchmal viel schneller. Sie wäre nicht allzu überrascht gewesen zu erfahren, daß der Große Herr sie tatsächlich einhundert Jahre lang gefangen gehalten hatte, oder eintausend, um sie wieder in eine Welt zu entlassen, die ihm bereits gehörte, um sie dahinsiechend ihren Weg gehen zu lassen, während die anderen Auserwählten die Oberhand hatten. Sie war noch immer eine der Auserwählten, zumindest in ihrer Vorstellung. Bis der Große Herr selbst sagte, daß sie es nicht mehr sei. Sie hatte niemals von jemandem gehört, der freigelassen wurde, wenn erst eine Geistfalle errichtet war, aber sie würde eine Möglichkeit finden. Es gab immer einen Weg für diejenigen, die vorsichtig waren, während jene, die versagten, Vorsicht Feigheit nannten. Sie hatte selbst einige dieser sogenannten Tapferen nach Shayol Ghul gebracht, damit sie mit dem Cour'souvra ausgestattet wurden.

Plötzlich fiel ihr auf, daß dieser Bursche für einen Schattenfreund viel wußte, besonders für jemanden, der nicht viel älter als zwanzig sein konnte. Er schwang ein Bein über eine Armlehne und rekelte sich anmaßend unter ihrem forschenden Blick. Nur ein zu stark ausgeprägtes Kinn verhinderte, daß er gut aussah. Aber sie glaubte nicht, daß sie jemals dermaßen blaue Augen gesehen hatte. Durch seine anmaßende Haltung und durch das, was sie gerade durch Shaidar Harans Hände erduldet hatte, durch den Ruf der Quelle und die Abwesenheit des Myrddraal erwog sie, diesem jungen Schattenfreund eine strenge Lektion zu erteilen. Der Umstand, daß ihre Kleidung verschmutzt war, trug ihren Teil zu dieser Erwägung bei. Sie roch leicht nach dem Parfüm des Waschwassers, aber sie hatte keine Möglichkeit gehabt, das raube Gewand zu säubern, in dem sie Egwene al'Vere entflohen war, oder die Risse von ihrer Reise zum Krater zu beseitigen. Die Vernunft gewann mühsam die Oberhand, denn dieser Raum mußte sich in der Nähe Shayol Ghuls befinden.

»Wie heißt Ihr?« fragte sie. »Habt Ihr eine Ahnung, mit wem Ihr sprecht?«

»Ja, Moghedien. Ihr könnt mich Moridin nennen.«

Moghedien keuchte, aber nicht wegen des Namens. Jeder Narr konnte sich Tod nennen. Aber ein winziger schwarzer Fleck, gerade ausreichend groß, daß man ihn sehen konnte, zog gerade über eines dieser blauen Augen und dann auf gleicher Höhe über das andere.

Dieser Moridin hatte häufiger als einmal die Wahre Macht berührt. Weitaus häufiger. Sie wußte, daß einige Menschen, welche die Macht lenken konnten, abgesehen von al'Thor, in dieser Zeit überlebt hatten -dieser Bursche hatte ungefähr die gleiche Größe wie al'Thor -, aber sie hatte nicht erwartet daß der Große Herr jemandem diese besondere Ehre zuteil werden ließe. Eine Ehre mit Widerhaken, wie jeder Auserwählte wußte. Auf lange Sicht gesehen war die Wahre Macht weitaus suchterzeugender als die Eine Macht. Ein starker Wille konnte das Verlangen, mehr Saidar oder Saidin heranzuziehen, bezwingen, aber sie glaubte nicht, daß man einen ausreichend starken Willen haben konnte, der Wahren Macht zu widerstehen, wenn erst der Saa in die Augen trat. Der letztendlich zu zahlende Preis war unterschiedlich, aber in jedem Fall furchtbar.

»Euch wurde weitaus mehr Ehre gewährt, als Euch bewußt ist«, belehrte sie ihn. Als sei ihr Gewand aus edelstem Streith, ließ sie sich auf dem Lehnstuhl ihm gegenüber nieder. »Bringt mir etwas von diesem Wein, und ich werde es Euch erklären. Nur neunundzwanzig anderen wurde jemals gewährt...«

Zu ihrem Entsetzen lachte er. »Ihr befindet Euch im Irrtum, Moghedien. Ihr dient noch immer dem Großen Herrn, aber nicht ganz so wie einst. Die Zeit für Eure eigenen Spiele ist vorüber. Wenn Ihr nicht zufällig einiges von Nutzen bewirkt hättet, wärt Ihr jetzt tot.«

»Ich bin eine der Auserwählten, Junge«, sagte sie, während Zorn ihre Vorsicht vereinnahmte. Sie richtete sich gerade auf und sah ihn mit all dem Wissen eines Zeitalters an, das seines unwichtig erscheinen ließ. Sie besaß ohnehin und in bestimmten, die Eine Macht betreffenden Gebieten soviel Wissen, daß niemand sie überflügeln konnte. Sie hätte, ungeachtet der Nähe Shayol Ghuls, fast die Quelle umarmt »Eure Mutter hat Euch wahrscheinlich vor noch nicht allzu langer Zeit mit meinem Namen erschreckt, und Ihr müßt wissen, daß selbst erwachsene Menschen, die Euch wie einen Schwamm zerdrücken könnten, schwitzten, wenn sie ihn hörten. Ihr werdet Eure Zunge in meiner Gegenwart hüten!«

Er griff in den geöffneten Ausschnitt seines Hemdes, und ihr versagte die Stimme. Sie heftete ihren Blick auf den kleinen Käfig aus Golddraht mit dem blutroten Kristall, den er an einer Schnur baumelnd hervorgezogen hatte. Sie bemerkte flüchtig, daß er einen zweiten, ebensolchen Käfig wieder in den Hemdenausschnitt zurückgesteckt hatte, aber sie hatte nur Augen für ihren eigenen Käfig. Es war eindeutig ihrer. Er strich mit dem Daumen darüber, und sie spürte in ihrem Geist, ihrer Seele Zärtlichkeit. Es erforderte nicht viel mehr Druck, als er erzeugte, eine Geistfalle zu zerbrechen. Sie könnte sich auf der anderen Seite der Welt oder noch weiter entfernt befinden, und es wäre vollkommen unwichtig. Der Teil von ihr, der sie war, würde abgetrennt werden. Sie würde noch immer mit ihren Augen sehen und mit ihren Ohren hören, schmecken, was auf ihrer Zunge lag und spüren, was sie berührte, aber sie wäre innerhalb dieses roboterartigen Körpers, der demjenigen bedingungslosen Gehorsam schuldete, der den Cour'souvra besaß, hilflos. Ungeachtet des Umstands, ob es eine Möglichkeit gab, sich daraus zu befreien oder nicht, war eine Geistfalle genau das, was der Name besagte. Sie konnte spüren, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich.

»Versteht Ihr jetzt?« fragte er. »Ihr dient noch immer dem Großen Herrn, aber jetzt werdet Ihr meinen Befehlen gehorchen.«

»Ich verstehe, Mia'cova«, sagte sie mechanisch.

Er lachte erneut, ein tiefes, kräftiges Lachen, das ihrer spottete, während er die Geistfalle wieder unter seinem Hemd verbarg. »Wir brauchen sie jetzt nicht da Ihr Eure Lektion gelernt habt. Ich werde Euch Moghedien nennen, und Ihr werdet mich Moridin nennen. Ihr seid noch immer eine der Auserwählten. Wer könnte Euch ersetzen?«

»Ja, natürlich, Moridin«, sagte sie tonlos. Was auch immer er sagte, sie wußte, daß er sie besaß.

Загрузка...