17 Der Triumph der Logik

Mat war aus dem Palast geeilt, als Tylin ihn schließlich hatte gehen lassen, und wenn er geglaubt hätte, daß es etwas genützt hätte, wäre er gerannt. Die Haut zwischen seinen Schulterblättern kribbelte dermaßen, daß er fast die in seinem Kopf tanzenden Würfel vergaß. Der schlimmste Augenblick - der allerschlimmste unter einem Dutzend schlimmer Augenblicke - war gewesen, als Beslan seine Mutter neckte und meinte, sie sollte sich selbst einen Hübschen für den Ball suchen, und Tylin lachend erwiderte, eine Königin hätte keine Zeit für junge Männer, während sie Mat die ganze Zeit mit diesen verdammten Adleraugen ansah. Jetzt wußte er, warum Hasen so schnell laufen konnten. Er überquerte den Mol-Hara-Platz, ohne etwas wahrzunehmen. Hätten Nynaeve und Elayne in dem Springbrunnen unter dieser Statue irgendeiner lange verstorbenen Königin, die mindestens zwei Spann groß war und zum Meer deutete, mit Jaichim Carridin und Elaida Kapriolen geschlagen, wäre er vorbeigegangen, ohne ihnen einen zweiten Blick zu gönnen.

Der Schankraum der Wanderin war düster, aber nach der sengenden Hitze draußen vergleichsweise kühl. Er nahm dankbar seinen Hut ab. Ein schwacher Dunst von Pfeifenrauch hing in der Luft, aber die arabeskenartig geschnitzten Läden über den breiten Bogenfenstern ließen ausreichend Licht herein. Einige staubige Kiefernzweige waren für die Festlichkeiten über die Fenster gebunden worden. In einer Ecke spielten zwei Frauen mit Flöten und ein Bursche mit einer kleinen Trommel zwischen den Knien eine schrille, pulsierende Musik, die Mat schätzen gelernt hatte. Selbst zu dieser Tageszeit waren schon einige Gaste da, fremdländische Kaufleute in angemessen einfacher Kleidung und hier und da ein Ebou Dari, die meisten in Westen verschiedener Gilden. Keine Lehrlinge oder Gesellen waren hier. So nahe am Palast war die Wanderin kein preiswerter Ort zum Essen und Trinken, und noch viel weniger zum Übernachten.

Das Klappern von Würfeln an einem Tisch in der Ecke bildete ein Echo zu dem Empfinden in Mats Kopf, aber er wandte sich in die andere Richtung, wo drei seiner Männer auf Bänken um einen Tisch saßen. Corevin, ein sehr muskulöser Cairhiener mit einer Nase, die seine Augen noch kleiner wirken ließ, als sie ohnehin schon waren, saß bis zur Taille entblößt da und hielt seine tätowierten Arme über den Kopf, während Vanin einen Verband um seine Körpermitte anlegte. Vanin besaß die dreifache Körperfülle von Corevin und wurde bereits kahl. Seine Jacke erweckte den Eindruck, als habe er eine Woche lang darin geschlafen. So wirkte sie immer, auch schon eine Stunde, nachdem eine der Dienerinnen sie gebügelt hatte. Einige der Kaufleute, aber keiner der Ebou Dari betrachteten die drei unbehaglich. Männer und Frauen hatten schon häufig solche und Schlimmere erlebt.

Harnan, ein tairenischer Rottenführer mit kantigem Kinn und der groben Tätowierung eines Falken auf der linken Wange, schalt Corevin. »...kümmert mich nicht, was der wütende Fischhändler gesagt hat, du Kröte, du benutzt deinen verdammten Knüppel und nimmst keine heftigen Herausforderungen an, nur weil...« Er brach ab, als er Mat sah, und versuchte den Eindruck zu erwecken, als hätte er nicht gesagt, was er gesagt hatte.

Würde Mat nachfragen, würde er erzählt bekommen, daß Corevin ausgeglitten und in seinen eigenen Dolchgefallen war - oder etwas ähnlich Törichtes, was Mat zu glauben vorgeben sollte. Also stützte er einfach nur die Fäuste auf den Tisch, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Tatsächlich war es auch nicht so ungewöhnlich. Vanin war der einzige Mensch, der noch nicht bereits in zwei Dutzend Klemmen geraten war. Aus einem unerfindlichen Grund machten Menschen, die Ärger wollten, einen ebenso großen Bogen um Vanin wie um Nalesean. Der einzige Unterschied bestand darin, daß es Vanin anscheinend so gefiel. »Waren Thom oder Juilin schon hier?«

Vanin ›schaute nicht von seiner Tätigkeit auf. »Habe noch kein Stück von den beiden gesehen. Aber Nalesean war kurz hier.« Kein ›Mein Lord‹-Unsinn von Vanin. Er machte keinen Hehl daraus, daß er Adlige nicht mochte. Mit der unglückseligen Ausnahme Elaynes. »Er hat oben in Eurem Raum eine eisenbeschlagene Kiste zurückgelassen und ging dann wieder, wobei er etwas über Tand murmelte.« Er schickte sich an, durch seine Zahnlücke zu speien, erblickte jedoch eines der Schankmädchen und unterließ es. Herrin Anan reagierte bei jedermann tödlich, der auf ihre Böden spie oder Knochen darauf warf oder auch nur eine Pfeife darauf ausklopfte. »Der Junge ist draußen im Stall«, fuhr er fort, bevor Mat fragen konnte, »mit seinem Buch und einer der Töchter der Wirtin. Ein anderes der Mädchen hat ihm den Hintern versohlt, weil er sie in ihren gekniffen hatte.« Er verknotete den Verband und sah Mat vorwurfsvoll an, als sei es irgendwie seine Schuld gewesen.

»Armes kleines Würmchen«, murrte Corevin und drehte sich, um zu überprüfen, ob der Verband halten würde. Er hatte einen Leoparden und einen Keiler auf einen Arm tuschiert, und einen Löwen und eine Frau auf den anderen. Die Frau schien außer ihrem Haar kaum etwas zu tragen. »Olver hat geweint. Obwohl er wieder strahlte, als Leral ihm ihre Hand überließ.« Die Männer kümmerten sich alle um den Jungen wie eine Schar Onkel, wenn auch sicherlich von einer Art, wie keine Mutter sie in der Nähe ihres Sohnes wissen wollte.

»Er wird es überleben«, sagte Mat nüchtern. Der Junge nahm diese Gewohnheiten wahrscheinlich von seinen »Onkeln« an. Als nächstes würden sie ihn tätowieren. Zumindest hatte sich Olver nicht davongeschlichen, um mit den Straßenkindern umherzuziehen. Er schien daran genauso viel Gefallen zu finden wie daran, erwachsene Frauen zu belästigen. »Harnan, Ihr wartet hier, und wenn Ihr Thom oder Juilin seht, dann haltet sie fest. Vanin, Ihr seht zu, was ihr in der Nähe des Chelsaine-Palasts erfahren könnt, drüben bei den Drei Burgtoren.« Er zögerte und sah sich im Raum um. Schankmädchen betraten und verließen die Küche mit Essen und häufiger mit Getränken. Die meisten der Gäste schienen sich nur um ihre Silberbecher zu kümmern, obwohl zwei Frauen in den Westen der Weberinnen leise stritten, ihren gewürzten Wein vergaßen und sich über den Tisch hinweg einander zuneigten. Einige der Kaufleute feilschten anscheinend, fuchtelten mit den Händen und tauchten die Finger in ihre Becher, um Zahlen auf den Tisch zu malen. Die Musik sollte Mats Worte vor Lauschern schützen, aber er senkte seine Stimme dennoch.

Die Nachricht, daß Jaichim Carridin Schattenfreunde empfing, schien in Vanin den Wunsch zu erwecken, dennoch auszuspeien, gleichgültig, wer es sah. Harnan murmelte etwas über widerwärtige Weißmäntel, und Corevin schlug vor, Carridin der Bürgerwehr zu melden. Das brachte ihm dermaßen empörte Blicke von den beiden anderen ein, daß er sein Gesicht in einem Becher Bier verbarg. Er war einer der wenigen Männer die Mat kannte, die bei dieser Hitze Ebou- Dari-Bier trinken konnten. Beziehungsweise, es überhaupt trinken konnten.

»Seid vorsichtig«, warnte Mat, als Vanin aufstand. Nicht daß er sich wirklich Sorgen gemacht hätte. Vanin bewegte sich für einen solch dicken Mann überraschend gewandt. Er war der beste Pferdedieb in mindestens zwei Ländern und konnte sogar an einem Behüter ungesehen vorbei gelangen, aber... »Sie sind unangenehme Menschen. Weißmäntel und Schattenfreunde - beide.« Der Mann brummte nur und bedeutete Corevin, sein Hemd und seine Jacke anzuziehen und mitzukommen.

»Mein Lord?« sagte Harnan, als sie gingen. »Mein Lord, ich habe gehört, daß es im Rahad gestern Nebel gegeben haben soll.«

Mat hatte sich schon umwenden wollen, hielt aber jetzt in der Bewegung inne. Harnan wirkte besorgt, und er war selten besorgt. »Was meint Ihr mit Nebel?« In dieser Hitze würde dichter Nebel keinen Herzschlag lang bestehen bleiben.

Der Rottenführer zuckte unbehaglich die Achseln und spähte in seinen Becher. »Nebel. Ich hörte, daß ... Wesen ... darin gewesen sein sollen.« Er sah zu Mat auf. »Ich habe gehört, daß Menschen einfach verschwunden sind. Und einige wurden teilweise angefressen aufgefunden.«

Mat hatte Mühe, nicht zu erschaudern. »Der Nebel ist wieder fort, nicht wahr? Und Ihr wart nicht darin. Sorgt Euch darum, wenn Ihr es seid. Mehr könnt Ihr nicht tun.« Harnan runzelte zweifelnd die Stirn, aber es war die reine Wahrheit. Diese Blasen des Bösen -so nannte Rand sie, wie auch Moiraine - brachen auf, wo und wann sie wollten, und selbst Rand schien nichts tun zu können, um sie aufzuhalten. Sich darum zu sorgen, nutzte genauso viel, wie sich darüber Gedanken zu machen, ob einem morgen auf der Straße ein Dachziegel auf den Kopf fallen würde. Oder noch weniger, da man dann beschließen konnte, im Haus zu bleiben.

Es gab jedoch etwas, worüber man sich sorgen sollte. Nalesean hatte ihre Gewinne oben im Raum zurückgelassen. Die verdammten Adligen gingen mit Gold um wie mit Wasser. Mat überließ Harnan seinem Getränk und eilte auf die geländerlose Treppe an der Rückseite des Raums zu, aber bevor er sie erreichte, sprach ihn eines der Schankmädchen an.

Caira war ein schlankes Mädchen mit vollen Lippen und verhangenen Augen. »Ein Mann kam herein und hat nach Euch gefragt, mein Lord«, sagte sie, indem sie ihre Rocke schwang und durch lange Wimpern zu ihm aufsah. Ihre Stimme klang leicht schleppend. »Er sagte, er sei ein Feuerwerker, aber er wirkte auf mich schäbig. Er bestellte Essen und ging wieder, als Herrin Anan es ihm nicht gewähren wollte. Er wollte, daß Ihr bezahlt.«

»Das nächste Mal gebt ihm das Essen«, befahl Mat ihr und ließ eine Silbermünze in ihren Ausschnitt fallen. »Ich werde mit Herrin Anan sprechen.« Er suchte einen Feuerwerker - einen richtigen, nicht irgendeinen Burschen, der Feuerwerk voller Sägespäne verkaufte -, aber das war jetzt unwichtig. Nicht, solange das Gold unbewacht dalag. Und solange es im Rahad Nebel gab, und solange es Schattenfreunde gab und Aes Sedai, und solange die verdammte Tylin den Verstand verlor, und...

Caira kicherte und wand sich wie eine Katze, die man streichelt. »Soll ich Euch etwas gewürzten Wein auf euer Zimmer bringen, mein Lord? Oder etwas anderes?« Sie lächelte hoffnungsvoll und einladend.

»Vielleicht später.« Mat tippte ihr mit der Fingerspitze auf die Nase. Sie kicherte erneut. Das tat sie stets. Caira hätte ihre Röcke so nähen lassen, daß man die Spitzenunterröcke bis zur Mitte des Oberschenkels hätte sehen können, wenn Herrin Anan es zugelassen hätte, aber die Wirtin achtete auf ihre Schankmädchen genauso wie auf ihre Töchter. Fast. »Vielleicht später.«

Mat stieg die breite Steintreppe hinauf und verbannte Caira aus seinen Gedanken. Was sollte er wegen Olver unternehmen? Der Junge würde eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, wenn er glaubte, Frauen so behandeln zu können. Er würde ihn vermutlich soweit wie möglich von Harnan und den anderen fernhalten müssen. Sie hatten einen schlechten Einfluß auf den Jungen. Das noch zu allem anderen! Er mußte Nynaeve und Elayne aus Ebou Dar hinausbringen, bevor noch etwas Schlimmeres passierte.

Sein Zimmer lag auf der Vorderseite des Gasthauses. Die Fenster gingen auf den Platz hinaus. Als Mat nach dem Türgriff faßte, knarrte der Flurboden hinter ihm. In hundert anderen Gaststätten hätte er es nicht einmal bemerkt, aber die Böden in der Wanderin knarrten nicht.

Er schaute zurück - und fuhr gerade noch rechtzeitig genug herum, um seinen Hut fallen zu lassen und den herabsausenden Knüppel mit der linken Hand statt mit dem Schädel aufzufangen. Der Schlag ließ seine Hand taub werden, aber er hielt den Knüppel dennoch verzweifelt fest, während sich dicke Finger um seinen Hals legten und ihn gegen die Tür seines Zimmers schlugen. Er prallte mit dem Kopf fest dagegen. Silbern gesäumte schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen und verdunkelten ein schwitzendes Gesicht. Er konnte nur eine große Nase und gelbe Zähne erkennen, und selbst das nur unklar. Plötzlich erkannte er, daß er am Rande einer Ohnmacht stand. Die dicken Finger unterbrachen die Blutzufuhr zum Gehirn genauso wie die Luftzufuhr. Mat griff mit der freien Hand unter seine Jacke und betastete die Hefte seiner Dolche, als erinnerten sich seine Finger nicht mehr, wofür sie gedacht waren. Der Knüppel entglitt seiner Hand. Mat konnte sehen, wie er angehoben und wieder gesenkt wurde, um seinen Schädel zu zerschmettern. Er schloß alles andere aus, riß einen Dolch aus seiner Scheide und stach zu.

Sein Angreifer stieß einen hohen Schrei aus, und Mat bemerkte vage, wie der Knüppel von seiner Schulter abprallte und zu Boden fiel, aber der Mann ließ seine Kehle nicht los. Mat trieb ihn stolpernd rückwärts und riß miteiner Hand an den zudrückenden Fingern, während er mit dem Dolch abermals zustieß.

Plötzlich sank der Bursche zusammen und glitt von der Klinge ab. Der Dolch folgte ihm fast auf den Boden. Und Mat ebenfalls. Er rang nach Atem, nach lieblicher Luft, und klammerte sich an etwas, einen Eingang, um stehen zu bleiben. Vom Boden aus starrte ihn ein Mann mit einem unscheinbaren Gesicht aus Augen an, die niemals wieder etwas sehen würden, ein kräftiger Bursche mit einem gezwirbelten murandianischen Schnurrbart in einer Jacke, die eher zu einem kleinen Händler oder einem Ladenbesitzer gepaßt hätte. Er wirkte überhaupt nicht wie ein Dieb.

Plötzlich erkannte Mat, daß sie während ihres Kampfes durch eine geöffnete Tür gestolpert waren. Dieser Raum war kleiner als Mats, ohne Fenster, und zwei Öllampen auf kleinen Tischen neben dem schmalen Bett sorgten für eine trübe Beleuchtung. Ein schlaksiger, hellhaariger Mann richtete sich von einer großen geöffneten Kiste auf und betrachtete den Leichnam auf sonderbare Weise. Die Kiste nahm den größten Teil des freien Raums in diesem Zimmer ein.

Mat öffnete den Mund, um sich für das rauhe Eindringen zu entschuldigen, als der schlaksige Mann einen langen Dolch aus seinem Gürtel und einen Knüppel vom Bett riß und über die Kiste hinweg auf Mat zusprang. Es war nicht der Blick gewesen, den man einem fremden Toten gewährt. Mat klammerte sich schwankend an den Türrahmen und warf unbemerkt seinen Dolch, wobei das Heft kaum seine Hand verlassen hatte, als er unter seiner Jacke schon nach einem weiteren Dolch griff. Sein erster Dolch blieb genau in der Kehle des anderen Mannes stecken, und Mat sank fast erneut zu Boden, dieses Mal vor Erleichterung, als der Mann sich an die Kehle griff, Blut zwischen seinen Fingern hervorschoß und er rückwärts in die geöffnete Kiste fiel.

»Es ist gut, wenn man Glück hat«, krächzte Mat.

Er nahm seinen Dolch taumelnd wieder an sich und wischte ihn an der grauen Jacke des Burschen ab. Es war eine bessere Jacke als die des anderen; ebenfalls aus Tuch, aber besser geschnitten. Ein niedriger gestellter Lord hätte sich ihrer nicht geschämt. Dem Kragen nach zu urteilen, war es eine andoranische Jacke. Mat sank auf das Bett und betrachtete den gespreizt in der Kiste liegenden Mann stirnrunzelnd, als ihn ein Geräusch aufschauen ließ.

Sein Diener stand im Eingang und versuchte erfolglos, eine große schwarze Eisenbratpfanne hinter dem Rücken zu verbergen. Nerim bewahrte in dem kleinen Raum neben Mats Zimmer, den er sich mit Olver teilte, eine ganze Reihe Töpfe und alles andere auf, wovon er glaubte, daß der Diener eines Lords es unterwegs gebrauchen könnte. Er war selbst für einen Cairhiener klein und äußerst mager. »Ich fürchte, mein Lord hat erneut Blut an der Jacke«, murmelte er in schwermütigem Tonfall. An dem Tag, an dem er anders klingen würde, ginge die Sonne im Westen auf. »Ich wünschte, mein Lord wäre vorsichtiger mit seiner Kleidung. Es ist so schwer, Blut zu entfernen, ohne daß ein Fleck zurückbleibt, und die Insekten müssen nicht noch ermutigt werden, Löcher hineinzufressen. An diesem Ort gibt es mehr Insekten, als ich je gesehen habe, mein Lord.« Er erwähnte die beiden toten Männer oder das, was er mit der Bratpfanne vorgehabt hatte, mit keinem Wort.

Der Lärm hatte auch anderweitig Aufmerksamkeit erregt. Die Wanderin war kein Gasthaus, in dem Schreie unbemerkt blieben. Schritte hallten im Gang wider, und Herrin Anan schob Nerim energisch aus dem Weg und raffte ihre Röcke, um den Leichnam auf dem Boden zu umgehen. Ihr Ehemann folgte ihr in den Raum, ein grauhaariger Mann mit kantigem Gesicht, von dessen linkem Ohrläppchen der doppelte Ohrring der Alten und Ehrenwerten Gilde der Netze herabhing. Die beiden weißen Steine am unteren Ring besagten, daß er noch andere Schiffe außer demjenigen besaß, das er befehligte. Jasfer Anan war teilweise der Grund, warum sich Mat bemühte, eine von Herrin Anans Töchtern nicht zu offen anzulächeln. Der Mann trug einen Dolch und noch eine längere, gebogene Klinge in seinem Gürtel, und seine lange blaugrüne Weste ließ Arme und Brust frei, die von Duellnarben übersät waren. Er lebte jedoch, und die meisten der Männer, die ihm diese Narben zugefügt hatten, lebten nicht mehr.

Ein zweiter Grund für Mats Vorsicht war Setalle Anan selbst. Mat hatte sich noch nie zuvor wegen der Mutter von einem Mädchen abbringen lassen, selbst wenn dieser Mutter das Gasthaus gehörte, in dem er wohnte, aber Herrin Anan hatte so eine Art... Die großen goldenen Kreolen in ihren Ohren schwangen, als sie die toten Männer betrachtete, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie war trotz einer Spur Grau im Haar hübsch, und ihr Hochzeitsdolch schmiegte sich in Rundungen, die Mats Blick normalerweise angezogen hätten wie Motten das Licht, aber sie so anzusehen, wäre gewesen, wie etwas anderes anzusehen ... nicht seine Mutter ... vielleicht eine Aes Sedai, obwohl er das natürlich schon getan hatte, nur um zu schauen ... oder Königin Tylin, das Licht helfe ihm. Es war nicht leicht zu bestimmen warum. Sie hatten einfach eine gewisse Art an sich. Und genauso unvorstellbar war es, etwas zu tun, das Setalle Anan beleidigen würde.

»Der eine der beiden hat mich im Gang angegriffen.« Mat berührte mit dem Fuß leicht dessen Brust. Ein hohles Geräusch erklang, obwohl der Tote in der Kiste lag und Arme und Beine herausschauten. »Es befindet sich außer ihm nichts in der Kiste. Ich glaube, sie wollten sie mit dem füllen, was immer sie hätten stehlen können.« Das Gold vielleicht? Es war unwahrscheinlich, daß sie davon gehört hatten, da Mat und Nalesean es erst vor Stunden gewonnen hatten, aber er würde Herrin Anan dennoch nach einem sichereren Aufbewahrungsort fragen.

Sie nickte ruhig, die haselnußbraunen Augen gelassen. Männer, die in ihrem Gasthaus niedergestochen wurden, brachten sie nicht aus der Ruhe. »Sie bestanden darauf, die Kiste selbst heraufzutragen. Sie behaupteten, es sei ihr Warenlager. Sie haben den Raum erst unmittelbar bevor Ihr hereinkamt gemietet. Nur für wenige Stunden, sagten sie, um sich auszuschlafen, bevor sie nach Nor Chasen weiterzögen.« Das war ein kleines Dorf an der Küste östlich von hier, aber es war unwahrscheinlich, daß sie die Wahrheit gesagt hatten. Ihr Tonfall verdeutlichte es. Sie betrachtete die toten Männer stirnrunzelnd, als wünschte sie, die beiden durch Schütteln wieder zum Leben zu erwecken, damit sie Fragen beantworten könnten. »Aber sie wollten unbedingt diesen Raum haben. Der hellhaarige Mann hatte das Sagen. Er lehnte die ersten drei Zimmer ab, die ich ihm anbot, und nahm erst dieses an, obwohl es eigentlich für einen einzelnen Diener bestimmt ist. Ich dachte, er wäre geizig.«

»Selbst ein Dieb kann geizig sein«, sagte Mat abwesend. Dies hätte genügt, die Würfel in seinem Kopf erneut rollen zu lassen - in einem Kopf, der sicherlich gespalten worden wäre, wenn dieser Bursche nicht ausgerechnet auf das einzige knarrende Brett im ganzen Gasthaus getreten wäre -, aber die verdammten Dinger rollten ohnehin noch immer. Es gefiel ihm nicht.

»Also denkt Ihr, daß es ein Zufall war, mein Lord?«

»Was sonst?«

Sie wußte keine Antwort, aber sie betrachtete die Leichname erneut mit gerunzelter Stirn. Vielleicht war sie nicht so unbeschwert, wie er geglaubt hatte.

Sie war immerhin nicht in Ebou Dar geboren.

»In letzter Zeit gibt es zu viele Grobiane in der Stadt.« Jasfer hatte eine tiefe Stimme und hörte sich, schon wenn er normal sprach, gebieterisch an. »Vielleicht solltet Ihr erwägen, Wächter anzuheuern.« Herrin Anan sah ihren Mann nur mit einer gewölbten Augenbraue an, und er hob abwehrend die Hände. »Friede, Frau. Ich habe gesprochen, ohne nachzudenken.« Es war bekannt, daß Ebou-Dari-Frauen ihren Ehemännern ihr Mißfallen scharf verdeutlichten. Es war nicht auszuschließen, daß einige seiner Narben von ihr stammten. Der Hochzeitsdolch konnte auf vielerlei Arten benutzt werden.

Mat dankte dem Licht, daß er nicht mit einer Ebou Dari verheiratet war, und steckte seinen Dolch wieder ein. Dank dem Licht war er überhaupt nicht verheiratet. Seine Finger streiften Papier.

Herrin Anan ließ ihren Mann nicht so leicht davonkommen. »Das tust du häufig, Mann«, sagte sie und betastete das Heft zwischen ihren Brüsten. »Viele Frauen würden das nicht durchgehen lassen. Elynde sagt mir stets, ich wäre nicht hart genug mit dir, wenn du Unsinn redest. Ich muß meinen Töchtern ein gutes Vorbild sein.« Strenge löste sich in einem Lächeln, wenn auch in einem schwachen Lächeln. »Betrachte dich als gezüchtigt. Ich werde es mir auch versagen, dir zu erzählen, wer welches Netz auf welchem Boot ziehen sollte.«

»Du bist zu nett zu mir, Frau«, erwiderte er trocken. Es gab in Ebou Dar keine Gilde für Wirte, aber jedes Gasthaus in der Stadt wurde von Frauen betrieben. Die Ebou Dari glaubten, daß jedes von einem Mann geleitete Gasthaus und jedes von einer Frau geführte Boot vom schlimmsten Pech heimgesucht würde. Es gab in der Gilde der Fischer keine Frauen.

Mat nahm das Papier hervor. Es war schneeweiß, teuer und starr und klein zusammengefaltet. Die wenigen Zeilen darauf waren in kantigen Buchstaben geschrieben, wie Olver sie vielleicht benutzen würde. Oder ein Erwachsener, der nicht wollte, daß seine Schrift wiedererkannt würde.

ELAYNE UND NYNAEVE GEHEN ZU WEIT. ERINNERT SIE DARAN, DASS IHNEN VON DER BURG NOCH IMMER GEFAHR DROHT. ERMAHNT SIE, VORSICHTIG ZU SEIN, SONST WERDEN SIE NOCH VOR ELAIDA KNIEN UND UM VERZEIHUNG BITTEN MÜSSEN.

Das war alles. Keine Unterschrift. Noch immer droht Gefahr? Das beinhaltete, daß die Gefahr nichts Neues war, und das paßte irgendwie nicht dazu, daß sie von den Aufrührern gefangengenommen worden sein sollten. Nein, es war die falsche Frage. Wer hatte ihm diesen Zettel zugesteckt? Offensichtlich Leute, die glaubten, sie könnten ihm die Botschaft nicht einfach geben. Wer hatte die Gelegenheit dazu gehabt, seit er die Jacke heute morgen angezogen hatte? Da war er mit Sicherheit noch nicht da gewesen. Menschen, die ihm nahe gekommen waren. Leute... Plötzlich bemerkte er ungewollt, daß er ein altes Lied der Aes Sedai summte. Nur Teslyn oder Joline konnten es gewesen sein, und das war unmöglich.

»Schlechte Nachrichten, mein Lord?« fragte Herrin Anan.

Mat stopfte den Zettel in die Tasche. »Kann irgendein Mann die Frauen jemals verstehen? Ich meine nicht nur Aes Sedai, sondern alle Frauen.«

Jasfer brüllte vor Lachen, und als seine Frau ihm einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, lachte er nur noch lauter. Der Blick, den sie dann Mat zuwarf, hätte in seiner Gelassenheit sogar eine Aes Sedai beschämt. »Männer hätten es recht leicht, mein Lord, wenn sie nur richtig sehen oder zuhören könnten. Frauen fällt die schwierigere Aufgabe zu. Wir müssen versuchen, die Männer zu verstehen.« Jasfer hielt sich am Türrahmen fest, während ihm Tränen das dunkle Gesicht hinabliefen. Herrin Anan sah ihn von der Seite an, neigte den Kopf, wandte sich dann um, ganz kühle Gelassenheit - und hieb ihm mit der Faust so fest gegen die Rippen, daß seine Knie nachgaben. Sein Gelächter wurde zu einem Keuchen, ohne jedoch aufzuhören. »Es gibt in Ebou Dar ein Sprichwort, mein Lord«, sagte sie über die Schulter zu Mat. »Ein Mann ist ein Labyrinth von Dunkelheit umhüllter Brombeersträucher, und nicht einmal er selbst kennt den Weg.«

Mat schnaubte. Sie war wirklich eine große Hilfe. Nun, Teslyn oder Joline oder sonst jemand - es mußte jemand anderer gewesen sein; wenn er nur wüßte, wer - die Weiße Burg war weit entfernt. Mat betrachtete stirnrunzelnd die beiden Leichname. Jaichim Carridin war hier am Ort. Und einhundert andere Schurken ebenfalls. Er würde diese zwei Frauen irgendwie sicher aus Ebou Dar herausbringen. Das Problem war nur, daß er keinen blassen Schimmer hatte, wie er das bewerkstelligen sollte. Er wünschte, diese verdammten Würfel würden anhalten und es wäre vorbei.

Die Räume, die sich Joline mit Teslyn teilte, waren ziemlich geräumig, einschließlich eines Schlafzimmers für jede von ihnen sowie eines für ihre Mägde und eines weiteren, das sehr gut für Blaeric und Fen geeignet gewesen wäre, wenn Teslyn es hätte ertragen können, ihre Behüter bei sich zu haben. Die Frau sah jeden Mann als möglicherweise tollwütigen Wolf an, und sie duldete keinen Widerspruch, wenn sie etwas wirklich wollte. Sie war genauso unerbittlich wie Elaida und machte alles nieder, was ihr in den Weg geriet. Gewiß waren sie in jeder Beziehung gleichgestellt, aber nicht vielen gelang es, ohne wirklichen Vorteil die Oberhand über Teslyn zu bekommen. Sie saß im Wohnzimmer am Schreibtisch, als Joline eintrat, und ihre Feder verursachte ein schreckliches Kratzen. Sie geizte stets mit der Tinte.

Joline fegte ohne ein Wort an ihr vorbei und auf den Balkon hinaus, ein langer Käfig aus weiß bemaltem Schmiedeeisen. Die Schnörkel verzierungen waren so dicht gearbeitet, daß es den drei Stockwerke tiefer im Garten arbeitenden Männern schwergefallen wäre zu sehen, daß jemand auf dem Balkon war. Normalerweise gediehen Blumen dieser Gegend in der Hitze, wilde Farbtupfer, die das Innere des Palastes überstrahlten, aber dort unten blühte nichts. Gärtner liefen mit Wassereimern die Kieswege entlang, aber fast jedes Blatt war gelb oder braun. Joline hätte es nicht einmal unter Folterqualen zugegeben, aber die Hitze machte ihr angst. Der Dunkle König berührte die Welt, und ihre einzige Hoffnung war ein junger Mann, der über die Stränge schlug.

»Brot und Wasser?« fragte Teslyn plötzlich. »Den Cauthon-Jungen in die Burg schicken? Wenn sich an unserem Plan etwas ändert, werdet Ihr es bitte zunächst mir sagen, bevor Ihr andere informiert.«

Joline spürte, wie sie errötete. »Merilille mußte ins Vertrauen gezogen werden. Sie hat gelehrt, als ich Novizin war.« Ebenso Teslyn. Sie war eine strenge Lehrerin gewesen, die ihre Klassen in eisernem Griff hatte. Schon ihre Art zu sprechen war eine Mahnung, eine deutliche Warnung, nichts gegen sie zu unternehmen, ob gleichgestellt oder nicht. Merilille stand jedoch niedriger. »Sie ließ uns gewöhnlich vor der Klasse stehen und bohrte wieder und wieder nach der von ihr geforderten Antwort, bis wir dort vor allen anderen vor Anspannung weinten. Sie heuchelte Mitleid, oder vielleicht empfand sie es auch wirklich, aber je mehr sie uns tätschelte und sagte, wir sollten aufhören zu weinen, desto schlimmer wurde es.« Sie brach plötzlich ab. Sie hatte das gar nicht sagen wollen. Es war Teslyns Schuld, die sie immer ansah, als sollte sie wegen eines Flecks auf ihrem Kleid gescholten werden. Aber sie sollte es verstehen. Merilille hatte auch sie unterrichtet.

»Das habt Ihr die ganze Zeit in Erinnerung behalten?« Teslyns Stimme klang völlig ungläubig. »Die Schwestern, die uns unterrichtet haben, taten nur ihre Pflicht.

Manchmal denke ich, daß Elaida mit ihrer Meinung über Euch recht hat.« Das ärgerliche Kratzen begann von neuem.

»Es ... fiel mir einfach wieder ein, als Merilille sich so verhielt, als wäre sie tatsächlich eine Gesandte.« Anstatt eine Aufrührerin. Joline schaute stirnrunzelnd in den Garten hinab. Sie verachtete jede einzelne jener Frauen, die die Weiße Burg gespalten und vor der ganzen Welt damit geprahlt hatten. Sie und alle, die ihnen geholfen hatten. Aber Elaida hatte auch schreckliche Fehler gemacht. Die Schwestern, die jetzt Aufrührerinnen waren, hätten mit ein wenig gutem Willen wieder versöhnt werden können. «Was hat sie über mich gesagt? Teslyn?« Die Feder kratzte weiterhin über das Papier wie über eine Schiefertafel kratzende Fingernägel. Joline ging wieder hinein. »Was hat Elaida gesagt?«

Teslyn legte ein weiteres Blatt Papier auf ihren Brief, entweder um ihn abzulöschen oder um ihn vor Jolines Blick zu verbergen, aber sie antwortete nicht sofort. Sie blickte Joline stirnrunzelnd an - oder blickte sie vielleicht nur an; das war bei ihr manchmal schwer zu sagen - und seufzte schließlich. »Nun gut, wenn Ihr es unbedingt wissen müßt. Sie sagte, Ihr wärt noch ein Kind.«

»Ein Kind?« Jolines Erschütterung beeindruckte Teslyn nicht.

»Manche ändern sich von dem Tage an, an dem sie das Novizinnenweiß anlegen, kaum. Einige ändern sich überhaupt nicht. Elaida glaubt, Ihr wärt noch nicht erwachsen und würdet es auch niemals werden.«

Joline hob verärgert den Kopf und versagte sich eine Antwort. Und das von jemandem, deren Mutter noch ein Kind gewesen war, als sie die Stola erlangte! Elaida war als Novizin zu sehr verhätschelt und wegen ihrer Stärke und der bemerkenswerten Schnelligkeit, mit der sie lernte, überbewertet worden. Joline vermutete, daß dies der Grund dafür war, daß sie über Elayne und Egwene und die Wilde Nynaeve so erzürnt war. Weil sie stärker waren als sie, weil sie erheblich weniger Zeit als Novizinnen verbracht hatten, ungeachtet dessen, daß sie zu schnell vorangedrängt wurden. Nun, Nynaeve war niemals eine Novizin gewesen, und das hatte man noch niemals gehört.

»Da Ihr das Thema zur Sprache gebracht habt«, fuhr Teslyn fort, »sollten wir vielleicht versuchen, die Situation zu nutzen.«

»Was meint Ihr?« Joline umarmte die Wahre Quelle und lenkte die Macht Luft, um einen Silberkrug von einem mit Türkisen eingelegten Tablett zu heben und gewürzten Wein in einen Silberbecher zu gießen. Die Freude daran, Saidar zu umarmen, ergriff sie genauso stark wie immer und tröstete und erheiterte sie.

»Ich denke, das ist offensichtlich. Elaidas Befehle haben nach wie vor Gültigkeit. Elayne und Nynaeve sollen zur Weißen Burg zurückgebracht werden, sobald man sie gefunden hat. Ich habe zugestimmt abzuwarten, aber vielleicht sollten wir jetzt doch nicht mehr länger warten. Schade, daß das al'Vere-Mädchen nicht bei ihnen ist. Aber zwei werden uns Elaidas Gunst auch wiederbringen, und wenn wir auch den Cauthon-Jungen mitnehmen könnten... Ich glaube, diese drei werden bewirken, daß sie uns willkommen heißt, als kämen wir mit al'Thor selbst. Und diese Aviendha wird eine gute Novizin abgeben, ob sie nun eine Wilde ist oder nicht.«

Der Becher mit dem gewürzten Wein schwebte in Jolines Hand, und sie ließ die Macht widerwillig fahren. Sie hatte die Inbrunst, die sie empfunden hatte, als sie zum ersten Mal die Quelle berührt hatte, nie verloren. Gewürzter Honigmelonenwein war ein schwacher Ersatz für Saidar. Der schlimmste Teil ihrer Buße, bevor sie die Burg verlassen hatte, war der Verlust des Rechts gewesen, Saidar zu berühren. Fast der schlimmste Teil. Sie hatte alles selbst festgelegt, aber Elaida hatte ihr verdeutlicht, daß sie die Härte ihrer Buße bestimmen würde, wenn Joline es nicht selbst tat. Sie bezweifelte nicht, daß das Ergebnis dann weitaus schlimmer gewesen wäre. »Ihre Gunst? Teslyn, sie hat uns aus keinem anderen Grund gedemütigt, als um den anderen zu zeigen, daß sie dazu in der Lage war. Sie hat uns in dieses fliegengeplagte Loch geschickt, so weit von allem Wichtigen entfernt wie möglich, fast der anderen Seite des Aryth-Meers entsprechend, Gesandte einer Königin, die weniger Macht besitzt als ein Dutzend Adlige, von denen ihr jeder morgen den Thron entreißen könnte, wenn man sie dazu bringen würde. Und Ihr wollt Euch Elaidas Gunst wieder erschleichen?«

»Sie ist immerhin der Amyrlin-Sitz.« Teslyn berührte den Brief mit dem darüberliegenden Blatt und bewegte die Blätter ein wenig hierhin und ein wenig dorthin, als rücke sie ihre Gedanken zurecht. »Daß wir uns einige Zeit ruhig verhalten haben, hat ihr gezeigt, daß wir keine Schoßhunde sind, aber zu lange ruhig zu bleiben, könnte als Verrat angesehen werden.«

Joline rümpfte die Nase. »Lächerlich! Wenn sie zurückgebracht werden, wird man sie nur für ihren Ungehorsam bestrafen und jetzt auch noch für die Behauptung, Vollschwestern zu sein.« Sie preßte die Lippen zusammen. Darin waren sie beide schuldig, und jene, die es zugelassen hatten, ebenso, aber es bedeutete einen gewaltigen Unterschied, wenn eine von ihnen ihre eigene Ajah beanspruchte. Wenn die Grüne Ajah deshalb mit Elayne fertig wäre, würde eine wahrhaftig sehr geläuterte junge Frau den Thron Andors einnehmen. Obwohl es vielleicht das beste wäre, wenn Elayne sich zuerst den Löwenthron sicherte. Ihre Ausbildung mußte auf jeden Fall beendet werden. Joline hatte nicht die Absicht, Elayne für die Burg verloren zu geben, was auch immer sie getan hatte.

»Vergeßt nicht, daß sie sich den Aufrührern angeschlossen haben.«

»Licht, Teslyn, sie wurden wahrscheinlich genauso aufgelesen wie die Mädchen, welche die Aufrührer aus der Burg genommen haben. Ist es wirklich von Bedeutung, ob sie morgen oder erst nächstes Jahr damit beginnen, die Ställe auszumisten?« Das war sicherlich das Mindeste, was den Novizinnen und Aufgenommenen bei den Aufrührern bevorstand. »Selbst die Ajahs können warten, bis sie über sie verfügen können. Es ist nicht so, als ob sie nicht sicher wären. Sie sind immerhin Aufgenommene, und sie scheinen gewiß zufrieden damit zu sein zu bleiben, wo wir sie erreichen können, wann immer wir wollen. Ich sage, wir sollten dort bleiben, wo Elaida uns hingeschickt hat, und weiterhin die Hände in den Schoß legen und den Mund halten, bis sie uns höflich bittet herauszufinden, was wir eigentlich tun.« Sie fügte nicht hinzu, daß sie bereit war abzuwarten, bis Elaida genauso abgesetzt würde, wie Siuan abgesetzt worden war. Der Saal würde diese Einschüchterungen und die Pfuscherei gewiß nicht ewig dulden, aber Teslyn war immerhin eine Rote und würde das nicht gern hören.

»Es ist vermutlich nicht dringend«, sagte Teslyn zögernd, wobei das unausgesprochene ›aber‹ laut im Raum widerhallte.

Joline zog sich mit einem weiteren Strang Luft einen Sessel mit Kugelfüßen an den Tisch und richtete sich darauf ein, Teslyn davon zu überzeugen, daß Stillhalten die beste Strategie blieb. Sie war noch immer ein Kind? Wenn es nach ihr ginge, würde Elaida kein Wort mehr aus Ebou Dar hören, bis sie darum bat.

Die Frau am Tisch richtete sich soweit auf, wie es ihre Fesseln erlaubten, die Augen hervortretend, die Kehle von einem durchdringenden Schrei zugeschnürt, der ewig weiterhallte. Plötzlich wurde der Schrei zu einem lauten, erstickten Keuchen, und sie verkrampfte sich, zitterte von Kopf bis Fuß und brach dann zusammen. Weit aufgerissene Augen starrten an die mit Spinnweben verhangene Decke.

Es war unvernünftig zu fluchen, aber Falion konnte genauso gut fluchen wie jeder Stallknecht. Sie wünschte sich nicht zum ersten Mal, sie hätte Temaile anstatt Ispan hier. Temailes Fragen wurden eifrig beantwortet, und niemand starb, bevor sie nicht bereit war. Natürlich genoß Temaile ihre Arbeit entschieden zu sehr, aber das war weniger wichtig.

Falion lenkte die Macht erneut, sammelte die Kleidung der Frau vom schmutzigen Boden auf und warf sie auf den Körper. Der rote Ledergürtel fiel wieder herunter, und sie riß ihn mit der Hand hoch und warf ihn erneut auf den Stapel. Vielleicht hätte sie andere Methoden einsetzen sollen, aber Fesseln und Kneifzangen und heiße Eisen waren so ... unsauber. »Legt den Leichnam irgendwo in eine Gasse. Schlitzt ihr die Kehle auf, damit es aussieht, als wäre sie beraubt worden. Die Münzen in ihrer Geldbörse könnt Ihr behalten.«

Die beiden an der Steinmauer auf ihren Fersen hockenden Männer wechselten Blicke. Arnin und Nad hatten ihrer Erscheinung nach zwar Brüder sein können, mit dem schwarzen Haar, den kleinen Augen, den Narben und mehr Muskeln, als drei Männer gebrauchen konnten, aber sie hatten nur genug Verstand, um einfache Befehle auszuführen. Normalerweise. »Verzeiht, Herrin«, sagte Arnin zögernd, »aber niemand wird glauben...«

»Tut, was ich Euch gesagt habe!« fauchte sie und lenkte die Macht, um ihn hochzuheben und gegen die Mauer zu schleudern. Arnin prallte mit dem Kopf dagegen, aber das konnte ihm sicherlich nicht schaden.

Nad eilte zum Tisch und stammelte: »Ja, Herrin. Wie Ihr befehlt, Herrin.« Als sie Arnin losließ, stolperte er ohne weitere Einwände zum Tisch und half, den Leichnam wie Unrat aufzuheben und hinauszutragen. Nun, jetzt war er so gut wie Unrat. Sie bedauerte ihren Ausbruch. Es war unvernünftig, dem Temperament die Zügel schießen zu lassen, obwohl es manchmal nützlich zu sein schien. Das überraschte sie nach all diesen Jahren noch immer.

»Moghedien - das wird ihr nicht gefallen«, sagte Ispan, sobald die Männer fort waren. Die blauen und grünen, in ihre vielen dünnen schwarzen Zöpfe geflochtenen Perlen klapperten, als sie den Kopf schüttelte. Sie war die ganze Zeit über in den Schatten geblieben, in einer Ecke, mit einem Schild abgeschirmt, damit sie nichts hörte.

Falion konnte sich nur mühsam beherrschen, sie nicht anzustarren. Ispan war die letzte Begleiterin, die sie für sich auserwählt hätte. Sie war eine Blaue, oder war es gewesen. Vielleicht war sie es auch noch immer. Falion fühlte sich der Weißen Ajah keinesfalls unterlegen, nur weil sie sich der Schwarzen Ajah angeschlossen hatte. Blaue waren zu leidenschaftlich, hüllten alles in Empfindungen, was äußerst leidenschaftslos betrachtet werden sollte. Sie hätte Rianna, eine weitere Weiße, erwählt, obwohl die Frau mitunter seltsame, unvernünftige Vorstellungen hatte. »Moghedien hat uns vergessen, Ispan. Oder habt Ihr ein persönliches Wort von ihr erhalten? Ich bin auf jeden Fall davon überzeugt, daß es dieses Versteck nicht gibt.«

»Moghedien sagt, es existiert.« Ispan sprach zunächst nur entschlossen, aber dann wurde ihre Stimme schnell hitzig. »Ein Lager von Angrealen, Sa'angrealen und Ter'angrealen. Wir werden einen Teil davon bekommen. Unsere eigenen Angreale, Falion. Vielleicht sogar Sa'angreale. Sie hat es versprochen.«

»Moghedien hat sich geirrt.« Falion sah, wie sich Ispans Augen entsetzt weiteten. Die Auserwählten waren ein seltsames Volk. Es hatte auch Falion bestürzt, diese Lektion lernen zu müssen, aber einige weigerten sich zu begreifen. Die Auserwählten waren weitaus stärker, erheblich intelligenter, und es war durchaus möglich, daß sie die Belohnung der Unsterblichkeit bereits erhalten hatten, aber allem Anschein nach bekämpften sie einander dennoch unerbittlich.

Ispans Entsetzen verwandelte sich rasch in Verärgerung. »Auch andere suchen danach. Würden sie alle nach nichts Ausschau halten? Schattenfreunde suchen danach, die von anderen Auserwählten darauf angesetzt worden sein müssen. Und wenn die Auserwählten danach suchen - könnt Ihr dann immer noch behaupten, es existiere nichts?« Sie wollte es nicht sehen. Wenn etwas nicht gefunden werden konnte, war der wahrscheinlichste Grund dafür, daß es nicht existierte.

Falion wartete. Ispan war nicht dumm, sondern nur von Ehrfurcht ergriffen, und Falion glaubte daran, Menschen lehren zu müssen, selbst zu erkennen, was ihnen bereits bewußt sein sollte. Träge Geister mußten geschult werden.

Ispan schritt auf und ab, ließ ihre Röcke rascheln und blickte stirnrunzelnd auf Staub und alte Spinnweben. »Dieser Ort stinkt. Und er ist schmutzig!« Sie erschauderte, als eine große schwarze Schabe die Wand hinauflief. Einen Moment umgab Ispan das Schimmern. Ein Strang zerquetschte die Schabe mit einem Knall. Ispan verzog das Gesicht und wischte sich die Hände an ihren Röcken ab, als hätte sie sie statt der Macht gebraucht. Sie hatte einen empfindlichen Magen, obwohl das glücklicherweise nicht galt, wenn sie von tatsächlichem Handeln Abstand nehmen konnte. »Ich werde keiner der Auserwählten von dem Versagen berichten, Falion. Sie würden uns Liandrin beneiden lassen.«

Falion unterdrückte ein Schaudern. Sie durchschritt den Raum und goß sich einen Becher gewürzten Pflaumenwein ein. Die Pflaumen waren überreif gewesen, und der gewürzte Wein war zu süß, aber ihre Hände blieben ruhig. Moghediens Angst war durchaus spürbar, aber nicht das Beugen vor der Angst. Vielleicht war die Frau tot. Gewiß hätte sie sie inzwischen gerufen oder sie erneut im Schlaf in Tel'aran'rhiod heimgesucht, um sie zu fragen, warum sie ihre Befehle noch nicht ausgeführt hatten. Bis sie jedoch einen Leichnam sah, war die einzige vernünftige Vorgehensweise, so weiterzumachen, als würde Moghedien jeden Moment auftauchen. »Es gibt eine Möglichkeit.«

»Wie? Indem wir jede Weise Frau in Ebou Dar foltern? Wie viele sind hier? Einhundert? Vielleicht zweihundert? Das würden die Schwestern im TarasinPalast gewiß merken.«

»Vergeßt Eure Träume, einen Sa'angreal zu besitzen, Ispan. Es gibt kein lange vergessenes Lagerhaus und kein geheimes Gewölbe unter einem Palast.« Falion sprach kühl und verhalten, vielleicht desto verhaltener, je aufgeregter Ispan wurde. Sie hatte es stets genossen, eine Klasse Novizinnen mit dem Klang ihrer Stimme zu hypnotisieren. »Fast alle Weisen Frauen waren Wilde, die kaum wissen können, was wir erfahren wollen. Keine Wilde wurde jemals mit einem Angreal, geschweige denn mit einem Sa'angreal gesehen, andernfalls wären sie sicherlich bemerkt worden. Im Gegenteil, den Überlieferungen nach befreit sich jede Wilde, die irgendeinen mit der Macht verbundenen Gegenstand entdeckt, so bald wie möglich davon, aus Angst davor, den Zorn der Weißen Burg auf sich zu ziehen. Andererseits scheinen Frauen, die aus der Weißen Burg verbannt werden, diese Angst nicht zu hegen. Wie ihr sehr wohl wißt, trägt eine von dreien heimlich etwas bei sich, wenn sie durchsucht werden, bevor sie gehen, einen tatsächlichen Machtgegenstand oder etwas, das sie dafür halten. Unter den wenigen Weisen Frauen, die sich zur Zeit qualifiziert haben, war Callie die perfekte Wahl. Als sie vor Jahren verbannt wurde, versuchte sie ein kleines Ter'angreal zu stehlen. Ein nutzloses Ding, das Bilder von Blumen und das Geräusch eines Wasserfalls vorspiegelte, aber dennoch ein mit Saidar verbundener Gegenstand. Zudem versuchte sie, die Geheimnisse der anderen Novizinnen zu entdecken, wobei sie recht häufig erfolgreich war. Wenn es in Ebou Dar auch nur ein einziges Angreal gäbe, ganz zu schweigen von einem geräumigen Lagerhaus - glaubt Ihr, sie hätte dann vier Jahre hiersein können, ohne davon zu erfahren?«

»Ich trage die Stola, Falion«, sägte Ispan mit außerordentlicher Härte. »Und ich weiß das alles genausogut wie Ihr. Ihr sagtet, es gäbe eine andere Möglichkeit. Welche?« Sie wollte ihren Verstand einfach nicht gebrauchen.

»Was würde Moghedien genauso sehr erfreuen wie das Versteck?« Ispan sah sie herausfordernd an. »Nynaeve al'Meara, Ispan. Moghedien hat uns fallenlassen, um sie zu jagen, aber sie ist offensichtlich irgendwie entkommen. Wenn wir Moghedien Nynaeve und auch das Trakand-Mädchen bringen, wird sie uns hundert Sa'angreale geben.« Was deutlich zeigte, daß die Auserwählten wirklich unvernünftig sein konnten. Es war sicherlich das beste, besonders vorsichtig mit jenen umzugehen, die sowohl unvernünftig als auch mächtiger als man selbst waren. Ispan war nicht mächtiger.

»Wir hätten sie töten sollen, wie ich es wollte, als sie zum ersten Mal auftauchte«, fauchte Ispan. Sie fuchtelte mit den Händen und lief auf und ab, wobei der Schmutz laut unter ihren Schuhen knirschte. »Ja, ja, ich weiß. Unsere Schwestern im Palast wären vielleicht mißtrauisch geworden. Wir wollen nicht ihre Aufmerksamkeit erregen. Aber habt Ihr Tanchico vergessen? Und Tear? Wo diese beiden Mädchen auftauchen, folgt das Unglück. Ich glaube, wenn wir sie nicht töten können, sollten wir so weit wie möglich von Nynaeve al'Meara und Elayne Trakand fernbleiben. So weit wie möglich!«

»Beruhigt Euch, Ispan. Beruhigt Euch.« Wenn Falions beschwichtigender Tonfall überhaupt etwas bewirkte, dann regte er die andere Frau nur noch mehr auf, aber Falion war zuversichtlich. Der Verstand mußte die Oberhand über das Gefühl gewinnen.

Er saß in der spärlichen Kühle einer schmalen, schattigen Gasse auf einem umgedrehten Faß und beobachtete das Haus gegenüber der geschäftigen Straße. Plötzlich bemerkte er, daß er wieder seinen Kopf berührte. Er hatte keine Kopfschmerzen, aber sein Kopf fühlte sich manchmal ... seltsam an. Meistens, wenn er darüber nachdachte, woran er sich nicht erinnern konnte.

Das dreistöckige, weißverputzte Haus gehörte einer Goldschmiedin, die vermutlich gerade von zwei Freundinnen besucht wurde, die sie vor einigen Jahren auf einer Reise in den Norden kennengelernt hatte. Die Freundinnen waren nur bei ihrer Ankunft gesehen worden und seitdem nicht mehr. Es war leicht gewesen, das herauszufinden. Und es war nur unwesentlich schwieriger gewesen herauszufinden, daß sie Aes Sedai waren.

Ein hagerer junger Mann mit einer zerrissenen Weste ging, nichts Gutes im Schilde führend, pfeifend die Straße hinab und hielt inne, als er ihn auf dem Faß sitzen sah. Seine Jacke und sein Platz in den Schatten - und auch alles Übrige an ihm, wie er reuig zugab -wirkte wahrscheinlich verführerisch. Er griff unter seine Jacke. Seine Hände hatten nicht mehr die Kraft oder Beweglichkeit, mit dem Schwert umgehen zu können, aber die beiden langen Dolche, die er seit über dreißig Jahren bei sich trug, hatten schon mehr als einen Schwertkämpfer überrascht. Vielleicht zeigte sich etwas in seinen Augen, denn der hagere junge Mann überlegte es sich anders und ging pfeifend weiter.

Das zum Stall des Goldschmieds führende Tor neben dem Haus schwang auf, und zwei kräftige Männer erschienen, die einen hoch mit schmutzigem Stroh und Mist gefüllten Karren schoben. Was hatten sie vor? Arnin und Nad waren kaum die Burschen, die Ställe ausmisteten.

Er beschloß, daß er bis zur Dunkelheit hierbleiben und dann sehen würde, ob er Carridins hübsche kleine Mörderin wiederfinden konnte.

Er nahm erneut die Hand vom Kopf. Früher oder später würde er sich erinnern. Er hatte nicht mehr viel Zeit, aber sie war alles, was er hatte. Soweit erinnerte er sich.

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