20 Muster in Mustern

Sevanna betrachtete verächtlich ihre staubbedeckten Begleiterinnen, die mit ihr zusammen auf der kleinen Lichtung im Kreis saßen. Die beinahe unbelaubten Zweige über ihnen spendeten nur wenig kühlen Schatten. Der Ort, an dem Rand al'Thor sie ins Verderben gestürzt hatte, lag über einhundert Meilen westlich von ihnen, und doch wirkten die anderen Frauen besorgt. Da keine Dampfzelte zur Verfügung standen, hatten sie sich am Abend nicht richtig säubern, sondern sich nur hastig Gesicht und Hände waschen können. Acht kleine, unterschiedliche Silberbecher und ein mit Wasser gefüllter Silberkrug, der beim Rückzug verbeult war, standen auf dem herabgefallenen Laub neben ihr.

»Entweder verfolgt uns der Car'a'carn nicht, oder er konnte uns nicht finden. Beides befriedigt mich.«

Einige der Frauen zuckten wahrhaftig zusammen. Tions rundes Gesicht wurde blaß, und Modarra tätschelte ihr die Schulter. Modarra wäre hübsch gewesen, wenn sie nicht so groß gewesen wäre, und sie versuchte stets, jedermann in ihrer Reichweite zu bemuttern. Alarys bemühte sich zu offensichtlich, ihre bereits ordentlich um sie ausgebreiteten Röcke zu richten, um nicht sehen zu müssen, was sie nicht sehen wollte. Meira preßte die schmalen Lippen zusammen, aber wer wußte, ob dies aufgrund der deutlichen Angst der anderen oder ihrer eigenen Angst vor dem Car'a'carn geschah? Sie hatten allen Grund, sich zu fürchten.

Zwei volle Tage waren seit der Schlacht vergangen, und nicht einmal mehr zwanzigtausend Töchter des Speers hatten sich wieder um Sevanna geschart. Therava und die meisten der Weisen Frauen, die im Westen gestanden hatten, wurden noch immer vermißt, einschließlich aller übrigen mit ihr Verbundenen. Einige der Vermißten bemühten sich gewiß, nach Brudermörders Dolch zurück zu gelangen, aber wie viele würden die Sonne nie wieder aufgehen sehen? Niemand konnte sich an ein ähnliches Gemetzel erinnern, an so viele Tote in so kurzer Zeit. Sogar die Algai d'siswai waren nicht wirklich bereit, so bald wieder in den Kampf zu ziehen. Sie hatten Angst, aber sie zeigten sie nicht, ließen ihr Herz und ihre Seele sich nicht wie bei den Feuchtländern auf ihren Gesichtern widerspiegeln, so daß alle es sehen Rhiale erkannte anscheinend zumindest das. »Wenn wir es tun müssen, dann sollten wir es tun«, murrte sie. Sie war eine derjenigen, die zusammengezuckt waren.

Sevanna nahm den kleinen grauen Würfel aus ihrer Tasche und stellte ihn auf das braune Laub inmitten des Kreises. Someryn stützte die Hände auf die Knie und beugte sich vor, um den Würfel zu betrachten. Ihre Nase berührte ihn fast. Alle Seiten des Würfels waren mit komplizierten Mustern bedeckt, und wenn man ihn aus der Nähe ansah, konnte man kleinere Muster innerhalb der großen Muster erkennen und noch kleinere wiederum innerhalb dieser, sowie darin erneut Muster erahnen. Sevanna wußte nicht, wie die kleinsten Muster - so fein, so genau - gestaltet werden konnten. Sie hatte früher geglaubt, der Würfel bestünde aus Stein, aber dessen war sie sich nicht mehr sicher. Gestern hatte sie ihn versehentlich auf Felsen fallen lassen, ohne daß auch nur eine eingravierte Linie beschädigt worden wäre. Wenn die Muster wirklich eingraviert waren. Sie wußten aber, daß der Würfel ein Ter'angreal war.

»Dort, bei dem Muster, das wie ein verdrehter Halbmond aussieht, sollte der kleinste mögliche Strang Feuer leicht zu berühren sein«, erklärte sie ihnen, »und ein weiterer dort oben, auf dieser wie ein Lichtblitz gestalteten Markierung.« Someryn richtete sich hastig auf.

»Was wird dann geschehen?« fragte Alarys, während sie ihr Haar mit den Fingern kämmte. Sie schien dies unbewußt zu tun, aber sie fand stets Möglichkeiten, jedermann in Erinnerung zu rufen, daß ihr Haar schwarz anstatt wie bei den meisten blond oder rot war.

Sevanna lächelte. Sie genoß es, Dinge zu wissen, die den anderen verborgen waren. »Ich werde den Würfel benutzen, um den Feuchtländer zu rufen, der ihn mir gab.«

»Das habt Ihr uns bereits gesagt«, erwiderte Rhiale verärgert, und Tion fragte barsch: »Wie wird er dadurch gerufen?« Sie fürchtete vielleicht Rand al'Thor, aber nicht vieles anderes. Und gewiß nicht Sevanna. Belinde strich mit einem knochigen Finger sanft über den Würfel, die sonnengebleichten Augenbrauen gesenkt.

Sevanna behielt eine nichtssagende Miene bei, ärgerte sich aber insgeheim darüber, daß es sie Mühe kostete, nicht mit ihrer Kette zu spielen oder ihre Stola zu richten. »Ich habe Euch alles gesagt, was Ihr wissen müßt.« Ihrer Meinung nach sogar erheblich mehr als das, aber es war nötig gewesen. Sonst wären sie alle mit den Töchtern des Speers und den Weisen Frauen zurückgekehrt. Oder sie befänden sich noch alle auf dem Weg nach Osten und suchten nach Zeichen anderer Überlebender oder nach Anzeichen einer Verfolgung. Wenn sie spät aufbrachen, könnten sie noch immer fünfzig Meilen zurücklegen, bevor sie haltmachten. »Worte können den Keiler nicht häuten und ihn noch weniger töten. Wenn Ihr entschlossen seid, Euch in den Bergen zu verkriechen und Euer Leben lang davonzulaufen, dann geht. Wenn nicht, dann tut was Ihr tun müßt. Ich werde meinen Teil dazu beitragen.«

Rhiales blaue und Tions graue Augen starrten sie herausfordernd an. Sogar Modarra wirkte unentschieden, obwohl Sevanna auf sie und Someryn den größten Einfluß hatte.

Sevanna wartete äußerlich ruhig ab. Innerlich drehte sich ihr vor Zorn der Magen um. Sie würde sich nicht geschlagen geben, nur weil diese Frauen feige waren.

»Wenn wir es tun müssen«, seufzte Rhiale schließlich. Abgesehen von der nicht anwesenden Therava widersprach sie am häufigsten, aber Sevanna hatte bei ihr noch Hoffnung. Das widerspenstigste Rückgrat erwies sich oft als das geschmeidigste, wenn es erst nachgab, was genauso für Frauen wie für Männer galt. Rhiale und die anderen wandten ihre Blicke dem Würfel zu, wobei einige die Stirn runzelten.

Sevanna sah natürlich nichts, Ihr kam der Gedanke, daß sie, wenn sie nichts unternahmen, behaupten könnten, der Würfel bewirke nichts, und sie würde es niemals wissen.

Plötzlich keuchte Someryn jedoch, und Meira hauchte: »Er zieht noch mehr heran. Schaut.« Sie deutete hin. »Dort und dort erfüllen Feuer und Erde, Luft und Geist die Rinnen.«

»Nicht alle«, sagte Belinde. »Ich denke, sie könnten auf vielerlei Arten erfüllt werden. Und an manchen Stellen drehen sich die Stränge um etwas nicht Vorhandenes.« Sie furchte die Stirn. »Er zieht wohl auch den männlichen Teil der Macht heran.«

Mehrere der Frauen wichen ein Stück zurück, richteten ihre Stolen und strichen über ihre Röcke, als wollten sie Staub entfernen. Sevanna hätte beinahe alles darum gegeben, auch etwas sehen zu können. Wie konnten sie so feige sein? Wie konnten sie es zeigen?

Schließlich sagte Modarra: »Ich frage mich, was geschehen würde, wenn wir ihn an einer anderen Stelle mit Feuer berührten.«

»Wenn man den Würfel zu stark oder auf die falsche Art antreibt, könnte er schmelzen«, antwortete eine Stimme aus der Luft. »Er könnte sogar ver...«

Die Stimme brach ab, als die anderen Frauen aufsprangen und in den Wald spähten. Alarys und Modarra gingen sogar so weit, ihre Gürtelmesser zu ziehen, obwohl sie Stahl nicht benötigten, wenn sie die Eine Macht zur Verfügung hatten. Nichts bewegte sich in den sonnengestreiften Schatten, nicht einmal ein Vogel.

Sevanna regte sich nicht. Sie hatte allenfalls ein Drittel von dem geglaubt, was der Feuchtländer ihr erzählt hatte, und dies wahrhaftig nicht, aber sie erkannte Caddars Stimme. Feuchtländer besaßen stets mehrere Namen, aber er hatte ihr nur diesen genannt. Sie vermutete in ihm einen Mann mit vielen Geheimnissen. »Setzt Euch wieder hin«, befahl sie. »Und laßt die Stränge fahren. Wie kann ich ihn herbeirufen, wenn Ihr Worte fürchtet?«

Rhiale fuhr mit offenem Mund und ungläubig geweiteten Augen herum. Sie fragte sich zweifellos, woher Sevanna wußte, daß sie nicht länger die Macht lenkten. Die Frau konnte nicht klar denken. Sie ließen sich zögernd und unbehaglich wieder im Kreis nieder. Rhiale nahm eine ausdruckslosere Miene an als alle anderen.

»Also seid Ihr zurück«, sagte Caddars Stimme aus der Luft. »Habt Ihr al'Thor?«

Etwas an seinem Tonfall warnte sie. Er konnte es nicht wissen - aber er wußte es. Sie verbannte alles, was sie hatte sagen wollen. »Nein, Caddar, dennoch müssen wir miteinander reden. Ich treffe Euch in zehn Tagen an der Stelle, wo wir uns zum erstenmal begegnet sind.« Sie konnte jenes Tal in Brudermörders Dolch eher erreichen, aber sie brauchte Zeit zur Vorbereitung. Wie konnte er es wissen?

»Hoffentlich habt Ihr die Wahrheit gesagt, Mädchen«, murmelte Caddar trocken. »Sonst werdet Ihr merken, daß ich nicht mit mir spaßen lasse. Bleibt, wo Ihr seid, und ich werde zu Euch kommen.«

Sevanna blickte bestürzt zum Würfel. Mädchen? »Was habt Ihr gesagt?« forderte sie zu wissen, Mädchen! Sie traute ihren Ohren nicht. Rhiale sah sie ganz bewußt nicht an, und Meira lächelte, was seltsam war, weil es so selten geschah.

Caddars Seufzen erfüllte die Lichtung. »Sagt Eurer Weisen Frau, sie soll weiterhin das tun, was sie gerade tut - nichts anderes - und ich werde zu Euch kommen.« Er schien nur mühsam die Geduld zu bewahren. Wenn sie von dem Feuchtländer bekommen hätte, was sie haben wollte, würde sie ihn in Gai'shain-Weiß kleiden. Nein, in Schwarz!

»Was meint Ihr damit, daß Ihr kommen werdet, Caddar?« Nur Schweigen als Antwort. ›»Caddar, wo seid Ihr?« Stille. »Caddar?«

Die anderen wechselten beunruhigte Blicke.

»Ist er verrückt?« fragte Tion. Alarys murmelte, er müsse es wohl sein, und Belinde verlangte verärgert zu wissen, wie lange sie diesen Unsinn noch fortführen müßten.

»Bis ich sage, daß wir aufhören«, antwortete Sevanna sanft und blickte zum Würfel. Ein hoffnungsvolles Prickeln schlich sich in ihre Brust. Wenn er dies tun konnte, dann vermochte er gewiß auch zu vollbringen, was er versprochen hatte. Und vielleicht... Sie wollte nicht zuviel erhoffen. Sie schaute durch die Zweige aufwärts, die sich über der Lichtung beinahe berührten. Die Sonne war noch nicht zum höchsten Punkt aufgestiegen. »Wenn er bis Mittag nicht gekommen ist, werden wir gehen.« Natürlich murrten sie.

»Also bleiben wir hier tatenlos sitzen?« Alarys warf mit geübtem Kopfschwung ihr Haar über eine Schulter zurück. »Für einen Feuchtländer?«

»Was immer er Euch versprochen hat, Sevanna«, sagte Rhiale stirnrunzelnd, »kann dies nicht wert sein.«

»Er ist verrückt«, grollte Tion.

Modarra deutete mit dem Kopf auf den Würfel. »Was ist, wenn er uns noch hören kann?«

Tion rümpfte verächtlich die Nase, und Someryn sagte: »Warum sollte es uns kümmern, wenn ein Mann hört, was wir sagen? Aber es gefällt mir nicht, auf ihn zu warten.«

»Was ist, wenn er wie diese Feuchtländer in den schwarzen Umhängen ist?« Belinde preßte die Lippen zusammen, bis sie beinahe Meiras Lippen ähnelten.

»Macht Euch nicht lächerlich«, höhnte Alarys. »Feuchtländer töten solche Männer, wenn sie welche sehen. Was auch immer die Algai d'siswai beanspruchen - es muß ein Werk der Aes Sedai gewesen sein. Und Rand al'Thors.« Die Erwähnung dieses Namens bewirkte gequältes Schweigen, das aber nicht anhielt.

»Caddar muß einen ebensolchen Würfel besitzen«, sagte Belinde. »Und er muß eine Frau mit der Gabe kennen, ihn einsetzen zu können.«

»Eine Aes Sedai?« Rhiale schnaubte angewidert. »Und wenn zehn Aes Sedai bei ihm sind - laßt sie kommen. Wir werden so mit ihnen umgehen, wie sie es verdienen.«

Meira lachte trocken, »ich habe das Gefühl, daß Ihr allmählich glaubt, sie hatten Desaine getötet.«

»Hütet Eure Zunge!« fauchte Rhiale.

»Ja«, murmelte Someryn besorgt. »Unbedachte Worte könnten an falsche Ohren gelangen.«

Tion lachte kurz und unwirsch auf. »Ihr alle zusammen besitzt weniger Mut als ein einziger Feuchtländer.« Wogegen Someryn natürlich protestierte, und Modarra ebenfalls, und Meira äußerte Worte, die eine Herausforderung bedeutet hätten, wenn sie keine Weisen Frauen gewesen wären, und Alarys sprach noch härter, und Belinde...

Ihr Gezänk ärgerte Sevanna, obwohl sie daraus schließen konnte, daß sie sich nicht gegen sie verschwören würden. Aber sie hob nicht deshalb eine Schweigen gebietende Hand. Rhiale sah sie stirnrunzelnd an und öffnete den Mund, und in diesem Moment hörten sie, was sie hörte. Etwas raschelte im Laub unter den Bäumen. Kein Aiel würde ein solches Geräusch verursachen, selbst wenn sich Aiel den Weisen Frauen ungebeten näherten, und kein Tier käme Menschen so nahe. Dieses Mal erhob Sevanna sich zusammen mit den anderen.

Zwei Gestalten tauchten auf, ein Mann und eine Frau, die beim Vorangehen genügend Zweige zerbrachen, um einen Toten zu erwecken. Kurz vor der Lichtung hielten sie inne, und der Mann beugte leicht den Kopf, um der Frau etwas zu sagen. Es war Caddar, der einen fast schwarzen Mantel mit Spitzenbesatz an Kragen und Manschetten trug. Zumindest hatte er kein Schwert. Sie stritten sich anscheinend. Sevanna hätte etwas von ihrem Gespräch hören sollen, aber es herrschte vollkommene Stille. Caddar war fast eine Handbreit größer als Modarra - für einen Feuchtländer, und selbst für einen Aiel, groß -, und die Frau reichte ihm nur bis zur Brust. Sie besaß eine ebenso dunkle Gesichtsfarbe und ebenso dunkles Haar wie er und war von ausreichender Schönheit, daß Sevanna die Lippen zusammenpreßte. Sie trug ein hellrotes Seidengewand, das noch mehr von ihrem Busen offenbarte als bei Someryn.

Als hätte Sevanna sie im Geiste gerufen, rückte Someryn näher an sie heran. »Die Frau besitzt die Gabe«, flüsterte sie, ohne das Paar aus den Augen zu lassen. »Sie webt eine Barriere.« Dann schürzte sie die Lippen und fügte widerwillig hinzu: »Sie ist stark.

Sehr stark.« Diese Worte bedeuteten aus ihrem Munde tatsächlich etwas Außergewöhnliches. Sevanna hatte noch nie verstehen können, warum Stärke im Lenken der Macht unter Weisen Frauen nicht zählte -während sie um ihretwillen froh darüber war -, aber Someryn war stolz darauf, noch niemals einer Frau begegnet zu sein, die auch nur annähernd so stark war wie sie. Doch ihrem Tonfall entnahm Sevanna, daß diese Frau stärker war.

Im Moment kümmerte es sie allerdings nicht, ob die Frau Berge versetzen oder nur eine Kerze entzünden konnte. Sie mußte eine Aes Sedai sein. Sie sah nicht wie eine Aes Sedai aus, aber das hatte Sevanna schon früher erlebt. Durch sie mußte Caddar Zugriff auf das Ter'angreal bekommen haben. So hatte er sie finden und herkommen können. So bald; so schnell. Möglichkeiten taten sich auf, und Hoffnungen wuchsen. Aber wer von beiden führte?

»Hört auf, die Macht in den Würfel zu lenken«, befahl sie. Vielleicht verfolgte er noch immer ihr Gespräch.

Rhiale warf ihr einen fast mitleidigen Blick zu. »Someryn hat bereits aufgehört, Sevanna.«

Nichts konnte ihr die Stimmung verderben. Sie lächelte und sagte: »Sehr gut. Denkt daran, was ich gesagt habe. Laßt mich reden.« Die meisten der übrigen Frauen nickten. Khiale schnaubte. Sevanna behielt ihr Lächeln bei. Eine Weise Frau konnte nicht zur Gai'schain gemacht werden, aber es waren bereits so viele überholte Bräuche abgeschafft worden, daß andere vielleicht folgen würden.

Caddar und die Frau kamen näher, und Someryn flüsterte: »Sie hält die Macht noch immer fest.«

»Setzt Euch neben mich«, befahl Sevanna ihr eilig.

»Berührt mein Bein, wenn sie die Macht lenkt,« Es ärgerte sie maßlos, aber sie mußte es wissen.

Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin, und die anderen folgten ihrem Beispiel, wobei sie eine Lücke für Caddar und die Frau ließen. Someryn saß Sevanna so nahe, daß sich ihre Knie berührten. Sevanna wünschte, sie hätte einen Stuhl.

»Ich grüße Euch, Caddar«, sagte sie trotz seiner vorherigen Beleidigung förmlich. »Nehmt Platz, Ihr und Eure Frau.«

Sie wollte sehen, wie die Aes Sedai reagierte, aber sie wölbte nur eine Augenbraue und lächelte träge. Ihre Augen waren genauso schwarz wie seine - so schwarz wie die eines Raben. Die übrigen Weisen Frauen zeigten Kühle. Hätten die Aes Sedai Rand al'Thor nicht bei den Brunnen entkommen lassen, hätten sie gewiß alle getötet oder gefangen genommen. Diese Aes Sedai mußte sich dessen bewußt sein, da Caddar eindeutig Bescheid wußte, aber sie wirkte ganz und gar nicht ängstlich.

»Dies ist Maisia«, sagte Caddar und ließ sich ein kleines Stück abseits von der für ihn freigelassenen Lücke nieder. Er wollte aus einem unbestimmten Grund nicht gern auf Armeslänge herankommen. Vielleicht fürchtete er Dolche. »Ich habe Euch gesagt, Ihr solltet eine einzige Weise Frau heranziehen, Sevanna, nicht sechs. Manche Menschen sind vielleicht mißtrauisch.« Er schien aus einem unbestimmten Grund belustigt.

Die Frau, Maisia, hielt in ihrer Bewegung, ihre Röcke zu glätten, inne, als er ihren Namen nannte, und sah ihn überaus zornig an. Vielleicht hatte sie ihre Identität verborgen halten wollen. Sie sagte jedoch nichts. Kurz darauf setzte sie sich neben ihn, und ihr Lächeln kehrte so schnell zurück, als wäre es niemals verschwunden. Sevanna war nicht zum ersten Mal dankbar dafür, daß Feuchtländern ihre Empfindungen ins Gesicht geschrieben standen.

»Ihr habt den Gegenstand mitgebracht, mit dem Rand al'Thor kontrolliert werden kann?« Warum sollte sie die Form wahren, wenn er so unhöflich war? Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß er sich bei ihrer ersten Begegnung ebenso verhalten hätte. Vielleicht ermutigte ihn die Aes Sedai dazu.

Caddar sah sie fragend an. »Nun, wenn Ihr ihn nicht habt?«

»Ich werde ihn bekommen«, sagte sie ruhig, und er lächelte. Maisia lächelte ebenfalls.

»Also darin.« Seine Miene drückte deutlich Zweifel und Unglaube aus, während sich die Frau lustig machte. Auch für sie könnte ein schwarzes Gewand gefunden werden. »Was ich besitze, wird Rand kontrollieren, wenn er erst gefangen ist, aber es kann ihn nicht überwältigen. Ich werde es nicht riskieren, daß er von mir erfährt, bevor Ihr ihn in sicherem Gewahrsam habt.« Er schien durch das Eingeständnis nicht im geringsten beschämt.

Sevanna verdrängte ihre Enttäuschung. Eine Hoffnung war geschwunden, aber andere blieben. Rhiale und Tion falteten die Hände und blickten starr geradeaus, über den Kreis und über Caddar hinaus. Er verdiente es nicht mehr, daß man ihm zuhörte. Aber sie wußten natürlich nicht alles.

»Was ist mit den Aes Sedai? Kann dieser Gegenstand sie ebenfalls kontrollieren?« Rhiale und Tion wurden wieder aufmerksamer. Belindes Augenbrauen zuckten, und Meira sah sie tatsächlich an. Sevanna hätte ihre mangelnde Selbstbeherrschung verfluchen mögen.

Caddar war jedoch genauso blind wie alle Feuchtländer. Er warf den Kopf zurück und lachte. »Wollt Ihr damit behaupten, Ihr hättet al'Thor verfehlt, aber Aes Sedai gefangengenommen? Ihr habt nach dem Adler gegriffen und Lerchen erwischt!«

»Könnt Ihr für die Aes Sedai dasselbe beschaffen?«

Sie hätte am liebsten mit den Zahnen geknirscht. Er war früher gewiß weitaus freundlicher gewesen.

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht wenn der Preis stimmt.« Es bedeutete ihm nichts, es war unwichtig. Auch Maisia zeigte keine Besorgnis. Seltsam, wenn sie eine Aes Sedai war. Aber sie mußte es sein.

»Ihr habt eine flinke Zunge, Feuchtländer«, sagte Tion tonlos. »Welchen Beweis habt Ihr?« Dieses eine Mal hatte Sevanna nichts dagegen, daß sie unaufgefordert sprach.

Caddars Gesicht spannte sich dermaßen an, als wäre er ein Clanhäuptling, der beleidigt worden wäre, aber kurz darauf lächelte er wieder. »Wie Ihr wünscht. Maisia, spielt für sie mit dem Würfel.«

Someryn bewegte ihre Röcke und preßte ihre Knöchel gegen Sevannas Oberschenkel, während der graue Würfel einen Schritt in die Luft stieg. Er sprang hin und her, als würde er von einer Hand zur anderen geworfen, neigte sich dann und drehte sich wie ein Kreisel auf einer Ecke immer schneller, bis er undeutlich wurde.

»Würdet Ihr gern sehen, wie sie ihn auf der Nase balanciert?« fragte Caddar spöttisch.

Die dunkle Frau blickte starr geradeaus und lächelte jetzt eindeutig gezwungen. »Ich glaube, ich habe gerade genug bewiesen, Caddar«, sagte sie kalt. Aber der Würfel drehte sich weiterhin.

Sevanna wartete ab, bis sie langsam bis zwanzig gezählt hatte, bevor sie sagte; »Das genügt.«

»Ihr könnt jetzt aufhören, Maisia«, sagte Caddar. »Stellt ihn wieder hin.« Erst da sank der Würfel langsam herab und schmiegte sich sanft an seinen ursprünglichen Platz, Obwohl die Frau eine dunkle Hautfarbe besaß, wirkte sie jetzt blaß und beinahe zornig.

Wäre sie allein gewesen, hätte Sevanna gelacht und getanzt. Sie hatte Mühe, eine ausdruckslose Miene beizubehalten. Rhiale und die anderen waren zu sehr in ihre hochmütige Betrachtung Maisias vertieft, um es zu bemerken. Was mit der Gabe bei einer Frau gelang, würde auch bei einer anderen gelingen. Bei Someryn und Modarra hatte es vielleicht keinen Zweck, aber bei Rhiale, und bei Therava... Sie durfte keinen zu eifrigen Eindruck erwecken, nicht, wenn die anderen wußten, daß es keine gefangengenommenen Aes Sedai gab.

»Natürlich«, fuhr Caddar fort, »wird es eine Weile dauern, Euch das Gewünschte zu beschaffen.« Er nahm einen verschlagenen Ausdruck an und versuchte, es zu verbergen. Ein anderer Feuchtländer hätte es vielleicht nicht bemerkt. »Ich warne Euch, der Preis wird nicht gering sein.«

Sevanna beugte sich wider Willen vor. »Und das Geheimnis, wie Ihr so schnell hierher gelangt seid? Wieviel würde es kosten, wenn sie uns das lehrte?« Es gelang ihr, die Stimme zu beherrschen, aber sie fürchtete, daß die Verachtung, die sie empfand, hörbar war. Feuchtländer würden für Gold alles tun.

Vielleicht hatte der Mann ihre Verachtung herausgehört. Seine Augen weiteten sich jedenfalls überrascht, bevor er sich wieder beherrschte. Er betrachtete seine Hände und verzog leicht die Mundwinkel. Warum sollte sein Lächeln erfreut scheinen? »Das tut sie nicht«, sagte er glatt. »Nicht selbst. Es ist wie mit dem Würfel. Ich kann Euch einige beschaffen, aber deren Preis ist noch höher. Ich bezweifle, daß das genügt, was Ihr von Cairhien zusammengetragen habt. Glücklicherweise könnt Ihr die ... Reisekästen dazu benutzen, Eure Leute in reichere Länder zu verbringen.«

Selbst Meira fühlte sich bemüßigt, ihre Miene nicht zu gierig erscheinen zu lassen. Reichere Länder, und keine Notwendigkeit, sich einen Weg durch diese Narren zu bahnen, die Rand al'Thor folgten.

»Erzählt mir mehr«, sagte Sevanna kühl. »Reichere Länder könnten interessant sein.« Aber nicht interessant genug, sie den Car'a'carn vergessen zu lassen. Caddar würde ihr alles geben, was er versprochen hatte, bevor sie ihn zum Da'tsang erklärte. Gut, daß er Schwarz anscheinend mochte. Dann wäre es nicht nötig, ihm Gold zu geben.

Der Beobachter geisterte lautlos durch den Wald. Es war wunderbar, was man durch einen solchen Würfel erfahren konnte, besonders in einer Welt, in der es anscheinend nur zwei andere gab. Man konnte dem roten Gewand leicht folgen, und sie schauten niemals zurück, nicht einmal, um nachzusehen, ob jemand der sogenannten Aiel ihnen folgte. Graendal behielt die Spiegelmaske bei, die ihre wahre Gestalt verbarg, aber Sammael hatte seine abgelegt, zeigte wieder seinen goldenen Bart und ragte mit Kopf und Schultern über ihr auf. Er hatte die Verbindung zwischen ihnen ebenfalls aufgegeben. Der Beobachter fragte sich, ob das unter den gegebenen Umstanden klug war. Er hatte sich immer schon gefragt, wieviel von Sammaels berühmter Tapferkeit in Wahrheit Dummheit und Verblendung war. Aber der Mann hielt Saidin fest. Vielleicht war er sich der Gefahr doch nicht so vollkommen unbewußt.

Der Beobachter folgte und lauschte. Sie hatten keine Ahnung. Die Wahre Macht, unmittelbar vom Großen Herrn herangezogen, war weder sichtbar noch konnte sie außer von demjenigen, der sie führte, entdeckt werden. Schwarze Flecken trübten seine Sicht. Natürlich hatte sie ihren Preis, der sich mit jedem Gebrauch der Macht erhöhte, aber er war stets bereit gewesen, ihn zu bezahlen, wenn es nötig war. Von der Wahren Macht erfüllt zu sein, war fast, als knie man unter Shayol Ghul und sonne sich im Ruhm des Großen Herrn. Der Ruhm war den Schmerz wert.

»Natürlich mußte ich dich bei mir haben«, grollte Sammael, während er über abgestorbene Ranken stolperte. Er hatte sich außerhalb von Städten niemals heimisch gefühlt. »Du hast ihnen allein schon hundert Fragen beantwortet, indem du dort warst. Ich kann kaum glauben, daß dieses törichte Mädchen tatsächlich von sich aus vorgeschlagen hat, was ich wollte.« Er lachte bellend. »Vielleicht bin ich selbst ein Ta'veren.«

Ein Zweig, der Graendal im Weg war, schnellte zurück, bis er mit scharfem Krachen brach. Er schwebte einen Moment in der Luft, als beabsichtige Graendal, ihren Gefährten zu schlagen. »Dieses törichte Mädchen wird dir das Herz herausschneiden und es verspeisen, wenn sie nur halbwegs die Gelegenheit dazu bekommt.« Der Zweig flog zur Seite. »Ich habe selbst einige Fragen. Ich hätte niemals gedacht, daß du deinen Waffenstillstand mit al'Thor länger beibehältst als notwendig, aber dies...«

Der Beobachter wölbte die Augenbrauen. Ein Waffenstillstand? Eine Behauptung, die allem Anschein nach genauso gewagt wie falsch war.

»Ich habe seine Entführung nicht angeordnet, aber Mesaana hatte damit zu tun. Vielleicht auch Demandred und Semirhage, trotz des Ausgangs, Mesaana jedoch mit Gewißheit. Vielleicht solltest du noch einmal darüber nachdenken, was der Große Herr damit meint, al'Thor unbeschadet zu lassen.«

Graendal dachte so angestrengt darüber nach, daß sie stolperte. Sammael ergriff ihren Arm und stützte sie, aber sobald sie ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, riß sie sich los. Interessant, selbst wenn man bedachte, was auf dieser Lichtung geschehen war. Graendals wahres Interesse galt stets dem Mächtigsten und Schönsten, aber sie hätte, nur um Zeit zu gewinnen, auch mit einem Mann getändelt, den sie töten oder der sie töten wollte. Die einzigen Männer, mit denen sie niemals tändelte, waren jene Auserwählten, die eine Zeitlang über ihr standen. Sie akzeptierte es niemals, geringer wertig zu sein.

»Warum beschäftigen wir uns dann weiterhin mit ihnen?« Ihre Stimme klang angespannt obwohl sie ihre Empfindungen für gewöhnlich sehr gut beherrschte. »Al'Thor in Mesaanas Händen ist eine Sache. Al'Thor in Händen dieser Wilden ist etwas anderes. Nicht, daß sie bei ihm viele Chancen hätte. Reisekästen? Was ist das für ein Spiel? Haben sie Gefangene gemacht? Wenn du glaubst, ich würde sie Zwang lehren, dann vergiß es. Fine jener Frauen war nicht unbedeutend. Ich werde es nicht riskieren, auf Stärke und Können gleichzeitig zu treffen, weder bei ihr noch bei jemandem, den sie lehrt.«

Der Beobachter blieb stehen und schaute hinter sich. Bis auf die Augen in Fächerstoff gehüllt, sorgte er sich nicht, daß er gesehen werden könnte. Er hatte im Laufe der Jahre auf vielen Gebieten, die Sammael verachtete, Erfahrungen gesammelt.

Das plötzlich eröffnete und einen Baum in der Mitte zerteilende Wegetor erschreckte Graendal. Der gespaltene Baumstamm schwankte. Jetzt wußte sie auch, daß Sammael die Quelle festhielt.

»Hast du geglaubt, ich hatte ihnen die Wahrheit gesagt?« fragte Sammael spöttisch. »Kleine Steigerungen in der allgemeinen Verwirrung sind genauso wichtig wie große. Sie werden hingehen, wo ich sie hinschicke, tun, was ich will, und lernen, mit dem zufrieden zu sein, was ich ihnen gebe. Wie auch Ihr, Maisia.«

Graendal ließ ihr Trugbild fahren und stand dann genauso blond wie er und genauso hellhäutig, wie sie vorher dunkelhäutig gewesen war, da. »Wenn du mich noch einmal so nennst, werde ich dich töten.« Ihre Stimme war noch ausdrucksloser als ihr Gesicht. Sie meinte es ernst. Der Beobachter spannte sich an. Wenn sie es versuchte, würde einer von beiden sterben. Sollte er eingreifen? Schwarze Flecken trübten seine Sicht jetzt stärker.

Sammael erwiderte Graendals Blick mit der gleichen Härte. »Denk daran, wer Nae'blis sein wird, Graendal«, sagte er und trat durch das Wegetor.

Sie blieb einen Moment stehen und betrachtete die Öffnung. Ein waagerechter, silberner Schlitz erschien auf einer Seite, aber bevor sich ihr Wegetor auszurichten begann, ließ sie das Gewebe zögernd fahren, so daß sich der Schlitz auf einen Punkt verkleinerte und dann erlosch. Die Haut des Beobachters hörte auf zu kribbeln, als auch er Saidar fahren ließ. Graendal folgte Sammael mit starrem Gesicht, und sein Wegetor schloß sich hinter ihr.

Der Beobachter lächelte hinter seiner FächerstoffMaske verzerrt. Nae'blis. Das erklärte, was Graendal gefügig gemacht hatte, was sie davon abhielt, Sammael zu töten. Selbst sie wurde davon verblendet. Es war jedoch für Sammael ein noch größeres Wagnis, als zu behaupten, einen Waffenstillstand mit al'Thor geschlossen zu haben. Es sei denn natürlich, es entspräche der Wahrheit. Der Große Herr genoß es, seine Diener gegeneinander aufzubringen, um zu sehen, wer stärker war. Nur die Stärksten durften sich in seinem Ruhm sonnen. Aber die Wahrheit von heute mußte nicht die Wahrheit von morgen sein. Der Beobachter hatte die Wahrheit sich zwischen einem Sonnenaufgang und einem Sonnenuntergang hundert Mal verändern sehen. Mehr als einmal hatte er sie selbst verändert. Er erwog, zurückzugehen und die sieben Frauen auf der Lichtung zu töten. Sie würden rasch sterben. Er bezweifelte, daß sie wußten, wie sie einen wahren Kreis bilden müßten. Die schwarzen Flecken erfüllten seine Sicht, ein waagerechter Blizzard. Nein, er würde den Dingen ihren Lauf lassen. Im Moment.

In seinen Öhren klang es, als schreie die Welt, als er die Wahre Macht gebrauchte, um eine kleine Öffnung zu schaffen und das Muster zu verlassen. Sammael erkannte nicht, wie wahr er gesprochen hatte. Kleine Steigerungen in der allgemeinen Verwirrung waren ganz genauso wichtig wie große.

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