Elaida do Avriny a'Roihan saß königlich auf dem Amyrlin-Sitz, dem großen, mit geschnitzten Weinreben verzierten Stuhl, der jetzt mit sechs anstatt sieben Farben bemalt war, eine mit sechs Streifen versehene Stola um die Schultern, und ließ ihren Blick im runden Saal der Burg kreisen. Die bemalten Stühle, der Sitzenden waren entlang dem der Treppe gegenüberstehenden Podest neu aufgestellt worden, so verteilt, daß sie jetzt sechs Ajahs anstatt sieben Platz boten. Und achtzehn Sitzende standen gehorsam da. Der junge al'Thor kniete ruhig neben dem Amyrlin-Sitz. Er würde solange, nicht sprechen, bis es ihm gestattet würde, was heute jedoch nicht geschähe. Heute war er nur ein weiteres Symbol ihrer Macht, und die zwölf begünstigten Sitzenden strahlten vor Stolz.
»Die große Übereinstimmung ist erreicht, Mutter«, sagte Alviarin unterwürfig an ihrer Schulter und verbeugte sich demütig vor dem Stab mit der Flamme.
Unten auf dem Boden, unterhalb des Podests, schrie Sheriam wild und mußte von der neben ihr stehenden Burgwache zurückgehalten werden. Die Rote Schwester, die sie abschirmte, höhnte verächtlich. Romanda und Lelaine klammerten sich an ruhige, äußerliche Würde, aber die meisten anderen, die auf dem Boden abgeschirmt und bewacht wurden, weinten leise, vielleicht vor Erleichterung, daß nur vier Frauen zur Höchststrafe verurteilt wurden, vielleicht auch aus Angst vor dem, was noch geschehen würde. Die aschfahlsten Gesichter gehörten den dreien, die es gewagt hatten, im aufständischen Saal der jetzt vernichteten Blauen zu sitzen, jede Aufständische war aus ihrer Ajah ausgestoßen worden, bis Elaida die Erlaubnis erteilte, um Wiederaufnahme zu bitten, aber die einstigen Blauen wußten, daß ihnen schwierige Jahre bevorstanden, in denen sie sich ihre Gunst mühsam wieder verdienen mußten, Jahre, bevor man ihnen erlauben würde, überhaupt wieder einer Ajah beizutreten. Bis dahin lag ihr Schicksal in ihrer Hand.
Sie erhob sich, und es schien, als sei die sie vom Zirkel durchströmende Eine Macht eine Manifestation ihrer Stärke. »Der Saal stimmt mit dem Willen des Amyrlin-Sitzes überein. Romanda soll als erste gezüchtigt werden.« Romanda hob ruckartig den Kopf. Sie würde schon sehen, wieviel Würde sie bewahren konnte, bis sie gedämpft wurde. Elaida vollführte eine knappe Geste. »Bringt die Gefangenen fort und führt die ersten der armseligen irregeleiteten Schwestern herein, die ihnen gefolgt sind. Ich werde ihre Unterwerfung annehmen.«
Unter den Gefangenen erklang ein Aufschrei, und eine Frau riß sich von dem ihren Arm umfassenden
Wächter los. Egwene al'Vere warf sich zu Elaidas Füßen auf die Stufen, die Hände ausgestreckt, während Tränen ihre. Wangen hinabliefen.
»Vergebt mir, Mutter!« weinte das Mädchen. »Ich bereue. Ich werde mich unterwerfen. Ich unterwerfe mich. Bitte, dämpft mich nicht!« Sie sank gebrochen zusammen, und ihre Schultern bebten vor Schluchzen. »Bitte, Mutter! Ich bereue! Ich bereue aufrichtig!«
»Der Amyrlin-Sitz kann Gnade walten lassen«, sagte Elaida triumphierend. Die Weiße Burg mußte sich von Lelaine und Romanda und Sheriam als warnendes Beispiel trennen, aber sie konnte die Stärke dieses Mädchens erhalten. Sie war die Weiße Burg. »Egwene al'Vere, Ihr habt Euch gegen Eure Amyrlin aufgelehnt, aber ich werde Gnade walten lassen. Ihr werdet erneut das Novizinnen-Weiß tragen, bis ich selbst Euch für wert erachte, weiter erhoben zu werden, aber Ihr werdet an eben jenem Tag die erste sein, die einen Vierten Eid auf die Eidesrute schworen wird. Ihr werdet dem Amyrlin-Sitz Treue und Gehorsam schwören.«
Die Gefangenen sanken nacheinander auf die Knie und baten, diesen Eid auch leisten zu dürfen, um ihre wahre Ergebenheit zu beweisen. Lelaine war eine der ersten und weder Romanda noch Sheriam die letzte. Egwene kroch die Stufen hinauf und küßte den Saum von Elaidas Gewand.
»ich unterwerfe, mich Eurem Willen Mutter«, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme. »Danke. Oh, ich danke Euch!«
Alviarin ergriff Elaidas Schulter und schüttelte sie. »Wacht auf, törichte Frau!« grollte sie.
Elaida öffnete im trüben Licht einer einzigen, von Alviarin gehaltenen Lampe ruckartig die Augen. Alviarin beugte sich, eine Hand auf ihrer Schulter, über ihr Bett. Noch immer benommen, murmelte sie: »Was habt Ihr gesagt?«
»Ich sagte: ›Bitte wacht auf, Mutter‹«, erwiderte Alviarin gelassen. »Covarla Baldene ist aus Cairhien zurückgekehrt.«
Elaida schüttelte den Kopf, versuchte die letzten Reste des Traums abzuschütteln. »So bald? Ich hatte sie frühestens in einer Woche erwartet. Covarla, sagt Ihr? Wo ist Galina?« Törichte Fragen. Alviarin würde nicht wissen, was sie meinte.
Aber die Frau sagte in diesem gelassenen, kristallenen Tonfall: »Sie glaubt, Galina sei tot oder gefangengenommen worden. Ich fürchte, sie bringt keine ... guten Nachrichten.«
Elaida vergaß rasch, was Alviarin wissen oder nicht wissen sollte. »Erzählt«, forderte sie, während sie das Seidenlaken zurückwarf, aber während sie aufstand und ein Seidengewand über ihrem Nachthemd schloß, hörte sie nur Bruchstücke. Ein Kampf. Horden von Aielfrauen, welche die Macht lenkten. Al'Thor verschwunden. Katastrophe. Sie bemerkte verwirrt, daß Alviarin ordentlich mit einem weißen, mit Silberstickereien verzierten Gewand bekleidet war und die Stola der Behüterin der Chroniken um den Hals trug. Die Frau hatte sich erst angekleidet, bevor sie ihr diese Neuigkeiten überbrachte!
Die Uhr in ihrem Arbeitszimmer schlug leise die zweite Stunde, als sie den Wohnraum betrat. Die frühen Morgenstunden. Die schlechteste Zeit für unheilvolle Nachrichten. Covarla erhob sich hastig von einem der rot gepolsterten Lehnstühle, ihr unversöhnliches Gesicht vor Müdigkeit und Sorge eingefallen, und kniete sich hin, um Elaidas Ring zu küssen. Ihr dunkles Reitgewand war von der Reise noch staubbedeckt, und ihr helles Haar brauchte eine Bürste, aber sie hatte auch jetzt den Schal umgelegt, den sie schon trug, solange Elaida lebte.
Elaida wartete kaum ab, bis die Lippen der Frau den Großen Schlangenring berührten, bevor sie die Hand fortzog. »Warum wurdet Ihr geschickt?« fragte sie kurz angebunden. Sie nahm ihr Strickzeug von dem Stuhl auf, wo sie es gelassen hatte, setzte sich hin und begann mit den langen Elfenbeinnadeln zu arbeiten. Zu stricken diente dem gleichen Zweck, wie ihre Elfenbeinminiaturen zu liebkosen, und sie bedurfte jetzt gewiß des Trostes. Das Stricken half ihr auch beim Nachdenken. Und sie mußte nachdenken. »Wo ist Katerine?« Wenn Galina tot war, sollte Katerine vor Coiren die Führung übernommen haben. Elaida hatte deutlich gemacht, daß die Rote Ajah das Sagen hätte, wenn al'Thor erst gefangengenommen worden wäre.
Covarla erhob sich langsam, als sei sie unsicher, ob sie aufstehen sollte. Ihre Hände verkrampften sich um die mit roten Fransen versehene, über ihre Arme geschlungene Stola. »Katerine gehört zu jenen, die vermißt werden, Mutter. Ich habe die höchste Position unter jenen, die...« Ihre Worte erstarben, als Elaida sie ansah, während ihre Finger bei der Arbeit erstarrten. Covarla schluckte und regte sich unbehaglich.
»Wie viele, Tochter?« fragte Elaida schließlich. Sie konnte nicht glauben, daß ihre Stimme so ruhig klang.
»Ich weiß nicht, wie viele entkommen sind, Mutter«, antwortete Covarla zögernd. »Wir wagten nicht, solange abzuwarten, bis wir die Suche aufnehmen konnten, aber...«
»Wie viele?« schrie Elaida. Sie zwang sich schaudernd, sich auf ihr Strickzeug zu konzentrieren. Sie hätte nicht schreien sollen. Es war ein Zeichen von Schwäche, Zorn nachzugeben. Das Stricken beruhigte sie.
»Ich ... ich habe elf weitere Schwestern mitgebracht, Mutter.« Die Frau hielt inne, atmete schwer und fuhr fort, als Elaida schwieg. »Vielleicht kommen noch andere zurück, Mutter. Gawyn weigerte sich, länger zu warten, und wir wagten nicht, ohne ihn und die Jünglinge zu bleiben, nicht, wo so viele Aiel in der Nähe waren, und die...«
Elaida hörte nicht mehr zu. Zwölf waren zurückgekehrt. Wären mehr entkommen, wären sie nach Tar Valon zurückgeeilt und gewiß genauso bald wie Covarla hier gewesen. Selbst wenn eine oder zwei verletzt waren und langsam reisten ... Zwölf. Die Burg hatte selbst während der Trolloc-Kriege keine Katastrophe dieses Ausmaßes erlebt.
»Diesen Aiel-Wilden muß eine Lektion erteilt werden«, sagte sie und unterbrach damit, was immer Covarla gerade gesagt hatte. Galina hatte geglaubt, sie könnte Aiel benutzen, um Aiel abzulenken. Welche Närrin die Frau gewesen war! »Wir werden die Schwestern retten, die gefangengehalten werden, und die Aiel lehren, was es bedeutet, sich Aes Sedai zu widersetzen! Und wir werden al'Thor wieder gefangennehmen.« Sie würde ihn nicht entkommen lassen, und wenn sie die gesamte Weiße Burg persönlich anführen müßte! Die Vorhersage war eindeutig gewesen. Sie würde triumphieren!
Covarla warf einen unruhigen Blick zu Alviarin und regte sich erneut unbehaglich. »Mutter, jene Männer ... ich denke...«
»Denkt nicht!« fauchte Elaida. Ihre Hände verkrampften sich um das Strickzeug, und sie beugte sich so heftig vor, daß Covarla tatsächlich eine Hand hob, als wolle sie einen Angriff abwehren. Alviarins Anwesenheit war Elaida entfallen. Nun, die Frau wußte jetzt, was sie wußte. Darum konnte sie sich später kümmern. »Ihr habt doch Verschwiegenheit bewahrt, Covarla? Außer daß Ihr die Behüterin der Chroniken benachrichtigt habt?«
»O ja, Mutter«, antwortete Covarla hastig. Sie nickte eifrig und war froh, daß sie etwas richtig gemacht hatte. »Ich habe die Stadt allein betreten, und ich habe mein Gesicht verhüllt, bis ich bei Alviarin eintraf. Gawyn wollte mich begleiten, aber die Brückenwächter weigerten sich, ein Mitglied der Jünglinge passieren zu lassen.«
»Vergeßt Gawyn Trakand«, befahl Elaida verärgert. Dieser junge Mann war anscheinend am Leben geblieben, um ihre Pläne zu stören. Wenn sich herausstellte, daß Galina noch lebte, würde sie für dieses Versagen und dafür, daß sie al'Thor hatte entkommen lassen, bezahlen. »Ihr werdet die Stadt genauso vorsichtig verlassen, wie Ihr sie betreten habt, Tochter, und haltet Euch und die anderen in einem der Dörfer jenseits der Brückenstädte gut verborgen, bis ich nach Euch schicke. Dorlan wird dafür geeignet sein.« Sie würden in diesem winzigen Weiler, der kein Gasthaus besaß, in Scheunen schlafen müssen. Das war das mindeste, was sie für ihre Stümperei verdient hatten. »Geht jetzt. Und betet, daß bald jemand eintrifft, der einen höheren Rang bekleidet. Der Saal wird für diese beispiellose Katastrophe Genugtuung fordern, und im Moment nehmt Ihr die höchste Position unter jenen ein, die gefehlt haben. Geht!«
Covarla wurde bleich. Sie schwankte dermaßen, als sie ihren Hofknicks vollführte, daß Elaida glaubte, sie würde umfallen. Stümper! Sie war von Narren, Verrätern und Stümpern umgeben!
Sobald Elaida die Außentür zufallen hörte, schleuderte sie ihr Strickzeug von sich, sprang auf und fuhr zu Alviarin herum. »Warum habe ich hiervon nicht schon früher erfahren? Wenn al'Thor vor - was sagtet Ihr? Vor sieben Tagen? -, wenn er vor sieben Tagen entkommen ist, müssen irgend jemandes Augen-und-Ohren ihn gesehen haben. Warum wurde ich nicht informiert?«
»Ich kann an Euch nur weitergeben, was die Ajahs mir berichten, Mutter.« Alviarin richtete völlig gelassen ihre Stola. »Wollt Ihr wahrhaftig eine dritte Katastrophe riskieren, indem Ihr die Gefangenen zu befreien versucht?«
Elaida schnaubte verächtlich. »Glaubt Ihr tatsächlich, Wilde könnten Aes Sedai trotzen? Galina hat sich überrumpeln lassen. So muß es gewesen sein.« Sie runzelte die Stirn. »Was meint Ihr mit einer dritten Katastrophe?«
»Ihr hört nicht zu, Mutter.« Alviarin setzte sich unerhörterweise hin, ohne die Erlaubnis dazu erhalten zu haben, schlug die Beine übereinander und richtete unbekümmert ihre Röcke. »Covarla dachte, sie hatten sich vielleicht gegen die Wilden behaupten können -obwohl ich glaube, daß sie davon nicht annähernd so überzeugt ist, wie sie uns glauben machen will -, aber die Männer waren eine andere Sache. Mehrere hundert Männer in schwarzen Jacken, die alle die Macht lenkten. Sie war sich dessen sicher, und die anderen anscheinend ebenso. Lebende Waffen, nannte sie sie. Ich glaube, sie hätte sich noch bei der Erinnerung daran fast beschmutzt.«
Elaida stand da wie erschlagen. Mehrere hundert? »Unmöglich. Es können nicht mehr sein als...« Sie trat zu einem scheinbar vollkommen aus Elfenbein und Gold bestehenden Tisch und goß sich einen Becher gewürzten Wein ein. Der Rand des Kristallkruges schlug gegen den Kristallbecher, und fast ebensoviel Wein ergoß sich auf das Tablett wie in den Becher.
»Da al'Thor das Schnelle Reisen beherrscht«, sagte Alviarin plötzlich, »scheint es logisch, daß zumindest einige dieser Männer es auch beherrschen. Covarla ist der festen Überzeugung, daß sie auf diese Weise angekommen sind. Er ist über seine Behandlung vermutlich ziemlich aufgebracht. Covarla war deshalb anscheinend etwas beunruhigt und hat angedeutet, daß auch einige der Schwestern beunruhigt wären. Vielleicht hat er das Gefühl, Euch etwas zu schulden. Es wäre nicht erfreulich, wenn diese Männer plötzlich aus der Luft genau hier die Burg beträten, nicht wahr?«
Elaida stürzte den gewürzten Wein regelrecht ihre Kehle hinab. Galina hatte Anweisungen erhalten, damit zu beginnen, al'Thor gefügig zu machen. Wenn er kam, um Rache zu nehmen... Wenn es wirklich Hunderte von Männern gab, welche die Macht lenken konnten - selbst wenn es nur einhundert waren... Sie mußte nachdenken!
»Ich denke, wenn sie kommen wollten, wären sie jetzt bereits hier. Sie hätten sich den Überraschungsmoment nicht entgehen lassen. Vielleicht will selbst al'Thor nicht der versammelten Burg gegenübertreten. Sie sind vermutlich alle nach Caemlyn, in ihre Schwarze Burg, zurückgekehrt. Was, wie ich befürchte, bedeutet, daß Toveine ein höchst unerfreulicher Schock bevorsteht.«
»Schickt ihr den schriftlichen Befehl, sofort zurückzukommen«, sagte Elaida heiser. Der gewürzte Wein half anscheinend nicht. Sie wandte sich um und zuckte zusammen, als Alviarin unmittelbar vor ihr stand. Vielleicht waren es nicht einmal einhundert Männer - nicht einmal einhundert? Bei Sonnenuntergang wären zehn noch verrückt erschienen -, aber sie durfte das Risiko nicht eingehen. »Schreibt den Befehl selbst, Alviarin. Jetzt. Sofort.«
»Und wie soll ihr die Botschaft überbracht werden?« Alviarin neigte den Kopf in frostiger Neugier. Aus einem unbestimmten Grund lächelte sie schwach. »Von uns beherrscht niemand das Schnelle Reisen. Die Schiffe werden Toveine und ihre Gesellschaft jetzt jeden Tag in Andor an Land bringen, wenn es nicht bereits geschehen ist. Ihr habt ihr befohlen, ihre Leute in kleine Gruppen aufzuteilen und Dörfer zu meiden, damit niemand gewarnt wird. Nein, Elaida, ich fürchte, Toveine wird ihre Kräfte in der Nähe von Caemlyn wieder sammeln und die Schwarze Burg angreifen, ohne daß sie eine Nachricht von uns erhält.«
Elaida keuchte. Die Frau hatte sie gerade beim Namen genannt! Und bevor sie ihren Zorn äußern konnte, kam es noch schlimmer.
»Ich glaube, Ihr seid in erheblichen Schwierigkeiten, Elaida.« Kalte Augen blickten Elaida an, und kalte Worte lösten sich glatt von Alviarins lächelnden Lippen. »Früher oder später wird der Saal von der Katastrophe mit al'Thor erfahren. Galina konnte den Saal vielleicht zufriedenstellen, aber ich bezweifle, daß es auch Covarla gelingen wird. Sie werden wollen, daß jemand ... Höherstehendes ... bezahlt. Und früher oder später werden wir alle Toveines Schicksal erleiden. Dann wird es schwierig für Euch sein, diese Last auf Euren Schultern zu tragen.« Sie richtete beiläufig die Stola der Amyrlin um Elaidas Hals. »Tatsächlich wird es unmöglich sein, wenn sie es bald erfahren. Ihr werdet gedämpft und als abschreckendes Beispiel verdammt werden, so wie Ihr es mit Siuan Sanche tun wolltet. Aber vielleicht gewinnt Ihr genügend Zeit, es wiedergutzumachen, wenn Ihr auf Eure Behüterin der Chroniken hört. Ihr müßt einen guten Rat annehmen.«
Elaidas Zunge fühlte sich erstarrt an. Die Drohung hätte nicht deutlicher ausgesprochen werden können. »Was Ihr heute gehört habt, ist der Flamme versiegelt«, sagte sie mit belegter Stimme, aber sie wußte, noch bevor sie die Worte ausgesprochen hatte, daß sie nutzlos waren.
»Wenn Ihr meinen Rat zurückweisen wollt...« Alviarin hielt inne und wollte sich abwenden.
»Wartet!« Elaida zog die Hand zurück, die sie unbewußt ausgestreckt hatte. Der Stola beraubt. Gedämpft. Und selbst danach würde man sie noch zum Schreien bringen. »Was...?« Sie mußte abbrechen, um zu schlucken. »Was rät mir meine Behüterin der Chroniken?« Dies mußte irgendwie aufzuhalten sein.
Alviarin trat seufzend wieder näher. Tatsächlich noch näher. Viel zu nahe für jemanden, der bei der Amyrlin stand, da sich ihre Röcke fast berührten. »Ich fürchte, zunächst müßt Ihr Toveine ihrem Schicksal überlassen, zumindest im Moment. Und Galina und alle anderen Gefangenen ebenfalls, gleichgültig, ob sie von den Aiel oder den Asha'man gefangengenommen wurden. Jeder Rettungsversuch muß jetzt Entdeckung bedeuten.«
Elaida nickte zögernd. »Ja. Das sehe ich ein.« Sie konnte ihren entsetzten Blick nicht vom fordernden Blick der anderen Frau abwenden. Es mußte eine Möglichkeit geben! Dies durfte nicht geschehen!
»Ich bin der Ansicht, es ist an der Zeit, Eure Entscheidung über die Burgwache zu überdenken. Glaubt Ihr wirklich nicht, daß die Wache nach allem verstärkt werden sollte?«
»Ich ... ich denke, ich sollte es tun.« Licht, sie mußte nachdenken!
»Gut«, murmelte Alviarin, und Elaida errötete vor hilflosem Zorn. »Morgen werdet Ihr persönlich Josaines Räume durchsuchen, und Adelornas ebenfalls.«
»Warum, unter dem Licht, sollte ich...?«
Die Frau zog erneut an ihrer gestreiften Stola, dieses Mal fast so fest, als wollte sie sie ihr herunterreißen oder sie damit erwürgen. »Anscheinend hat Josaine vor einigen Jahren ein Angreal gefunden und niemals zurückgegeben. Und Adelorna hat, fürchte ich, noch Schlimmeres getan. Sie hat ohne Erlaubnis ein Angreal aus einem der Lagerräume entwendet. Wenn Ihr sie gefunden habt, werdet Ihr sofort ihre Bestrafung verkünden. Eine recht harte Strafe. Und gleichzeitig werdet Ihr Doraise, Kiyoshi und Farellien als Beispiele der Aufrechterhaltung des Gesetzes hinstellen. Ihr werdet jeder ein Geschenk machen. Ein gutes Pferd wird genügen.«
Elaida fragte sich, ob ihr wohl die Augen aus dem Gesicht fallen würden. »Warum?« Manchmal behielt eine Schwester dem Gesetz zum Trotz ein Angreal für sich, aber die Strafe betrug selten mehr als einen festen Schlag auf die Knöchel. Jede Schwester wußte um die Versuchung. Und um alles andere! Die Absicht war offensichtlich. Jedermann würde glauben, Doraise und Kiyoshi und Farellien hätten die anderen beiden entlarvt. Josaine und Adelorna waren Grüne, während die anderen der Braunen und Grauen beziehungsweise der Gelben Ajah angehörten. Die Grüne Ajah würde zornig sein. Sie könnten sogar versuchen, es den anderen heimzuzahlen, was wiederum jene Ajahs aufwiegeln würde und... »Warum wollt Ihr das tun, Alviarin?«
»Elaida, es sollte Euch genügen, daß ich Euch dies rate.« Spöttisches, honigsüßes Eis wurde zu kaltem Stahl. »Ich möchte Euch sagen hören, daß Ihr tun werdet, was man Euch befiehlt. Sonst hat es für mich keinen Zweck mehr zu versuchen, die Stola um Euren Hals zu retten. Sagt es!«
»Ich...« Elaida versuchte, den Blick abzuwenden. Oh, Licht, sie mußte nachdenken! Ihr Magen verkrampfte sich. »Ich werde ... tun ... was man ... mir sagt.«
Alviarin lächelte ihr frostiges Lächeln. »Seht Ihr, das war doch gar nicht so schwer.« Sie trat jäh zurück und breitete bei einem angemessenen Hofknicks ihre Röcke aus. »Ich werde mich, mit Eurer Erlaubnis, zurückziehen, damit Ihr den Rest der Nacht noch etwas Schlaf finden mögt. Ihr müßt morgen früh zeitig aufstehen, um Chubain Befehle zu erteilen und Räume zu durchsuchen. Außerdem müssen wir entscheiden, wann wir die Burg über die Asha'man in Kenntnis setzen.« Ihr Tonfall machte deutlich, daß sie diese Entscheidung treffen würde. »Und vielleicht sollten wir auch damit beginnen, unseren nächsten Zug gegen al'Thor zu planen. Die Burg muß sich bald offen bekennen und ihn gefügig machen, meint Ihr nicht? Denkt gut darüber nach. Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht, Elaida.«
Elaida sah ihr benommen und mit einem Gefühl der Übelkeit nach. Offen bekennen? Das würde einen Angriff dieser - wie hatte die Frau sie genannt? -Asha'man nur herausfordern. Das durfte ihr nicht passieren. Nicht ihr! Bevor sie erkannte, was sie tat, schleuderte sie ihren Becher quer durch den Raum, so daß er an der Wand zerbarst. Dann ergriff sie mit beiden Händen den Krug, hob ihn mit einem Wutschrei über den Kopf und schleuderte ihn ebenfalls von sich, so daß der gewürzte Wein umher spritzte. Die Vorhersage war so eindeutig gewesen! Sie würde...!
Sie hielt jäh inne und betrachtete stirnrunzelnd die winzigen, an der Wand hängenden Kristallsplitter und die über den Boden verstreuten größeren Scherben.
Die Vorhersage. Sie hatte gewiß ihren Triumph prophezeit. Ihren Triumph! Alviarin hatte vielleicht einen geringfügigen Sieg errungen, aber die Zukunft gehörte Elaida. Solange sie Alviarin loswerden könnte. Aber es mußte still geschehen, auf eine Art, daß sogar der Saal es verheimlichen wollte. Auf eine Art, die erst auf Elaida hindeuten würde, wenn es zu spät wäre, falls Alviarin davon erfahren sollte. Und plötzlich kam ihr die Idee. Alviarin würde es nicht glauben, wenn man es ihr erzählte. Niemand würde es glauben.
Hätte Alviarin sie jetzt lächeln sehen, wären ihr die Knie weich geworden. Bevor sie mit ihr fertig war, würde Alviarin Galina beneiden, lebendig oder tot.
Alviarin blieb im Gang vor Elaidas Räumen stehen und betrachtete beim Licht der Stehlampen ihre Hände. Sie zitterten nicht, was sie überraschte. Sie hatte erwartet, daß die Frau stärker kämpfen, länger widerstehen würde. Aber der Anfang war gemacht, und sie hatte nichts zu befürchten. Es sei denn, Elaida erfuhr, daß ihr in den letzten Tagen nicht weniger als fünf Ajahs Nachrichten über al'Thor hatten zukommen lassen. Die Entlassung Colavaeres hatte die Agenten jeder Ajah in Cairhien eiligst zur Feder greifen lassen. Nein, wenn Elaida es erfuhr, war sie dennoch ausreichend sicher, da sie die Frau jetzt unter Kontrolle hatte. Und weil Mesaana ihre Gönnerin war. Elaida war jedoch am Ende, ob sie es erkannte oder nicht. Selbst wenn es den Asha'man nicht gelang, Toveines Feldzug vollkommen zu zerschlagen - und nach dem, was Mesaana ihr über die Ereignisse der Brunnen von Dumai erzählt hatte, schien es unzweifelhaft, daß es ihnen gelänge -, würden allen Augen-und-Ohren in Caemlyn dennoch wahrhaft Flügel verliehen, wenn sie es erfuhren. Ohne ein Wunder, wie an den Toren erscheinende Aufständische, würde Elaida innerhalb weniger Wochen Siuan Sanches Schicksal teilen. Der Anfang war in jedem Fall gemacht, und wenn sie wünschte, sie wüßte, was ›es‹ war, mußte sie wirklich nur gehorchen. Und aufpassen. Und lernen. Vielleicht würde sie die Stola mit den sieben Streifen selbst tragen, wenn alles vorbei war.
Seaine tauchte im frühen, durch ihre Fenster hereinströmenden Sonnenschein ihre Feder in das Tintenfaß, aber bevor sie das nächste Wort schreiben konnte, öffnete sich die Tür zum Gang, und die Amyrlin rauschte herein. Seaine wölbte die dichten schwarzen Augenbrauen. Sie hätte jedermann sonst eher erwartet als Elaida, vielleicht sogar al'Thor selbst. Dennoch legte sie die Feder hin, erhob sich anmutig und zog die silberweißen Ärmel herab, die sie hinauf geschoben hatte, damit keine Tinte daran käme. Sie vollführte einen dem Amyrlin-Sitz von einer Sitzenden in ihren eigenen Räumen angemessenen Hofknicks.
»Ich hoffe, Ihr habt keine Weißen Schwestern gefunden, die Angreale verbergen, Mutter.« Nach all diesen Jahren hörte man aus ihrer Sprache noch immer den lugardischen Akzent heraus. Sie hoffte es recht inbrünstig. Elaidas Abstieg zu den Grünen vor wenigen Stunden, während die meisten anderen schliefen, bewirkte vermutlich noch immer Jammern und Zähneknirschen. Solange man sich erinnern konnte, war keine Schwester dazu verurteilt worden, gezüchtigt zu werden, weil sie ein Angreal zurückgehalten hatte, und jetzt sollten es sogar zwei sein. Die Amyrlin mußte eine ihrer berühmten Phasen kalten Zorns durchlebt haben.
Aber wenn das zum gegebenen Zeitpunkt zutraf, gab sie jetzt keinen Hinweis mehr darauf. Sie betrachtete Seaine einen Moment schweigend, in ihrer mit roten Schlitzen versehenen Seide kühl wie ein Winterteich, und glitt dann zu der reich verzierten Anrichte, auf der die Elfenbeinminiaturen von Seaines Familie standen. Sie alle waren schon seit Jahren tot, aber sie liebte sie noch immer.
»Ihr habt Euch nicht erhoben, um mich zur Amyrlin zu wählen«, sagte Elaida und nahm das Bild von Seaines Vater auf. Sie stellte es hastig wieder hin und nahm statt dessen das Bild ihrer Mutter hoch.
Seaine hätte fast erneut die Augenbrauen gewölbt, aber sie versuchte, es sich zur Regel zu machen, sich nicht häufiger als einmal am Tag überraschen zu lassen. »Ich wurde erst hinterher darüber informiert, daß der Saal sich versammelt hatte, Mutter.«
»Ja, ja.« Elaida ließ von den Miniaturen ab und glitt zum Kamin. Seaine hatte schon immer eine Vorliebe für Katzen gehabt, und aus Holz geschnitzte Katzen aller Arten bevölkerten den Kaminsims, einige in komischen Posen. Die Amyrlin betrachtete sie stirnrunzelnd, schloß dann fest die Augen und schüttelte leicht den Kopf. »Aber ihr seid geblieben«, sagte sie und wandte sich rasch um. »Jede Sitzende, die nicht informiert wurde, entfloh der Burg und schloß sich den Aufständischen an. Warum seid Ihr als einzige geblieben?«
Seaine spreizte die Hände. »Was konnte ich anderes tun, Mutter? Die Burg muß unversehrt sein.« Wer auch immer die Amyrlin ist, fügte sie im Geiste hinzu. Und was stimmt mit meinen Katzen nicht, wenn ich fragen darf? Nicht, daß sie diese Frage jemals laut gestellt hätte. Sereille Bagand war eine grimmige Herrin der Novizinnen gewesen, bevor sie im selben Jahr, in dem sie selbst die Stola erhielt, zum Amyrlin-Sitz erhoben wurde, und sie war eine noch grimmigere Amyrlin gewesen, als Elaida jemals sein könnte. Seaine waren die Eigenheiten mehrere Jahre lang zu nachhaltig und tief eingebleut worden, um jetzt noch etwas daran zu ändern. Oder an der Abneigung gegenüber der Frau, welche die Stola trug. Man mußte eine Amyrlin nicht mögen.
»Die Burg muß unversehrt sein«, stimmte Elaida ihr zu und rieb ihre Hände aneinander. »Sie muß unversehrt sein.« Warum war sie nervös? Sie kannte neunundneunzig verschiedene, unangenehme Stimmungen, aber nervös war die Frau niemals. »Was ich Euch jetzt sage, ist der Flamme versiegelt, Seaine.« Sie verzog den Mund, zuckte die Achseln und riß verärgert an ihrer Stola. »Wenn ich wüßte, wie ich es noch eindringlicher ausdrücken könnte, würde ich es tun«, sagte sie vollkommen trocken.
»Ich werde Eure Worte in meinem Herzen bewahren, Mutter.«
»Ich möchte - ich befehle Euch -, daß Ihr Nachforschungen anstellt. Ihr müßt dies wirklich in Eurem Herzen bewahren. Wenn die falsche Person davon erfährt könnte es Tod und Unheil für die ganze Burg bedeuten.«
Seaines Augenbrauen zuckten. Tod und Unheil für die ganze Burg? »In meinem Herzen«, wiederholte sie. »Möchtet Ihr Euch setzen, Mutter?« Das war in ihren eigenen Räumen angemessen. »Darf ich Euch etwas Minztee anbieten? Oder gewürzten Pflaumenwein?«
Elaida winkte ab und ließ sich auf dem bequemsten Stuhl nieder, den Seaines Vater als Geschenk geschnitzt hatte, als sie die Stola erhielt, obwohl die Polster seitdem natürlich mehrmals erneuert worden waren. Die Amyrlin verlieh dem Stuhl durch ihren starr aufgerichteten Rücken und die eiserne Haltung den Anstrich eines Throns. Höchst ungnädigerweise erteilte sie Seaine nicht die Erlaubnis, sich zu setzen, so daß Seaine die Hände faltete und stehen blieb.
»Ich habe, seit man meine Vorgängerin und ihre Behüterin der Chroniken entkommen ließ, lange und intensiv über Verrat nachgedacht, Seaine. Ihrer Flucht muß Verrat zugrunde gelegen haben, und ich fürchte, daß einige Schwestern ihnen geholfen haben könnten.«
»Das wäre gewiß eine Möglichkeit, Mutter.« Elaida runzelte angesichts der Unterbrechung die Stirn.
»Wir können niemals sicher sein, wer den Schatten des Verrats im Herzen trägt, Seaine. Nun, ich vermute, daß jemand Vorkehrungen getroffen hat, einen meiner Befehle zu widerrufen. Und ich habe Grund zu der Annahme, daß jemand persönlich mit Rand al'Thor Verbindung aufgenommen hat. Ich weiß nicht, zu welchem Zweck, aber das ist sicherlich Verrat an mir und an der Burg.«
Seaine wartete auf weitere Äußerungen, aber die Amyrlin erwiderte nur ihren Blick und strich zögernd ihre mit roten Schlitzen versehenen Röcke glatt, als sei sie sich dieser Bewegung nicht bewußt. »Wonach genau soll ich forschen, Mutter?« fragte sie vorsichtig.
Elaida sprang auf. »Ich beauftrage Euch, den Gestank des Verrats zu verfolgen, egal, wohin oder wie hoch hinauf er führt - auch wenn er zu der Behüterin der Chroniken selbst führt. Was Ihr findet, werdet Ihr allein dem Amyrlin-Sitz berichten, Seaine. Niemand sonst darf davon wissen. Versteht Ihr mich?«
»Ich verstehe Eure Befehle, Mutter.«
Was, wie sie dachte, nachdem Elaida noch schneller verschwand, als sie gekommen war, ungefähr das einzige war, was sie verstand. Sie setzte sich nachdenklich auf den Stuhl, den die Amyrlin freigemacht hatte, die Fäuste unter das Kinn gepreßt - die Haltung, in der ihr Vater stets dagesessen hatte, wenn er nachgedacht hatte. Es mußte schließlich eine logische Erklärung geben.
Sie hätte sich nicht gegen Siuan Sanche gestellt -sie selbst hatte das Mädchen zuerst als Amyrlin vorgeschlagen! -, aber nachdem es geschehen war und alle Formen gewahrt waren, wie flüchtig auch immer, war es sicherlich Verrat gewesen, ihr zur Flucht zu verhelfen, und ebenso, einen Befehl der Amyrlin bewußt widerrufen zu haben. Und vielleicht war auch die Verbindung zu al'Thor Verrat. Das hing davon ab, worüber man sich austauschte und zu welchem Zweck. Es wäre schwierig herauszufinden, wer den Befehl widerrufen hatte, wenn man nicht wußte, um welchen Befehl es ging. Zu diesem späten Zeitpunkt war es genausowenig wahrscheinlich, daß herausgefunden würde, wer Siuan zur Flucht verholfen hatte, wie es wahrscheinlich war, daß man erfuhr, wer vielleicht an al'Thor geschrieben hatte. Jeden Tag flogen so viele Tauben in die Burg und wieder hinaus, daß der Himmel manchmal Federn zu regnen schien. Wenn Elaida mehr wußte, als sie sagte, hatte sie gewiß geschickt darum herum geredet. Das alles ergab sehr wenig Sinn. Verrat würde Elaida vor Zorn kochen lassen, aber sie war nicht wütend, sondern nervös gewesen. Und bestrebt fortzukommen. Und geheimnisvoll, als wollte sie nicht alles sagen, was sie wußte oder vermutete. Zudem schien sie auch besorgt gewesen. Welche Art Verrat würde Elaida nervös oder besorgt machen? Tod und Unheil für die ganze Burg.
Wie die Teile eines Puzzles fügte sich allmählich alles zusammen, und Seaine wölbte die Augenbrauen. Es paßte. Alles paßte zusammen. Sie spürte alles Blut aus ihrem Gesicht weichen, und ihre Hände und Füße fühlten sich plötzlich eiskalt an. Der Flamme versiegelt. Sie hatte gesagt, sie würde dies in ihrem Herzen bewahren, aber alles hatte sich geändert, seit sie jene Worte ausgesprochen hatte. Sie erlaubte sich nur dann Besorgnis, wenn Grund dazu bestand, und im Moment war sie überaus besorgt. Sie konnte sich dem nicht allein stellen. Aber wer könnte ihr unter den gegebenen Umständen helfen? Die Antwort war leicht. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefaßt hatte, aber dann eilte sie aus ihren Räumen und aus den Quartieren der Weißen hinaus, wobei sie erheblich schneller ging als gewöhnlich.
Diener huschten wie immer durch die Gänge, obwohl sie so schnell lief, daß sie meistens an ihnen vorbei war, bevor sie Zeit für eine Verbeugung oder einen Hofknicks fanden, aber es waren anscheinend weniger Schwestern in der Nähe, als man durch die frühe Stunde hätte erklären können. Weitaus weniger. Doch wenn die meisten auch aus einem unbestimmten Grund in ihren Räumen blieben, machten die wenigen dies in gewisser Weise auch wieder wett. Schwestern schwebten die mit Wandteppichen behangenen Gänge entlang, die Gesichter vollkommen gelassen, aber hinter ihren Blicken schien sich Zorn zu verbergen. Hier und da sprachen zwei oder drei Frauen miteinander, die sich wachsam umsahen, ob jemand sie belauschte. Es waren stets zwei oder drei Frauen derselben Ajah. Sie glaubte, selbst gestern noch Frauen verschiedener Ajahs freundschaftlich miteinander umgehen gesehen zu haben. Von Weißen wurde erwartet, daß sie ihre Empfindungen vollkommen verbargen, aber sie hatte niemals einen Grund dafür erkennen können, warum sie sich blind stellen sollte, wie es einige andere taten. Mißtrauen ließ die Luft in der Burg knistern. Das war leider nichts Neues - die Amyrlin hatte durch ihre harten Maßnahmen damit begonnen, und die Gerüchte über Logain hatten die Situation noch verschlimmert -, aber heute morgen schien es ärger denn je.
Talene Minly kam vor ihr um eine Ecke. Sie hatte ihre Stola aus einem unbestimmten Grund nicht nur über die Schultern, sondern auch über die Arme gebreitet, als wollte sie die grünen Fransen zeigen. Dabei fiel ihr auf, daß jede Grüne, die sie heute morgen gesehen hatte, ihre Stola trug. Talene, blond und statuenhaft und wunderschön, war bereit gewesen, Siuan abzusetzen, aber sie war schon in die Burg gekommen, als Seaine noch eine Aufgenommene war, und diese Entscheidung hatte ihrer langen Freundschaft nicht geschadet. Talene hatte Gründe angeführt, die Seaine akzeptieren konnte, wenn sie auch nicht mit ihr übereinstimmte. Heute blieb ihre Freundin stehen und betrachtete sie aufmerksam. So viele Schwestern schienen einander in letzter Zeit auf diese Weise zu betrachten. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre sie ebenfalls stehengeblieben, aber nicht jetzt, wo ihr Kopf vor Sorgen wie eine verdorbene Melone zu zerspringen drohte. Talene war eine Freundin, und sie dachte, sie könnte sich ihrer sicher sein, aber dies zu denken genügte nicht allein. Später würde sie an Talene herantreten. Sie hoffte, daß es möglich wäre, und eilte nur mit einem Nicken vorüber.
In den Quartieren der Roten war die Stimmung noch schlechter und die Luft noch dicker. Wie bei den anderen Ajahs gab es auch hier viel mehr Räume, als noch Schwestern da waren - so war es schon, seit die erste Aufständische geflohen war -, aber die Rote war die größte der Ajahs, und die noch bewohnten Stockwerke waren von Schwestern bevölkert. Rote trugen ihre Stolen häufig auch dann, wenn es nicht nötig war, und selbst hier trug jede Frau ihre roten Fransen wie ein Banner zur Schau. Unterhaltungen stockten, wenn Seaine sich näherte, und kalte Blicke folgten ihr in eisigem Schweigen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling tief in Feindesland, während sie über diese eigenartigen Bodenfliesen - weiß mit der tränenförmigen Flamme von Tar Valon in Rot - schritt. Andererseits mochte jeder Teil der Burg Feindesland sein. Wenn man in eine andere Richtung blickte, konnte man jene scharlachroten Flammen für die Fänge eines roten Drachen halten. Sie hatte die unsinnigen Geschichten über die Roten und falsche Drachen niemals geglaubt, aber... Warum wollte niemand von ihnen sie leugnen?
Sie mußte nach dem Weg fragen. »Ich werde sie nicht stören, wenn sie beschäftigt ist«, sagte sie. »Wir waren einst enge Freundinnen, und ich würde diese Freundschaft gern auffrischen. Die Ajahs dürfen jetzt weniger denn je auseinandertreiben.« Das war alles nur zu wahr, obwohl die Ajahs eher zu zerfallen als auseinanderzutreiben schienen, aber die Domani hörte ihr mit einer wie in Kupfer gestochenen Miene zu. Es gab nicht viele Domani-Rote, und diese wenigen waren meist bösartiger als eingefangene Schlangen.
»Ich werde Euch den Weg zeigen, Sitzende«, sagte die Frau schließlich wenig respektvoll. Sie ging voran und beobachtete Seaine, als sie an die Tür klopfte, als könnte sie sie nicht allein hier zurücklassen. In die Tür war ebenfalls die Flamme geschnitzt, die in der Farbe frischen Blutes bemalt war.
»Herein!« rief eine energische Stimme von drinnen. Seaine öffnete die Tür und hoffte, daß sie den richtigen Raum betrat.
»Seaine!« rief Pevara freudig aus. »Was führt dich heute morgen zu mir? Komm herein! Schließ die Tür und setz dich!« Es schien, als wären die Jahre, seit sie Novizin und Aufgenommene gewesen waren, dahingeschmolzen. Etwas rundlich und nicht groß - sie war für eine Kandori tatsächlich klein -, war Pevara aber recht hübsch, hatte ein fröhliches Zwinkern in den Augen und ein bereitwilliges Lächeln. Es war traurig, daß sie die Rote Ajah erwählt hatte, ungeachtet ihrer Gründe, weil sie Männer noch immer mochte. Die Roten zogen Frauen an, die Männern gegenüber ein natürliches Mißtrauen an den Tag legten, aber andere erwählten sie wiederum, weil es eine wichtige Aufgabe war, Männer zu finden, welche die Macht lenken konnten. Ob sie anfangs Männer mochten oder verachteten, nicht viele Frauen konnten lange der Roten Ajah angehören, ohne eine voreingenommene Haltung gegenüber Männern zu entwickeln. Seaine hatte Grund zu der Annahme, daß Pevara, kurz nachdem sie die Stola erlangt hatte, eine Strafe verbüßt hatte, weil sie gesagt hatte, sie wünschte, sie hätte einen Behüter. Seit sie die sichereren Höhen des Saals erreicht hatte, äußerte sie offen, Behüter würden die Arbeit der Roten Ajah erleichtern.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen«, sagte Pevara, als sie es sich in Lehnstühlen bequem gemacht hatten, die mit den in Kandor vor hundert Jahren beliebten Spiralen verziert waren, und hübsche, mit Schmetterlingen bemalte Becher mit Blaubeertee in Händen hielten. »Ich habe oft gedacht, ich sollte zu dir gehen, aber ich gebe zu, daß ich fürchtete, was du sagen würdest, nachdem ich dich vor so vielen Jahren bewußt geschnitten habe. Der Klinge verschworen, Seaine. Ich hätte es nicht getan, wenn Tesien Jorhald mich nicht buchstäblich am Kragen gepackt hätte, und ich trug die Stola erst zu kurz, um schon ein starkes Rückgrat zu besitzen. Kannst du mir verzeihen?«
»Natürlich verzeihe ich dir«, erwiderte Seaine. »Ich habe es verstanden.« Die Rote Ajah mißbilligte Freundschaften außerhalb der eigenen Ajah zutiefst. Zutiefst und wirksam. »Wir können uns nicht gegen unsere Ajahs auflehnen, wenn wir jung sind, und später scheint es unmöglich umzukehren. Ich habe mich tausendmal daran erinnert, wie wir nach dem letzten Glockenschlag miteinander geflüstert haben -Oh, und die Streiche! Erinnerst du dich daran, wie wir Seranchas Nachtgewand mit Juckpulver bestreuten? -, aber ich schäme mich zuzugeben, daß ich erst überaus verängstigt sein mußte, um mich zu rühren. Ich möchte unsere Freundschaft gern wieder auffrischen, aber ich brauche auch deine Hilfe. Du bist die einzige, der ich wirklich vertrauen kann.«
»Serancha war damals ein Tugendbold, und sie ist es noch immer«, lachte Perava. »Die Graue Ajah ist ein guter Ort für sie. Aber ich kann nicht glauben, daß dich irgend etwas ängstigt. Du hattest niemals einen Grund, verängstigt zu sein, bis wir wieder in unseren Betten lagen. Aber unter der bedrohlichen Aussicht, bald vor den Saal zu treten, ohne zu wissen warum, werde ich dir alle mir mögliche Hilfe zukommen lassen, Seaine. Welche Hilfe brauchst du?«
Direkt angesprochen, zögerte Seaine und nippte an ihrem Tee. Nicht, daß sie an Pevara zweifelte, aber es war ... schwierig, die Worte auszusprechen. »Die Amyrlin hat mich heute morgen aufgesucht«, sagte sie schließlich. »Sie hat mich angewiesen, Nachforschungen anzustellen. Der Flamme versiegelte Nachforschungen.« Pevara runzelte leicht die Stirn, aber sie sagte nicht, daß Seaine in diesem Falle schweigen sollte. Seaine hatte vielleicht die meisten ihrer Streiche als Mädchen ausgeheckt, aber Pevara war diejenige mit der größten Unverfrorenheit gewesen und hatte die besten Nerven bei der Durchführung bewiesen. »Sie war sehr vorsichtig, aber als ich ein wenig darüber nachgedacht hatte, erkannte ich, was sie von mir wollte. Ich soll...« Bei den letzten Worten versagte ihr der Mut. »...Schattenfreunde aus der Burg vertreiben.«
Pevaras Augen, die so dunkel wie ihre eigenen blau waren, versteinerten. Ihr Blick schwenkte zum Kaminsims, wo Miniaturen ihrer Familie in einer geraden Linie aufgereiht standen. Sie waren alle in ihrer Novizinnenzeit gestorben, Eltern, Brüder und Schwestern, Tanten, Onkel und alle anderen, bei einem rasch unterdrückten Aufstand von Schattenfreunden ermordet, die überzeugt worden waren, daß der Dunkle König bald aus seinem Gefängnis ausbrechen würde. Darum war Seaine sicher gewesen, daß sie ihr trauen konnte. Pevara hatte die Rote Ajah erwählt - obwohl Seaine noch immer glaubte, sie hätte in der Grünen Ajah genausoviel Erfolg gehabt und wäre dort glücklicher gewesen -, weil sie glaubte, daß eine Rote, die Männer jagte, welche die Macht lenken konnten, die besten Aussichten hatte, Schattenfreunde aufzuspüren. Sie war sehr gut darin. Ihr rundliches Äußeres verdeckte einen stählernen Kern. Und sie besaß den Mut, ruhig zu sagen, was auszusprechen Seaine nicht fertiggebracht hatte.
»Die Schwarze Ajah. Nun, kein Wunder, daß Elaida vorsichtig war.«
»Pevara, ich weiß, daß sie deren Existenz stets heftiger geleugnet hat als jegliche drei anderen Schwestern zusammengenommen, aber ich bin fest überzeugt, daß sie das gemeint hat, und wenn sie sicher ist...«
Ihre Freundin winkte ab. »Du brauchst mich nicht zu überzeugen, Seaine. Ich bin schon zu dem Schluß gekommen, daß die Schwarze Ajah existiert, seit...«
Hier zögerte Perava seltsamerweise und spähte wie eine Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt in ihren Teebecher. »Was weißt du über die Ereignisse unmittelbar nach dem Aiel-Krieg?«
»Zwei Amyrlins starben plötzlich innerhalb von fünf Jahren«, sagte Seaine vorsichtig. Sie nahm an, daß die andere Frau die Ereignisse in der Burg meinte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte sie, als sie vor fünfzehn Jahren und nur ein Jahr nach Perava zur Sitzenden erhoben wurde, auf kaum etwas außerhalb der Burg geachtet, und auch auf Ereignisse innerhalb der Burg nicht allzu sehr. »Viele Schwestern sind in jenen Jahren gestorben, soweit ich mich erinnere. Willst du also sagen, du glaubst, daß die ... Schwarze Ajah damit zu tun hatte?« Endlich. Sie hatte es ausgesprochen, und der Name hatte ihr nicht die Zunge verbrannt.
»Ich weiß es nicht«, sagte Perava leise und schüttelte den Kopf. »Du hast gut daran getan, intensiv nachzudenken. Damals wurden ... Dinge ... getan und der Flamme versiegelt.« Sie atmete zitternd ein.
Seaine drängte sie nicht. Sie hatte selbst etwas einem Verrat Ähnliches begangen, indem sie dasselbe Siegel gebrochen hatte, und Perava würde selbst entscheiden müssen. »Es wird sicherer sein, sich Berichte anzusehen als Fragen zu steilen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wen wir tatsächlich befragen. Eine Schwarze Schwester muß logischerweise in der Lage sein, trotz der Eide zu lügen.« Sonst wäre die Schwarze Ajah schon längst entlarvt worden. Der Name schien ihr mit zunehmendem Gebrauch leichter über die Lippen zu kommen. »Wenn eine Schwester aufgeschrieben hat, sie hätte das eine getan, wir aber beweisen können, daß sie etwas anderes getan hat, dann haben wir eine Schattenfreundin gefunden.«
Perava nickte. »Ja, aber wir müssen vorsichtig sein. Vielleicht hat die Schwarze Ajah nichts mit dem Aufstand zu tun, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen würden. Ich denke, wir müssen uns das letzte Jahr genauer ansehen.«
Seaine stimmte dem widerwillig zu. Sie würden bezüglich der letzten Monate weniger Berichte lesen können, sondern mehr Fragen stellen müssen. Noch schwerer war die Entscheidung, wen sie an ihren Nachforschungen teilhaben lassen wollten. Besonders nachdem Pevara sagte: »Es war mutig von dir, zu mir zu kommen, Seaine. Ich habe Schattenfreunde gekannt, die ihre Brüder, Schwestern und Eltern getötet haben, um zu verbergen, wer sie waren und was sie getan haben. Ich liebe dich dafür, aber du warst wirklich sehr mutig.«
Seaine zitterte wie unter einer Vorahnung. Hätte sie mutig sein wollen, hätte sie die Grüne Ajah erwählt. Sie wünschte fast, Elaida wäre zu jemand anderem gegangen. Aber jetzt war keine Umkehr mehr möglich.