Mitra rief an und wollte wissen, wie es so lief.
»Normal«, erwiderte ich mürrisch. »Nur dass die Norm mir nicht sonderlich behagt.«
»Oho, man spricht in Bildern«, sagte Mitra prustend. »Da kannst du mal sehen, welch interessante Konversationspartner die Zunge aus uns macht. Wie heißt es bei uns so schön? Die Zunge ist des Herzens Dolmetsch.«
»Aha. Haben die Vampire denn noch mehr Sprichwörter?«
»Na, zum Beispiel: Rote Flüssigkeit ist dicker als Wasser. Muss ich nicht näher erläutern, oder?«
»Nein.«
»Ich verstehe gar nicht, wieso du Trübsal bläst. Merkst du nicht, dass ein ganz anderes Geschöpf aus dir geworden ist? Ein viel gebildeteres, perfekteres? Intellektuell höherstehendes?«
»Dieses Geschöpf hat eine Menge Fragen. Und keiner will darauf antworten.«
»Warte nur, bald wirst du mehr wissen, als dir lieb ist. Alles zu seiner Zeit. Jetzt zum Beispiel ist eine Warnung fällig. Damit du keinen Schock erleidest.«
»Was denn nun schon wieder?«, fragte ich beunruhigt.
Mitra fing an zu lachen.
»Den Schock hast du wohl schon ... Aber nein, pass auf: Demnächst wirst du zum ersten Mal einen Menschen beißen. Wann genau, weiß ich nicht - aber es kann nicht mehr lange dauern.«
»Ich glaube nicht, dass ich das hinkriege«, sagte ich.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Mitra. »Deine Geige fängt von ganz alleine an zu spielen.«
»Toller Vergleich.«
»Und äußerst zutreffend. Weißt du noch, bei Gumiljow die schönen Zeilen ... doch du lachst, und deine Augen / strahlen, rufen freudig: ja! / Sei’s drum! Nimm die Geige! Spiel sie! / Sieh ins Aug dem Ungeheuer / Und stirb eines bittren Todes ...
Mitra machte eine Kunstpause.
»... lustig, heißa, hopsasa!«, ergänzte ich spontan. Das Präparat Pasternak+1/2Nabokov hatte sich aus meinem Organismus wohl noch nicht ganz verflüchtigt.
»Du hast Angst vor dem Unbekannten, das ist alles«, sagte Mitra. »Das musst du nicht. Ein freudiges Ereignis in deinem Leben kündigt sich an. Das erste Mal, hach, das ist ... Das kann man sowieso nicht beschreiben. Aber du wirst dein Leben lang mit Freuden daran zurückdenken, glaub mir das.«
»Was muss ich tun?«
»Ich sage doch: gar nichts. Warte einfach ab. Deine Geistesgegenwart sagt dir von allein, wann es so weit ist.«
Aufmunternd waren diese Geleitworte nicht gerade. Die alte japanische Sitte fiel mir ein, derzufolge ein Samurai, wenn er ein neues Schwert erworben hatte, des Nachts damit vor die Stadt gehen und dem ersten Entgegenkommenden den Kopf abschlagen musste. Ich hatte das quälende Gefühl, dass mir etwas Ähnliches auferlegt war. Doch die Zunge verhielt sich still und ungerührt. Diese in sich ruhende Schwere im Zentrum meiner Seele hatte etwas Linderndes, wie eine Packung Eis an der schmerzenden Stirn. »Zentrum meiner Seele«, der Ausdruck klingt obskur, ich weiß. Eine Seele hat bekanntlich kein Zentrum. Normalerweise jedenfalls nicht. Meine hatte eins.
Die Sache nahm dann einen ganz anderen Verlauf als erwartet. Meine erste Vampirerfahrung hatte weniger mit Thanatos zu tun als mit seinem langjährigen Partner Eros. Angenehm war es trotzdem nicht, was mir da widerfuhr.
Eines Tages gleich nach dem Unterricht bei Baldur schlummerte ich ein. Erwachte Stunden später und hatte plötzlich Lust spazieren zu gehen. Zog meine Jeans an, das schwarze Shirt mit einem von den Simpsons darauf (so gekleidet war ich früher zur Arbeit in den Supermarkt gegangen) und verließ die Wohnung.
Die Stadt leuchtete in der Abendsonne. Ich lief durch die Straßen und verspürte eine rätselhafte Unruhe, etwas fehlte mir. Eine Zigarette vielleicht - obwohl ich nie im Leben geraucht hatte -, oder ein Bier? - auch das hatte ich nie gemocht. Irgendetwas musste ich tun, wusste nur nicht, wie und was. Bis es auf einmal klar war.
Wie ich das Ziel meiner Wünsche erkor, versuche ich gar nicht erst zu erklären. Irgendwann hatte ich es im Visier. Ich sah in der Menge ein Mädchen, es kam auf mich zu. Kariertes Sommerkleid, weiße Handtasche. Im Vorübergehen schaute sie mich kurz an. Ohne die Spur eines Zweifels oder Zauderns machte ich kehrt und heftete mich an ihre Fersen.
Da wusste ich bereits, was gleich passieren würde. Ich hatte das Heft des Handelns nicht länger in der Hand, ich war nun schon zungengesteuert. Ich fühlte mich tatsächlich wie ein Pferd, das einen alten, mit allen Wassern gewaschenen Kavalleristen in die Schlacht trägt. Das Pferdchen fürchtete sich und wäre viel lieber weggelaufen. Aber die Sporen bohrten sich zu tief in seine Flanken. Darum handelte ich schnell und präzise.
Ich näherte mich dem Mädchen und beugte mich zu ihr, wie um sie anzusprechen. Instinktiv öffnete ich den Mund ein wenig, als wollte ich Luft einziehen, sah ihre Ohrmuschel ganz nahe vor mir - und da geschah das Seltsame. Ich vernahm ein leises Klicken. Ein Zucken durchfuhr meinen Kopf - und dann wusste ich, es war geschehen.
Von der Seite betrachtet, muss das Ganze so ausgesehen haben: Ein junger Mann möchte ein Mädchen anscheinend etwas fragen, öffnet schon den Mund, neigt sich zu ihrem Ohr - und muss plötzlich niesen, worauf er verlegen das Weite sucht.
Sie drehte sich nicht einmal um, ruckte nur nervös mit den Schultern. An ihrem Hals begann sich ein stecknadelkopfgroßer rosa Fleck abzuzeichnen. Der Biss war meisterlich ausgeführt - kein Blut zu sehen, kein einziger Tropfen. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht auf dem Trottoir niederzusinken und selig die Augen zu schließen. Ich lief ihr hinterher.
Was ich damals noch nicht wusste: Das erste Mal einen Menschen des anderen Geschlechts zu beißen ist ein genauso sonderbares Erlebnis wie der erste Kuss. Es gibt diesen biblischen Ausdruck: eine Frau erkennen. (Darauf wird der Komiker Chasanow in dem berühmten Sketch anspielen mit seinem Juchzer: »Ach, so eine bist du!«) Aber die Menschen sind damit gar nicht gemeint. Ein Mann kann mit seiner Freundin bestenfalls ins Bett gehen. Eine Frau erkennen, dazu ist nur ein Vampir in der Lage. Und ihm werden die Augen geöffnet für ein erstaunliches Mysterium, das in vollem Umfang kein Mensch absehen kann, wiewohl er die genaue Hälfte davon ziemlich gut überblickt.
Die Koexistenz der beiden Geschlechter ist nämlich eine höchst merkwürdige und amüsante Angelegenheit, unglaublich absurd, aber die Menschen kriegen nichts davon mit. Ihre Auffassung vom Seelenleben des je anderen Geschlechts gründet auf allerlei abwegigen Quellen: Abreißkalendern, die die Geheimnisse ihrer Seele verraten oder, schlimmer noch, Methoden der Manipulation des männlichen Über-Ichs, wie die Zeitschrift Frau und Erfolg sie anbietet. Dieses Innenleben plastisch zu machen, wird meist auf die Terminologie zurückgegriffen, die dem komplementären Geschlecht einleuchtet: Der Mann wird ihr als rüdes, dreistes Frauenzimmer mit Haaren im Gesicht beschrieben, die Frau ihm als Dämlack von Mann - ohne Schwanz und mit wenig Geschick beim Autofahren.
In Wirklichkeit sind Mann und Frau viel weiter voneinander entfernt, als man es sich vorstellen mag. Sie sind sich in einem Maße unähnlich, dass es mit Worten nicht zu beschreiben ist. Was selbstverständlich mit dem Hormongehalt der roten Flüssigkeit zu tun hat.
Man könnte es so formulieren: Unsere Welt ist von zweierlei Junkies besiedelt, die von zwei gleich hammerharten, aber sehr unterschiedlich wirkenden psychotropen Substanzen abhängen. Sie halluzinieren diametral entgegengesetzte Bilder. Sind aber trotzdem dazu verdammt, ihre Zeit miteinander zu verbringen. Über die Jahrtausende haben sie nicht nur gelernt, Seite an Seite ihre grundverschiedenen Trips zu genießen, sie entwickelten auch gewisse Etikette und führen sich auf, als verstünden sie einander tatsächlich, auch wenn so ziemlich jedes Wort verschiedene Bedeutung hat.
Man könnte auf die Idee kommen, die übergreifenden Erfahrungen eines Vampirs mit denen eines Transsexuellen zu vergleichen, der eine Operation zur Geschlechtsumwandlung nebst Hormonkur durchlaufen hat. Aber das haut nicht ganz hin. Ein Transsexueller wechselt sein Befinden allmählich -wie eine lange Ozeanüberquerung, während der der Reisende Zeit hat zu vergessen, wer und woher er ist. Vampire hingegen können in Sekundenschnelle von dem einen Zustand in den anderen springen.
Das von mir gebissene Mädchen hatte mich zuvor registriert - und ich war ihr sympathisch, wie ich nun wusste. (Es war, als sähe ich mein Konterfei in ihrem Gefühlsspiegel.) Für den Moment war ich verblüfft, dann verlegen. Schließlich nahmen meine Gedanken eine etwas unanständige Färbung an und waren nicht mehr ganz zu kontrollieren.
Wir bogen in die Bolschaja Bronnaja. Ich lief ihr nach, betrachtete schamlos ihre Synapsen und überlegte, wie ich mir das Gesehene zunutze machen konnte. In Höhe Puschkinskaja Ploschtschad war mein Plan fertig.
Ich überholte sie, lief zehn Meter voraus, drehte um und ging ihr mit strahlendem Lächeln entgegen. Verwundert schaute sie mich an und ging vorbei. Ich wartete ein Weilchen und wiederholte das Manöver - überholte, machte kehrt, lächelte. Sie lächelte zurück, lief aber wieder stumm vorbei. Als ich die Nummer zum dritten Mal abzog, blieb sie stehen und fragte: »Ist was?«
»Erkennst du mich nicht?«, fragte ich.
»Nein. Wer bist du?«
»Roma.«
Ich nannte meinen richtigen Namen, weil sie sowieso nicht mehr wusste, wie der Mann hieß, für den sie mich halten sollte.
»Roma? Welcher Roma?«
Nun zog ich mein Ass aus dem Ärmel und spielte es aus.
»Erholungsheim >Stille Azoren<. Neujahr. Zimmer mit Tannenbaum. Der Strom war weg. Und alle waren draußen, ihre Feuerwerke abbrennen. Sag bloß, das weißt du nicht mehr?«
»Ach«, sagte sie und wurde sogar ein bisschen rot. »Du warst das?«
Ich nickte. Sie senkte den Kopf, wir liefen nun nebeneinander her.
»Ich war nie im Leben so besoffen«, sagte sie. »Das war peinlich. Hat ewig gedauert, bis ich wieder zurechnungsfähig war.«
»Siehst du, und für mich gehört es zum Schönsten, was ich je erlebt habe«, log ich unverschämt. »Klingt vielleicht hochtrabend, ist aber wahr. Hinterher hab ich dich noch anzurufen versucht. Tausendmal.«
»Mich? Welche Nummer denn?«
Ich sagte ihre Handynummer auf, absichtlich mit einer 7 statt der 5 am Ende. Das tat sie auch immer, wenn sie nicht ihre richtige Nummer herausrücken, dies aber nicht unverblümt sagen wollte. Dann konnte sie sich hinterher immer noch herausreden, der andere habe sich wohl verhört.
»Nanu, du kennst sie auswendig? Aber du hast sie falsch aufgeschrieben. Die letzte Zahl ist eine Fünf.«
»Mist!«, sagte ich. »Dass so was immer wieder passieren muss ... Aber sag mal, können wir unser Wiedersehen nicht irgendwie feiern?«
Der Rest war ganz einfach.
Als Erstes gingen wir in ein Cafe an der Twerskaja. Von da ins nächste, wo ich sie gleich noch einmal beißen musste -um herauszukriegen, welcher Small Talk sich anbot. (Diesmal blieb ein Blutströpfchen am Hals hängen.) Ich sprach nur Themen an, die sie interessierten, und sagte ausschließlich das, was sie dazu hören wollte. Es war kein Problem.
Ich kam mir vor wie Casanova. Auf den Gedanken, dass ich eine Gemeinheit beging, kam ich gar nicht - bestand der Unterschied zum typisch männlichen Balzverhalten doch höchstens darin, dass das menschliche Männchen auf Verdacht und überfallartig lügt, während ich genau wusste, was ich wie zu sagen hatte. Es war wie ein Kartenspiel, bei dem man das Blatt in der Hand des Gegners kennt. Falschspielerei, na klar. Aber die Menschen haben doch in solchen Fällen, wenn auch vielleicht den Anschein von Manierlichkeit wahrend, auch immer nur das eine im Sinn: den anderen möglichst schnell an die Wand zu spielen.
Wir gingen spazieren. Ich redete ohne Unterlass. Unsere Füße trugen uns wie zufällig bis vor ihr Haus - den Stalin-Wolkenkratzer an der Ploschtschad Wosstanija. Dass bei ihr keiner zu Hause war, wusste ich. Also ging ich »noch auf einen Tee« mit hinauf. Selbst die für mich heikelste Phase der Anbaggerei - der Übergang vom Reden zum Tun, bei dem ich mich immer extrem linkisch anstellte - verlief reibungslos.
Das Problem trat an der Stelle ein, wo ich am wenigsten damit rechnete. Und ohne die erhellenden Lektionen im Fach Diskurs hätte ich mir wohl nicht zusammenreimen können, was da geschah.
Der Liebesakt, wo er nicht aus gegenseitiger Zuneigung, sondern aus Gewohnheit geschieht (und das ist bei den Menschen eher die Regel), hat mich in seiner traurigen Routine immer an politische Wahlen bei uns denken lassen: Erst wird lange genug gelogen, dann der einzig mögliche Kandidat in einen indifferenten Schlitz gesteckt - und hinterher möchte man sich einreden, das wäre es, weshalb die ganze freie Welt in Verzückung gerät ... Zugleich war mir natürlich klar: Wenn der Versuch glückt (ich rede jetzt nicht von den Wahlen), dann geschieht etwas ganz anderes. Der Moment tritt ein, wo zwei Wesen miteinander einen Stromkreis schließen, zu einem Körper mit zwei Köpfen werden. (Das heraldische Muster hierfür wäre jenes altbyzantinische Wappen, das einen kleinen asiatischen Hahn zum Zeitpunkt der Zwangsvereinigung mit einem von hinten herangeschlichenen Staatsadler zeigt.)
Das Glück war uns hold, der Moment trat ein (ich rede jetzt nicht von dem Wappen). Doch in derselben Sekunde fiel ihr plötzlich der Schleier von den Augen, und sie wusste über mich Bescheid. Ich weiß nicht, was genau sie empfand - sie durchschaute mich jedenfalls, es bestand kein Zweifel.
»Du ... du ...«
Sie stieß mich zurück, setzte sich auf die Bettkante. In ihren Augen stand das blanke Entsetzen, so dass auch mir angst und bange davon wurde.
»Wer bist du?«, fragte sie. »Was ist das?«
Sich herauswinden zu wollen war zwecklos. Die Wahrheit sagen konnte ich ebensowenig. (Geglaubt hätte sie sie ohnehin nicht.) Passende Lügen fielen mir nicht ein. Ein drittes Mal zubeißen und sehen, wie sich die Sache einrenken ließ, wollte ich nicht. Also stand ich auf, zog wortlos mein schwarzes Simpson-Shirt an.
Keine Minute später war ich auf der Treppe. Jaulend wie ein abgeschossener Jagdbomber. Na gut, der Absturz erfolgte relativ geräuscharm - ich mochte nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen.
Reue empfand ich keine, nur Betretenheit, wie sie einen in solch blöder Lage überkommt. Dass ich das Mädchen zweimal in den Hals gebissen hatte, legte ich mir nicht zur Last. Man kann einer Mücke nicht vorwerfen, eine Mücke zu sein, dachte ich mir. Ich war bestimmt kein Monster - jedenfalls bis jetzt nicht. Den Gedanken, dass eine Frau eines in mir sehen konnte, fand ich allerdings beängstigend.
Am nächsten Abend rief Mitra an.
»Und?«, fragte er.
Ich berichtete ihm von meinem ersten Biss und dem anschließenden Abenteuer. Nur wie es geendet hatte, verschwieg ich.
»Prima!«, sagte Mitra. »Gratuliere. Jetzt bist du schon fast einer von uns.«
»Wieso fast? War das etwa noch nicht der Große Sündenfall?«
Mitra lachte.
»Wie kommst du darauf? Du hast dir ein bisschen die
Hörner abgestoßen, mehr nicht. Was soll das für ein Sündenfall sein? Da muss erst noch etwas ganz anderes passieren ...«
»Wann?«
»Warts ab.«
»Wie lange denn noch!«
»Du solltest den Ereignissen nicht vorgreifen. Genieß noch ein Weilchen das Menschsein.«
Die letzten Worte holten mich auf den Boden zurück.
»Aber sag mal ehrlich«, fuhr Mitra fort, »mit diesem Mädchen, äh, ich meine ... Gabs vielleicht irgendwelche Zwischenfälle?«
»Ja«, gab ich zu. »Ganz am Ende. Sie hat gemerkt, dass mit mir was nicht stimmt. War ganz erschrocken. Als hätte sie dem Teufel ins Auge gesehen.«
Mitra seufzte.
»Dann weißt du also jetzt Bescheid. Ist sicher gut, dass es so gekommen ist. Du bist anders als die Menschen, dessen musst du dir bewusst sein. Zwischen dir und einem Menschen kann es keine wirkliche Nähe geben. Vergiss das nie! Und mach dir bloß keine Illusionen.«
»Wie kann ein Mensch überhaupt mitkriegen, was ich für einer bin?«
»Gar nicht. Unter keinen Umständen«, antwortete Mitra. »Mit Ausnahme der einen Situation, in die du geraten bist.«
»Und das passiert jetzt jedes Mal, wenn ich ...«
»Nein. Sich zu tarnen ist relativ einfach. Loki bringt es dir bei.«
»Wer ist Loki?«
»Dein nächster Lehrer. Aber du musst wissen, dass dieses Thema bei den Vampiren tabu ist. Darüber spricht man nicht einmal mit seinem Ausbilder. Die Notwendigkeit der Tarnung beim Sex wird dir auf andere Weise vermittelt.«
»Was für ein nächster Lehrer denn? Kommt etwa noch mehr Unterricht? Ich dachte, ich werde endlich ins Highlife entlassen.«
»Lokis Lehrgang ist der letzte«, sagte Mitra. »Ich schwörs bei meiner roten Flüssigkeit. Und was das Highlife betrifft... Schau im Briefkasten nach. Da liegt was für dich.«
Nachdem Mitra aufgelegt hatte, eilte ich zum Briefkasten. Tatsächlich: Es lag ein gelber Umschlag darin, ohne Marke, nicht adressiert. Ich überlegte, woher Mitra von dem Brief wissen konnte, und kam zu dem Schluss, dass er ihn selbst eingeworfen haben musste.
Ich kehrte in die Wohnung zurück, setzte mich an den Schreibtisch. Nahm den Brieföffner aus Elfenbein, schlitzte dem Kuvert den Bauch auf, drehte es um. Ein großes Farbphoto kam hervorgerutscht, dazu ein mit großer, akkurater Handschrift beschriebener Bogen Papier.
Das Photo zeigte ein Mädchen meines Alters mit wunderlich gefärbtem Haarschopf: hellblonde, fuchsrote, karminrote und kastanienbraune Strähnen bunt durcheinander, vermittels Gel in eine Form gebracht, die an einen Heuschober erinnerte, nachdem eine Artilleriegranate hineingefallen ist. Es sah lustig aus, schien mir aber zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht eben praktisch zu sein.
Ihr Gesicht zu beschreiben fällt mir schwer. Es war schön. Doch war dies nicht die Art von Schönheit, die offensichtlich und konventionell ist und die eher markttechnische Erwägungen hervorruft als persönliche Gefühle. Dieses Gesicht war anders. Von solchen Gesichtern meint man, kein anderer als man selbst könnte den Zauber darin entdecken, alle Welt ginge blind daran vorbei - weshalb man das, was man da vor sich sieht, kurzerhand ins Privateigentum überführt. Und wenn sich dieser einseitige Deal als ungültig herausstellt, weil andere, genauso verblendet, gleichfalls ihre Ansprüche anmelden, fühlt man sich verraten ... Außerdem meinte ich das Mädchen schon auf einem UserPic im Livejournal gesehen zu haben.
Ich nahm den Briefbogen zur Hand und las:
Grüss dich, Rama.
Wahrscheinlich kannst Du Dir schon denken, wer ich bin.
Ich heiße Hera und bin so ziemlich zur gleichen Zeit wie Du Vampir geworden (oder muss es Vampirin heißen? keine Ahnung), eine Woche nach Dir ungefähr. Bei mir geht gerade der Glamour- und Diskursunterricht los, Baldur und Jehova halten ihn ab. (Sie haben mir ein paar lustige Geschichten über dich erzählt.) Einstweilen macht mir das alles viel Spaß. Ich bin, ehrlich gesagt, ein ziemlich dummes Ding, aber wenn ich erst Diskurs lerne, gibt sich das schnell, heißt es. Ich frage mich allerdings, ob sie mir vorher noch einen großen Speicher ans Gehirn schrauben wollen?
Soweit ich weiß, werden wir uns beim Großen Sündenfall zum ersten Mal treffen. Habe gehört, Du hättest ziemlich großen Bammel davor. Ich auch ein bisschen, mach Dir nichts draus. Aber sag doch selbst: Eigentlich ist es bescheuert, vor etwas Angst zu haben, wovon man nicht die geringste Vorstellung hat.
Gerne würde ich mir von Dir schon mal ein Bild machen. Irgendwie denke ich, wir zwei könnten gute Freunde werden. Schick mir doch bitte ein Photo von Dir. Du kannst es irgendwem mitgeben oder per email schicken.
Bis bald! Hera
Unten angehängt war ihre email-Adresse, dazu eine weitere Netzadresse, endend auf .mp3. Sie schickte mir Musik!
Besonders gefiel mir, dass die lange URL zu dem Lied von Hand geschrieben war, mit sorgfältig gemalten, nach rechts geneigten Buchstaben. Das fand ich irgendwie rührend. Aber vielleicht bezauberten mich diese ganzen Details auch nur deshalb, weil ich ihr Photo gesehen hatte.
Ich lud das Lied herunter. Es war Not alone anymore von den Travelling Wilburys. Hinter diesem Namen verbargen sich George Harrison, Jeff Lynne vom Electric Light Orchestra und weitere Greenback-Sound-Titanen. Das Lied gefiel mir - besonders das Ende, wo die Zeile You're not alone anymore dreimal wiederholt wird, und das mit so viel lyrischer Kraft, dass ich beinahe schon vom Anhören glaubte, nicht mehr allein zu sein.
Hera fängt gerade erst an, Glamour und Diskurs zu lernen, überlegte ich. Demnach bin ich weit erfahrener und beschlagener als sie. Das sollte meinem Photo anzusehen sein. Mir fiel ein, mich vor dem Hintergrund des Archivs aufzunehmen, dessen polierte Front auf so einem Photo bestimmt gut kam.
Ich zog mein bestes Jackett an, setzte mich in einen Sessel, den ich von nebenan herübergetragen hatte, und machte ein paar Probeaufnahmen. Irgendwie schien mir die Komposition noch unausgereift. Ich stellte eine Flasche teuren Whisky auf den Tisch, dazu ein fettes Kristallglas, knipste wieder ein paar Photos. Es fehlte immer noch was. Schließlich steckte ich mir einen Platinring mit dunklem Stein, den ich im Sekretär gefunden hatte, an den Finger und stützte das Kinn auf die Hand, damit man den Ring besser sah. Ich machte einen Haufen Photos und wählte dasjenige aus, auf dem ich einem gelangweilten Dämon am nächsten kam. (Um diesen Effekt zu erzielen, hatte ich mir zwei dicke Bände der medizinischen Enzyklopädie unter den Hintern schieben müssen.)
Danach setzte ich mich an den Computer und schrieb die folgende Antwort:
Ifin,
Nett, von dir einen Brief zu kriegen. Du bist sehr lieb. Freut mich, nicht mehr allein zu sein. Das heißt, wir sind jetzt zusammen allein, nicht wahr? Lerne Glamour und Diskurs, das erweitert Deine Horizonte beträchtlich. Tät mich freuen, Dich zu sehen.
Schmatz, Rama
P. S. Im Anhang findest du ein bisschen ernste Musik.
Ich hatte mir Mühe gegeben, nüchtern, knapp und ironisch zu sein, weil ich annahm, dass man damit bei Frauen am ehesten bleibenden Eindruck schindet. Ifin war das Wort Baby, wenn man es mit kyrillischer Tastaturbelegung schrieb. Bestehend aus if und in, hatte es etwas stark Psychoanalytisches. Ich war selbst darauf gekommen.
Als Musikbeilage hängte ich zehn Megabyte Nachtmesse im tibetischen Tempel an: ein eindringlich-monotones Rezitativ auf Chinesisch in Begleitung exotischer Schlaginstrumente. Die Aufnahme staubte seit Längerem auf meiner Festplatte vor sich hin, endlich hatte ich einmal Verwendung dafür. Blieb nur zu hoffen, dass Heras Zunge dieses Gewicht aushielt. Ich unterzog mein Photo einer letzten peniblen Musterung - es kam mir ansprechend vor. Dann sandte ich die Mail ab.