AGGREGAT M5

Enlil Maratowitschs Kabinett war ein großer, eichengetäfelter, sachlich eingerichteter Raum. Quer zur Wand stand ein bescheidener Schreibtisch, dahinter ein Drehstuhl. Dafür beherrschte ein in der Mitte stehender altertümlicher Sessel mit hoher, beschnitzter Lehne und stumpfem Blattgoldüberzug den Raum. So stellte ich mir den ersten elektrischen Stuhl in der Geschichte vor - entworfen von Leonardo da Vinci in seltener Mußestunde, da er einmal nicht die Mumie der Maria Magdalena vor den Agenten des wutentbrannten Vatikan in Schutz zu nehmen hatte. Wahrscheinlich platzierte Enlil Maratowitsch sündige Vampire auf diesem Sitzpranger und las ihnen vom Schreibtisch aus die Leviten.

Über dem Schreibtisch hing ein Gemälde an der Wand. Dargestellt war eine merkwürdige Szenerie: Heilanwendung in einer viktorianischen Irrenanstalt, konnte man meinen. Vor loderndem Kamin saßen fünf Männer in Frack und Zylinder. Sie waren mit Armen und Beinen an ihre Stühle gefesselt; quer über den Rumpf eines jeden spannte sich ein breiter Ledergurt - der Gedanke an einen vorsintflutlichen Flugzeugsalon lag nicht fern. Außerdem hatten sie alle einen Stecken zwischen den Kiefern klemmen, der durch ein im Nacken verknotetes Tuch fixiert war. (Derlei Pflöcke, entsann ich mich, bekamen Epileptiker bei einem Anfall zwischen die Zähne gesteckt, damit sie sich nicht die Zunge zerbissen.) Mit viel Sorgfalt hatte der Künstler den Abglanz des Feuers auf dem Flor der Zylinder wiedergegeben. Ferner gab es noch, allerdings nur schemenhaft im Halbdunkel, einen Herrn in langer, dunkelroter Robe auf dem Bild zu sehen.

Gegenüber hingen zwei Graphiken.

Die eine zeigte einen schwungvoll durch die nächtliche Landschaft wischenden schwarzgrünen Schatten. (Alan Greenspan's Last Flight, stand darunter.) Auf der anderen prangte eine tiefrote Nelke in drei perspektivischen Ansichten. Daneben ein Schriftfeld in großen Buchstaben:

Innenrohrnelke, unterkalibrige. Ausrüstungsgegenstand für CNN-KampfSchwimmer, BBC-Aufklärungstrupps, mobile Fallschirmjägereinheiten bei den germanischen Telewaffen und anderer NATO-Spezialeinheiten.

Sonst gab es weiter keine Sehenswürdigkeiten - abgesehen von einem kleinen metallenen Sputnik-1-Modell und dem silbernen Briefbeschwerer (Puschkin in Gehrock und Zylinder, stabile Seitenlage, das versonnene Gesicht in die Faust gestützt - ganz sterbender Buddha) auf Enlil Maratowitschs Schreibtisch. Puschkin beschwerte einen Stoß weißes Papier, daneben lag ein Souvenirfüllfederhalter in Schwertform. Im Zimmer roch es nach Kaffee; eine Kaffeemaschine war aber nirgends zu entdecken, vielleicht war sie im Schreibtisch versteckt.

Es herrschte eine geradezu verdächtige Reinlichkeit und Akkuratesse. Als wäre hier eben ein Mord geschehen, die Leiche versteckt und jede Spur roter Flüssigkeit getilgt worden. Aber vielleicht war es auch nur der gedeckte Steinfußboden mit den schwarzen Fugen, der diese Assoziation in mir weckte. Er hatte etwas extrem Düsteres, Verschwiegenes.

Enlil Maratowitsch hieß mich auf dem Lehnstuhl in der

Zimmermitte Platz nehmen und setzte sich selbst hinter den Schreibtisch.

»Also«, begann er, aufschauend. »Vom Bablos hast du schon gehört?«

Ich nickte.

»Was weißt du darüber?«

»Die Vampire sammeln alte Geldscheine ein, die vor Lebenskraft triefen. Irgendetwas tun sie damit. Bestimmt legen sie sie in Spiritus ein. Oder brauen was draus.«

Enlil Maratowitsch lachte.

»Du hast dich wohl mit Hera abgesprochen? Diese Version kennen wir schon. Geistreich, flott und ziemlich gothic, wie es bei euch heißt. Aber weit gefehlt. In alten Geldscheinen steckt keine Lebenskraft, sondern nur Schweiß. Und haufenweise Mikroben. So einen Sud nähme ich nicht einmal auf persönlichen Befehl des Genossen Stalin zu mir. Geldscheine spielen tatsächlich eine Rolle in unseren Ritualen, doch sie ist rein symbolisch und hat mit dem Göttertrunk nichts zu tun. Noch einen Versuch?«

Ich dachte: Wenn Hera sich geirrt hat, dann liege ich mit meiner Version womöglich richtig?

»Vielleicht, dass die Vampire mit auf Konten deponiertem Geld etwas anstellen? Sie horten irgendwo im Offshore eine größere Summe, und ... verflüssigen es irgendwie?«

Auch dafür hatte Enlil Maratowitsch nur ein fröhliches Lachen übrig. Die Unterhaltung bereitete ihm sichtlich Spaß.

»Rama, sag mal! Wieso sollten die Vampire Finanzen anders gebrauchen können als die Menschen? Geld ist doch eine reine Abstraktion!«

»Eine ziemlich konkrete immerhin!«, sagte ich.

»Das schon. Aber du musst einsehen, dass Geld jenseits des Verstandes nicht existiert.«

»Das kann ich ganz und gar nicht einsehen«, hielt ich dagegen. »Wie Sie so gern in aller Welt herumerzählen, gab es in meinem Leben eine Zeit, da habe ich als Packer im Supermarkt gearbeitet und bekam Lohn dafür gezahlt. Und ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass diese Zahlung von außerhalb meines Verstandes erfolgte. Hätte mein Verstand das selbst erledigen können, wäre ich bestimmt zu Hause geblieben.«

»Aber hättest du deinen Lohn, sagen wir, einer Kuh unter die Nase gehalten, sie hätte nichts damit anzufangen gewusst - und das nicht, weil die Summe so beschämend war. Für sie wäre dein Geld nur ein Bündel knittriges Papier. Geld kommt in der Umwelt des Menschen nicht vor, nur die Aktivitäten zu seiner Beschaffung drücken ihr einen Stempel auf. Merke: Geld ist kein Seiendes, nur eine Objektivation.«

»Objektivation, was ist das denn?«

»Ich gebe dir ein Beispiel. Stell dir vor, in der Bastille sitzt ein Gefangener ein, der irgendein übles Verbrechen begangen hat. Eines Tages im Morgengrauen wird er auf einen Karren geladen und vor die Tore der Stadt gefahren. Unterwegs schwant ihm, dass es zur Hinrichtung geht. Auf dem Richtplatz ist eine Menge Volk versammelt. Er wird zum Gerüst geführt, das Urteil wird verlesen, sein Kopf unter die Guillotine gelegt ... Die Klinge fährt herab, der Kopf fliegt in den Korb ...«

Enlil Maratowitsch klatschte sich mit der flachen Hand auf das Knie.

»Ja, und?«, fragte ich nervös.

»In diesem Moment wacht er auf und besinnt sich, dass er gar kein Gefangener ist, sondern Transportkuli im Supermarkt. Dem, während er schlief, ein großer, herzförmiger Fächer von der Wand auf die Gurgel gefallen ist.«

»Er konnte gar nicht herunterfallen«, sagte ich leise. »Er war angeklebt.«

Enlil Maratowitsch überging meinen Einwand geflissentlich.

»Mit anderen Worten«, fuhr er fort, »es kommt vor, dass in der Realität etwas geschieht, was der Mensch nicht mitkriegt, weil er schläft. Nichtsdestoweniger kann er das Geschehene nicht ignorieren. Also gebiert der Geist einen ausführlichen, vertrackten Traum, der das Geschehene erklären kann. Solch einen Traum nennt man Objektivation.«

»Aha«, sagte ich. »Sie wollen damit sagen, Geld sei ein schöner Traum, den die Leute träumen, um sich etwas zu erklären, was sie fühlen, ohne es zu wissen.«

»Exakt.«

»Ich denke, die Leute wissen sehr gut Bescheid.«

»Das denken sie.«

»Aber Wissen ist Denken. Ich denke, also weiß ich.«

Enlil Maratowitsch warf mir einen prüfenden Blick zu.

»Weißt du, was eine Kuh denkt, die ihr Leben lang in einer elektrischen Melkanlage gemolken wird?«

»Eine Kuh denkt nicht.«

»Und ob sie denkt! Nur nicht so wie die Menschen. Nicht in abstrakten Begriffen, sondern in emotionalen Reflexen. Und auf ihrem Niveau hat sie auch eine Vorstellung von dem, was passiert.«

»Nämlich?«

»Sie hält die Menschen für ihre missratenen Kinder. Schrecklich ungezogene Bälger - aber doch die ihren, die zu ernähren ihr aufgegeben ist, weil sie sonst Hungers stürben. Deshalb malmt sie Tag für Tag ihren Klee und müht sich, so viel Milch wie möglich zu geben ...«

Enlil Maratowitschs Handy klingelte. Er klappte es auf, hob es ans Ohr.

»Nein, das dauert noch«, sprach er hinein. »Ruhig erst mal die aktuellen Fragen. Die Tombola später.«

Er schaltete ab und steckte das Handy in die Tasche.

»Also«, sagte er. »Jetzt musst du die Einzelteile nur noch zusammenpuzzeln. Kriegst du es hin?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Da kannst du mal sehen!«, sagte er und hob belehrend den Zeigefinger. »Ich habe dich an die Schwelle unserer Welt geführt. Bis vor die Tür. Aber du kriegst sie nicht auf. Ach was, du siehst die Tür nicht mal. Unsere Welt ist so gut weggepackt, dass, wenn wir dich nicht an der Hand nähmen und hineinzerrten, du nie auf die Idee kämest, dass sie überhaupt existiert. Das, mein lieber Rama, ist die absolute Tarnung.«

»Vielleicht bin ich ja auch nur zu doof«, sagte ich.

»Nicht bloß du. Alle Menschen. Die Schlauesten stellen sich am doofsten an. Der menschliche Geist ist entweder ein Mikroskop, mit dem der Mensch den Fußboden seiner Zelle betrachtet, oder ein Fernrohr, mit dem er durch das Fenster in die Sterne am Himmel guckt. Sich selbst hat er nicht im Blick, schon gar nicht in getreuer Perspektive.«

»Und welches ist die getreue Perspektive?«

»Von ihr will ich gerade reden, also höre gut zu. Geld ist eine Objektivation, die gebraucht wird, um dem Menschen die fortwährenden Kontraktionen der Geldzitze begreiflich zu machen. Das nämlich ist der mentale Spannungszustand, in dem sich Geist B fortwährend befindet. Und weil Geist B ständig in Betrieb ist, heißt das ...«

Mir kam ein schräger Gedanke.

»Der Mensch wird vom Vampir ferngemolken?«, hauchte ich meinen Verdacht.

Ein Strahlen trat in Enlil Maratowitschs Gesicht.

»Ha! Jetzt hat er’s! Natürlich!«

»Aber ... das gibt es doch nicht«, stammelte ich entgeistert.

»Überleg mal, wo der Honig herkommt.«

»Na ja. Die Biene schafft ihn ran. Aber dazu muss sie in den Bienenstock fliegen. Der Honig fliegt nicht von allein durch die Luft.«

»Der Honig nicht. Aber die menschliche Lebenskraft.«

»Wie geht das zu?«

Enlil Maratowitsch nahm den Füllhalter, legte ein Blatt Papier vor sich hin und zeichnete darauf das folgende Schema:

»Was Radio wellen sind, weißt du?«

Ich nickte erst, überlegte ein bisschen und schüttelte den Kopf.

»Vereinfacht gesagt«, begann Enlil Maratowitsch zu erklären, »ist der Radiosender ein Gerät, das Elektronen durch einen Metallstab jagt. Hin und her, hin und her, sinusförmig. Den Stab nennt man Antenne. Hierdurch entstehen Radiowellen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit verbreiten. Um die Energie dieser Wellen aufzufangen, braucht es eine zweite Antenne. Die Antennen müssen eine bestimmte Länge aufweisen, die der Wellenlänge proportional ist, denn die Energie wird nach dem Resonanzprinzip übertragen. Du kennst das: wenn eine Stimmgabel angeschlagen wird, und eine andere in der Nähe fängt davon an zu klingen. In der Praxis ist das natürlich alles weit komplizierter - um die Energie zu senden und zu empfangen, muss sie auf bestimmte Weise gebündelt werden, müssen die Antennen genau im Raum positioniert werden und so weiter. Aber das Prinzip ist dasselbe. Und jetzt malen wir noch ein Bildchen ...«

Enlil Maratowitsch drehte das Blatt um. Was er nun zeichnete, sah so aus:

»Soll das heißen, der Geist B ist die Sendeantenne?«, fragte ich.

Enlil Maratowitsch nickte.

»Und was denkt der Mensch, wenn seine Antenne sendet?«

»Schwer zu sagen. Je nachdem, ob dieser Mensch Unternehmensmanager mit Smartphone in der Brusttasche oder Obsthändler in der Metrounterführung ist. Aber davon abgesehen, sind es zwei Muster, die sich in der inneren Zwiesprache eines modernen Stadtmenschen mit sich selbst in dieser oder jener Form immerzu wiederholen. Eines geht so: Das schaffe ich! Das krieg ich auf die Reihe! Denen zeig ichs! Dem beiß ich die Kehle durch! Das Geld knöpf ich dieser Scheißwelt ab!«

»Soll Vorkommen«, sagte ich.

»Und dann noch das andere: Geschafft! Gut hingekriegt! Denen hab ichs gezeigt! Der zuckt nicht mehr! Gebongt!«

»Kommt auch vor«, bestätigte ich.

»Beide Prozesse nehmen das Bewusstsein wechselweise in Beschlag und können demselben Gedankenstrom zugeordnet werden, der dabei nur zyklisch seine Richtung ändert. Wie ein Wechselstrom, der durch die Antenne fließt und die Lebenskraft des Betreffenden in den Äther abstrahlt. Sie einzufangen und aufzuzeichnen sind die Menschen jedoch nicht in der Lage. Dies kann nur ein lebender Empfänger, kein mechanisches Gerät. Gelegentlich wird diese Energie als Biofeld bezeichnet, aber kein Mensch weiß, was das eigentlich ist.«

»Und wenn ein Mensch uns nicht den Gefallen tut, das schaff ich! oder geschafft! zu sagen?«

»Er muss. Was bleibt ihm übrig? Alle anderslaufenden Prozesse im Bewusstsein werden schnell unterdrückt. Dafür sorgen Glamour und Diskurs.«

»Aber nicht alle Menschen sind leistungsorientiert«, widersprach ich. »Glamour und Diskurs lassen manch einen kalt. Obdachlose und Alkoholiker zum Beispiel interessieren sich einen feuchten Kehricht dafür.«

»Das täuscht. In ihrer Welt hat die Leistung nur ein anderes Format«, erwiderte Enlil Maratowitsch. »Seinen Fuji hat jeder, so mickrig und bekotzt er auch ist.«

Ich seufzte nur. Diese ewigen Zitate aus meiner frühen Lebenserfahrung waren unerquicklich.

»Der Mensch ist von der Frage des Geldes und ihren Lösungsmöglichkeiten permanent in Anspruch genommen«, fuhr Enlil Maratowitsch zu dozieren fort. »Auch wenn dieser Prozess unterschiedliche, mitunter diffuse Formen annimmt. Man meint: Da liegt ein Mann am Strand und tut gar nichts. Dabei überlegt er die ganze Zeit: Was kostet so eine Yacht, wie sie da hinten am Horizont segelt, und was muss man im Leben anstellen, dass man sich so eine leisten kann? Während die Gattin neben ihm nach der Frau auf der Nachbarpritsche schielt und sinnt, ob deren Tasche echt ist und die Sonnenbrille, und was wohl diese Botoxspritzen kosten und so ein Arschlifting und wessen Bungalow teurer ist. Im Zentrum all dieser Psychowirbel befindet sich die immer gleiche Abstraktion: die Idee des Geldes. Und jedes Mal, wenn so ein Wirbel im Bewusstsein des Menschen entsteht, wird die Geldzitze abgemolken. Konsumkultur, Markenbewusstsein, Stilentscheidungen - alles nur Schein. Dahinter verbirgt sich immer das eine: Der Mensch hat ein Wiener Schnitzel gegessen und verdaut es zu Aggregat M5.«

Den Ausdruck hatte ich noch nie gehört.

»Aggregat M5? Was ist das?«

»Der Begriff Aggregat definiert in der Ökonomie den Zustand von Geld. M0, M1, M2, M3 sind Formen des Umlaufs von Bargeld, Wertpapieren und Verbindlichkeiten. Das Aggregat M4 zum Beispiel schließt mündliche Schmiergeldvereinbarungen ein, eine andere Bezeichnung dafür ist M-Che bzw. M-Tschu, was eine Reverenz an Ernesto Che Guevara und Anatoli Tschubais ist. Aber das ist alles Blendwerk und nur im Bewusstsein der Leute vorhanden. Mit M5 verhält es sich grundlegend anders. Das ist eine ganz eigene Art psychischer Energie, die der Mensch absondert, während er nach den übrigen Aggregaten giert. Das Aggregat M5 ist real existierend. Alle übrigen Geldmengen sind nur Objektivationen dieser Energie.«

»Moment mal«, sagte ich. »Vorhin sagten Sie noch, Geld käme in der Natur gar nicht vor. Jetzt behaupten Sie von M5, es existierte. Mal so, mal anders?«

Enlil Maratowitsch schob sein Blatt mit der ersten Zeichnung vor mich hin.

»Schau her«, sagte er. »Das Gehirn ist ein Gerät, das die von uns so genannte Welt erzeugt. Es kann Signale nicht nur empfangen, sondern auch welche senden. Justiert man alle diese Geräte gleich und lenkt das Augenmerk aller Menschen auf dieselbe Abstraktion, dann werden alle Sender ihre Energie auf derselben Wellenlänge senden. Und diese Wellenlänge ist das Geld.«

»Geld ist eine Wellenlänge?«

»Jawohl. Also nichts, wovon sich sagen ließe, dass es wirklich existiert, es ist nur eine Begriffshülse und außerhalb des Gehirnkastens nicht vorhanden. Andererseits wäre es Blödsinn zu sagen: gibt es nicht, denn man kann ja die Länge einer Welle messen. Verstehst du?«

»Sekunde«, sagte ich. »Es gibt doch in den einzelnen Ländern unterschiedliche Währungen. Heißt das, wenn die Moskauer ihre Umschläge mit Dollars bekommen, dass ihre Lebenskraft nach Amerika gesendet wird?«

Enlil Maratowitsch lachte schon wieder.

»Eher nicht. Geld ist Geld, unabhängig davon, wie es heißt und welche Farbe es hat. Reine Abstraktion. Die Wellenlänge ist also überall gleich. Doch hat ein Signal nicht nur eine Frequenz, sondern auch eine Form. Und die kann von Fall zu Fall sehr verschieden sein. Hast du schon mal darüber nachgedacht, warum es auf der Welt verschiedene Sprachen, Nationen, Länder gibt?«

»Ergab sich so«, sagte ich achselzuckend.

»Die juckige Jungfer im Stroh ergab sich dem Knecht einfach so. Alles Übrige unterliegt Mechanismen. Die Welt teilen sich mehrere souveräne Gemeinschaften von Vampiren. Nationalkulturen, denen die Menschen zugehören, sind etwas wie Brandzeichen, womit man das Vieh markiert. Wie eine Zahlenkombination für das Kofferschloss. Ein Zugangscode. Jede Vampirgemeinschaft darf nur ihr eigenes Vieh melken.

Darum kann sich die kulturelle Objektivation des Geldes spürbar unterscheiden, auch wenn die Technologie seiner Erzeugung überall dieselbe ist.«

»Und der Sinn der menschlichen Kultur hätte sich damit erschöpft?«, fragte ich.

»Nein, das würde ich nicht sagen.«

»Worin bestünde er noch?«

Enlil Maratowitsch dachte nach.

»Wie soll ich das erklären ... Stell dir vor, ein Mensch sitzt in einer nackten Betonzelle und produziert Strom. Sagen wir, indem er ein paar aus der Wand ragende eiserne Hebel vor-und zurückschiebt. Das wird er nicht lange aushalten. Er denkt sich: Was tue ich hier eigentlich? Wieso ziehe ich von früh bis abends an diesen Hebeln? Ob ich hier nicht irgendwie rauskomme? Das wird er doch denken, oder?«

» Sehr wahrscheinlich.«

»Hängt man ihm nun aber einen Plasmabildschirm vor die Nase und lässt eine Videokassette mit Ansichten von Venedig laufen, und besagte Hebel baut man so geschickt in das Bild ein, dass sie wie Riemen aussehen, mit denen er über die Kanäle gondeln kann? Und für ein paar Wochen im Jahr macht man Skistöcke aus den Hebeln und blendet Courchevel auf dem Bildschirm ein? Dann wird unser Gondoliere keine Einwände mehr haben. Höchstens befürchtet er, dass ihm jemand seinen Platz auf dem Heckschnabel streitig macht. Gerudert wird mit umso größerem Enthusiasmus.«

»Aber es muss ihm doch auffallen, dass die Bilder sich wiederholen?«

»O ja, das wird es«, seufzte Enlil Maratowitsch. »Das hat schon Salomo gepredigt. Der aus der Bibel. Darum ist die Länge eines Menschenlebens so bemessen, dass die Leute nicht dazu kommen, gar zu schwerwiegende Schlussfolgerungen zu ziehen.«

»Da ist noch etwas anderes, das ich nicht verstehe«, sagte ich. »Auf diesem Plasmabildschirm ließe sich ja alles mögliche zeigen. Venedig, die Sonnenstadt, was weiß ich. Wer entscheidet, was die Ruderer zu sehen kriegen?«

»Wie, wer? Das entscheiden sie selbst.«

»Ach? Und wozu gucken wir dann seit so vielen Jahren diesen ... dieses ...«

»Du meinst die Volksmusiksendungen? Wegen der Textsicherheit«, entgegnete Enlil Maratowitsch grinsend und begann zu trällern: »Jetzt fahrn wir übern See, übern See ... Damit fängt es an.«

Nun ja. Die Metapher war eindeutig. Aber was meinte er mit: Damit fängt es an? Ich durfte damit rechnen, dass mir Enlil Maratowitsch nur wieder eines seiner Witzchen verabreichen wollte, konnte mir die Nachfrage trotzdem nicht verkneifen.

»Und was ist das Ende?«

»Ein Ruder war nicht dran, ha ha!«

Ich vertiefte mich seufzend noch einmal in die erste der beiden Zeichnungen. Dann in die zweite. Der freie Raum am rechten Rand erschien geheimnisvoll und ein bisschen beängstigend.

»Was ist hier drüben?«, fragte ich, mit dem Finger hindeutend.

»Willst dus wissen?«

Ich nickte.

Enlil Maratowitsch zog die Schreibtischschublade auf, holte einen Gegenstand hervor und warf ihn mir zu.

»Fang auf!«

In meiner Hand landete ein schwarzes Fläschchen in Form einer Fledermaus mit eingeklappten Flügeln. Haargenau wie das, was ich am Tag des Großen Sündenfalls übersandt bekommen hatte. Ich begriff.

»Sie wollen, dass ich schon wieder ...«

»Leider nicht zu umgehen!«

Ich war bestürzt. Enlil Maratowitsch lächelte mir aufmunternd zu.

»Die Chaldäer betrachten das Leben mit Vorliebe als die metaphorische Besteigung einer Zikkurat, auf deren oberster Terrasse Göttin Ischtar auf sie wartet. Sie kennen die Geschichte vom Turmbau zu Babel und glauben zu wissen, was damit gemeint ist. Aber die Menschen sind auf dem Holzweg. Die sakrale Symbolik bedient sich häufig der Inversion. Oben ist unten. Leere ist Fülle. Die größte anzunehmende Karriere ist der freie Fall, eine Pyramide ist das wahre Stadion und der höchste Turm in Wirklichkeit ein tiefer Abgrund. Der Fuji befindet sich zuunterst, Rama ... Ist doch nicht das erste Mal für dich!«

Irgendwie schien diese Beschwörung zu wirken. Ich zog den Schädelpfropfen aus dem Fläschchen, ließ den einen Tropfen, der darin war, auf die Zunge rinnen und verrieb ihn am Gaumen. Ein paar Sekunden verstrichen, dann sagte Enlil Maratowitsch:

»Halt dich nicht zu lange dort auf. Du wirst gebraucht hier oben.«

»Dort heißt jetzt mal wo?«

Enlil Maratowitschs Lächeln wurde noch strahlender, und er deklamierte:

Für Vampire gilt die Richtschnur:


Achtern abwärts! Aus dem Licht nur!



»Schon klar. Ich meine nur: Wo soll ich jetzt hingehen?«

»Sitzenbleiben!«, sagte Enlil Maratowitsch, hob die Hand und drückte auf den vor ihm stehenden Sputnik.

Auf einmal kippte das Zimmer nach vorne weg. Dann begriff ich, dass nicht das Zimmer gekippt war, sondern der gotische Lehnstuhl, auf dem ich saß - der Fußboden hatte sich unter ihm aufgetan, und ehe ich dazukam zu schreien, rutschte ich schon rücklings eine abschüssige Rinne aus irgendeinem polierten Material hinab: achtern abwärts und ins Dunkle, wie versprochen. Ich bekam Angst, ich könnte mir unten den Schädel einschlagen, wollte den Kopf mit den Händen schützen, doch da war die Rutsche bereits zu Ende, und ich flog im bodenlosen schwarzen Raum.

Ein paar Sekunden lang schrie ich, meine Hände suchten krampfhaft Halt. Als sie ihn fanden, merkte ich, dass es keine Hände mehr waren.

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