Als Loki verkündete, wir würden nunmehr zum Studium der Liebespraktiken des Vampirs übergehen, malte ich mir etwas Ähnliches aus wie den Glamourlehrgang, nur mit Präparaten der Sorte Rudel ZOO. Serienweise Proben mit Pornofilmen, 3D und in Stereo. Pflichtprogramm zur Anschauung und Aneignung!, dachte ich enthusiastisch.
Dann erfuhr ich, dass der Lehrplan zu diesem Thema nur eine einzige Stunde vorsah, und hängte die Latte meiner Erwartungen tiefer. Sei’s drum, dachte ich mir, dann wird diese Stunde wohl umso drastischer und eindrücklicher ausfallen ...
Und dem war so.
Loki erschien an diesem Tag sorgfältig rasiert und sogar in einer Wolke von Vanilleduft. Sein Köfferchen war doppelt so bauchig wie sonst. Ich war neugierig, was es enthielt, traute mich aber nicht zu fragen.
»Zunächst sei gesagt«, fing Loki an, »dass es zweierlei Liebeskunstkurse gibt: einen für Vampirjungen und einen für Vampirmädchen. Sie sind grundverschieden. Wichtig zu wissen ist ferner, dass alles hier Gesagte sich ausschließlich auf Menschenfrauen bezieht und auf Vampirfrauen keinesfalls übertragbar ist.«
»Und was ist, wenn ich mich in eine Vampirin verliebe?«, fragte ich.
Loki zuckte wieder die Achseln.
»Eine solche Möglichkeit ist nicht vorgesehen. Wir befassen uns nur mit den Menschen. Beziehungen zu Vampiren wirst du nach eigenem Ermessen gestalten und stehst dafür ein. Da kann es keinen Nachwuchslehrgang geben. So, jetzt greif zur Feder, schlag dein Heft auf und schreib ...«
»Das Verhältnis des Vampirs zur Frau«, begann er zu diktieren, »ist ein krasser Gegenentwurf zum kalten Zynismus des Menschen. Es vereinigt in sich pragmatische Rationalität und edles Rittertum ... Hast du? Die Rationalität besteht darin, dass der Vampir auf die scheinheilige und demütigende Prozedur des sogenannten Flirtens verzichtet und gleich zur Sache kommt. Das Rittertum besteht darin, dass die Frau von der peinlichen Pflicht, einen Orgasmus vorzutäuschen, entbunden und für den Sex stets ausbezahlt wird ...«
»Ich komm nicht hinterher«, sagte ich.
Loki ließ mich den Satz zu Ende schreiben.
»Fünf Prinzipien gibt es«, fuhr er fort, »von denen sich ein Vampir in seinem Privatleben leiten lässt. Erstens: Der Vampir ist bestrebt, den Liebesakt auf die Bekanntschaft mit einer Frau unverzüglich folgen zu lassen. Zweitens: Nach dem Liebesakt wird die Bekanntschaft mit einer Frau in der Regel abrupt beendet. Drittens: Die Frau wird vom Vampir für ihre Dienste bezahlt. Viertens: Der Vampir wird die Frau, mit der er schläft, im Normalfall nicht beißen. Und fünftens die Grundregel: Der Vampir wird es niemals zulassen, dass die Frau einen Orgasmus vortäuscht...«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich, den Blick vom Heft lösend. »Entbindet der Vampir die Frau ritterlich von der Pflicht, einen Orgasmus vorzutäuschen, oder verbietet er es ihr zu tun?«
»Das ist doch ein und dasselbe.«
»Wieso?«
Loki maß mich mit einem langen Blick.
»Rama«, sprach er sodann in bewegtem Ton, »lass uns ein Wort unter Männern reden.«
»Bitte«, sagte ich.
»Wir wollen die Dinge beim Namen nennen. Der gemeinsame genitale Orgasmus von Mann und Frau während des Geschlechtsaktes ist ein großartiges, doch uneinlösbares Ideal, ungefähr so wie der Kommunismus. Der Vampir sollte sich stets vergegenwärtigen, dass das Liebesverhalten der Frau sozialökonomisch motiviert ist. So hat es sich über Jahrtausende herausgebildet. Ein paar Jahrzehnte formaler Gleichberechtigung können daran nichts ändern.«
»Bisher haben Sie die Sache nur unter theoretischem Aspekt betrachtet«, stellte ich fest. »Darf man erfahren, was das Ganze praktisch bedeutet?«
»Natürlich. Wenn die Frau schon nach der dritten Friktion geräuschvoll zu atmen beginnt, die Augen verdreht und spitze Schreie ausstößt, deutet das darauf hin, dass sie sich unnatürlich verhält und an einem sozialen Projekt arbeitet, während ihr Partner sich biologisch betätigt. Ist es aber so, dass der an deiner Seite liegende Mensch insgeheim seinem sozialen Projekt frönt, dann heißt es für dich als Vampir, auf der Hut zu sein.«
»Welchen Vorteil könnte die Frau denn aus der Vortäuschung eines Orgasmus ziehen?«, fragte ich. »Das leuchtet mir, ehrlich gesagt, nicht ein.«
»Es leuchtet dir deshalb nicht ein, weil du denkst wie ein Mensch.«
Von diesem Vorwurf bekam ich allmählich Schwielen. Schuldbewusst senkte ich die Augen.
»Ich will es dir erklären«, sagte Loki von oben herab. »Nicht die, die uns Gutes tun, sind es, die wir lieben. Sondern die, denen wir Gutes tun. Je mehr, desto inbrünstiger. Das ist eine psychologische Gesetzmäßigkeit, die die Frau seit Urzeiten weidlich ausnutzt. Sie will dem Vampir weismachen, dass sie pausenlos multiple Orgasmen empfindet, denn der Vampir soll glauben, er mache sie glücklich - und sie deswegen noch glücklicher machen wollen. Ist das so schwer zu verstehen? Es geht um Investitionen. Je lauter die Frau schnauft und stöhnt, desto mehr Geld wird sie sich aneignen wollen. Und das muss man im Keim unterbinden.«
Mir fiel ein, dass Mitra mich vor einem Schleier der Scheinheiligkeit als festem Bestandteil der Sex-Maske eines Vampirs gewarnt hatte. Dennoch, aus purem Mutwillen, wollte ich noch ein bisschen protestieren.
»Meiner Meinung nach ...«
Doch Loki schien meine Rechthaberei bereits satt zu haben.
»In Fällen besonderer Borniertheit«, fiel er mir, lauter werdend, ins Wort, »kann man es noch deutlicher sagen. Lass niemals zu, dass die Frau einen Orgasmus vortäuscht, denn es ist der Griff nach deiner Brieftasche! Jetzt klar?«
Erschrocken nickte ich nur noch.
»Gelingt es aber, dieser Täuschung von Anfang an zu entgehen«, fuhr Loki fort, »dann ist Menschlichkeit in der Beziehung zur Frau möglich. Und nichts anderes ist unser Ziel, denn Vampire sind humane Wesen ... Hast du’s?«
»Ja. Aber warum muss der Vampir die Frau für den Sex bezahlen?«
»Weil Sex ohne Geld nur in der Mausefalle vorkommt«, erwiderte Loki. »Auch das solltest du in dein Heft schreiben.«
Ich tat es und setzte einen fetten Punkt dahinter.
»Gut«, sagte Loki. »Dann gehen wir jetzt zum praktischen Teil über.«
Er klappte sein Köfferchen auf und zog ein fleischfarbenes Päckchen hervor, dazu eine hellblaue Gaspatrone, an der ein kurzer Gummischlauch hing. Er ließ den Schlauch am Gummipäckchen einrasten und drehte einen schwarzen Hebel. Ein scharfes Zischen war zu hören, Sekunden später hatte sich das Päckchen entfaltet und schwoll zu einer abgegriffenen Gummipuppe mit strohgelben Zottelhaaren.
Sie hatte weit aufgerissene, dicht bewimperte blaue Augen und einen zu allem bereiten Purpurmund mit rundem Loch in der Mitte. Loki hatte sie etwas zu prall aufgeblasen, sie erschien fett. Unübersehbar hatten sich schon mehrere Vampirgenerationen an ihr geübt: Verkrustete Rinnsale zeugten davon und dunkle Flecken, die aussahen wie Schuhabdrücke. Außerdem gab es Tintenschmierereien, wie man sie von Schulbänken kennt. Besonders auffällig ein Zweizeiler, in großen Buchstaben auf einem Oberschenkel drapiert, den auszuradieren, den Kratzspuren auf dem Gummi nach zu urteilen, schon öfter versucht worden war:
Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand.
Ich liebte sie von hinten. Penetrant!
Loki bemerkte, dass ich mich für das Oberschenkelgedicht interessierte, und drehte die Frau so, dass die Inschrift nicht mehr zu sehen war.
»Kommen wir also zu den praktischen Methoden«, verkündete er.
»Aha, äh, ja ... Wie soll ich das verstehen?«
»Ganz praktisch.«
Er ging vor der Gummipuppe auf die Knie. In der Hand hatte er ein Todesbonbon, das er auswickelte und sich einwarf.
»Vor besagtem Problem stehend«, sprach er, sich nach mir umwendend, »mussten die Vampire das Fahrrad nicht neu erfinden. Sie griffen auf ihre bewährten Nahkampftechniken zurück. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb wir Kampf- und Liebeskunst in einer Lerneinheit anbieten. Der den Vampiren eigentümliche Humanismus äußert sich darin, dass zur Verhinderung eines vorgetäuschten Orgasmus ausschließlich Methoden Anwendung finden, die die Gesundheit der Partnerin nicht beeinträchtigen ...«
Loki beugte sich über die Gummifrau, stützte die Ellbogen auf den Boden. Der Zustrom roter Flüssigkeit verfärbte sein Gesicht. (Entflammende Leidenschaft hätte den gleichen Effekt, fiel mir ein.)
Plötzlich richtete er behände den Oberkörper auf und stieß dabei der Puppe das rechte Knie in die Seite. Anschließend dasselbe mit dem anderen Knie. Dann stemmte er ihr den Ellbogen in die Bauchmitte, schnipste einen Finger gegen den Halsansatz, klatschte die flachen Hände auf ihre Ohren ...
Es war grotesk und grauenhaft anzusehen, wie dieser große, dünne Mann in Schwarz auf einer Gummipuppe lag und sie mit Händen und Füßen malträtierte. Loki schlug zwar nicht hart, doch in schneller Folge, die Bewegungen wirkten ausgesprochen professionell, geradezu artistisch - er hätte mit dieser Nummer gut in einem surrealistischen Theater auftreten können. Und mir schien, als platzierte er seine Schläge mit mehr Begeisterung, als für den Ausbildungsprozess nötig gewesen wäre.
»Waren Sie eigentlich schon mal verliebt?«, fragte ich ihn, für mich selbst überraschend.
Er hielt inne.
»Was?«, fragte er verblüfft, das erhitzte Gesicht mir zugewandt.
»Ach, nichts«, sagte ich. »War nur so eine Frage.«
Loki stand auf und klopfte sich unsichtbaren Staub vom Rock.
»Jetzt du«, sagte er.
Ich schaute auf die aufgeblasene Frau. Gern hätte ich den Moment der Begegnung um einiges hinausgezögert.
»Ich hätte da noch eine Frage«, sagte ich. »Zu Punkt vier. Warum soll ein Vampir die Frau, mit der er Sex hat, nicht beißen? Aus Ritterlichkeit?«
»Das wäre ein Grund, aber nicht der einzige«, antwortete Loki. »Maßgeblicher ist, dass die Frau als Objekt der Begierde für den Vampir nach einigen Bissen jeglichen Reiz verliert. Das ist eine vielfach gemachte Beobachtung. Mir ist jedenfalls kein einziger Fall bekannt, wo es anders war.«
Die Hände über der Brust gekreuzt, schaute er in die Ferne, als fiele ihm etwas lange Vergessenes wieder ein.
»Umgekehrt wird ein Vampir, wenn der Drang zur Frau überhandnimmt, sich mit ein paar schnellen Bissen Erleichterung verschaffen und Einblick in ihre Seele nehmen. Das hilft immer. Nur wenn der Vampir andere Pläne hegt, wird er das Beißen sein lassen ...«
Loki schaute auf die Gummipuppe zu seinen Füßen, und es war klar, dass mehr aus ihm nicht herauszubekommen sein würde.
»Jetzt aber frisch ans Werk. Wir erarbeiten die Schlagfolgen. Auf gehts ...«
Ich nahm die Ausgangsposition ein. Die Gummifrau schaute blauäugig ungerührt an mir vorbei zur Decke. Falls sie doch etwas fühlte, wusste sie es gut zu verbergen.
»Ellbogen aufstützen!«, befahl Loki. »Das Gewicht auf ein Knie verlagern ... Höher gehen ... Jetzt den Hüftstoß mit dem anderen Knie. Jawohl. Hervorragend! Aber nimm nicht das linke, die Leber könnte Schaden nehmen. Tu’s mit dem rechten ... Genau. Sehr gut! Jetzt die Ellbogenstöße ...«
Das Stundenthema war natürlich ein Witz - und doch hatte das, was sich hier abspielte, seine phantasieanregenden Seiten. Bei jedem Schlag ruckte der Kopf der Puppe auf und nieder, es sah aus, als lachte sie lautlos über meine Anstrengungen - oder sie täuschte, aller Welt zum Trotz, einen Orgasmus vor.
Ich vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen, schaute zur Seite. Und auf einmal schien es mir, als läge ich auf einer Luftmatratze und paddelte mit dem Rest der Menschheit um die Wette - fernen Horizonten entgegen, glücklichen Gestaden, wo der Lohn auf die fleißigsten Paddler wartete: Sonne und Seligkeit, Geld und Liebe.