DER GROSSE SÜNDENFALL

Der nächste Tag war schön und unheildrohend zugleich. Ein heftiger Wind blies, Frische lag in der Luft, die einen ernüchtern konnte: Da kündigte sich wohl der Herbst an. Immer nur kurz trat die Sonne hinter den Wolken hervor. Ich öffnete die Fenster im Wohnzimmer, hängte die Flügel in die Haken an der Wand ein und kam auf die Idee, Kerzen anzuzünden -wenigstens hell sollte es sein. Die hereinwehende Zugluft ließ die Flammen erzittern, was mir gut gefiel.

Gegen Abend rief Mitra an und fragte, wie es so laufe. Ich schilderte ihm die Unterrichtsstunde vom Vortag bei Loki. Mitra war erheitert.

»Ich sage doch, das Thema ist bei der älteren Generation tabu. So ähnlich wie das B-Wort. Diese körperverletzenden Methoden, wie Loki sie lehrt, musst du übrigens nicht ernst nehmen. Kein Gentleman käme auf die Idee, die Frau während des Geschlechtsverkehrs in die Seite zu treten.«

»Sondern?«

»Das ist individuell verschieden. Ich für mein Teil lege immer die Pistole oder das Rasiermesser auf den Nachttisch.«

Ich wusste nicht, ob das ein Witz sein sollte. Doch der nachfolgende Satz brachte mich von dieser Frage gänzlich ab.

»Weshalb ich anrufe«, sagte Mitra, »heute ist es so weit mit dem Großen Sündenfall ...«

Mich durchfuhr ein kalter Schauer. Er baute sich auf in Höhe des Sonnengeflechts und rollte aus bis in die letzten

Nervenenden - als hätte einer in mir drinnen eine eiskalte Dusche angestellt.

»Was? Schon?«

Mitra lachte.

»Dich soll einer verstehen. Erst kannst du es kaum erwarten, dann ist es wieder zu früh ... Nur keine Bange. Es ist nichts dabei.«

»Was muss ich tun?«

»Nichts. Warte ab, bald kommt ein Kurier und bringt ein Päckchen. Darin findest du Instruktionen.«

»Darf ich dich zurückrufen? Ich meine, falls es Probleme gibt?«

»Es wird keine geben«, erwiderte Mitra. »Es sei denn, du denkst dir extra welche aus. Anrufen ist nicht nötig. Ich erwarte dich.«

»Wo?«

»Das wirst du sehen«, sagte Mitra und trennte die Verbindung.

Ich legte den Hörer auf und setzte mich auf das Sofa.

Ein Sündenfall hatte mir gerade noch gefehlt. Alles, was ich wollte, war, still im Dunkeln zu sitzen und zur Ruhe zu kommen. Ich hoffte auf einen rettenden Gedanken, einen raffinierten Ausweg aus der heiklen Lage. Es musste ihn geben, ich brauchte mich nur ein paar Minuten zu konzentrieren, dann würde ich darauf stoßen. Ich schloss die Augen.

In diesem Moment klingelte es.

Ich stand auf und trottete ergeben zur Tür.

Aber draußen war niemand. Auf der Schwelle lag eine kleine schwarze Schatulle. Ich trug sie ins Wohnzimmer. Legte sie auf den Tisch und ging ins Bad. Irgendwie war mir plötzlich danach zu duschen, obwohl ich das heute schon einmal getan hatte.

Ich seifte mich gründlich ein. Kämmte mich, schmierte Gel in die Haare. Ging ins Schlafzimmer und zog meine besten Klamotten an: Hemd, Hose, Jackett.

Dann ließ sich der Moment der Wahrheit nicht länger hinausschieben. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und öffnete die Schatulle.

Auf rotem Samt ruhte ein kleines Gefäß aus Rauchglas in Form einer Fledermaus mit eingeklappten Flügeln. Anstelle des Kopfes ein Stöpsel in Form eines menschlichen Schädels. Ein kleiner Zettel lag daneben.

Rama,


nimm Dir einen Augenblick Zeit und lerne die Grußformel auswendig, die ein angehender Vampir traditionell aufzusagen hat. Sie ist sehr einfach und heißt: Rama II. ist in Heartland gelandet! Ich hoffe, das kriegst Du hin.


Vielleicht wirst Du Dich fragen: wieso Rama II.? Unserer Tradition zufolge wird dem Namen des Vampirs bei festlichen Anlässen eine Nummer angefügt, die anstelle eines Familiennamens steht. Ich zum Beispiel bin Enlil VII. Was natürlich nicht heißt, dass es vor mir sechs andere Enlils gegeben hat und vor Dir einen Rama. O nein, es waren ihrer weit mehr. Der Kürze halber bedienen wir uns nur der letzten Ziffer dieser Ordnungszahl. Enlil XI. ist wieder Enlil I.


Sei nicht gar zu aufgeregt und mach Dir keine Sorgen. Bei uns geht alles glatt.


Viel Erfolg,


Enlil

Ich betrachtete das Flakon. Vermutlich waren alle weiteren Instruktionen in dem Präparat enthalten.

Heartland, wenn meine Erinnerungen nicht trogen, musste irgendein mythischer geopolitischer Fetisch sein - immer mal wiedergekäut an runden Tischen in den Redaktionsstuben der nationalen Befreiungsbewegung, wenn die ihren Sponsoren zeigen wollte, dass mit Volldampf gearbeitet wurde. Die Bedeutung des Begriffs war mir nicht bekannt. Den Teilnehmern dieser Rundtischgespräche wohl auch nicht.

Was aber konnte hier damit gemeint sein? Irgendein heiliger Ort? Vermutlich eine Metapher ... Metaphern gibt es viele, so ging es mir durch den Kopf. Was, wenn sie dich mit irgendeinem Obdachlosen zusammensperren und sagen: Wenn du ein Vampir werden willst, musst du sein Herz essen ... Sonst gibt’s kein Heartland ... Was täte man dann?

»Das erfahren wir gleich«, sprach eine scharfe, entschlossene Stimme im Raum.

Ich begriff, dass es meine eigene war. Und eine weitere Merkwürdigkeit fiel mir auf: Während ich noch von allerlei Zweifeln und Ängsten erfüllt war, hatten meine Hände schon geschäftig den Kristallstöpsel aus dem Flakon gezogen ... Ein Teil von mir flehte um Aufschub der Prozedur - nur ja nichts übereilen! -, doch die Zunge hatte längst das Zepter übernommen.

Im Flakon befand sich genau ein Tropfen Flüssigkeit. Ich ließ ihn in den Mund rinnen, verrieb ihn sorgfältig am Gaumen.

Nichts geschah.

Wahrscheinlich wirkt das Präparat mit Verzögerung! dachte ich und setzte mich auf das Sofa. Die Grußformel fiel mir ein, die auswendig zu lernen Enlil Maratowitsch mich gebeten hatte.

»Rama II. ist in Heartland gelandet! Rama II. ist in Heartland gelandet!«, sprach ich leise vor mich hin.

Nach einer Minute, als ich mir sicher war, den Satz unter keinen Umständen je wieder vergessen zu können, hörte ich auf damit. Im selben Augenblick vernahm ich Musik.

Irgendwo erklang Verdis Requiem. (Es geschah neuerdings öfter, dass ich klassische Musikstücke erkannte. Ich konnte mich nicht genug wundern über meine fundierten Kenntnisse auf diesem Gebiet.) Wahrscheinlich wurde es eine Etage über mir gehört, vielleicht auch nebenan, das war nicht genau auszumachen. Kurzzeitig schien es mir, als wäre es die Musik, die die Gardinen zum Schaukeln brachte, nicht der Wind.

Ich entspannte mich und hörte zu.

Ob es an den düsteren Klängen lag oder am Flimmern des Abendlichts hinter den sich bauschenden Gardinen - ich bekam das Gefühl, als ginge mit der Welt Seltsames vor sich.

Sie glich auf einmal einem verwunschenen Reich. Schwer zu sagen, wieso (zumal ich nie in einem solchen gewesen war, es nur aus dem Märchen kannte, daher auch nicht wissen konnte, wie es dort aussah). Doch alles, die Geometrie der alten Möbel, die Rhomben des Parketts, die Kaminverkleidung, passte ideal zu der Vorstellung, man befände sich in einem fremden Traum ... Es konnte freilich auch sein, dass ich mich nur deshalb in einem Traumreich wähnte, weil ich kurz davor war einzuschlafen.

Das fehlte noch, dass ich das wichtigste Ereignis in meinem Leben verschlief! Ich stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei fragte ich mich, ob ich nicht bereits eingeschlafen war und nur davon träumte, durch das Zimmer zu laufen.

Von da an wurde es grausig.

Vielleicht war in dem Fläschchen Gift gewesen? Ich schlief nicht ein, ich war am Sterben, und was mir gerade widerfuhr, war das allmähliche Erlöschen von Restpotenzialen meiner Hirnstromkreise? Der Gedanke war unerträglich. Hätte ich geschlafen, wäre ich spätestens an dieser Stelle vor Schreck aufgewacht. Da der Schreck aber ziemlich flau war, konnte das andererseits nur heißen, dass ich doch schlief.

Oder bereits tot war.

Denn der Tod, so dachte ich, ist ja nur ein von Sekunde zu Sekunde tiefer werdender Schlaf, aus dem man schon nicht mehr da erwacht, wo man zuvor gewesen, sondern in anderer Dimension. Und wer wusste schon, wie lange solch ein Schlaf andauern konnte!

Womöglich war meine ganze Vampirkarriere nichts als der Tod, den ich so lange wie möglich vor mir selbst geheimhalten wollte? Und jenes »wichtige Ereignis«, das mich erwartete, war der Moment der bitteren Erkenntnis?

Ich suchte diesen Gedanken zu vertreiben, es gelang mir nicht. Im Gegenteil, ich fand immer mehr Bestätigungen für meinen furchtbaren Verdacht.

Zum Beispiel fiel mir nun wieder ein, dass Vampire zu allen Zeiten als wandelnde Tote gegolten hatten: Tagsüber lagen sie blau und kalt in ihren Särgen, nachts kamen sie hervor und wärmten sich an einem Schluck Blut ... Vielleicht musste man, um ein richtiger Vampir zu werden, erst einmal sterben? Und dieser wasserklare, von einem kristallenen Totenschädel behütete Tropfen war der Einlass in die neue Welt?

Sollte ich tatsächlich tot sein, so dachte ich weiter, dann wird sich dieses Grauen auswachsen ins Unermessliche. Zeit ist bekanntlich subjektiv. Die letzten chemischen Bewusstseinsblitze, gleich wie sie sich von innen ausnehmen, können sich über Millionen Jahre dehnen. Könnte es sein, dass alles und jedes auf diese Art endet? Dieses orangerote Abendflimmern, der Wind, der Kamin, das Parkett - und der ewige Tod ... Und die Menschen wissen nichts von dem Schrecken, weil noch keiner zurückkehrte, davon zu berichten.

»Libera me, Domine, de morte aeterna«, sang eine ferne Stimme. Kam dieser Verdi wirklich von oben? Oder verwandelte mein sterbendes Hirn die Selbsterkenntnis in Musik?

Ich begriff, dass ich, wenn ich mich nicht baldigst zusammenriss und aufwachte, ganz und gar in diesem schwarzen Brunnen versinken würde - und dann war es schon einerlei, ob ich schlief oder nicht, denn das Grauen, das sich da vor mir auftat, war bodenloser als aller Schlaf und alles Wachsein, als alles, was ich kannte. Und die Falle lag praktisch offen zutage. Eine simple Folge banaler Gedanken, und man steckte drin. Ein Rätsel, wieso nicht längst ausnahmslos alle Menschen sich in dieser Schlinge des Geistes verfangen hatten.

Ist das also nun der ewige Tod, fragte ich mich, von dem sie dort oben singen? ... Das darf nicht sein. Ich will hier raus, ganz gleich, um welchen Preis!

Ich musste die Erstarrung abstreifen. Den Albtraum wie eine Folie von mir abziehen - wie etwas Physisches, mit bloßen Händen ...

Aber meine Hände waren nicht mehr da.

An ihrer Stelle befanden sich schwielige dunkle Fäuste mit absonderlich großen, verhornten Knöcheln, wie höchstens fanatische Karatekämpfer sie haben. Und darüber anstatt der Arme schwarze Lappen, überzogen mit einem glänzenden kurzhaarigen Fell, wie ein Maulwurfspelz. Ich versuchte die Fäuste zu öffnen. Es ging nicht, etwas hinderte mich daran, so als wären die Finger straff mit Bandagen umwickelt. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, und plötzlich sprangen die Fäuste auf - aber nicht zu normalen fünffingrigen Handtellern, sondern zu zwei schwarzen Schirmen. Ich schaute auf meine Finger und sah: Ich hatte keine mehr.

An ihrer Stelle waren lange Knochen, zwischen denen lederartige Hautsäcke hingen. Nur der Daumen war noch da, ragte wie der Knüppel einer Bordkanone aus dem Flügel hervor. An seinem Ende ein krummer, spitzer Krallennagel von guter Bajonettlänge. Ich wandte mich dem Spiegel zu -schon ungefähr ahnend, was zu sehen sein würde.

Mein Gesicht: ein runzliges Fresschen, unfassbar zwischen Ferkel und Bulldogge, mit gespaltener Unterlippe und einer Nase, die wie ein ziehharmonikaartig gefalteter Rüssel aussah. Die Ohren: riesig und spitz, mit einer Vielzahl kompliziert verschachtelter Kammern. Die Stirn: flach, schwarzborstig. Auf meinem Kopf thronte ein langes, nach hinten gebogenes Horn. Klein war ich, mit tonnenförmigem Rumpf auf kurzen, krummen Beinen. Aber das Krasseste waren die Augen: klein, listig, gnadenlos und zynisch verschlagen -wie bei einem Milizionär auf dem Baumarkt Moskworezki Rynok.

Ich hatte dieses Gesicht schon auf dem Photo gesehen: Desmodus rotundus, die Vampirfledermaus - nur dass die kein Horn hatte. So eine Maus war ich also jetzt. In Übergröße.

Aber ehrlich gesagt, sah ich einem Teufel am ähnlichsten. Was mir zum Teufel wohl noch fehlte, war die Freude daran, ein Teufel zu sein. Das musste aber nichts besagen: Vielleicht war es mit der Freude bei den Teufeln auch nicht weit her.

Die ausgebreiteten Flügel verfingen sich in den Möbeln, ich klappte sie lieber wieder ein. Dazu musste ich die Finger zur Faust ballen, was einige Mühe kostete - dann falteten sich die Flügel wie Knirpsregenschirme zu schwarzen Zylindern zusammen, die in den wie Hufe so harten Fäusten endeten.

Ich versuchte einen Schritt, es klappte nicht gleich. Zu gehen erforderte eine spezielle Technik. Man musste die Fäuste gegen den Boden stemmen und den Schwerpunkt verlagern, indem man die leichten Hinterpfoten nach vorn zog. Nicht unähnlich dem Gang der Gorillas.

Des Weiteren bemerkte ich, dass das Denken aufgehört hatte. Mein Geist setzte nicht mehr diesen Strom unzusammenhängender Gedanken frei; der innere Raum, worin sie zuvor geklumpt hatten, war leer, wie staubgesaugt. Zurückgeblieben war nur das überdeutliche Bewusstsein dessen, was um mich her passierte. Und neben dieser eindringlichen Präsenz noch etwas, das ich zuvor nicht gekannt hatte.

Ich befand mich nicht mehr nur in der Gegenwart. Auf der Oberfläche der Realität schienen eine Vielzahl flimmernder Zukunftsbilder gestapelt, die sich mit jedem Atemzug erneuerten. Ich konnte wählen zwischen mehreren Varianten dessen, was passieren würde. Womit soll ich es vergleichen? Am ehesten vielleicht noch mit dem Head-Up-Display, auf dem ein Pilot im Abfangjäger die Welt sieht und zugleich die nötige Information dazu lesen kann. Als ein solches Zielgerät funktionierte jetzt mein Bewusstsein.

So nahm ich zum Beispiel die Anwesenheit von Menschen wahr. In der Wohnung über mir waren sie zu zweit. Drei in der Wohnung nebenan und noch zwei unter mir. Mit wenigen Sprüngen und Schwüngen wäre ich zu ihnen gelangt, aber das wollte ich nicht. Mir war nach frischer Luft. Ich konnte die Wohnung durch die Tür verlassen, durch das Fenster oder ...

Die dritte Variante hätte ich nie für möglich gehalten. Doch instinktiv wusste ich darum.

Mein Geist zeichnete etwas wie eine punktierte grüne Linie: in den Kamin und durch den Schornstein, hinaus in die Zukunft. Und ich erlaubte mir, dieser Linie zu folgen. Der Kaminrost wischte an meinem Gesicht vorbei, der Ziegelschacht, Ruß, irgendeine Stahlklammer - und schon sah ich das Blechdach und den Abendhimmel.

Ja, logisch, dachte ich - es ist eben ein Traum. Nur im Traum kann man sich so mühelos bewegen. Ich wusste auch, wohin: nach Westen. Dort würden wir uns begegnen. Die Fortbewegung war kein Problem. Luft unter die Ellbogen, abstoßen, und los ging es.

Ich spürte Insekten im Raum schweben und Vögel. Nach jedem Atemzug, wenn die Luft leise pfeifend wie von selbst aus meinen Lungen entwich, nach jedem Flügelschlag tauchten neue auf. Jeder Atemzug erneuerte mein Weltbild - so wie ein Scheibenwischer die regentrübe Windschutzscheibe ein ums andere Mal blank wischt. Unten sah ich Häuser, Autos, Menschen. Mich, dessen war ich sicher, konnte keiner sehen. Die Angst, gestorben zu sein, hatte sich gelegt, sie kam mir nur mehr lächerlich vor. Andererseits war es schwer vorstellbar, im Wachzustand das Haus durch den Schornstein zu verlassen. Ich nahm also an, dass ich schlief und träumte.

Doch gab es zumindest noch ein Wesen auf dieser Welt, das den gleichen Traum hatte. Das durfte ich einem fernen Ruf entnehmen, der ganz genauso klang wie meiner. Er machte die Welt sogleich um einiges heller und klarer - als wäre eine zweite Sonne zugeschaltet worden. Jemand kam auf mich zu, der war wie ich. Ich flog ihm entgegen. Kurz darauf waren wir beieinander.

Ein fliegender Vampir erinnert am ehesten an ein Schwein mit schwarzem Pelz und Flughäuten. Letztere wachsen aber nicht aus dem Rücken, wie man es bei den Engelchen und Teufelchen auf den Kirchenfresken kennt, sie sind zwischen Vorder- und Hinterläufen gespannt. Zum Körper hin mit kurzhaarigem schwarzem Fell bezogen. Die Vorderläufe sind länger, die Zehen an ihnen extrem gestreckt und zu einem obszönen Fächer gespreizt, zwischen denen wiederum ledrige schwarze Häute sitzen, die einen großen Teil der Flügelspanne ausmachen.

»Wilkommen!«, sprach das Wesen an meiner Seite.

»Guten Abend!«, sagte ich.

»Erkennst du mich?«, fragte das Wesen. »Ich bin Mitra.«

Wir sprachen miteinander, jedoch auf andere Art als bisher. Telepathie wäre der falsche Ausdruck dafür, denn ich konnte Mitras Gedanken nicht lesen. Wir wechselten Sätze, die aus Wörtern bestanden - nur eben lautlos. Wie Filmuntertitel poppten sie im Geist des jeweils anderen auf.

»Gut hergefunden?«, fragte Mitra. Dabei blinzelte er aus Olivenäuglein, die in haarigen Höhlen saßen.

»Kein Problem. Kann man uns aus den Häusern da unten sehen?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Vorsicht!«

Mitra bog scharf nach rechts, um eine Kante des Gasprom-Bleistifts zu umfliegen. Mit Mühe und Not tat ich es ihm gleich. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass keine weiteren Hindernisse folgten, wiederholte ich meine Frage.

»Warum sieht man uns nicht?«

»Frag Enlil«, antwortete Mitra. »Der kann es erklären.«

Da wusste ich, wohin wir flogen.

Es dämmerte schon. Im Nu lag die Stadt hinter uns. Wald trieb in verschwommenen dunklen Flecken unter uns hindurch. Dann sanken wir tiefer, und der Nebel verdichtete sich. Kurz darauf sah ich gar nichts mehr. Selbst Mitra, der nur wenige Meter voraus flog, war nicht mehr sichtbar. Doch hatte ich keinerlei Mühe, mich zu orientieren.

Wir überquerten eine befahrene Straße. Es folgten wieder eine Zeit lang nur Bäume, Kiefern zumeist. Dann kamen Zäune und Gebäude verschiedener Art. Welcher Art, hätte ich übrigens nicht sagen können, denn ich sah sie ja nicht, tastete sie nur ab - mittels Schall. Mitra, der neben mir flog, sandte die gleichen Töne aus, was meine Wahrnehmung stereoskopisch und verlässlich machte. Ich konnte jeden Dachziegel spüren, jede Kiefernnadel und jeden Kieselstein am Boden. Nur welche Farbe das alles hatte und überhaupt welche optische Anmutung, wusste ich deshalb noch lange nicht. Die Welt kam mir vor wie eine graue Computeranimation, eine 3D-Simulation ihrer selbst.

»Wo sind wir?«, fragte ich Mitra.

»Nicht mehr weit bis zur Rubljowka«, antwortete er.

»Verstehe«, sagte ich. »Wo auch sonst. Aber warum ist hier auf einmal solcher Nebel? So einen habe ich noch nie gesehen.«

Mitra gab keine Antwort. Und nun ereilte mich zum zweiten Mal an diesem Tag eine Horrorattacke.

Ich nahm ein Loch in der Erde wahr. Es lag genau auf unserer Strecke.

Hätte ich die Welt mit gewöhnlichen Menschenaugen angeschaut, ich hätte es vermutlich übersehen: umzäunt, von Bäumen umstanden und einem Tarnnetz mit reichlich aufgeklebtem Plastiklaub überspannt. (Ich spürte, dass die Blätter nicht echt waren, denn sie hatten alle die gleiche Form und Größe.) Und selbst wenn es mir gelungen wäre, die steile Schräge unter dem Netz zu erspähen, hätte ich es wohl für eine Schlucht oder Sandgrube gehalten und jedenfalls nichts Außergewöhnliches daran gefunden: An Schluchten und Gruben, auch solchen, die mit Tarnnetzen überspannt sind, herrscht in Moskaus Umgebung kein Mangel.

Doch ich sah das Loch nicht mit Augen, ich sah es mit meinem Radar. Und es erschien mir wie eine Lücke im Weltgefüge: Mein Ruf schallte hinein und nicht wieder heraus. Der Abgrund schien sich nach unten hin zu erweitern, genau konnte ich das aber nicht feststellen - dafür war er einfach zu tief. So tief, dass mir bei der Vorstellung schwummrig wurde. Vielleicht lag es auch gar nicht an der Tiefe ... Jedenfalls hatte ich wenig Lust, mich diesem Ort zu nähern, doch Mitra strebte darauf zu.

Das vollständig abgedeckte Loch erinnerte in seiner Form an ein platt gedrücktes Herz - wie man es in Comics gezeichnet findet. Oder, dachte ich fatalistisch, an den Palmwedelfächer über meinem Kinderbett... Das Loch war allseits von einem hohen, blickdichten Zaun umgeben, den ich schon von Weitem bemerkt hatte. Jetzt erkannte ich, dass Zaunabschnitte verschiedener Höhe und verschiedenen Materials ineinander übergingen - zusammen ergaben sie ein lückenloses Bollwerk. Auf dem Landweg war kein Herankommen an das Loch.

»Achtung!«, kommandierte Mitra. »Mach es wie ich!«

Er krümmte die Flügel und näherte sich im Sturzflug dem Rand des Netzes, wobei er so weit abbremste, dass er zuletzt beinahe in der Luft stand; dann tauchte er mit einer eleganten Drehung unter das Netz. Ich folgte ihm - und plumpste, haarscharf an der krautigen Kante vorbeisegelnd, in den Abgrund.

Hier war es kühl. Nackte Felswände, nur hie und da kleine Inseln aus Gras und Gesträuch. Es roch nach Weihrauch oder etwas Ähnlichem. Ich spürte eine Menge Spalten und Klüfte in den Wänden, konnte sie aber nicht sehen. Zu sehen war nur ein einsames Licht am Fels.

»Siehst du die Lampe?«, fragte Mitra. »Da musst du hin.«

»Finde ich das allein?«

»Es ist nicht zu verfehlen. Und außerdem bist du nicht mehr allein.«

Ich wollte ihn fragen, worauf er anspielte, doch er war schon auf dem Rückweg hinauf. Sekunden später gewahrte ich, dass noch ein Vampir sich im Schacht befand. Er war Mitra am Grubenrand begegnet und nun auf dem Weg herab.

Ich sollte mich mit der Landung beeilen! dachte ich, zu zweien könnte es eng werden, da hat schon einer allein seine

Mühe. Derweil verfuhr ich wie ein Schwimmer im Bassin: flog zur einen Wand, wendete und flog zur anderen, wodurch ich im Zickzack immer tiefer kam.

Bald war ich auf der Höhe der Lichtquelle angelangt. Sie lag hinter einem halbkreisförmigen Felsbogen verborgen. Davor eine kleine Terrasse, auf die das gelbe elektrische Licht fiel. Hier war offenbar die Landung vorgesehen.

Während ich ein paarmal von einer Seite des Schachtes zur anderen pendelte, überlegte ich, wie das anzustellen war. Die Flügel des anderen Vampirs rauschten bereits wenige Meter über mir, eine Kollision war ernsthaft zu befürchten. Ich musste handeln und beschloss meinem Instinkt zu vertrauen.

Den Moment abpassend, da ich das nächste Mal die Terrasse überflog, bremste ich heftig, beinahe bis zum völligen Stillstand, ballte die Flügel zackig zur Faust und fiel auf die verhornten Knöchel. Alles in allem eine geschickte Landung, wenn auch etwas pathetisch wirkend: wie ein Kniefall vorm Altar. Wenig später landete neben mir rauschend Vampir Nummer zwei. Ich drehte den Kopf, konnte aber nur eine dunkle Silhouette erkennen.

Es war düster, still und feucht. Vor uns der in den Fels gehauene Baldachin. Dahinter brannte eine schwache Glühbirne in einem Schirm aus gelbem Glas, der aussah wie eine kreuzweise aufgeschlitzte Apfelsine. Die Finsternis wurde von ihr eher betont als zerstreut. Unterhalb der Lampe befand sich eine Tür von gleichem Grau wie der Fels; ich entdeckte sie erst, als sie sich sachte nach innen öffnete.

Schließlich stand sie offen, ohne dass im Türspalt irgendwer erschien. Einige Sekunden schwankte ich, ob eintreten oder eine Aufforderung abwarten. Dann erinnerte ich mich der Begrüßungsformel, die mir aufgetragen worden war. Wahrscheinlich war dies der rechte Zeitpunkt dafür. Ich rekapitulierte sie noch einmal im Stillen, um keinen Fehler zu machen, dann sprach ich laut:

»Rama II. ist in Heartland gelandet!«

Ich hörte mich den Satz mit meiner normalen Menschenstimme rufen. Schaute auf meine Hände - und sah gewöhnliche Menschenfäuste, gegen den Felsboden gestemmt. Mein schickes Jackett hatte einen Dreiangel am Ärmel und war an den Ellbogen rußbeschmiert. Außerdem klaffte an meinem linken Handgelenk ein kleiner Riss. Ich erhob mich.

»Hera VIII. ist in Heartland gelandet!«

Ich drehte den Kopf. Neben mir stand das Mädchen vom Photo. Größer, als ich vermutet hatte. Schlank, schwarze Hosen, dunkles Shirt. Auf dem Kopf der explodierende Haarschober, den ich schon kannte.

»Nun denn«, tönte die Stimme Enlil Maratowitschs aus dem Dunkel, »wenn ihr schon mal da seid: herzlich willkommen in meinem bescheidenen Hamlet, Kinder!«

Und in dem Raum hinter der Tür ging das Licht an.

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