SOLDATEN DES IMPERIUMS

Enlil Maratowitsch schob mich in Richtung dreier Chaldäer, die eifrig diskutierend in der Nähe standen, und folgte mir auf dem Fuß. Beim Näherkommen verstummte das Gespräch, die Männer starrten uns entgegen. Enlil Maratowitsch streckte begütigend die flachen Hände aus. Plötzlich verstand ich den tieferen Sinn dieser uralten Geste: dem anderen zu zeigen, dass man weder Stein noch Messer mit sich trug.

»Keine Bange«, rief er fröhlich, »heute beißen wir nicht mehr. Ich hab dem jungen Mann schon die Ohren lang gezogen für seine derben Späße.«

»Nicht doch«, erwiderte der zuäußerst Stehende, ein kleiner gebeugter Mann, dessen graue Chlamys mit winzigen Blüten übersät war. »Wir haben zu danken für das mitreißende Schauspiel.«

»Professor Kaldawaschkin«, stellte Enlil Maratowitsch ihn vor. »Diskursobmann. Zweifellos das verantwortungsvollste Amt in der Chaldäischen Gesellschaft. Und das hier«, sprach er, zu Kaldawaschkin gewandt, »ist, wie Sie bereits wissen, Rama der Zweite. Seien Sie gnädig mit ihm.«

»Das tun wir gewiss«, sagte Kaldawaschkin und blinzelte mich aus wässrig blauen Greisenaugen an, »das ist so unsere Art. Ich höre, du bist ein Diskursspezialist?«

Auch er, ganz Profi, ließ das Wort Diskurs ein wenig englisch tönen, ich passte mich an.

»Spezialist nun nicht gerade«, erwiderte ich, »aber im

Diskursunterricht war ich entschieden besser als in Glamour. «

»Erfreulich zu hören, dass so etwas immer noch vorkommt im Fünften Imperium. Die Tendenz geht in die andere Richtung.«

»Was meinen Sie mit Fünftem Imperium, wenn ich fragen darf?«

»Kam das bei Jehova nicht vor?«, wunderte sich Kaldawaschkin.

Ich zuckte die Schultern - konnte ja sein, dass ich es nur vergessen hatte.

»Das ist die weltumspannende anonyme Diktatur, die wir die Fünfte nennen, um sie vom Dritten Reich des Nationalsozialismus und vom Vierten Rom der Globalisierung zu unterscheiden. Anonym freilich nur nach außen hin, wie du dir denken kannst. In Wirklichkeit handelt es sich um die humane Vampire-Rule-Epoche, das Weltimperium der Vampire oder auch in kryptischer Symbolik: Empire V. Und das willst du im Unterricht nicht gehabt haben?«

»Irgendwas war damit«, sagte ich unsicher. »Doch, doch ... Baldur sprach davon, dass der Glamour die Kultur der anonymen Diktatur sei.«

»Nicht die Kultur, sondern die Ideologie«, korrigierte mich Kaldawaschkin mit erhobenem Zeigefinger. »Die Kultur der anonymen Diktatur ist der fortgeschrittene Postmodernismus.«

Davon war nun wirklich nie die Rede gewesen.

»Was ist das?«

»Der fortgeschrittene Postmodernismus ist diejenige Phase in der Entwicklung der Postmoderne, in der sie sich von den Fundamenten vorausgegangener Kulturepochen gelöst hat und vollkommen autonom entwickelt.«

Ich hatte keinen Schimmer, wovon Kaldawaschkin redete.

»Was soll das bedeuten?«

Kaldawaschkins veilchenblaue Augen in den Maskenschlitzen blinkerten.

»Du hast uns mit deiner Rede vorhin ein vortreffliches Exempel dafür geliefert«, erklärte er. »Eure Generation kommt ganz ohne die Kodizes der klassischen Kultur aus. Ilias und Odyssee sind passe. Das Zitat aus der Trivialkultur hat den Siegeszug angetreten. Zitiert wird, was bereits zuvor eine Entlehnung, ein Zitat war, der Bezug zur Primärquelle ist getilgt beziehungsweise vollständig anonymisiert. Das ist die adäquate kulturelle Projektion einer anonymen Diktatur - und zugleich der effektivste Beitrag der chaldäischen Kultur zur Generierung des Schwarzen Rauschens.«

»Was ist das nun wieder?«, kam ich zu fragen kaum nach.

»Auch nicht behandelt?«, staunte Kaldawaschkin. »Was habt ihr denn die ganze Zeit gemacht? Das Schwarze Rauschen ist die Summe aller Diskursvarietäten. Anders gesagt, ein weißes Rauschen, dessen Bestandteile sämtlich durchdacht und durchfinanziert sind. Eine zufällige, willkürliche Menge von Signalen, die jedes für sich genommen weder willkürlich noch zufällig sind. Es ist dies die mediale Umgebung des modernen Menschen.«

»Und wozu gut? Die Menschen an der Nase herumzuführen?«

»Nein«, antwortete Kaldawaschkin, »Sinn und Zweck des Schwarzen Rauschens ist nicht die direkte Manipulation, sondern die Schaffung eines Informationshintergrundes von solcher Dichte, dass die Wahrheit darin unmöglich zu entdecken ist, insofern ...«

Das Ende des Satzes bekam ich nicht mehr mit, da Enlil Maratowitsch mich diskret zum nächsten Chaldäergrüppchen weiterschob; ich konnte Kaldawaschkin nur noch freundlich zulächeln und bedauernd die Arme heben. Ziel der Verschiebung schien ein kleiner Chaldäer in blauem Chiton, mit weiblichen Gesichtszügen und langen, manikürten Fingernägeln zu sein. Mehrere Goldmaskenträger umstanden ihn ehrerbietig und bildeten eine Art Suite.

»Herr Schtschepkin-Kupernik«, stellte Enlil Maratowitsch ihn vor. »Seines Zeichens Glamourobmann. Zweifellos das wichtigste Amt in der Gesellschaft unserer lieben Chaldäer.«

So viele wichtigste Ämter wie Chaldäer - das hatte ich schon begriffen.

Schtschepkin-Kupernik neigte würdevoll die Maske.

»Hören Sie, Rama«, sprach er mit klangvoller Stimme, »vielleicht gelingt es mir ja wenigstens bei Ihnen, Sie von der grässlichen schwarzen Krankheit zu heilen? Sie sind doch noch so jung, vielleicht bestehen da Aussichten?«

Die Suite lachte. Auch Enlil Maratowitsch lachte mit.

Panik befiel mich. Eben hatte ich mich beim Diskurs kräftig blamiert, den ich doch angeblich so gut beherrschte, während ich mit dem Glamour bekanntermaßen meine Schwierigkeiten hatte. Nun mache ich mich endgültig zum Affen! dachte ich - denn an eine schwarze Krankheit konnte ich mich auch nicht erinnern. Mir blieb nichts übrig als ein Blindversuch.

»Die einen haben die schwarze Krankheit«, befand ich streng, »die anderen ereilt der schwarze Tod.«

Das Lachen erstarb.

»Wohl wahr«, sagte Schtschepkin-Kupernik, »daran gibt es nichts zu rütteln. Aber warum hüllen sich die Vampire, und seien sie noch so jung und knackig, nur immer in diese kohlschwarzen Roben? Warum sind sie so schwer zu bewegen, diese Orgie der Finsternis wenigstens durch ein kleines farbliches und stoffliches Gegenstück zu akzentuieren? Wissen Sie, wie viel Mühe es mich gekostet hat, bis Ihr Freund Mitra diese rote Fliege anlegte?«

Nun war mir endlich klar, wovon er sprach.

»Da haben Sie nun diesen wunderbaren, tiefgründigen Glamourunterricht«, fuhr Schtschepkin-Kupernik zu klagen fort, »und doch kann ich mich nicht entsinnen, es jemals anders erlebt zu haben. Zuerst kleidet man sich noch tipptopp, wie die Theorie es vorschreibt. Und dann fängt es an. Früher oder später, nach einem Monat oder höchstens einem Jahr, rutscht jeder Vampir in dieses hoffnungslos schwarze Loch ...«

Nach diesen Worten wurde es in der Runde spürbar frostig.

»Oh!«, hauchte Schtschepkin-Kupernik erschrocken, »verzeihen Sie mir, sollte ich etwas Falsches gesagt haben ...«

Ich sah meine Chance, die Scharte auszuwetzen.

»Nicht doch!«, sagte ich liebenswürdig, »Sie sind ein sehr geistreicher Gesprächspartner und gut informiert. Aber im Ernst ... Wir Säuger haben in der Tat einen gewissen Hang zum Noir. Erstens ist Schwarz unsere Nationalfarbe, wie Ihnen bekannt sein dürfte. Und zweitens ... Haben Sie wirklich keine Ahnung, woher das kommt?«

»Ich schwöre es bei meiner roten Flüssigkeit - nein!«, rief Schtschepkin-Kupernik. Anscheinend war er sehr erleichtert, dass sein Fauxpas so glimpflich abgegangen war.

»Überlegen Sie doch mal. Was tun Vampire?«

»Sie lenken den Gang der Geschichte?«, schmeichelte Schtschepkin-Kupernik.

»Nicht nur das. Die Vampire schauen den Menschen in die dunklen Seelen. Anfangs, solange der Vampir in die Lehre geht» bewahrt er sich noch jenes von der Großen Maus ererbte Maß an göttlicher Unschuld, das ihn an die Menschen glauben lässt, ungeachtet dessen, was er tagtäglich über sie erfährt. Während dieser Zeit kleidet der Vampir sich gern einmal frivol. Doch von irgendeinem Moment an wird ihm klar, dass es kein Licht in der Finsternis geben kann. Und so geht der Vampir zum Zeichen seiner ewigen Trauer um den Menschen in Schwarz, wird selbst so schwarz wie all die Herzen, die tagein, tagaus vor seinem geistigen Auge vorüberziehen ...«

»Bravo!«, blaffte Marduk Semjonowitsch von der Seite dazwischen. »Enlil, ich finde, das sollten wir in den Diskurs aufnehmen!«

Schtschepkin-Kupernik tat etwas wie einen Knicks - wohl der Versuch, seine vielen widersprüchlichen Gefühle auf einen Nenner zu bringen - und blieb mitsamt seiner Suite hinter uns zurück.

Die nächste Gruppe, der Enlil Maratowitsch mich zuführte, bestand lediglich aus zwei Chaldäern, die einander ähnlich sahen. Beide alt und unansehnlich, feist, bärtig - bei dem einen stach ein rötlicher Zottelbart unter der Maske hervor, beim anderen ein silbergrauer. Letzterer schien gerade eingenickt zu sein.

»Hier haben wir es mit einer hochinteressanten Profession zu tun«, sprach Enlil, auf den Rotbärtigen hindeutend. »Vielleicht die allerwichtigste heutzutage. Ganz wie im italienischen Schauspiel. Herr Samarzew ist unser Generalprovokateur. «

»Nanu?«, fragte ich verwundert. »Was hat man als solcher zu tun?«

»Es ist schon eine äußerst höhnische Umschreibung dessen, was ich tue«, polterte Samarzew. »Aber ihr Vampire macht euch ja gern über wehrlose Menschen lustig. Wie du uns erst vorhin wieder in unverfrorenster Art vor Augen geführt hast...«

Ich war verdutzt. Samarzew ließ das Gesagte ein paar

Sekunden wirken, dann piekte er mir mit dem Finger in den Bauch und sagte: »Dies war eine kleine Demonstration meiner Tätigkeit. Ich provoziere. Funktioniert doch, oder?«

Alle Umstehenden prusteten fröhlich los. Ich lachte mit. Samarzew war charmant, wie es sich für einen Provokateur geziemt.

»In Wirklichkeit bin ich Zukunftsmanager«, sagte er. »Designer des morgigen Tages, wenn man so will. Und mein Amt heißt deshalb so merkwürdig, weil die Provokation heute keine bloße Buchführungsmethode mehr ist, sondern ein maßgebliches Organisationsprinzip.«

»Höre ich richtig: die Provokation eine Buchführungsmethode?«

»Natürlich. Wenn fünf Sozialrevolutionäre um den Samowar sitzen und Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte singen, dann ist einer von ihnen ein eingeschleuster Provokateur und schreibt ausführliche Berichte über die anderen.«

»Na gut. Verstehe. Und wie wird die Provokation zum Organisationsprinzip ?«

»Indem der Provokateur die Feindlichen Stürme selber anstimmt«, erwiderte Samarzew. »Damit er auch wirklich alle, die mitsingen, von Anfang an erfassen kann. Im Idealfall wird der Text auch gleich von unserer Kreativabteilung verfasst, damit nichts dem Selbstlauf überlassen bleibt.«

»Alles klar«, sagte ich.

Samarzew versuchte mir schon wieder den Finger in den Bauch zu pieken, diesmal hielt ich rechtzeitig die Hand davor.

»Das betrifft natürlich nicht bloß revolutionäres Liedgut«, führte er aus, »sondern alle bahnbrechenden Tendenzen. Heute wird keiner mehr warten, bis die Keime des Neuen von allein durch den Asphalt sprießen, dafür sind die Leute, die diesen Asphalt befahren, viel zu wichtig. Sprießende Keime auf den Protokollstrecken machen sich nicht gut. Freiheitsliebende Triebe, die sich partout ihren Weg bahnen müssen, werden heutzutage in speziellen Schonungen angepflanzt. Der Manager dieses Prozesses wird auf natürliche Weise zum Provokateur, die Provokation ist Teil des Managements.«

»Und Ihr Kollege befasst sich womit?«

»Jugendliche Subkulturen«, sagte der Graubart und gähnte.

»Fett!«, konterte ich. »Wie wärs mit ’ner Battle? Haben Sie das drauf?«

»Mit Ihnen wird das nix«, antwortete der Graubart. »Das sage ich Ihnen in meiner jugendlichen Unschuld ganz unverblümt.«

»Sehr jung sind Sie ja nicht gerade«, wagte ich anzumerken.

»Stimmt. Hab ich auch nicht gesagt. Ich bin im Gegenteil hornbeinalt. Und spreche davon in aller jugendlichen Offenheit.«

»Hören Sie, vielleicht können Sie mir ja wenigstens einen Tipp geben, welchem von den Nachwuchspolitikern man trauen sollte? Ich bin ja nicht bloß Vampir, ich bin auch Bürger dieses Landes.«

Der Graubart und Samarzew blickten sich an.

»Oho«, sagte Samarzew, »du bist, scheints, kein schlechterer Provokateur als ich ... Sagt dir Catch-22 etwas?«

Das kannte ich noch aus dem Diskurs.

»Ich denke schon. Eine sich selbst ausschließende Situation, nicht wahr? Eine logische Schleife, aus der es kein Entrinnen gibt. Bei der die Katze sich in den Schwanz beißt. Stammt aus dem IKS-Haken von Joseph Heller.«

»Korrekt«, sagte Samarzew. »Unser Catch-22 besteht nun in Folgendem: Ganz gleich, welche Worte einer auf der politischen Bühne spricht - schon die Tatsache, dass er diese

Bühne betreten hat, zeigt, was für ein Schwein und Provokateur er ist. Denn wäre er es nicht, würde er gar nicht auf die Bühne gelassen - da ist ein dreifacher Sperrring davor, mit MG-Schutz. Elementar, Watson: Bläst ein Mädchen in einem Bordell einen Schwanz, kommt jeder deduktiv veranlagte Geist zu dem Schluss, dass wir es mit einer Prostituierten zu tun haben.«

Ich fand diese Pauschalisierung kränkend für meine Generation.

»Wieso eigentlich?«, wandte ich ein. »Vielleicht ist sie auch nur eine brave Näherin. Gestern erst aus ihrem Dorf gekommen. Verliebt in den Klempner, der in dem Bordell die Dusche repariert. Er hat sie mit auf Arbeit genommen, weil sie gerade nicht weiß, wo übernachten. Na, und da ergab es sich in einer freien Minute ...«

Samarzew hob den Zeigefinger.

»Auf ebendieser unausgesprochenen Mutmaßung fußt die ganze zerbrechliche Mechanik unserer jungen Volksmacht ...«

»Volksmacht? Haben wir die also immer noch?«

»Es läuft alles darauf hinaus.«

»Wieso?«

Samarzew hob die Schultern.

»Wir sind ja alles intelligente Menschen, und darum fassen wir uns bei den Händen und reißen uns darum, gleich welcher Diktatur in den Arsch zu kriechen. Falls wir nicht vorher verhungert sind, versteht sich.«

»Jeder Diktatur, nur nicht der anonymen«, fügte der Fachmann für Jugendkultur leise hinzu.

Samarzew puffte ihn mit dem Ellbogen in die Seite.

»Deine jugendliche Direktheit kann einem auf den Wecker gehen.«

»Und was die Nachwuchspolitiker angeht«, fuhr der

Jugendexperte ungerührt fort (der Ellbogenstoß schien ihn vollends aus dem Schlaf gerissen zu haben), »da sind patente Jungs drunter. Das lasst euch gesagt sein. Mehr als patent. Supertalente sind das. Neue Gogols, jawohl!«

»Ja nun. Es vergeht kein Tag bei dir, wo nicht neue Gogols geboren werden«, brummelte Samarzew.

»Nein, wirklich. Einer hat erst neulich fünfhundert tote Seelen als bezahlte Demonstranten gecastet, hab ich das schon erzählt? Und das dreimal hintereinander. Erst als Nazis, dann als Schwule, dann noch mal als orthodoxe Ökologen. Was sagt man dazu! Es gibt Leute, denen kann man das Land mit gutem Gewissen anvertrauen.«

Enlil Maratowitsch zerrte mich weiter.

»Sei du unser reiner Tor! Sieg heil!«, rief Samarzew mir hinterher. Vielleicht hatte er auch Thor gemeint.

Nun wurde ich dem als Vampir verkleideten Schauspielleiter vorgestellt, einem kleinen schmächtigen Mann in schwarzer Chlamys. Die Maske war zu groß für seinen Kopf, sie wirkte wie ein Kosmonautenhelm. Die Augen in den Schlitzen waren rund und traurig. Er kam mir vor wie ein ins Kloster eingetretener Gollum.

»Das ist Herr Modestowitsch«, sagte Enlil Maratowitsch. »Er hat sehr viel für unsere Kultur geleistet, hat sozusagen für ihren Anschluss an die große weite Welt gesorgt. Jetzt kommen auch bei uns regelmäßig farbenfrohe Blockbuster heraus, in denen das Gute gegen das Böse kämpft und am Ende von Teil zwei unweigerlich den Sieg davonträgt.«

Modestowitsch hatte eine geringere Meinung von sich.

»Schlechte Witze über Licht und Dunkel«, sagte er und scharrte zuvorkommend mit dem Fuß. »Davon lässt es sich leben.«

»Angenehm«, sagte ich. »Wissen Sie, ich wollte schon lange mal einen Profi fragen, warum bei uns immer nur

Filmkunstwerke in den Verleih gehen, in denen das Gute siegt. Was doch im realen Leben höchst selten vorkommt. Wie kommt das?«

Modestowitsch hüstelte, bevor er antwortete.

»Gute Frage. Einem Normalsterblichen ließe sich das nicht ohne Umschweife erklären, aber mit Ihnen kann ich Klartext reden. Erlauben Sie, dass ich mich eines Beispiels aus der Landwirtschaft bediene. In der Sowjetzeit wurden Versuche angestellt, wie sich allerlei Musik auf das Wachstum von Gurken und Tomaten sowie auf die Milchleistung von Kühen auswirkt. Interessanterweise führten Durtonarten zu saftigerem Gemüse und höherer Milchleistung, während Molltöne umgekehrt für kleine, schrumplige Früchte und weniger Milch sorgten. Nun ist der Mensch keine Tomate und keine Kuh. Er ist ein komplizierteres Gemüse. Aber die gleiche Gesetzmäßigkeit lässt sich auch an ihm beobachten. Die Menschen sind per se so beschaffen, dass sie den Triumph des Bösen nicht ertragen ...«

»Und woher rührt diese Beschaffenheit?«

»Das müsste ich Sie und Enlil Maratowitsch fragen. Wir sind Ihre Zucht! Tatsache ist: Einen Menschen mit dem Sieg des Bösen zu konfrontieren hat denselben Effekt, wie eine Kuh mit der Mondscheinsonate zu beschallen. Die Folgen sind ernüchternd: in Menge, Dichte, Fettgehalt und allen übrigen Parametern auch. Gleiches trifft für den Menschen zu. Wenn rings um einen das Böse triumphiert, verliert man alle Lebenslust. Ganze Völker sterben aus. Die Wissenschaft hat nachgewiesen, dass der frühe Mozart das geeignete Mittel zur Optimierung der Melkerträge ist. Und ebenso sollte der Mensch bis zum Tode im Zustand des Hoffens und mit gütigen Scherzen bei Laune gehalten werden. Es gibt ein Sortiment an positiven, konstruktiven Werten, das von der Trivialkunst bedient sein will. Wir haben dafür zu sorgen, dass von diesem Prinzip nicht wesentlich abgewichen wird.«

»Was ist das für ein Sortiment?«, fragte ich.

Modestowitschs Augen verdrehten sich gleichsam nach innen - offenbar scannte er ein im Gedächtnis verankertes Rundschreiben.

»Es gibt da etliche Punkte, aber alles läuft auf einen Kern hinaus: Ein Chaldäer hat sein Leben einer furchtlosen, unvoreingenommenen Prüfung zu unterziehen und nach langem, quälendem Schwanken und Zaudern zu dem Schluss zu kommen, dass das Gute das Fundament der bestehenden Gesellschaftsordnung ist und trotz alledem obsiegt. Während die Entäußerungen des Bösen, so düster sie uns scheinen, immer nur vorübergehender Natur sind und der herrschenden Ordnung der Dinge zuwiderlaufen. Auf diese Weise wird im Bewusstsein des Rezipienten das Gute mit der herrschenden Ordnung gleichgesetzt. Die logische Schlussfolgerung ist, dass der Dienst am Guten, wonach sich jeder Menschen in seinem Innersten sehnt, in der täglichen Bablos-Produktion besteht.«

»Und eine solch primitive Form der Gehirnwäsche funktioniert tatsächlich?«, fragte ich.

»O-oh, junger Mann, so primitiv ist sie nun auch wieder nicht. Der Mensch ist komplizierter gebaut als eine Tomate, das sagte ich schon. Aber paradoxerweise erleichtert das die Aufgabe nur. Will man eine saftige Tomate haben, muss man ihr tatsächlich Musik in Dur anbieten. Beim Menschen genügt es zu behaupten, die Musik, die gespielt wird, sei in Dur, verzerrt allenfalls durch die Unzulänglichkeit des Interpreten, aber nur ein bisschen, und das gebe sich bald. Dann ist es vollkommen egal, was für Musik tatsächlich erklingt...«

Anschließend bekam ich den Sportleiter präsentiert. Das war einer von den munteren Muskelmännern im flockigen

Schaffellröckchen, wie mein Boxgegner es auch getragen hatte. Diese unglückliche Verquickung, die wir beide nicht zu ignorieren vermochten, führte dazu, dass unser Gespräch knapp und gezwungen ausfiel.

»Was hältst du von Fußball?«, fragte der Sportleiter und maß mich mit einem abschätzenden Blick.

Mir schien, er taxierte mit einer Art Röntgenblick den Muskelumfang unter meiner Kleidung. Zugleich spürte ich überdeutlich, dass die Wirkung des Todesbonbons verflogen war.

»Ach, wissen Sie«, formulierte ich behutsam, »wenn ich ganz ehrlich sein soll, kommt mir der Spielgedanke beim Fußball - ich meine: dieses Toreschießen - ein bisschen unnatürlich und gekünstelt vor.«

»Na dann spielst du eben Schach.«

Vom Schach hätte ich Ähnliches behaupten können, doch ich beschloss mich auf keinen Disput einzulassen.

Es gab noch eine Menge weiterer Bekanntschaften zu schließen, die Sache zog sich hin. Ich war freundlich zu den Masken, und sie waren freundlich zu mir, doch das argwöhnische Funkeln in den goldenen Augenhöhlen sagte mir, dass alles, was sich in diesem Saal abspielte, auf Angst und gegenseitigem Hass beruhte - Hass, der die Anwesenden genauso fest zusammenschweißte wie christliche Liebe oder der gemeinsame Besitz volatiler Aktien.

Manchmal glaubte ich irgendwelche Prominenten vorbeilaufen zu sehen; ich meinte irgendeine Frisur zu erkennen, die Art, wie jemand krumm ging, eine Stimme. Aber sicher war ich mir nie. Nur einmal hätte ich die Hand ins Feuer legen können, dass Professor Zereteli vor mir stand. Der Beweis lag für mich in der Raffinesse, mit der er sich den Heldenstern an die Chlamys gezwickt hatte: etwas schief, etwas zu hoch und irgendwie idiotisch, so dass man aus der

Entfernung einen rührend lebensuntüchtigen Geistesschaffenden vor sich zu haben glaubte. (Im Fernsehen hatte ich den Orden auf dieselbe Art am Revers seines Jacketts baumeln sehen.) Aber Enlil Maratowitsch geleitete mich stracks an ihm vorbei, und so blieb unklar, ob meine Mutmaßung richtig war.

Endlich war ich allen wichtigen Menschen vorgestellt, und Enlil Maratowitsch ließ mich allein. Ich sah schon einen Schwall von Anteilnahme und Aufmerksamkeit über mich hereinbrechen, aber nein: Man sah mich kaum an. Ich nahm mir einen Becher rot gefärbte Flüssigkeit mit Plastikstrohhalm vom Büfett.

»Was ist da drin?«, fragte ich einen zufällig in der Nähe stehenden Maskenträger.

»Muckefuck!«, brummte er verächtlich.

»He, was soll das heißen?«, brauste ich auf.

»Der Cocktail heißt so. Wodka mit Preiselbeersaft. In manchen Gläsern ist auch bloß Saft. Bei den Cocktails ist der Strohhalm angespitzt wie eine Injektionsnadel.«

Nach dieser Erläuterung ergriff er zwei Cocktails und trug sie zur anderen Seite des Saales hinüber.

Ich leerte einen Cocktail. Gleich noch einen. Dann lief ich einmal den Saal auf und ab. Keiner beachtete mich. Sic transit glamuria mundi, ging es mir durch den Kopf, während ich den vornehm dahinplätschernden Gesprächen ringsum lauschte. Man sprach über alles mögliche - Politik, Film, Literatur.

»Der schreibt schon cool«, sagte ein Chaldäer zum anderen. »Aber richtig geil ist das nicht. Geil ist was anderes. Ich finde ja, dass es richtig geile Schriftsteller in Russland momentan nicht gibt. Coole gibt’s im Endeffekt jede Menge, das werden immer mehr. Aber davon gabs ja immer genug, wenn Sie verstehen, was ich meine?«

»Natürlich«, erwiderte der andere, und man sah durch den Maskenschlitz seine Lider flattern. »Obwohl, ich meine, wenn es wirklich so ist, dass sie im Endeffekt cool sind, dann sind sie doch allein schon deswegen geil, oder?«

Es gab auch Chaldäer aus dem Westen im Saal; vielleicht waren sie zum Erfahrungsaustausch angereist. Ich hörte Fetzen von englischer Rede:

»Do Russians support gay marriage?«, wurde gefragt.

»Well, this is not an easy question«, erwiderte eine Stimme mit starkem russischem Akzent diplomatisch. »We are strongly pro-sodomy, but very anti-ritual ...«

Außerdem schienen ein paar Ölexperten im Saal zu sein, der Ausdruck »schwarze Flüssigkeit« war immer wieder zu hören. Ich kehrte zum Büfett zurück und trank meinen dritten Cocktail. Bald darauf besserte sich meine Stimmung.

Auf der Bühne lief derweil ein buntes Nummernprogramm. Die Vampire produzierten sich vor den Chaldäern als Laienkünstler - wohl um den bilateralen Beziehungen eine herzliche Note zu geben. Was aber nicht sonderlich gut gelang. Auch war an den Reaktionen zu erkennen, dass alle das Programm schon viele Male gesehen hatten.

Zuerst tanzte Loki einen Tango mit seiner Gummipuppe, die der Conferencier, ein hochgewachsener Chaldäer in roter Robe, aus irgendeinem Grund als Kult bezeichnete. Im Anschluss an die Nummer erklomm ein Grüppchen Chaldäer die Bühne und überreichte Loki ein Präsent für seine schweigsame Partnerin: eine in mehrere Lagen Goldpapier verpackte, mit roter Schleife dekorierte Schachtel. Das Auswickeln nahm einige Zeit in Anspruch.

Darin war ein Riesendildo - das »Herkulesglied«, wie die Teilnehmer der Aktion es titulierten. Der rosarote Gummihammer war seitlich beschriftet, man konnte es von Weitem lesen: Per aspera ad astra. Das konnte eine Antwort auf den unsterblichen Zweizeiler am Schenkel des Lehrmittels sein. Den Kommentaren der Umstehenden entnahm ich, dass sich auch diese Nummer von Jahr zu Jahr wiederholte. (Im vergangenen Jahr, erzählte jemand, sei der Dildo schwarz gewesen -eine gewagte Eskapade in dieser schwierigen Zeit...)

Dann betraten Mitra und Enlil Maratowitsch die Bühne. Sie spielten einen Sketch aus dem chinesischen Leben mit dem Kaiser Qianlong und einer verirrten Mücke als handelnden Personen. Enlil Maratowitsch war die Mücke, Mitra der Kaiser. In dem Sketch ging es darum, dass der Kaiser einen Mückenstich bemerkt, darüber in Wut gerät und der Mücke sämtliche Namen aufzählt, mit denen sie im Himmel und auf Erden geschmäht wird. Mit jedem Schimpfwort lässt die Mücke den Kopf noch mehr hängen - womit sie ihren Stechrüssel (die Teleskopantenne von einem alten Radioapparat, die sich Enlil Maratowitsch vor die Stirn hielt) immer tiefer in die kaiserliche Wade versenkt. Beim letzten Namen angekommen, will der Kaiser die Mücke plattschlagen, doch die hat ihr Werk bereit vollendet und ist glücklich davongeschwirrt. Diesem Gag wurde ehrlicher Beifall gezollt - woraus ich ersah, dass viele Geschäftsleute im Saal waren.

Dann in rascher Folge ein paar kurze Szenen und Dialoge, an denen sowohl Vampire als auch Chaldäer beteiligt waren. Zum Beispiel so etwas:

»Wir machen jetzt ein Menuett-à-trois, wie die Franzosen sagen«, verkündete ein Chaldäer.

»Kein Menuett, sondern eine Menage«, korrigierte ihn der Vampir.

»Ach?«, staunte der Chaldäer. »Nimmt man dazu Pfeffer und Salz?«

Im Saal wurde gehorsam gelacht. Einige Dialoge bezogen sich auf Filme, die ich gesehen hatte (»fortgeschrittener Postmodernismus«, wie ich jetzt wusste). Zum Beispiel dieser:

»Verlangt es Sie nach einer Geisha?«

»Geisha? Sind das die, die einen so angucken, dass man vom Fahrrad fällt?«

»Genau.«

»Vielen Dank. Wir wollen ficken und nicht von Fahrrädern fallen.«

Alsdann erklangen von der Bühne revolutionär-patriotische Gedichte im Geiste des frühen Jewtuschenko:

Nimm, Staatsanwalt, den Zoll nicht ins Visier!


Du triffst doch wieder nur ganz Russland!...

Und so bunt ging es weiter.

Mir taten die Füße weh, ich ließ mich auf einem Schemel an der Wand nieder. Ich war todmüde, die Augen fielen mir zu. Das Letzte, was ich noch in allen Einzelheiten mitbekam, war ein Animiertanz alter Herren - vier Chaldäer, denen ich nicht vorgestellt worden war. Sie tanzten einen wüsten Krakowiak (jedenfalls fiel mir wie von ungefähr dieses Wort dazu ein). Wie sie tanzten, war schwer zu beschreiben. Der klassische Tanz der kleinen Schwäne im Zeitraffer - bei dem die Schwänlein aber schon ahnen, dass es bei Tschaikowski nicht bleibt und am Ende Krakauer Blutwurst herauskommt. Noch pikanter wurde die Nummer dadurch, dass die Animateure als Teletubbies verkleidet waren; von den Masken ragten goldene Antennen in verschieden knubbeliger Form.

Schließlich folgten ein paar Gesangsnummern, die man guten Gewissens auch über längere Zeit mit geschlossenen Augen verfolgen konnte. Jehova trat mit der Gitarre vor das Mikrofon und ließ die Finger ein paar Mal über die Seiten gehen, ehe er mit erstaunlich schöner Stimme Grebenschtschikow sang:

Kennst du das Land, wo ewig grünt das Konzentrat,


Wo still in Lumpen hockt der letzte Renegat,


Wo Rosentränen Spiegel netzen, und zum Schwof


Paarn sich die Säulen auf dem Hinterhof? ...

Um welches Konzentrat es ging, war mir klar - ich kannte auch ein paar Stellen, wo es grünte ... Plötzlich schwebte eine Rose in einem endlosen Korridor aus zwei Spiegeln, und auf einmal kamen die grünen Säulen der Independence Hall auf der Rückseite des Hundertdollarscheins vom Portal gesprungen und tanzten einen wilden Tango, wie Loki und seine unterwürfige Gesellin ... Da schlief ich bereits.

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