DER BAUM DES LEBENS

Ich segelte so lange durch die Finsternis, dass nicht nur Ruhe einkehrte, sondern bereits Langeweile, und ich fror. Facilis descensus Averni, meinten die alten Römer, der Höllensturz sei sozusagen ein Selbstläufer. Die wussten Bescheid!, dachte ich. Die Kreise, die ich beschrieb, fügten sich zu einer quälend eintönigen Reise - wie der nächtliche Treppenabstieg in einem Hochhaus bei Stromsperre. Die Sohle des Schachtes ließ grausig lange auf sich warten.

Um mich abzulenken, rief ich mir in Erinnerung, in welchen Zusammenhängen mir ein Baum des Lebens schon begegnet war. Da war zunächst der, an dem der skandinavische Gott Odin hing, während er versuchte, hinter das Geheimnis der Runen zu kommen. Bestimmt hat er kopfunter gehangen, dachte ich mir ... Zweitens im gnostischen Apokryphon des Johannes; davon hatte es bei einer Verkostung zum Thema Regionalkulte einen Ausschnitt gegeben.

»Und ihre Wonne ist der Betrug«, repetierte ich vor mich hin, »ihre Frucht ist ein unheilbares Gift, und ihr Versprechen ist Tod. Den Baum ihres Lebens hatten sie in die Mitte ihres Paradieses gesetzt... Ich aber werde euch belehren, was das Geheimnis ihres Lebens ist... Des Baumes Wurzel ist bitter, und seine Zweige sind tot, sein Schatten ist Hass ... und Begierde ist sein Samen, und er sprießt in der Finsternis ...«

Ein Baum, der in der Finsternis sprießt - eine hübsche, makabre Vorstellung. Auch seine Früchte waren der Tod, wenn ich mich recht entsann. Die Anhäufung von Horror in dieser Beschreibung jagte mir keinen sonderlichen Schrecken ein. Der Mensch im Altertum hat sich nun mal vor vielem zu Tode gefürchtet - Dingen auch, die längst Teil unseres Alltags geworden sind.

Der Schacht weitete sich. Ich überlegte, wie solch eine bizarre geologische Formation wohl entstanden sein konnte. Enlil Maratowitschs Haus stand am Hang - vielleicht war es der Krater eines sehr alten Vulkans? Obwohl: Moskau auf Vulkanen erbaut, was für eine bescheuerte Idee. Vielleicht durch Meteoriteneinschlag? ... Genauso gut konnte der Schacht natürlich künstlich in den Berg getrieben worden sein.

Endlich witterte ich Grund. Näher auf einmal als erwartet - der Schachtquerschnitt bewirkte eine Verzerrung meines Ortungssignals, da es zwischen den Wänden vielfach hin- und hergeworfen wurde. Unten stand Wasser, ein kleiner runder See. Das Wasser war warm, es dampfte; das schloss ich aus der veränderten Luftdichte. Ich erschrak: Nass zu werden oder gar zu ersaufen lag nicht in meiner Absicht. Tiefer kommend, gewahrte ich jedoch eine dreieckige Mulde in der Wand: Dort, knapp über der Wasserfläche, war der Eingang zu einer Höhle. Ein möglicher Landeplatz.

Im ersten Anflug ging es schief. Ich streifte mit den Flügeln das Wasser und wäre um ein Haar in den See geplumpst. So musste ich erst wieder an Höhe zulegen, um das Manöver zu wiederholen. Diesmal klappte ich die Flügel zu früh ein; die Landung auf dem Felsvorsprung war hart und schmerzhaft.

Wie schon beim letzten Mal riss der Aufprall der Fäuste auf dem kalten Stein mich aus dem Traum - und zugleich aus dem Fledermauskörper. Ich stellte mich auf die Füße.

Das Dunkel um mich her war feuchtwarm, geradezu schwül. Es roch nach Schwefel und noch irgendeinem Mineral, ein bisschen wie in den kaukasischen Heilbädern, wo ich als kleines Kind zur Kur gewesen war. Der Höhlenboden war buckelig, loses Gestein lag umher, es empfahl sich, behutsam seine Schritte zu setzen, mit dem Fuß vorzufühlen. In der Tiefe der Höhle gab es einen Lichtschein, seine Quelle war nicht zu sehen.

Dort angekommen, bog ich um die Ecke - und traute meinen Augen nicht.

Vor mir lag ein Hohlraum von gigantischen Ausmaßen, ein unterirdischer Saal in gleißendem Licht. Die Scheinwerfer strahlten so grell, dass sie die Höhle eher verbargen als erleuchteten, der Eintretende war völlig geblendet. Auch die Decke ließ sich kaum ausmachen, so hoch war sie.

Inmitten der Halle erhob sich eine gewaltige Konstruktion, zu der ein langer Metallsteg hinführte. Für den Moment dachte ich, es wäre eine überdimensionale Pflanze, irgendein haushoher Stachelkaktus, eingerüstet und mit schwarzen Lappen verhängt. Auch an eine fassförmige Trägerrakete auf der Startrampe hätte man denken können. (Die Vielzahl von Leitungen und Kabeln, die von ihr ins Dunkle verliefen, hätte dazu gepasst.) An der Spitze des Kolosses prangten zwei riesige senkrechte Metallringe, die in die Höhlendecke eingelassen waren.

Ich lief los. Die Sohlen klapperten dröhnend über das Metall und kündigten mein Erscheinen an. Aber keiner hieß mich willkommen, im Gegenteil: Weiter vorn gewahrte ich ein paar dunkle Gestalten, die das Weite zu suchen schienen. Es schienen mir verschleierte Frauen in hochgeschlossenen Kleidern zu sein, fernöstlichen Trachten vielleicht. Ich rief ihnen nicht hinterher; wenn sie gewollt hätten, wären sie auf mich zugekommen. Vielleicht war es rituelle Vorschrift, sich von anderen fernzuhalten.

Ich lief noch zehn Meter und blieb stehen.

Nun sah ich es: Das eingerüstete, von Rohrleitungen umwundene Riesenfass ... atmete. Es lebte! Und in meiner Wahrnehmung vollzog sich eines jener kleinen Blitzwunder, wenn der Verstand urplötzlich aus einer Anhäufung willkürlich erscheinender Linien ein sinnvolles Bild konfiguriert.

Ich erkannte eine riesige, dem Anschein nach bandagierte und von einer Vielzahl Klammern und Stützen gehaltene Fledermaus. Ihre Pfoten, die aussahen wie die umgekehrten Pfeiler eines Turmkrans, umkrallten zwei mächtige, tief im Gestein der Decke verankerte Kupferringe. Die Flügel waren mit Seilen und Trossen an den Körper gezogen. Den Kopf sah ich nicht - er musste sich, wenn man den Körperproportionen folgte, in einer Grube, deutlich tiefer als der Fußboden, befinden. Ihr Atem ging wie von einer großen Pumpe betrieben.

Sie war alt. So alt, dass ihr Geruch eher geologisch als biologisch einzuordnen war (daher meine Assoziation eines Schwefelbades). Sie sah unwirklich aus - wie ein in die eigenen Flossen gewickelter, in ein Korsett gehängter Wal. Ein Anblick, wie der Phantasie eines Haschisch rauchenden surrealistischen Malers aus dem vorigen Jahrhundert entsprungen ...

Ganz dicht an die Maus heranzugehen war nicht möglich -sie war von Wachposten umgeben. Der Steg, auf dem ich lief, endete vor einem in den Fels gehauenen, abwärts führenden Tunnel. Behutsam schritt ich die glitschigen Stufen hinab und stand vor einem von Halogenlicht erhellten Gang, der an Kohlestollen erinnerte, wie man sie aus Fernsehreportagen kennt: gestützt von Eisenprofilen, ein Gewirr schwarzer Kabel auf dem Boden. Ein sachter Wind fächelte mir übers Gesicht - die Ventilation arbeitete.

Ich nahm den Gang in Angriff. Er führte mich alsbald in einen runden Raum, der zur Gänze aus dem Felsmassiv herausgehauen war. Der Raum schien sehr alt. Die Decke war verrußt, der Ruß, in den Stein eingedrungen, schmierte nicht mehr. An den Wänden gab es Ockerzeichnungen, runenförmige Krakel und Umrisse von Tieren. Rechts vom Eingang hob sich dunkel eine fensterartige Vertiefung ab. Davor stand ein primitiver Altar, nur aus einer Steinplatte bestehend. Auf ihr eine Ansammlung von Artefakten: Terrakottascheiben, grob getöpferte Becher und eine Menge gleichförmiger Statuetten - feiste Frauenfiguren mit winzigem Kopf, Riesenbrüsten und ausladendem Gesäß. Manche aus Bein geschnitzt, manche aus gebranntem Ton.

Ich drehte eine der Lampen so, dass das Licht in die Nische hinter dem Altar fiel. Dort war ein Stück Fell gespannt. In dessen Mitte baumelte ein menschlicher Schrumpfkopf mit langen grauen Haaren. Vollkommen ausgedörrt, doch ohne jegliche Anzeichen von Verfall.

Mir wurde beklommen zumute. Schnell kehrte ich zurück auf den Gang und lief weiter. Nach wenigen Metern geleitete er mich in einen ganz ähnlichen Raum - auch hier eine Nische mit Fell und mumifiziertem Menschenkopf darauf. Den Altar zierten Bergkristalle, irgendwelche unidentifizierbaren Fossilien und bronzene Speerspitzen. Die Wände waren mit einem komplizierten Ornament bemalt.

Dahinter lag ein weiterer solcher Raum. Dann noch einer und noch einer. Es waren sehr viele; zusammen erschienen sie wie der Rundgang durch ein Geschichtsmuseum unter dem Motto »Vom Urmenschen bis in unsere Tage«. Äxte und Messer aus der Bronzezeit, zu Rost zerfallenes Eisenzeug, Münzfunde, Zeichnungen an den Wänden - ich hätte mich alledem bestimmt eingehender gewidmet, wären nicht diese Köpfe gewesen, die da hingen wie verschrumpelte Monsterkirschen. Sie hypnotisierten mich. Bald schon zweifelte ich, ob sie überhaupt tot waren. »Ich bin ein Vampir, ich bin ein Vampir«, versuchte ich mir einzuflüstern und so meiner Furcht Herr zu werden, »ich bin hier der Furchtbarste weit und breit, keiner ist furchtbarer als ich ...«

Aber ich fand das selbst nicht sehr überzeugend.

Mehr und mehr Möbel tauchten in den Räumen auf, Bänke und Truhen vor allem. An den Köpfen hinter den Altären glänzte Schmuck in immer kunstvollerer Ausführung: Ohrringe, Halsketten, goldene Kämme. Einmal auch eine Kette aus kleinen Münzen. Ich blieb stehen, um sie näher zu betrachten. Da geschah es, dass der Kopf mir zunickte.

Das war mir bis dahin schon ein paarmal so vorgekommen, doch hatte ich es immer für eine Täuschung gehalten, ein Spiel von Licht und Schatten. Diesmal sagte mir das Klingeln der Münzen, dass Licht und Schatten nichts damit zu tun hatten.

Ich bezwang mich und trat näher zu der Nische hin. Der Kopf zuckte schon wieder, und ich sah, dass die Bewegung aus dem Fell kam, an dem er hing. Und plötzlich begriff ich, was das war: Es war der Hals jener gigantischen Fledermaus drüben im Saal, gesehen durch ein Loch in der Wand.

In den gnostischen Quellen, so entsann ich mich, war ein löwengesichtiger Drache erwähnt, ein hochgestelltes dämonisches Wesen, Fürst dieser Welt. Hier war es umgekehrt: Die Riesenmaus hatte einen Drachenhals, der wie ein Wurzelstock mit dem Felsen verwachsen schien. Vielleicht waren es auch mehrere Hälse. Jedenfalls war ich um einen solchen herum durch eine in den Felsen gehauene Galerie gelaufen. Dort, wo der Hals blank lag, befanden sich die Altarräume.

In ihnen gab es viel Sonderbares und Bemerkenswertes zu sehen. Die chronologische Folge war nicht immer eingehalten: Hinter einer Sammlung wertvoller Waffen und Pferdegeschirre, die vermutlich der Goldenen Horde zuzuordnen war, folgte ein Raum mit Reliquien ägyptischen Ursprungs, ich kam mir vor wie in der Grabkammer einer Pyramide (Gebrauchtgötter; ihre Gesichter von vielen Narben verunstaltet). Besonders imponierend ein Raum, der mit Goldplatten ausgekleidet war, die kirchenslawische Inschriften trugen - beim Hindurchgehen hatte ich das Gefühl, in einen Altgläubigentresor geraten zu sein. Ein anderer überraschte mit einem goldenen Pfau, der smaragdene Augen und einen vergammelten Schwanz hatte. (Zwei solcher Pfauen hatten einmal den byzantinischen Thron flankiert - vielleicht war es einer davon.)

Allmählich verstand ich, wie die chronologischen Sprünge zustande kamen: Viele Räume hatten zwei oder drei Ausgänge, dahinter befanden sich weitere Zimmerfluchten mit Altären, wo jedoch kein Licht war; allein der Gedanke, dort hindurchzuspazieren, machte mir Angst. Die Lampengirlande war anscheinend den kürzesten Weg zum Ziel entlang verlegt.

Die Altarräume strahlten eine unterschiedliche Stimmung aus. Es gab die düstere, mönchische Variante; andere ließen eher an Boudoir und Adelsfräulein denken. Die Frisuren der Schrumpfköpfe wurden zusehends raffinierter. Perücken kamen vor und Make-up auf der runzligen Gesichtshaut. Auffälligerweise war kein einziger männlicher Kopf darunter.

Je tiefer ich in die steinerne Galerie vordrang, desto mulmiger wurde mir: Das Ende der Expedition rückte unweigerlich näher, daran ließ der mähliche Kulissenwechsel keinen Zweifel. Längst war mir klar, was mich am Ende der Exposition erwartete: ein lebendiger Kopf, die »wellenlängenproportionale« Antenne, von der Enlil Maratowitsch gesprochen hatte.

Die Altarräume des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts glichen kleinen Museumssälen: viele Gemälde, Schreibsekretäre vor den Wänden und auf den Altären irgendwelche dicken Folianten mit Goldprägung.

Der Raum, den ich auf das frühe zwanzigste Jahrhundert datierte, schien mir der eleganteste von allen zu sein: schlicht und geschmackvoll eingerichtet, mit zwei großen Bildern an der Wand, die Fenster zu imitieren schienen; der Blick ging in den Garten, auf blühende Kirschbäume. Die Bilder fügten sich hervorragend in den Raum ein, die Illusion war perfekt -besonders vom Altar her, wo der Kopf hing. Dieser erschien ausdruckslos, nur ein paar aufgefädelte Perlen, die Frisur schlicht. Auf der Altarplatte stand ein zerschossenes weiß emailliertes Telefon, daneben lag ein korallenrotes Pfeifenmundstück. Bei näherem Hinsehen entdeckte ich die Einschusslöcher in Möbeln und Gemälden. Auch an der Schläfe des Graukopfes fand sich eine seltsame Narbe - es konnte aber auch ein längliches Muttermal sein.

Im ersten sowjetischen Raum übernahm eine über zwei Schemel gelegte Tür die Funktion des Altars. Auch auf ihr stand ein Telefon: schwarz, mit hoher Gabel und einer Kurbel an der Seite wie bei einem Autoanlasser. Der Raum war beinahe ganz leer. Fahnen in den Ecken und gekreuzte Säbel an der Wand als einziger Schmuck. Dafür gab es in der Altarnische gleich zwei Köpfe zu sehen - einer hing in der Mitte, der andere einsam und verwaist in einer Ecke. Neben dem Altar stand ein mit roter Schleife umwundener Trauerkranz -genauso vertrocknet wie die Köpfe dahinter.

Im nächsten Raum diente als Altar ein massiver Büroschreibtisch. Darauf ein Stapel Pappordner, mit Akten gefüllt. Wieder gab es ein Telefon, diesmal aus schwarzem Ebonit, Ruhe und Verlässlichkeit ausstrahlend. Längs der Wände standen Bücherschränke, die Borde voll mit gleichförmigen braunen Bänden. In der Altarnische fehlte der Kopf. An seiner Stelle ragten altmodische, mit Isolierband umwickelte Plastikrohrstutzen aus dem Fell.

Dafür war der letzte Raum ein wahres Museum spätsowjetischer Alltagskultur. Eine Unmenge an Dingen hatte hier Platz gefunden: klobige Kristallvasen und Römergläser auf Ansichten, Wandteppiche, Nerzpelzmäntel auf Kleiderbügeln, ein riesiger tschechischer Kronleuchter an der Decke ... In einer Ecke stand ein truhenartiger Farbfernseher mit Staubschicht, und mitten auf dem Altartisch, zwischen alten Zeitungen und Photoalben, war wieder ein Telefon platziert - diesmal aus weißem Plastik, mit dem Staatswappen der UdSSR auf der Wählscheibe. Einen Kopf gab es auch, einen ganz gewöhnlichen, unauffälligen Schrumpfkopf mit Haarknoten, hennagefärbt, und fetten Ohrringen mit Rubinen.

Weiter ging es nicht. Der realsozialistische Saal, wie ich diesen Altarraum für mich getauft hatte, endete in einer Stahltür. Daran hing ein Schild mit reichlich Patina und putzig altmodischen Prägebuchstaben:

Große Maus

Ich entdeckte einen Klingelknopf an der Wand. Ein Weilchen trat ich unschlüssig von einem Bein auf das andere, dann klingelte ich.

Eine halbe Minute verging. Es klackte im Schloss, und die Tür ging ein paar Millimeter auf, aber nicht weiter. Wieder tat sich eine Weile lang nichts. Ich legte das Ohr an den Spalt.

»Macht hin, Mädels!«, hörte ich eine heisere Frauenstimme mahnen. »Habt ihr euch endlich versteckt? Hinter den Schirm, hab ich gesagt!«

Ich klingelte noch einmal.

»Ja doch!«, rief die Stimme. »Komm rein, es ist offen!«

Ich trat ein und zog die Tür vorsichtig hinter mir zu.

Der Raum war ungefähr so groß wie die vorigen, erschien aber größer, weil er eurorenoviert war. (Kein anderer als dieser obskure Begriff passte besser.) Die Wände weiß gestrichen, der Boden mit großen Sandsteinfliesen ausgelegt, kurz: wie eine Moskauer Stadtwohnung für mittleres Einkommen. Nur die Einrichtung sah teurer aus, Designermöbel, dafür wenige: ein rotes Sofa und zwei blaue Sessel. Gegenüber dem

Altar (zu dem hinzuschauen ich noch nicht über mich brachte) hing ein Flachgroßbildschirm an der Wand. Seitlich stand ein Bambusparavent, den ein französischer Nachthimmel à la van Gogh zierte - also wie eine größere Anzahl umgekippter, lichterloh brennender Kleinwagen in der Bodenlosigkeit des Firmaments. Hinter diesem Schirm wohl war den »Mädels« sich zu verstecken befohlen.

»Sei gegrüßt!«, sprach eine freundliche Stimme. »Warum wendest du dich ab? Schau mich an, hab keine Angst! ... Ich seh nicht aus wie Xenia Sobtschak, ich seh aus wie Jegor Gaidar mit Titten. Ha, ha, nur ein Scherz ... Ob du vielleicht mal auf schauen würdest?«

Ich schaute auf.

Der Altarnische hatte die Eurorenovierung ebenso ihren Stempel aufgedrückt. Selbst das Fledermausfell hatte in Wandnähe weiße Latexstreifen abbekommen.

Aus der Mitte der Nische lächelte ein weibliches Gesicht -mit Spuren vergangener Schönheit, wie man so sagt. Der Kopf sah aus wie fünfzig, war aber vermutlich weit älter; selbst mir, der ich für solche Dinge kaum ein Auge hatte, fielen die Spuren zahlreicher kosmetischer Prozeduren und Verjüngungsspritzen auf. Nur der Mund lächelte, die Augen, von maskenhafter Haut umgeben, schauten skeptisch und besorgt.

Der Kopf war extrem aufwendig frisiert: eine Kombination aus »Komm-rauch-ein-Tütchen-mit«-Rastafari-Look und dem kalten Glamour einer Schneekönigin. Zuunterst schaukelte ein Büschel scheckiger Dreadlocks, in die Freundschaftsbänder und Glasperlen verschiedenen Kalibers eingeflochten waren; weiter oben waren die Haare zu einer Art Fächer gesteckt, aus vier Pfauenfedern, konnte man meinen; ein Netz aus Goldfäden und -kettchen hielt das Ganze zusammen, ein funkelndes Vieleck, das einer Krone gleichkam. Welch eine Frisur! In Aliens vs. Predators, auf dem Kopf einer dieser bissigen kosmischen Muttersäue, hätte sie sich gut gemacht, befand ich. Zu dem müden, aufgequollenen Gesicht passte sie eher nicht.

»Tritt näher! Komm zu Mama!«, gurrte der Kopf. »Lass dich ansehen!«

Ich trat dicht vor sie hin, und wir küssten uns dreimal nach russischer Sitte knapp neben den Mund, die Lippen absichtsvoll verfehlend.

Ich staunte, wie beweglich der Kopf trotz allem war: Kaum war er von der einen Seite herangeflogen, näherte er sich schon von der anderen und war sogleich wieder in die Ausgangslage zurückgeschnellt. Ich kam mit den Augen nicht hinterher.

»Ischtar Borissowna«, stellte der Kopf sich vor. »Du darfst mich einfach Ischtar nennen. Das erlaube ich nicht jedem, musst du wissen. Nur den Allerschmuckesten, hi-hi ...«

»Rama der Zwote«, erwiderte ich.

»Weiß ich doch. Setz dich. Nein, warte. Erst kippen wir einen kleinen Kognak auf unsere Bekanntschaft.«

»Ischtar Borissowna, Sie haben genug für heute!«, meldete sich eine strenge Mädchenstimme von hinter dem Schirm.

»Wie denn, was denn, auf die Bekanntschaft, oder etwa nicht? Fünf Gramm pro Nase. Bleib, wo du bist, der junge Mann ist mir behilflich.«

Dabei deutete der Kopf in Richtung Altartisch.

Dort herrschte heillose Unordnung: Auf der Marmorplatte stapelten sich die bunten Zeitschriften, dazwischen standen Kosmetikartikel und Flaschen teuren Alkohols wild durcheinander. Mitten in all dem Chaos lag ein kompaktes, schweres Notebook - eines dieser teuren DeskNote-Spielzeuge. Die Druckerzeugnisse auf dem Tisch waren übrigens nicht nur reine Glamourware: Garten und Grundstück war darunter und Schöner wohnen in Moskau.

»Da steht der Kognak«, sagte Ischtar. »Und dort sind Gläschen. Nein-nein, die sind sauber ...«

Ich nahm die Flasche Hennessy X0 vom Tisch, die in der Form den steinernen Figurinen auf dem allerersten Altar nicht unähnlich war, und schenkte den Kognak in die Kristallpötte aus, die der Kopf Gläschen genannt hatte. Mir kamen sie eher wie Vasen vor - der Inhalt der Flasche ging beinahe ganz hinein. Aber es gab keine Proteste.

»Na dann«, sagte Ischtar. »Stoß erst mal mit dir selber an ... und dann hilf Mama ...«

Ich brachte die Gläser zum Klingen und streckte eines nach vorn, dann wusste ich nicht weiter.

»Kipp doch! Nur keine Bange ...«

Ich neigte das Glas nach vorn. Der Kopf tauchte gewandt darunter und fing den gelbbraunen Strahl auf - kein Tropfen ging daneben. Luftbetankung! fiel mir ein. Anstelle eines Halses hatte Ischtar einen muskulösen, pelzigen Stiel von einem guten Meter Länge, der für die Ähnlichkeit mit einem zappelnden Baumpilz sorgte.

»Setz dich doch!«, sagte sie und nickte zu einem der blauen Sessel hin, der in Altarnähe stand. Ich ließ mich auf die Kante nieder, nippte am Kognak und stellte das Glas auf den Tisch.

Der Kopf schmatzte ein paarmal und schloss versonnen die Augen zu einem schmalen Spalt. Ich hatte nun schon ausreichend Erfahrung im Umgang mit Vampiren, um zu wissen, was dieses Gebaren bedeutete. Fuhr mit der Hand über meinen Hals, betrachtete sie - und siehe da, eine winzige Blutspur zeichnete sich ab. Offenbar hatte Ischtar beim Begrüßungskuss die Gelegenheit genutzt. Nun klappte sie die Augen wieder auf und schaute mich groß an.

»Wissen Sie«, entfuhr es mir, »ich mag es nicht, wenn man mich ...«

»Aber ich mag es!«, fiel sie mir ins Wort. »Besonders zum Kognak. Ich darf das ... Also, grüß dich, Rama. Alias Roma. Hast eine schwere Kindheit gehabt. Mein armer Junge!«

»Wieso?«, fragte ich irritiert. »Eine Kindheit wie jede andere ...«

»Richtig, wie jede andere«, sagte Ischtar. »Das ist es ja. Kinder haben es in unserem Land immer schwer. So werden sie auf das Erwachsenenleben vorbereitet. Und das wird dann so hammerhart, das glaubt man nicht...«

Ischtar seufzte und schmatzte schon wieder. Ob das dem Kognak galt, meiner roten Flüssigkeit oder beidem, ließ sich schwer einschätzen.

»Dir behagt es nicht, ein Vampir zu sein, Rama«, stellte sie fest.

»Aber nein, wieso«, protestierte ich. »Ist schon toll ...«

»Wenn es toll wäre, würdest du anders leben. Du würdest jeden Tag so leben, dass ein fröhliches Halloweenfest herauskommt. So wie dein Freund Mitra zum Beispiel. Du dagegen ... Du hast erst vorgestern Nacht wieder über die Seele nachgegrübelt, stimmts?«

»Stimmt«, gab ich zu.

»Seele, was soll das sein?«

»Weiß ich nicht ... Das haben mich meine Leute auch schon gefragt.«

»Und wie kannst du über etwas nachdenken, von dem du nicht weißt, was es ist?«

»Das sehen Sie doch.«

»In der Tat ... Sag bloß, über den Sinn des Lebens denkst du auch manchmal nach?«

»Manchmal schon«, sagte ich verlegen.

»Darüber, wo die Welt herkommt? Und über Gott?«

»Kam vor.«

Ischtar schob die Unterlippe nach vorn, so als wüsste sie nicht, was sie von mir denken soll. Auf ihrer glatten Stirn erschien eine kleine Falte, die sich aber bald wieder glättete.

»Im Grunde kann ich dich verstehen«, sagte sie. »Ich mache mir ja auch so meine Gedanken. Besonders in letzter Zeit ... Aber ich habe wenigstens Anlass dazu. Konkreten Anlass. Und du? Bist doch noch jung und solltest dich des Lebens freuen! Was sollen wir Pensionäre dazu sagen!«

Das war die Art, wie gewisse alte Damen redeten, die unter Stalin geboren waren und immer noch einen Sprengsatz an verordnetem Optimismus in sich trugen, wie er dem Schulkind in die verschreckte Seele eingetrichtert worden war. Früher hatte ich die Brandblasen davon für Spuren eines Feuers aus göttlichem Funken gehalten. Seit dem Verkostungsprogramm war ich klüger.

Ischtar schaute erst auf mein Glas, dann auf mich, zog ein erbostes Gesicht und nickte dabei in Richtung des Paravents, dann kniff sie ein Auge zusammen und setzte ein breites Lächeln auf. Die Pantomime dauerte kaum länger als eine Sekunde - die Grimassen kamen Schlag auf Schlag, es sah aus wie ein nervöser Tick.

Mir war schnell klar, was von mir verlangt war. Ich stand auf, ergriff mein Glas, und wir wiederholten die Prozedur der Luftbetankung. Dabei gab Ischtar keinen Laut von sich, der den hinter dem Schirm Sitzenden verraten hätte, was vor sich ging. Ich nahm wieder Platz. Ischtar zog eine Leidensmiene und stieß lautlos Luft aus.

»Nun ja«, sprach sie dann. »Als Göttin habe ich auf diese Fragen leider auch keine gescheite Antwort. Weil ich mehr so eine Schmalspurgöttin bin. Aber ich gebe dir den Rat, den Vampir Osiris aufzusuchen. Er ist der Hüter der Überlieferung. Sag, dass du von mir kommst. Er kann dir alles erklären.«

»Und wie finde ich ihn?«

»Frag halt irgendwen. Nur Enlil darfst du nicht auf ihn ansprechen. Er ist sein Bruder, und sie sind seit vielen Jahren zerstritten ... Mit mir ist Osiris übrigens auch über Kreuz, wenn man so will.«

»Worüber ging denn der Streit?«

»Gestritten haben wir eigentlich gar nicht. Er hat den Kontakt zu mir abreißen lassen. Er ist Tolstoianer.«

»Tolstoianer?«

»Ja. Weißt du nicht, was das ist?«

»Ehrlich gesagt, nein. Davon höre ich zum ersten Mal.«

»Tolstoianer gibt es unter den Vampiren seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Damals war der Weg des Grafen Tolstoi sehr in Mode. Vereinfachung des Lebens. Mitgefühl mit dem Los der einfachen Leute, zurück zur Natürlichkeit und so weiter. Einige von uns wurden mitgerissen und frönten der Einfachheit. Aber was hat Einfachheit bei einem Vampir zu bedeuten? Sie beschlossen, kein Bablos mehr zu saugen, sondern natürliche rote Flüssigkeit. Ohne Schlachtungen, das war man sich als Tolstoianer schuldig ... Von denen sind nicht mehr viele übrig, aber Osiris ist einer davon.«

»Und wie kam er dazu?«

Ischtar verzog das Gesicht.

»Die Drogen haben ihn dazu verführt, wenn du mich fragst. Drogen und allerlei dumme Bücher. Bei ihm kann man sich dusslig reden. Er vernebelt einem das Hirn nicht schlechter als Enlil, nur von der anderen Seite ...«

Sie lachte. Mir schien, der Kognak begann sich bemerkbar zu machen.

»Bablos, was ist das?«, fragte ich.

»Hat Enlil dir nichts darüber erzählt?«

»Angefangen hat er damit. Lebenskraft, die der Mensch in den Äther abstrahlt, sobald er an Geld denkt. Aggregat

M5. Aber er sagte, den Rest bekäme ich ... hier zu hören. Falls man mich für würdig befände.«

»Für würdig befände, ach Gott!«, prustete Ischtar. »Bei ihm ist immer alles doppelt und dreifach versiegelt. Ich hab vor niemandem Geheimnisse. Frag, was du wissen willst.«

»Bablos - was ist das überhaupt für ein komisches Wort?«

»Ein sehr altes. Vielleicht das älteste überhaupt, das sich bis in unsere Tage erhalten hat. Es hat dieselbe Wurzel wie das Wort Babylon und geht zurück auf das akkadische babilu, das heißt: Gottes Tor. Bablos ist das geheiligte Getränk, das die Vampire zu Göttern macht.«

»Und von daher haben auch wir unsere Namen?«

»Jawohl. Manchmal sagen wir zu Bablos auch rote Flüssigkeit. Und Enlil drückt sich gelehrt aus und sagt Aggregat M5 dazu beziehungsweise: ultimativer Geldzustand. Kondensat menschlicher Lebenskraft.«

»Bablos trinkt man?«

»Nein. Getrunken wird Kognak. Bablos wird gesaugt. In kleinsten Mengen.«

»Jetzt mal langsam«, sagte ich. »Da scheint mir einiges durcheinanderzugehen. Enlil Maratowitsch sagt, rote Flüssigkeit wäre die korrekte Bezeichnung für menschliches ... äh ...«

»Blut. Vor mir kannst du.«

Leicht gesagt. Es kam mir schon nicht mehr so ohne Weiteres über die Lippen.

»Er sagt, Vampire würden keine rote Flüssigkeit mehr trinken, seit sie den Menschen gezüchtet haben und ihn Geld produzieren lassen.«

»Alles ganz richtig«, sagte Ischtar. »Aber wir sind Vampire und bleiben es. Ganz kommen wir vom Blut nicht los. Sonst verlören wir ja auch unsere Wurzeln und unsere Identität. Was ist denn Geld? Es ist das symbolische Blut der Welt.

Auf ihm baut sich alles auf, bei den Menschen genau wie bei uns Vampiren. Aber die Bauwerke sind nichtsdestoweniger verschieden. Denn während wir in der Wirklichkeit leben, stecken die Menschen in einer Welt der Illusionen.«

»Und warum? Sind die denn alle blöd?«

»Sind sie nicht. Die Welt ist einfach so eingerichtet. Der Mensch kommt auf die Welt, um Bablos aus konzentriertem Glamour zu produzieren. Auch wenn es zu verschiedenen Zeiten verschieden geheißen hat - die Formel des Menschenschicksals ist seit Jahrtausenden dieselbe.«

»Was für eine Formel ist das?«

»Illusion—>Geld—>Illusion. Weißt du, was die Menschenart unter allen biologischen Wesen hauptsächlich auszeichnet? Menschen jagen unentwegt Schimären nach, die in ihren Köpfen entstehen. Und aus unerfindlichen Gründen suchen sie nach ihnen nicht bei sich im Kopf, wo sie entstehen, sondern in der realen gegenständlichen Welt, auf die diese Schimären projiziert werden. Und erst wenn sich diese Projektionen auflösen, hält der Mensch inne und staunt: Nanu, was war das denn? Wo bin ich und wieso und was nun? Und so ergeht es regelmäßig nicht nur einzelnen Leuten, sondern ganzen Zivilisationen. Das Leben in der Illusion ist für den Menschen so normal und selbstverständlich wie für einen Heuschreck, auf der Wiese zu sitzen. Denn die menschliche Illusion ist der Rohstoff für unser Bablos ...«

Es reicht langsam mit diesem Heuschreck!, dachte ich. Die ständigen Bemühungen altgedienter Vampire, mir etwas in einer für mich verständlichen Sprache zu erklären, waren doch sehr ermüdend.

»Und was bedeutet es, in der Wirklichkeit zu leben?«, fragte ich.

»Das hat Graf Dracula sehr schön gesagt: Image ist nichts. Durst ist alles.«

»Haben die Vampire auch eine Schicksalsformel?«

»Aber ja: Rote Flüssigkeit—>Geld—>Rote Flüssigkeit. Oder weniger politisch korrekt ausgedrückt: Blut—>Geld—>Bablos. Mit der roten Flüssigkeit ist die des Menschen gemeint. Bablos hat nichts Menschliches mehr.«

»Und warum sagt man dann sowohl zu Bablos als auch zum ... Saft des Menschen rote Flüssigkeit?«

»Weil es dasselbe ist, nur auf verschiedenen Windungen der dialektischen Spirale. Es stimmt nicht nur farblich überein, sondern auch in der Substanz. So wie meinetwegen Bier und Kognak ...«

Beim letzten Wort ging ihr Blick zum Tisch und zu mir zurück, dabei zwinkerte sie verschwörerisch. Bemüht, jedes Klirren zu vermeiden, goss ich ihr den Rest Hennessy XO ins Glas und von da dem Kopf in den Mund. Wieder tauchte sie mit großem Geschick darunter und ließ nicht einen Tropfen zu Boden gehen.

In welchen Bahnen der getrunkene Kognak sich verlor, war nicht zu erkennen. In Ischtars Hals musste es eine Art Kropf geben. Der Alkohol zeigte nunmehr deutliche Wirkung. Ihr Gesicht war gerötet; hinter den Ohren traten chirurgische Narben hervor, die vorher nicht zu sehen gewesen waren.

Ein unsichtbares weibliches Wesen hinter dem Schirm hüstelte vielsagend. Ich beschloss, Ischtar keinen Schnaps mehr zu geben.

»Der Unterschied liegt in der Konzentration«, fuhr Ischtar fort. »Der Mensch hat fünf Liter rote Flüssigkeit in sich. Bablos lässt sich aus ihm im Laufe eines Lebens höchstens ein Gramm gewinnen. Du verstehst?«

Ich verstand.

»Und das auch nur bei einem weißen Protestanten in den USA. Unsere Russen geben viel weniger ... Aber vielleicht kann ich dir was anbieten. He, Mädels, haben wir Bablos im Haus?«

»Nein!«, ertönte eine Mädchenstimme von hinter dem Paravent.

»Da hast dus«, sagte Ischtar. »Der Schuster geht barfuß. Ich bin es, die das Zeug macht, und hab doch keins.«

»Wie machen Sie es?«

»Musst du unbedingt die komplette Technologie wissen? Willst mir unter die Röcke kriechen, was? Das Bablos ist die Milch, die ich gebe ...«

Anscheinend gelang es mir schon wieder nicht, meine Gefühle ganz unter Kontrolle zu halten. Ischtar lachte. Ich biss mir auf die Lippe, setzte eine ernste, ehrerbietige Miene auf. Das erheiterte sie noch mehr.

»Enlil hat dir doch das Bild auf dem Dollar gegeben«, sagte sie. »Das mit der einäugigen Pyramide. Da hast du die ganze Technologie. Und mein sinnbildliches Porträt noch dazu. Jetzt nicht mein ganz persönliches, aber das von jeder Ischtar in jedem beliebigen Land ...«

»Sie sind mir sympathischer«, warf ich ein.

»Danke. Die Pyramide steht für den Leib der Göttin, in dem das Bablos kondensiert wird. Das Auge im Dreieck verweist auf einen austauschbaren Kopf, weshalb der Kontakt zu den Menschen nach jeder Katastrophe, jeder gravierenden Veränderung ihrer Welt, jedem: Ausmisten den Stall, aber richtig! wiederaufgenommen werden kann. Das Auge ist losgelöst von der Pyramide, darum ist den Vampiren egal, woran die Menschen in hundert Jahren glauben werden und welche Scheine dann in ihrer Welt in Umlauf sind, Dollar oder Dinar. Wir sind wie Tiefseefische. Kein Hurrikan an der Oberfläche kann uns schrecken. Er geht uns nichts an.«

»Verstehe«, sagte ich.

»Und was deine Sympathien betrifft ... Du kannst dich nicht gut verstellen. Bist schon ein lustiger Knabe ... Besten Dank übrigens für die Anregungen bezüglich meiner Frisur. Ich denk drüber nach.«

Über ihre Frisur hatte ich kein Wort verloren, so viel stand fest. Der erste Eindruck hatte sich offenbar in meiner roten Flüssigkeit niedergeschlagen.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich verlegen.

»Lass mal, das macht mir nichts aus, ich bin nicht blöd. Es trifft ja zu. Aber ich hab eben auch manchmal Langeweile. Dann muss ich fernsehen und Zeitschriften lesen. Und jetzt auch noch Internet. Was dort so alles beworben wird! Mach was aus deinem Typ!, heißt es da. Zweifle nicht an dir!«

Ischtar lachte wieder, sie war nun schon völlig betrunken.

»Also lass ich die Zweifel sein«, setzte sie ihre Tirade fort. »Wozu auch, das ganze Geschäft steht und fällt mit mir! Aber ein Flugzeug kaufen, das kann ich ja nicht. Oder eine Yacht... Na gut, ich könnte schon, aber was soll ich damit? Und wenns nur die Yacht wäre ... Ich hab neulich eine Werbung gefunden, in dem Journal da, guck dirs an ...«

Sie deutete zum Tisch hin.

Am Tischrand lag eine Zeitschrift aufgeschlagen, ein doppelseitiges Farbphoto. Es zeigte eine Braut ganz in Weiß vor einer Hochzeitslimousine stehend, das Gesicht in einem Fliederstrauß vergraben. Dahinter die geduldig wartende Autokarawane der Hochzeitsgäste. Der Bräutigam vor der offenen Wagentür, nachdenklich seinen Schnurrbart zwirbelnd. Den neidvollen Frauenblick aus einem entgegenkommenden Kleinwagen hatte der Photograph gleichfalls einzufangen vermocht. Die Bildunterschrift lautete: Tussi. Die Damenbinde. Der Sieg ist in trockenen Tüchern.

Endlich ging mir der ganze Sinn der Bemerkung Enlil Maratowitschs zum nicht vorhandenen bush auf. Ein empörend grausamer Scherz, wie mir schien.

»Nicht einmal diesen Sieg kann ich mir kaufen«, sagte Ischtar. »Du entsinnst dich vielleicht der alten Liedzeile: Nur ein Sieg, nur ein Sieg kann uns helfen, auf den Sieg, nicht den Preis, käm es an ... Denn was soll man mit viel Geld, wenn einem die Beine fehlen, so denken die alten Frontkämpfer. Genauso geht’s mir. Was bleibt mir anderes, als mich um meine Frisur zu kümmern. Und ein ordentliches Make-up. Ringe in die Ohren zu hängen. Aber das wars dann auch schon. Lach mich nicht aus, mich dumme alte Gans!«

Ich begann mich zu schämen. Und sie tat mir leid. Zum Glück hatte ich die Narben des Faceliftings erst nach ihrem Biss bemerkt. Sollte sie glauben, dass wenigstens das gutgegangen war.

Ein Handy piepste.

»Ja?«, meldete sich Ischtar.

Aus dem Knopf in ihrem Ohr hörte ich eine leise quäkende Männerstimme.

»Bei mir natürlich«, sagte Ischtar. »Wir unterhalten uns ... Ein netter Junge, jaja. Lass ihn noch bisschen älter werden, dann setz ich ihn an deiner statt, hast du gehört, du alter Eber? Da geht dir der Arsch auf Grundeis, was? Ha-ha ...«

In dem Knopf quäkte es noch einmal.

»Na schön«, sagte sie. »Wenn es so ist, dann muss er halt gehen.«

Sie richtete den Blick auf mich.

»Enlil. Er sagt, du müsstest wieder nach oben.«

»Wie komme ich da hin?«

» Mit dem Fahrstuhl.«

»Und wo ist der?«

Ischtars Kopf deutete zur Wand.

Da begriff ich, dass dies der letzte Raum der Galerie war. Die Tür, auf die Ischtar wies, führte nicht zum nächsten Saal, sondern in den Fahrstuhl.

»Dann hätte ich damit ja auch runterkommen können. Ich wäre um ein Haar abgesoffen!«

»Runterfahren geht nicht. Nur aufwärts. Wenn man Glück hat ... Gut, dann empfehle ich mich jetzt. Mir wird sowieso gleich übel.«

»Aber warum denn?«, fragte ich erschrocken.

»Mir schießt das Bablos ein. Und ich bin so was von besoffen. Werd mich noch in den Flügeln verheddern ... Geh jetzt. Oder nein, komm noch mal her ...«

Will sie mich etwa noch mal beißen?, schoss es mir durch den Kopf.

» Sie wollen doch nicht etwa ... ?«

»Nicht doch! Komm schon her, hab keine Angst...«

Ich trat nahe vor sie hin.

»Beug dich nach vorn und schließ die Augen.«

Kaum hatte ich ihre Bitte erfüllt, ploppte etwas Feuchtes gegen meine Stirn - ungefähr wie ein Poststempel.

»Das wars.«

»Auf Wiedersehen«, sagte ich und ging auf den Fahrstuhl zu. Trat ein, drehte mich noch einmal nach Ischtar um.

»Ach, noch eins!«, sagte sie und sah durchdringend zu mir herüber. »Mit Hera sei ein bisschen vorsichtiger. Vor vielen Jahren hatte Enlil eine Freundin wie sie. Tralafitti, Techtelmechtel ... Aber bis ins Bett sind die beiden nie gekommen. Einmal hab ich ihn gefragt, wieso nicht. Und weißt du, was er drauf geantwortet hat? Wenn man die Schwarze Mamba nicht zum Biss herausfordert, kann man lange Jahre ihre Nestwärme genießen ... Ich fand das damals kaltherzig und zynisch, aber jetzt denke ich, er ist nur deshalb noch am Leben ...«

Wie sie jetzt auf Hera komme, wollte ich sie fragen, aber da schloss sich die Tür, und der Fahrstuhl rauschte aufwärts. Ich spiegelte mich in der polierten Stahltür und sah auf meiner Stirn den Lippenabdruck, der aussah wie eine rote Rose.

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