EPILOG

Ein Brief, der per Kurier eintrifft, ist immer eine Gnade des Himmels, weil man dafür das Hamlet nicht lange verlassen muss. Und wenn er dann noch so hübsch aussieht und so gut riecht wie dieser ...

Das Kuvert war resedafarben und hatte eine leichte, schlanke, unergründliche Duftnote - kein ganzes Parfüm, eher nur eine Komponente, eine geheime Ingredienz, die separat keinem Menschen unter die Nase kommt. Odem des Verborgenen, aus den Tiefen der Macht, von ihren Hebeln. Und das durfte man wörtlich nehmen, denn der Brief kam von Ischtar.

Ich riss das Papier auf, das weiche Futter mit. Drinnen lag ein schwarzsamtenes Säckchen, mit einer Kordel verschlossen. Ein zweimal gefaltetes Blatt Papier mit gedrucktem Text lag bei. Was in dem Säckchen war, konnte ich mir denken, darum las ich zuerst den Brief.

Schmäzzschmäzz, Höllenstifft.

Lange nicht gesehen, was? Ich hab nach gerechnet, drei Monate kamen raus. Verzeih, dass ich nicht schon früher ein Minütchen fand, mich zu melden, gab einfach viel zu tun. Bestimmt fragst du dich, wie mein Leben jetzt verläuft und wie es mir dabei ergeht. Man kann es in Worten nicht wiedergeben, weißt du. Es ist, als würde man zur Galionsfigur eines riesigen Schiffes. Du kannst jeden einzelnen Matrosen spüren und pflügst zugleich mit deinem Leib den Ozean der Zeit. Stell dir vor, du wärest Kapitän eines solchen Schiffes und zugleich die Figur an seinem Kiel. Du hast weder Arme noch Beine - aber zu entscheiden, wie die Segel gesetzt werden. Der Wind, der sie bläht, das sind die Menschenleben. Derweil wird im Schiffsraum unter Deck eine verschwiegene Arbeit verrichtet, dank derer die menschliche Existenz ihren Sinn bekommt und zu Bablos wird.

All dies hat freilich auch seine unangenehmen Seiten. Die unangenehmste ist der Gedanke an das, was zuletzt kommt. Du weißt ja, wie es der alten Dame erging, die unsere vorige Primadonna war. Das ist natürlich furchtbar, sie tut mir sehr leid. Und dabei weiß ich, auch mir wird dereinst einmal das gelbe Seidentuch aus den Händen meiner Besucher entgegenleuchten ...So ist das Leben nun mal, es lässt sich nicht ändern. Ich kann jetzt auch verstehen, warum die Borissowna das letzte halbe Jahr so viel getrunken hat. Man ist grausam mit ihr umgesprungen. Als nebenan die neue Kammer in den Fels getrieben wurde, wollte sie immer wissen, was das Gehämmere soll, aber alle taten so, als hörten sie es nicht, und behaupteten, sie würde sich irren. Als es nicht mehr zu leugnen ging, log man ihr vor, der Fahrstuhl würde saniert. Und am Ende versuchte man ihr einzureden, ein neuer Tunnel für den Regierungsstrang der Metro würde gebaut, um eine Direktverbindung von der Rubljowka zum Kreml zu schaffen. Sie wusste es besser, konnte aber nichts dagegen tun. Schrecklich, nicht wahr?

Ich möchte von Anfang an sich erstellen, dass keiner später einmal so eine Nummer vor mir abzuziehen wagt. Dazu brauche ich Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Ich trage mich mit dem Gedanken, hierfür einen speziellen Rang einzuführen: Freund Ischtars. Und die Stellung in unserer Hierarchie wird strikt von diesem Titel abhängen. Du wirst Ischtars erster Freund am Platz sein, denn keiner steht mir näher. Ich werde alles für dich tun. Möchtest du ein Hamlet, wie Enlil es hat? Lässt sich alles machen jetzt.

Zu Mitra. Ich weiß, du hast alles gesehen. Wahrscheinlich hast du dir viele trübe Gedanken gemacht bezüglich dessen, was sich hier abgespielt hat. Aber du musst wissen: So geschieht es jedes Mal, wenn die irdische Identität der Göttin ausgetauscht wird. Um den neuen Kopf mit dem zentralen Geist in der Wirbelsäule zu verbinden, braucht es eine Nervenbrücke, eine zusätzliche Zunge, die als Bindeglied fungiert. Für sie ist das selbstverständlich nicht tödlich - sie kehrt nur zu ihrem Ursprung zurück. Aber Mitra musste dran glauben, und das ist traurig. Bis zur letzten Sekunde hat er nichts geahnt.

Enlil und Marduk hatten übrigens angenommen, es würde dich treffen. Nicht, dass sie dich nun direkt dafür gemästet hätten wie einen Hammel, aber sie waren sich ziemlich sicher. Von daher haben sie auch so wenig in deine Bildung investiert. Es wird dir aufgefallen sein, dass außer mir kaum einer sich dafür interessiert, was aus dir wird, und dich ordentlich in die Gesellschaft einführt. Bestimmt hast du dich in unserer Welt als Außenseiter gefühlt. Jetzt weißt du, wie es zusammenhängt.

Für Enlil kam das sehr überraschend. Auch für mich war die Wahl alles andere als einfach: entscheiden zu müssen, wer von euch am Leben bleibt! Mit meiner Entscheidung habe ich mich gegen alle gestellt. Bedenke also: Du hast außer mir keine Freunde. Aber an meiner Seite wirst du auch keine nötig haben.

Keine Bange, mein Knie wirst du nicht noch einmal zu spüren kriegen: Ich habe keins mehr. Dafür habe ich Bablos. Und das ist jetzt alles unser. Alles! Unser, Rama!


Was das andere angeht - da wird uns schon was einfallen.


Alles Übrige, wenn wir uns sehen. Lass die Göttin bloß nicht warten!


Ischtar IV.

PS Du hattest mich darum gebeten, dich vor unserem nächsten Rendezvous an das Todesbonbon zu erinnern. Was hiermit geschehen ist... :)»

Anstelle einer Unterschrift gab es ein rotes Faksimile, das man als verwischtes Isch lesen konnte; darunter prangte das Siegel mit der altertümlichen Darstellung eines Flügelwesens, nicht unähnlich dem Götterboten Garuda; wenn das die Große Maus sein sollte, so hatte der Künstler ihr geschmeichelt.

Ich blickte aus dem Fenster. Es dämmerte bereits; vereinzelte Schneeflocken fielen. Große Lust verspürte ich nicht gerade, durch die kalte Nacht da draußen zu fliegen. Aber ich hatte ja gar keine Wahl ... Sie war schon nicht mehr Hera, wenn ich an sie dachte. Alles war anders.

Ich setzte mich auf das Sofa und band das Samtsäckchen auf. In ihm steckte das erwartete Flakon, jedoch in deutlich verändertem Design: nicht mehr die kleine schwarze Variante, Fledermaus mit Totenkopfstöpsel. Das hier war aus weißem Milchglas und hatte die Formen eines weiblichen Torsos; der winzige Pfropfen ließ an einen Hals denken, dem der Kopf abhandengekommen war. Ein bisschen makaber. An das stolze Opfer gemahnend, das die Göttin darbrachte. Diese Ischtar meinte es offenbar ernst. Da stehen noch einige Änderungen mehr ins Haus!, dachte ich. Nur gut, dass ich auf der richtigen Seite der Wasserscheide gelandet war. Trotzdem, mir schwante nichts Gutes.

Ich ließ den einen enthaltenen Tropfen auf die Zunge rinnen, nahm im Sessel Platz und wartete. Wäre nebenan jetzt wieder das düstere Verdi-Requiem erklungen, es hätte gepasst. Aber diesmal herrschte Totenstille. Der an der Wand hängende Fernseher lief ohne Ton.

Den brauchte man allerdings auch nicht, um mitzukriegen, was gespielt wurde: das pralle, schäumende Leben. Feuerwerk unter südlichem Himmel, braun gebrannte, lachende Gesichter. Das Mikrofon wie einen Säbel schwingend, tanzte der internationale Sänger Mircea Beslan, abstruse Mischung aus Ziegenbock und Griechenkönig, in einem T-Shirt mit dem rätselhaften Aufdruck 30cm=11 3/4in. Minutenlang gab ich mich dem Schauspiel hin. Mircea sang in Begleitung eines Orchesters, das immer dann zu spielen anfing, wenn er außer Puste war. Eine Laufzeile am unteren Bildschirmrand lieferte die Übersetzung des Textes:

Kann schon mal sein, kann schon mal sein, dass ein Mädchen seinem Jungen ein Yo-yo-yo macht, und sie ist nicht bei der Sache, denkt: Bestimmt sieht das jetzt dämlich aus ... Und wer weiß, obs ihm noch Spaß macht, er sagt ja gar nichts mehr ... Oder sie denkt: Yo-yo-yo, warum nicht mal zwischendurch aus dem Fenster sehen, romantisch glotzen nach dem Mond und so ... He, Mädchen, bleibt dran! Bedenkt, yo-yo-yo, der Mann hat grad den Kick seines Lebens! Und wenn er schweigt, dann nur, weil er den Zauber dieses Augenblicks nicht mit einem unbedachten Wort zerstören will. Yo-yo-yo, yo-yo!

Dann pausierte Mircea Beslan wieder, und die Bläser des Orchesters legten los - an ihren puterroten Köpfen sah man, auch ohne es zu hören, wie das abging. Auch ein Requiem! dachte ich, in die Dunkelheit vor dem Fenster starrend. Bestimmt nicht schlechter als jedes andere ...

Und vielleicht war es das ja? Was, wenn Ischtar einfach noch eine Zunge brauchte?

Mich packte das helle Entsetzen. (Gut, dies ist heutzutage kein ungewöhnliches Gefühl, das unbedingt einer rationalen Grundlage bedurfte. Man muss sich daran gewöhnen, das ist alles.) Auf dem Korridor schlug die Uhr. Nun wurde es wirklich Zeit. Wie hatte ein Sänger doch einst gesungen, als Beslan noch fern war:

Spann an, Gott, die Pferde der Maßlosigkeit!


Ich wollt zu Fuß gehn, doch ists dafür nun zu spät...

Mein Geist gab die Marschrichtung vor, die so unverfroren ausfiel wie gehabt: durch den Schornstein zu den Sternen. Ich ging vom Sessel auf die schwieligen schwarzen Fäuste, durchquerte mit Mühe und Not das Zimmer, warf mich in den Schlund des Kamins und gelangte wild flatternd durch den Schacht hinauf in den kalten Himmel, wo ich, betuliche Spiralen drehend, an Höhe gewann.

Um mich her wirbelten wenige große Schneeflocken. Durch diesen weißen Schleier leuchtete Moskau auf besondere Weise, zart und geheimnisvoll. Die Stadt war so schön, dass es einem den Atem nahm. Und es brauchte nur wenige Minuten, bis meine Stimmung gänzlich umgeschlagen war: Alles Grauen war zerstoben; Friede und Sanftmut füllten mich aus.

Hans Ulrich Rudel hatte etwas Ähnliches gefühlt in jener Weihnachtsnacht am Himmel über Stalingrad - als der Gedanke an Krieg und Tod plötzlich einem überirdischen Gefühl von Ruhe und Frieden Platz machte. Und über die rauchenden Panzer im Schnee hinwegfliegend, begann er zu singen: Stille Nacht, heilige Nacht...

Zum Singen war es jedoch zu kalt. Unten herrschte ein anderes Jahrtausend; was da räucherte, waren keine angeschossenen Panzer, sondern die Westschlitten stadtflüchtiger Chaldäer. Und überhaupt hatte diese Nacht nicht viel Heiliges an sich ... Aber schön war sie, die Welt, und ich gelobte mir, diese Sekunde unbedingt zu dokumentieren mit allem, was ich dachte und fühlte, einen Abdruck meiner Seele gewissermaßen, um den Augenblick nie wieder zu vergessen. Ich werde diesen Schnee beschreiben, dachte ich, dieses Dämmerlicht und die geheimnisvollen Lichter dort unten ...

Und beschreiben werde ich, wie ein anderer aus mir wurde.

Früher benahm ich mich ziemlich idiotisch, da hat Loki ganz recht. Aber seither habe ich dazugelernt und vieles begriffen. Über das Leben, über mich selbst, über den Prinzen von Dänemark und über Hans Ulrich Rudel. Und ich habe meine Wahl getroffen.

Ich liebe unser Imperium. Ich liebe seinen aus Armut und Leid geborenen Glamour und seinen im Kampfe gestählten Diskurs. Ich liebe seine Menschen. Nicht der Bonusse und Vergünstigungen wegen, sondern weil wir von gleicher roter Flüssigkeit sind - wenn auch natürlich verschiedener Ansicht. Mein Blick geht hinab auf die imperialen Bohrtürme, die den Adern des Planeten die schwarze Flüssigkeit aussaugen - und ich sehe, dass ich meinen Platz im System gefunden habe.

Hier komme ich, Superstecher!

Aber das System muss geschützt werden. Auf uns kommen schwere Zeiten zu. Denn weder rote noch schwarze Flüssigkeit ist auf der Welt ausreichend für alle vorhanden. Demnach werden wir bald Besuch kriegen von anderen Vampiren, die unserem lieben Iwan den Geist B vernebeln werden und dabei ihr listiges Auge werfen auf alles, was nach Bablos aussieht und sich saugen lässt. Und dann wird die Frontlinie einmal mehr durch jeden Hof und jedes Herz gehen.

Darüber jedoch, wie wir unsere unvergleichliche Dach-Zivilisation mit ihrer stolzen superethnischen Mission schützen können, werden wir später nachdenken. Jetzt ist es ringsum still und friedlich. Schmetterlingsgroße Schneekristalle kommen auf mich zugeschwebt. Jeder Flügelschlag bringt mich näher zu meiner sonderbaren Freundin - und, wozu verhehlen, näher zum Bablos auch.

Das jetzt alles unser ist.

Alles unser.


Alles unser.


Alles unser.


Alles unser.


Alles unser.

Wie oft muss man sich diese Worte aufsagen, um ihren Sinn ganz zu begreifen? Dabei ist er unmissverständlich.

Bergsteiger Rama II. meldet: Der Fuji ist bezwungen.

Auf eine wichtige Nuance gilt es dabei jedoch noch hinzuweisen.

Der Fuji ist keineswegs jener Berg, an den man als Kind geglaubt hat. Keine Märchenwelt im Sonnenlicht, wo die Grashüpfer träge zwischen den hohen Halmen hocken und die Schnecken selig lächeln. Auf dem Fuji droben ist es kalt und finster, einsam und öde. Und das ist auch gut so, denn in Ödnis und Kälte kann die Seele gut rasten. Und wem es beschieden ist, bis ganz nach oben zu kommen, der wird schrecklich müde sein vom Weg. Und mit dem, der diesen Weg einst in Angriff nahm, wird er kaum noch etwas gemein haben.

Ich weiß gar nicht mehr, wie ich damals war. Was mir aus jener Zeit noch dunkel im Bewusstsein ist, scheint eher ein Abklatsch gesehener Filme zu sein als ein getreues Abbild meiner eigenen Geschichte. Ja, ich sehe dort unten eine Leuchtspur, gut, ich erinnere mich, dass da Straßen sind, über die ich noch unlängst mit dem Skateboard rollte ... Da waren meine Bewegungen im Raum noch ganz ohne Ziel. Dann auf einmal wurde ich in einem schwarzen Auto durch diese Stadt befördert, vorerst noch ohne zu wissen, wohin und wieso. Und jetzt, da ich alles weiß, fliege ich hoch am Himmel, und meine pfeifenden schwarzen Schwingen tragen mich sicher durch die Nacht. So also, ganz allmählich und unmerklich für einen selbst, wird man erwachsen. Klarheit und Gelassenheit stellen sich ein - doch man verliert seinen naiven Wunderglauben. Das ist der Preis.

Früher einmal waren mir die Sterne am Himmel als andere Welten erschienen, zu denen die Raumschiffe aus der Sonnenstadt schon unterwegs waren. Jetzt weiß ich, diese feinen Punkte sind Löcher in der Panzerung, die uns abschirmt vor dem Meer aus gnadenlosem Licht.

Oben auf dem Fuji spürst du die Kraft, mit der dieses Licht gegen unsere Welt drückt. Und die Gedanken wandern unversehens zu den Alten.

Was du tust, das tue bald ...

Was diese Worte für einen Sinn haben? Einen denkbar einfachen, Freunde: Säumt nicht zu leben. Denn es kommt der Tag, da platzt der Himmel aus den Nähten, und ein Licht, von dessen Gewalt wir uns keinen Begriff machen, wird in unser stilles Haus hereinbrechen und uns für immer vergessen.

Der dies niederschrieb, ist Rama II., Freund Ischtars, Obmann für Glamour und Diskurs, Stecher unter Stechern, Gott des Geldes mit Eichenflügeln.

Fuji, im Winter.

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