DIE ROTE ZEREMONIE

Die drei nachfolgenden Tage meines Lebens wurden vom Hamlet spurlos geschluckt, sie versanken im gräulichen Nichts, wie Graf Dracula trefflich bemerkt hatte. Am Morgen des vierten Tages rief Enlil Maratowitsch an.

»Hallo, Rama!«, sagte er. »Lass dir gratulieren!«

»Was ist los?«

»Heute findet die rote Zeremonie statt. Du wirst Bablos verkosten dürfen. Ein bedeutender Tag in deinem Leben. «

Ich sagte erst einmal nichts.

»Mitra sollte dich abholen«, fuhr Enlil Maratowitsch fort, »aber er ist nicht aufzutreiben. Ich würde gern selber vorbeikommen, habe aber zu tun. Kannst du zu Baals Datscha kommen?«

»Zu wem?«

»Baal Petrowitsch, das ist mein Nachbar. Dein Fahrer kennt sich aus.«

»Warum nicht«, sagte ich. »Wenn der Fahrer sich auskennt. Wann soll ich dort sein?«

»Fahr einfach los, ohne Eile. Ohne dich fangen die nicht an. Hera kommt auch.«

»Was soll ich anziehen?«

»Was du willst. Nur bitte nichts essen vorher. Bablos nimmt man auf nüchternen Magen zu sich. Machs gut, bis dann.«

Zwanzig Minuten später saß ich im Auto.

»Baal Petrowitsch?«, fragte Iwan. »Kenn ich. Sosnowka 38. Haben wirs eilig?«

»Ja«, erwiderte ich. »Dringende Angelegenheit.«

Ich war so nervös, dass ich in Trance verfiel. Die Chaussee erschien mir als Fluss, der mich zum Abgrund schwemmte. In meinem Kopf herrschte heillose Konfusion. Ich wusste nicht, welcher Wunsch in mir stärker war: so schnell wie möglich bei Baal Petrowitsch zu sein oder im Gegenteil das Weite zu suchen: nach Domodedowo fahren, ein Flugticket kaufen und abdüsen in irgendein Land, für das man kein Visum brauchte. (Was allerdings schon deshalb nicht gegangen wäre, weil ich keine Papiere bei mir hatte.)

Es herrschte wenig Verkehr, und wir kamen so zügig an unser Ziel, wie es einem in Moskau nur selten gelingt. Nachdem wir den stellwerkähnlichen Kontrollposten in einem dicht mit Überwachungskameras besetzten Zaun passiert hatten, brachte Iwan den Wagen auf der leeren Parkfläche vor dem Haus zum Stehen.

Baal Petrowitschs Haus war ein Mittelding zwischen Lenin-Bibliothek im Embryonalstadium und frühgeborener Reichskanzlei. Das Gebäude selbst schien nicht allzu groß, doch die breite Freitreppe und die Reihen von Pfeilern aus schmutzig gelbem Stein ließen es wuchtig und monumental erscheinen. Fürwahr ein passender Ort für eine Initiation, wenn nicht irgendeine unheilvolle magische Prozedur.

»Da steht ihr neuer!«, sagte Iwan.

»Was?«

»Hera Wladimirownas neuer Wagen. Der Bentley.«

Ich blickte umher, konnte aber kein Auto entdecken.

»Wo denn?«

»Da unter dem Baum.«

Iwans Finger stieß in Richtung des Gebüschs, das den Parkplatz einrainte, und nun sah auch ich das große grüne

Auto; es hatte etwas von einer gutbürgerlichen Kommode an sich, die die Zeichen der Zeit verstanden hat. Die Kommode stand weit hinter dem Rand der Asphaltfläche im Gras und war halb von den Büschen verdeckt, weshalb ich sie zuerst übersehen hatte.

»Soll ich hupen?«, fragte Iwan.

»Nicht nötig. Ich gehe hin und sehe nach.«

Die hintere Tür des Wagens stand einen Spalt offen. Ich sah drinnen etwas sich bewegen, hörte es lachen. Das musste Heras Lachen sein. Ich lief schneller. In diesem Moment ertönte hinter mir ein Hupton. Iwan hatte sich doch nicht beherrschen können.

Im Wageninneren tauchte Heras Kopf auf und daneben noch einer, ein Männerkopf, den ich nicht erkannte.

»Hera!«, rief ich. »Hallo!«

Doch die Wagentür, anstatt ganz aufzugehen, knallte plötzlich zu. Da ging etwas Rätselhaftes vor sich. Ich blieb stehen und sah zu, wie der Wind das an den Türgriff geknüpfte Georgsband zauste. Ich wusste nicht, ob weitergehen oder lieber umkehren. Ich war nahe davor, Letzteres zu tun, da ging die Tür wieder auf, und Mitra stieg aus dem Wagen.

Er sah derangiert aus: zerzauste Haare, die gelbe Fliege nach unten gerutscht. Und sein Blick war höchst feindselig -einen solchen Ausdruck hatte ich an ihm noch nie gesehen. Er schaute drein, als wollte er mich verdreschen.

»Spionierst du?«, fragte er.

»Nein, wieso?«, sagte ich. »Ich hab bloß das Auto gesehen.«

»Ich denke, wenn ein Auto auf die Art geparkt ist, müsste jedem Idioten klar sein, dass man sich besser nicht nähert.«

»Jedem Idioten vielleicht«, gab ich zur Antwort. »Aber ich bin kein Idiot. Und das da ist nicht dein Auto.«

Hera stieg aus. Sie nickte mir zu. Dabei lächelte sie zerknirscht und zuckte mit den Schultern.

»Pass mal auf, Rama«, sagte Mitra. »Wenn dich ... wie soll ich sagen ... die Einsamkeit quält ... Ich kann dir alle Präparate schicken, die Brahma hinterlassen hat. Das langt für ein Jahr. Dann bist du deine Probleme los und musst anderen nicht auf den Geist gehen.«

»Hör doch auf!«, sagte Hera und zupfte ihn am Ärmel.

Ich begriff, dass Mitra mich gezielt zu kränken suchte. Das verblüffte mich zutiefst. Statt Wut machte sich Verwirrung in mir breit. Ich muss dämlich ausgesehen haben. Die Hupe, die neuerlich hinter meinem Rücken gellte, kam mir zu Hilfe.

»Chef!«, brüllte Iwan, »Sie werden verlangt!«

Ich drehte mich um und ging zurück auf den Parkplatz.

Neben meinem Auto stand ein fremder Mann im schwarzen Anzug: klein und dick, mit aufgezwirbeltem Schnurrbart, wie ein alter Musketier.

»Baal Petrowitsch«, stellte er sich vor und drückte mir die Hand. »Solltet ihr nicht zu zweit sein? Wo ist Hera?«

»Kommt gleich.«

»Warum so blass?«, fragte Baal Petrowitsch. »Hast du Bammel?«

»Nein.«

»Musst du auch nicht. Bei der roten Zeremonie hat es seit vielen Jahren keine Zwischenfälle gegeben. Wir haben vorzügliche Technik ... Aha, Sie sind also Hera? Sehr angenehm. «

Hera kam allein, Mitra war beim Auto geblieben.

»Nun denn, Freunde«, sprach Baal Petrowitsch, »ich bitte, mir zu folgen.«

Er wandte sich um und schritt auf seine Reichskanzlei zu. Wir liefen hinterdrein. Hera vermied es, mich anzusehen.

»Was geht hier vor?«, fragte ich.

»Nichts«, sagte sie. »Um Himmels willen, bitte nicht jetzt, hörst du? Wenigstens diesen Tag sollten wir uns nicht verderben.«

»Du würdest mich lieber nicht sehen, nein?«

»Ich mag dich leiden«, sagte sie. »Viel mehr als Mitra, wenn du es genau wissen willst. Ehrenwort. Aber sag ihm das bloß nicht, verstanden?«

»Von mir aus«, sagte ich. »Aber sag, hast du ihn wenigstens in die Eier gekickt? Oder bleibt mir das Vorbehalten, weil du mich so gut leiden magst?«

»Das Thema möchte ich nicht diskutieren.«

»Wenn du mich leiden magst... wieso verbringst du dann deine Zeit mit Mitra?«

»Das ist gerade so eine Phase, wo ich ihn an meiner Seite brauche. Das kannst du nicht verstehen. Oder nur falsch.«

»Natürlich ... Kommen da noch andere Phasen? Wo du mich an deiner Seite brauchst?«

»Könnte sein.«

»Was für eine Seifenoper!«, sagte ich. »Ehrlich mal. Ich kann nicht glauben, dass du mir so was erzählst.«

»Es wird dir hinterher klar werden. Lass es dabei bewenden jetzt.«

Das Innere von Baal Petrowitschs Behausung entsprach der nordisch-totalitären Fassade in keiner Weise. Die Diele war im Stile der frühen Oligarcheneklektik eingerichtet: Schwerttragender Ritter zwischen deutscher Spieldose und Aiwasowski-Seestück. Von der Datscha irgendeines diebischen Buchhalters unterschied sich das Interieur nur dadurch, dass Rüstung und Aiwasowski echt waren.

Wir liefen durch einen Flur und blieben vor einer hohen zweiflügeligen Tür stehen. Baal Petrowitsch wandte sich zu uns um.

»Bevor wir eintreten«, sagte er, »sollten wir näher Bekanntschaft schließen.«

Er tat einen Schritt auf mich zu, näherte sein Gesicht dem meinen, dann sackte sein Kinn kurz zur Brust, so als kämpfte er plötzlich mit dem Schlaf. Ich zückte das Taschentuch, um meinen Hals abzutupfen, doch der Biss war hochprofessionell: keinerlei Spuren.

Baal Petrowitsch verengte die Augen zu einem Spalt und schmatzte. Das zog sich bestimmt eine Minute hin. Die Situation wurde peinlich - am liebsten hätte ich nun ihn gebissen, nur um zu sehen, woran er sich so lange aufhielt. Schließlich klappte er die Augen wieder auf und warf mir einen schalkhaften Blick zu.

»Suchst du Anschluss bei den Tolstoianern?«

»Wieso?«

»Osiris. Möchtest du in seine Sekte eintreten?«

»Vorläufig nicht«, erwiderte ich ungerührt. »Ich ... erweitere meinen Bekanntenkreis, das ist alles. Aber sagen Sie bloß nichts Enlil Maratowitsch. Wozu den alten Mann unnötig aufregen.«

»Keine Bange, ich sage nichts. Aber das gibt sich bald, Rama. Du kriegst von uns Bablos, dann hast du keine Sektierer mehr nötig.«

Ich hob die Schultern. Baal Petrowitsch wechselte zu Hera hinüber, beugte sich zu ihrem Ohr und nickte kurz; es hätte die diskrete Antwort auf eine leise Frage sein können. Dass ein Vampir binnen kürzester Zeit zweimal zubiss, hatte ich noch nicht erlebt - aber Baal Petrowitsch schien versiert darin zu sein. Nach ein paar Schmatzlauten sagte er: »Freut mich, die Bekanntschaft mit einer so zielstrebigen Person zu machen.«

Zu Hera verhielt er sich deutlich galanter als zu mir. Benötigte auch weniger Zeit für sie.

»Seltsam, dass meine Bekanntschaften in letzter Zeit immer auf dasselbe hinauslaufen«, murmelte Hera unzufrieden.

»Das hier ist keine Privatsache«, erwiderte Baal Petrowitsch. »Die Bisse sind dienstlicher Natur. Um zu wissen, wie ich euch zu instruieren habe, brauche ich Einblick in euer Seelenleben. So, Freunde, und nun darf ich bitten ...«

Mit diesen Worten öffnete er die Tür.

Dahinter lag ein hell erleuchteter kreisrunder Saal. Zwei Farben waren vorherrschend: Gold und Azur. Azurblau waren die Wände, das Gold glänzte von den Pilastern, dem Deckenstuck und den Bilderrahmen. Die Bilder selbst waren kaum interessant, in ihrer beruhigenden Eintönigkeit wirkten sie eher wie Tapeten: romantische Ruinen, berittene Aristokraten, galante Schäferstündchen im Wald. Die Decke war mit einem Wolkenhimmel ausgemalt, in der Mitte glänzte, von verborgenen Lampen angestrahlt, ein großes Sonnenrelief mit Augen, Grinsemund und Ohren; ein bisschen wie Chruschtschow. Sein zufriedenes rundes Gesicht spiegelte sich im Parkett.

Geblendet von dieser Pracht, verharrte ich im Türrahmen; auch Hera war stehen geblieben.

»Nun tretet doch ein!«, mahnte Baal Petrowitsch. »Die Zeit drängt.«

Wir gingen hinein in den Saal. Außer fünf Sesseln, die im Halbkreis um den Kamin standen, gab es kein weiteres Mobiliar. Die Sessel waren High-Tech: Servomotor, Halbhelm, diverse Halterungen, komplizierte Verkabelung - man hätte militärische oder kosmonautische Zwecke vermuten können. Ein flaches Steuerpult auf schlankem Stahlfuß stand in der Nähe. Der Kamin brannte, was kurios erschien, da gleichzeitig die Klimaanlage lief. Zwei Chaldäer in Goldmasken machten sich am Feuer zu schaffen.

»Bei Ihnen sieht es ja genauso aus wie bei Enlil Maratowitsch«, bemerkte ich. »Dieser runde Saal mit Kamin und Sesseln ... Obwohl, dort ist alles ein bisschen bescheidener.«

»Das muss nicht verwundern«, sagte Baal Petrowitsch. »Räume mit gleicher Funktion haben zwangsläufig Übereinstimmungen. So wie alle Geigen die gleiche Form haben. Nehmt Platz!«

Er bedeutete den Chaldäern mit einer Geste, sich zu entfernen. Einer von ihnen schüttete erst noch Kohle aus einer Papiertüte mit der Aufschrift BBQ Charcoal in den Kamin.

»Während der roten Zeremonie ist es üblich, Geld zu verbrennen«, erläuterte Baal Petrowitsch. »Das hat keinerlei praktischen Sinn, es ist einfach eine unserer nationalen Traditionen, wie die Folklore sie überliefert. Wir können uns zwar nicht über knappe Mittel beklagen, trotzdem verbrennen wir lieber alte, von der staatlichen Gelddruckerei aus dem Verkehr gezogene Scheine - schon aus Respekt vor der menschlichen Arbeit.«

Er sah auf die Uhr.

»Und jetzt muss ich mich umziehen. Bitte noch nichts anrühren!«

Baal Petrowitsch schenkte uns ein aufmunterndes Lächeln und entschwand in dieselbe Richtung wie seine Chaldäer.

»Komische Sessel«, befand Hera. »Wie beim Zahnarzt.«

Mir kamen sie eher wie Studiodekorationen für Odysseen im Weltraum vor.

»Komisch, ja«, sagte ich. »Besonders dieser Brustschild.«

An jedem der Sessel war eine Vorrichtung wie in den Starship-Troopers-Filmen - dort fahren den Astronauten solche Dinger von oben auf Brust und Schultern herunter, um sie bei Start und Landung in den Sitzen zu halten.

»Damit wir, wenn wir uns in Krämpfen winden, nicht aus dem Sessel fallen«, mutmaßte ich.

»Wahrscheinlich«, stimmte Hera zu.

»Fürchtest du dich?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mitra sagt, es wäre ein sehr angenehmes Erlebnis. Nur am Anfang täte es ein bisschen weh, aber dann ...«

»Würdest du bitte in Zukunft Mitra nicht mehr erwähnen?«

»Gut«, sagte Hera. »Dann schweigen wir lieber.«

Bis zur Rückkehr von Baal Petrowitsch fiel kein Wort mehr. Ich betrachtete mit übertriebenem Interesse die Bilder an der Wand; sie hockte auf der Sesselkante und blickte zu Boden.

Als Baal Petrowitsch hereinkam, war er nicht wiederzuerkennen. Er trug eine lange Robe aus dunkelroter Seide und ein Schuldeneintreiberköfferchen in der Hand. Mir fiel ein, wo ich diese Robe gesehen hatte.

»Baal Petrowitsch, sind Sie schon mal in Enlil Maratowitschs Arbeitszimmer gewesen?«

Baal Petrowitsch war zum Kamin gegangen und hatte das Köfferchen neben dem Gitter abgestellt.

»Nicht nur einmal«, antwortete er.

»Da hängt ein Bild an der Wand«, sagte ich, »mit irgendwelchen merkwürdigen Gestalten in Zylindern, die an ihre Stühle gefesselt um das Feuer sitzen. Geknebelt, wenn ich nicht irre. Und daneben steht ein Mann in genauso einer roten Robe, wie Sie sie tragen. Ist das die rote Zeremonie?«

»Das ist sie«, bestätigte Baal Petrowitsch meine Vermutung. »Genauer gesagt, das war sie - vor zweihundert Jahren. Damals noch mit ernsthaften Gesundheitsrisiken verbunden. Inzwischen eine absolut gefahrlose Prozedur.«

»Und wie gelang es ihnen, das Bablos zu schlucken? Denen auf dem Bild, meine ich. Mit Knebel im Mund?«

»Das waren keine Knebel«, antwortete Baal Petrowitsch, während er zu dem Steuerpult hinüberging. »Es waren spezielle Vorrichtungen, in die die aus Fischblasen gefertigten Kapseln mit Bablos eingesetzt wurden. Sie schützten zugleich vor Verletzungen von Zunge und Lippen. Heute verwenden wir eine vollkommen andere Technologie.«

Er drückte am Pult einen Knopf, und die Brustschilde an den Sesseln fuhren surrend in die Höhe.

»Sie dürfen sich setzen.«

Ich setzte mich ganz nach außen. Hera ging auf zwei Sessel Abstand.

»Kann losgehen«, sagte ich. »Wir sind bereit.«

Baal Petrowitsch sah mich missbilligend an.

»Leichtsinn mag ich gar nicht leiden. Woher nimmst du die Gewissheit, bereit zu sein, wenn du gar nicht weißt, was auf dich zukommt?«

Ich zuckte die Schultern.

»Dann erklären Sie es uns.«

»Hört genau zu«, sagte Baal Petrowitsch. »Da ich weiß, wie viel Blödsinn in euren Köpfen steckt, will ich gleich vorweg sagen, dass die Erfahrung, die ihr heute machen werdet, unvergleichlich sein wird. Es ist nicht das, womit ihr rechnet. Und um das, was euch widerfährt, richtig einzuordnen, solltet ihr etwas verinnerlichen, was an eurer Selbstliebe kratzt: Nicht wir sind es, die das Bablos saugen. Die Zunge ist es.«

»Gehören wir denn nicht zusammen?«, fragte Hera.

»Bis zu einer gewissen Grenze ja. Und diese Grenze ist genau hier erreicht.«

»Aber wir werden doch etwas davon spüren, oder nicht?«

»Oh ja!«, sagte Baal Petrowitsch. »Und nicht zu knapp. Aber es wird etwas ganz anderes sein als das, was die Zunge spürt.«

»Und was spürt sie?«, fragte ich.

»Das weiß ich nicht. Niemand weiß es.«

War das möglich?

»Wie kann das sein?«, fragte ich perplex.

Baal Petrowitsch lachte.

»Erinnerst du dich an das Bild, das bei dir im Kabinett hängt?« fragte er. »Neben dem Archiv? Napoleon zu Pferde?«

»Ehrlich gesagt, bin ich es langsam leid, immerzu mit einem Pferd verglichen zu werden.«

»Zum letzten Mal, ich schwöre es. Was meinst du: Weiß das Pferd, was Napoleon denkt?«

»Ich denke, nicht.«

»Das denke ich auch. Dabei meint man, wenn man Napoleon im Felde seinen Truppen voranreiten sieht, er und sein Pferd wären eins. In gewisser Weise sind sie das ja auch. Und wenn Napoleon seinem getreuen Pferd den Hals tätschelt ...«

»Sie müssen das nicht ausführen«, schlug ich vor. »Überhaupt ist es doch müßig, einem Pferd etwas erklären zu wollen. Napoleon hätte das bestimmt nicht getan.«

»Rama, ich verstehe deine Gefühle«, erwiderte Baal Petrowitsch. »Aber das Leben ist viel einfacher, als man zu denken geneigt ist. Es bietet zwei Wege. Wenn der Mensch Glück hat - unverschämtes Glück, so wie Hera und du -, dann wird er zum Pferd und darf Napoleon tragen. Die Alternative ist, ein Pferd zu sein, das sein Leben lang den Müll anderer Leute schleppt.«

»So viel zur Pferdezucht«, sagte Hera. »Kommen wir zur Sache.«

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete Baal Petrowitsch. »>Die rote Zeremonie besteht aus zwei Teilen. Zuerst saugt die Zunge das Bablos. Das ist das größte aller Mysterien in der Welt der Vampire. Doch wie gesagt, es widerfährt nicht uns, und wir wissen wenig darüber. Währenddessen werdet ihr so einiges durchmachen. Es kann sich unterschiedlich anfühlen, unangenehm ist es in jedem Fall. Wohl auch schmerzhaft. Das gilt es auszuhalten. Klar?«

Ich nickte.

»Dann wird der Schmerz vergehen, und der zweite Teil der Vorstellung beginnt. Physiologisch gesehen, läuft es so, dass die Zunge, wenn das Bablos aufgesaugt ist, eine Dosis Dopamen ins Hirn des Vampirs schleudert. Das ist ein sehr wirkkräftiger Neurotransmitter, der alle unangenehmen Begleiterscheinungen aus dem ersten Teil kompensiert.«

»Wozu muss man die noch kompensieren, wenn sie doch schon überstanden sind?«, fragte ich.

»Das ist richtig. Wir haben aber noch die unangenehme Erinnerung an sie. Und der von der Zunge abgesonderte Neurotransmitter ist so stark, dass er Gedächtnisinhalte austauschen kann, und mit den Inhalten sozusagen auch die emotionale Bilanz. So dass der bleibende Eindruck, den die rote Zeremonie beim Vampir hinterlässt, ein durchweg positiver ist. So positiv, dass sich bei vielen eine psychologische Abhängigkeit vom Bablos herausbildet, wir nennen es Durst. Das ist insofern paradox, als der Genuss von Bablos an sich ja doch mit einigen Schmerzen verbunden ist.«

»Was ist ein Neurotransmitter?«, wollte ich wissen.

»In unserem Fall ist es ein Wirkstoff, der eine Abfolge elektrochemischer Prozesse im Hirn hervorruft, die subjektiv als Glück wahrgenommen werden. Beim gewöhnlichen Menschen ist für vergleichbare Prozesse das Dopamin verantwortlich. Sein chemischer Name ist 3,4-Dihydroxyphenethylamin. Dopamen ist nicht nur dem Namen, sondern auch der Formel nach sehr ähnlich: dasselbe Stickstoffdioxid im rechten Teil, nur die Anteile Kohlenstoff und Wasserstoff mit anderen Koeffizienten. Im chemischen Sinne ist die Bezeichnung Dopamen unkorrekt, es ist eine Erfindung der 60er Jahre, ein Scherzname ursprünglich, zusammengesetzt aus dope und amen. Die Vampire haben seinerzeit die Chemie ihres Hirns intensiv erforscht. Später wurden die Arbeiten eingestellt. Aber der Name hat sich gehalten.«

»Warum wurden die Arbeiten eingestellt?«

»Die Große Maus hegte die Befürchtung, die Vampire könnten lernen, sich ihr Bablos selbst zu synthetisieren. Damit wäre die gute alte Ordnung aus den Fugen geraten. Wenn es dich interessiert, können wir das Thema vertiefen. Soll ich dir die Dopamenformel aufschreiben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dopamen funktioniert auch so ähnlich wie Dopamin«, fuhr Baal Petrowitsch fort. »Nur dass es viel, viel stärker wirkt, so wie Crack im Vergleich zu Kokain. Von der Zunge direkt ins Hirn gesprüht, bildet es sogleich seine eigenen Neuronenketten, die sich von den üblichen Konturen des menschlichen Glücks unterscheiden. Darum wäre es durchaus nicht unwissenschaftlich zu sagen, dass der Vampir wenige Minuten nach Einnahme von Bablos ein unmenschliches Glück empfindet.«

»Ein unmenschliches Glück ...«, echote ich versonnen.

»Bestimmt nicht das, was du dir darunter vorstellst«, konterte Baal Petrowitsch. »Besser ist es, man hegt keine Erwartungen. Dann wird man auch nicht enttäuscht ... So. Genug der Vorrede. Wir können anfangen.«

Ich wechselte einen Blick mit Hera.

»Füße anheben und Arme zur Seite«, befahl Baal Petrowitsch.

Zögerlich nahm ich die geforderte Pose ein, stellte die Füße auf der Leiste ab, die unter dem Sessel hervorgefahren kam. Der Sessel war sehr bequem - darin sitzend, spürte man seinen Körper kaum noch.

Baal Petrowitsch drückte einen Knopf, und der Schild kam herabgefahren, bis er mir sanft auf die Brust drückte. Mit Rasten, die aussahen wie dicke Plastikketten, fixierte Baal Petrowitsch meine Arme und Beine am Sessel. Dasselbe bei Hera.

»Kinn nach oben!«

Kaum war ich dem Kommando gefolgt, stülpte er mir eine Art Motorradhelm bis ins Genick. Nun konnte ich nur noch Zehen und Finger bewegen.

»Im Verlauf der Zeremonie kann es einem so Vorkommen, als bewegte sich der Körper im Raum. Das ist eine reine Illusion. Ihr bleibt unter Garantie die ganze Zeit da sitzen. Merkt euch das und fürchtet euch nicht.«

»Und warum werde ich dann angeschnallt?«, fragte ich.

»Weil die Illusion so überwältigend ist«, erläuterte Baal Petrowitsch, »dass der Körper zu unkontrollierten Bewegungen neigt, um die eingebildeten Lageänderungen zu kompensieren. Hierdurch könnte man sich tatsächlich verletzen. Früher kam das des Öfteren vor ... So, wir sind so weit. Hat noch jemand eine Frage?«

»Nein«, antwortete ich für uns beide.

»Bedenkt, dass es nach Beginn der Prozedur kein Zurück gibt. Dann heißt es bis zum Ende durchhalten. Versucht gar nicht erst, die Rasten zu lösen und aufzustehen. Das klappt sowieso nicht. Verstanden?«

»Verstanden«, antwortete Hera.

Baal Petrowitsch ließ noch einen prüfenden Blick über uns hinweggehen - und war offenbar zufrieden mit dem, was er sah.

»Auf gehts?«, fragte er.

»Achtern abwärts! Aus dem Licht!«

»Viel Glück.«

Baal Petrowitsch trat hinter den Sessel, womit er aus meinem Gesichtsfeld verschwand. Ich vernahm ein leises Surren. Aus der rechten Helmseite schob sich ein kleines transparentes Röhrchen und stoppte genau vor meinem Mund. Zwei weiche Gummirollen wälzten sich über meine Wangen, mein Mund öffnete sich automatisch; im selben Moment löste sich vom Ende des Röhrchens ein himbeerfarbener Tropfen und fiel hinein.

Er fiel mir genau auf die Zunge, die ich mit einer reflexhaften Bewegung gegen den Gaumen presste. Die Substanz war dickflüssig und zäh, scharf und süß im Geschmack - wie eine Mischung aus Sirup und Apfelessig. Sie wurde umgehend absorbiert; es war, als hätte sich dort hinten ein kleiner Mund geöffnet und schlürfte das Zeug gierig in sich hinein.

Schwindel setzte ein. In Sekundenschnelle wurde er so heftig, dass ich jede räumliche Orientierung verlor. Ich war heilfroh, dass mein Körper fest verankert war und nicht stürzen konnte. Aber dann fing der Sessel an zu steigen.

Das war sehr seltsam. Zwar sah ich meine Umgebung -Hera, den Kamin, die Wände, die Sonne an der Decke, Baal Petrowitsch in seinem dunkelroten Umhang - wie zuvor. Zugleich aber fühlte ich deutlich, dass der Sessel mit mir in die Höhe fuhr. Und das in solcher Geschwindigkeit, dass ich mich unter einer Tonnenlast in den Sessel gepresst fühlte wie ein Raumfahrer beim Raketenstart.

Ich geriet in Atemnot, bekam Angst zu ersticken, wollte es Baal Petrowitsch sagen, doch mein Mund gehorchte mir nicht. Ich konnte die Finger bewegen, das war alles.

Allmählich wurde das Atmen wieder leichter. Die gefühlte Geschwindigkeit ließ nach, so als näherte ich mich einem unsichtbaren Gipfel. Gleich, so spürte ich, würde ich darüber hinwegfegen, und dann ...

Ich schaffte es gerade noch, die Fäuste zu ballen, da plumpste mein Körper in eine Schwerelosigkeit, die lustig und schaurig zugleich war. Ein kalter Kitzel in der Magengrube, und ich sauste, nach wie vor im starren Sessel sitzend, rapide abwärts.

»Augen zu«, befahl Baal Petrowitsch.

Ich schaute zu Hera hinüber. Deren Augen waren geschlossen. Also kniff ich meine auch zusammen. Doch davon wurde mir sogleich angst und bange, denn das Gefühl zu fliegen wurde überwältigend real, und das feststehende Zimmer, das mich hätte zu jeder Sekunde daran erinnern können, dass dies nur eine Halluzination des Gleichgewichtssinns war - ich sah es nun nicht mehr. Also versuchte ich die Augen wieder zu öffnen und musste feststellen, dass das nicht mehr ging. Vor Entsetzen jaulte ich auf und hörte Baal Petrowitsch leise lachen.

Jetzt traten noch visuelle Halluzinationen hinzu. Ich sah mich unzweifelhaft am bewölkten Nachthimmel fliegen; totale Finsternis, und trotzdem ließen sich immer noch schwärzere Wolken darin ausmachen, wie Gerinnsel von Dampf; ich düste in unglaublichem Tempo da durch. Es war, als hätte sich um mich her eine Falte im Raum gebildet, die den Luftwiderstand von mir nahm. Von Zeit zu Zeit spürte ich eine Kontraktion im Hirn, und die Flugrichtung änderte sich, was sehr unkomfortabel für mein Befinden war.

Wenig später begannen sich in den Wolken Leuchtpunkte abzuzeichnen. Erst ganz matt, dann immer heller. Ich war mir sicher, dass sie mit Menschen in Zusammenhang standen. Vielleicht waren es menschliche Seelen, vielleicht auch nur Gedanken, Träume von irgendwem - oder etwas zwischen alledem ...

Und dann wusste ich auf einmal, was das war.

Es war der Teil des menschlichen Bewusstseins, den Enlil Maratowitsch als Geist B bezeichnete. Kugeln, von denen ein zartes Perlmuttleuchten ausging, Polarlicht hatte er es genannt. Die Kugeln waren auf unsichtbare Fäden gezogen und bildeten lange Girlanden. Unzählige davon wanden sich spiralig hin zu einem winzigen schwarzen Fleck. Dort befand sich Ischtar; ich sah sie zwar nicht, doch es war so fraglos klar wie der Standort der Sonne an einem heißen Sommertag.

Plötzlich vollführte mein Körper ein jähes und sehr schmerzhaftes Manöver (mir war, als führen alle Knochen knirschend auseinander), und schon glitt ich auf einem dieser Fäden entlang, stob durch die Geistesblasen, eine nach der anderen.

Soweit ich es beurteilen konnte, tat ich ihnen dabei nichts an - konnte ich auch nicht, denn sie waren nicht wirklich vorhanden. Und nicht auf diese Blasen hatte die Zunge es abgesehen, sondern auf den kleinen Tropfen Hoffnung und Sinn, der in jeder von ihnen reifte. Gierig sog die Zunge diese grellroten Tröpfchen in sich auf, schwoll und glühte in düsterer elektrischer Freude, von der mir zunehmend flau im Magen wurde.

Ich fühlte mich als Schatten, der durch Tausende von Träumen flog und sich von ihnen nährte. Die fremden Seelen erschienen mir wie aufgeklappte Bücher - ich erfuhr alles über sie. Jene Tagträume waren mein Brot, in die der Mensch ein ums andere Mal fällt, ohne es zu merken, sobald sein Blick eine Hochglanzseite, einen Bildschirm oder ein fremdes Gesicht scannt. In jedem Menschen entfaltete sich die purpurne Blüte der Hoffnung, und obwohl diese Hoffnung zumeist kaum sinnvoller war als das letzte Kikeriki eines Grillhähnchens - die Blüte war echt, und der unsichtbare Schnitter, der auf meiner schaumbedeckten Kruppe dahinflog, kappte sie mit seiner Sense vom Stengel. In den Menschen vibrierte ein rotes Energiewendel, ein glimmender Lichtbogen zwischen dem, was sie für die Wirklichkeit hielten, und dem, was sie zum Traum zu erklären sich abfanden. Die Pole stimmten nicht, aber der Funke zwischen ihnen war echt. Die Zunge verschlang ihn, blähte sich und brachte meinen armen Schädel zum Bersten.

Es fiel mir immer schwerer, bei dieser Jagd mitzuhalten. Das Tempo, in dem das Geschehen mich ansprang, war unerträglich. Ich wusste selbst nicht, wie ich es fertigbrachte, in jeden Menschen, dessen Geist ich durchflog, einen Blick zu werfen, es bereitete mir physische Schmerzen, dieses Tempo durchzustehen. Die einzig mögliche Ablenkung war, vorsätzlich einem dieser trägen Menschengedanken aus schweren, verlässlichen Menschenworten hinterherzudenken. Nur dadurch konnte ich mein Hirn diesem wie rasend rotierenden Schmirgelkopf ein Stück weit entrücken.

Also dachte ich: Irgendwo schlafen Kinder, und man meint, sie träumten ihre Kinderträume, dabei produzieren auch sie schon ihr Bablos wie die Großen ... Von Kindesbeinen an schuften sie ... Auch bei mir war es so, ich weiß noch, wie ... Ich weiß noch, wie dieser grellrote Hoffnungstropfen in mir reifte ... Der Glaube, man würde demnächst etwas ganz Wesentliches erkennen, etwas zu Ende bringen, eine Entscheidung treffen - und dann finge ein neues Leben an, das wahre, das richtige Leben ... Doch dazu kommt es nie, weil der rote Tropfen immer wieder verschwindet, sich also immer wieder neu in uns ansammeln muss. Darüber vergeht das Leben, bis wir es irgendwann müde sind. Und dann bleibt nur, sich ins Bett zu legen, zur Wand zu drehen und zu sterben ...

Nunmehr wusste ich, wohin der Tropfen verschwand. Immer schneller fiel ich durch die Leben fremder Menschen, mein Reiter pflückte emsig die letzten roten Beeren des Sinns, schluckte sie und stillte so seinen unbegreiflichen Hunger. Nicht wenige Menschen sah ich, die ahnten, was ihnen geschah, die nahe davor waren zu begreifen, doch dann reichte es wieder nicht zum entscheidenden Gedanken. Es gellt der Schrei der Großen Maus, und dem Menschen bleibt das vage Gefühl, einen wichtigen Gedanken gehabt, doch sogleich wieder verloren zu haben, unwiderruflich ...

Wir näherten uns dem Ziel der wilden Reise: Ischtar, dem unsichtbaren Koloss. Mit dem Aufprall, so wusste ich, würde alles vorüber sein. Und in der letzten Sekunde meiner Reise fiel mir ein, dass ich von alledem schon einmal gewusst hatte. Als Kind hatte ich Vampire durch meine Träume fliegen sehen, ich hatte erkannt, dass sie mir das Wichtigste im Leben stahlen. Doch weil es dem Menschen verwehrt ist, diesen Traum mit in den Tag zu nehmen, glaubte ich nach dem Aufwachen, der fledermausartige Fächer über meinem Bett müsste der Grund sein für die Angst...

Dann der Schlag. Dabei, merkte ich, gab die Zunge die ganze eingefahrene Ernte an Ischtar ab. Und anschließend geschah etwas, das ich einfach nicht mit Worten wiedergeben kann. Wobei mich das auch gar nicht betraf, es ging nur die Zunge etwas an. Ich dämmerte weg.

Mein Geist kam zum Erliegen wie die Oberfläche eines Sees bei völliger Windstille: Nichts bewegte sich. Wie lange das andauerte, ist schwer zu sagen. Dann traf auf die Oberfläche dieses Nichts ein Tropfen.

Woran er sich zerschlug, weiß ich nicht. Doch für einen Augenblick geriet der unsichtbare ewige Hintergrund, vor dem sich alles Übrige abspielte, ins Schwanken. So als schaute man in den Himmel, ins Geäst der Bäume, und auf einmal kräuselt sich alles, und man merkt, es ist gar nicht die Welt, in die man schaut, sondern ihr Spiegelbild im Wasser. Früher hatte ich nicht gewusst, dass es diesen Hintergrund gab. Und da ich ihn nun sah, fiel mir wie Schleier von den Augen, dass ich alles bis dahin Geschehene ganz falsch aufgefasst hatte. Gleich wurde mir leichter zumute, viel leichter und fröhlicher.

Früher hatte ich angenommen, das Leben bestünde aus Vorkommnissen, die mir und anderen zustießen. Gute und schlechte Vorkommnisse - überwiegend letztere, warum auch immer. Und all diese Ereignisse fänden an der Oberfläche einer massiven Kugel statt, auf die die Schwerkraft uns niederdrückt, während diese Kugel selbst durch das leere All fliegt.

Nun aber begriff ich, dass alles, was sich im Universum befand und abspielte: Ischtar, die Vampire, die Menschen, an der Wand klebende Fächer und am Planeten klebende Jeeps, Kometen, Asteroiden, Sterne, ja selbst der leere Kosmos, durch den das alles fliegt, und ich mittendrin - dass all dies nur Wellengekräusel ist, das über den unsichtbaren Hintergrund hinweggeht. Wellen wie die, die sich eben nach dem Aufschlag des Tropfens in meinem Bewusstsein ausgebreitet haben. Ein jegliches auf der Welt ist aus ein und derselben Substanz gemacht. Und diese Substanz bin ich.

Die Ängste, die sich über die Jahre in meiner Seele angestaut hatten, lösten sich in der neuen Erkenntnis augenblicklich auf. Ich hatte auf dieser Welt nichts zu befürchten, so wie auch von mir keine Gefahr ausging, für nichts und niemanden. Weder mir noch anderen konnte Böses geschehen. Die Welt, so wie sie beschaffen war, schloss das aus. Und das zu begreifen war das größtmögliche Glück. Dessen war ich mir sicher, denn dieses Glück erfüllte mich ganz und war mit dem, was ich je erlebt und erlitten, nicht zu vergleichen.

Warum habe ich das bloß früher nicht gesehen?, wunderte ich mich. Und wusste im nächsten Moment, warum: Sehen kann man nur, was Form und Farbe, Maß und Kontur hat. Diese Substanz aber hatte nichts von alledem. Alles existierte nur in Form von Wellen und Wirbeln auf ihr - von ihr selbst ließ sich nicht einmal sagen, ob sie überhaupt existierte, denn es gab keinen Weg, die Sinnesorgane von ihrer Existenz zu überzeugen ...

Wäre da nicht dieser eine, wer weiß woher rührende Tropfen gewesen. Der mich für einen Moment aus der eingebildeten Welt herausgerissen hatte (dass sie nur eingebildet war, wusste ich jetzt sicher, auch wenn alle ringsumher an sie glaubten). Alles, so dachte ich in stillem Triumph, alles! würde sich nun ändern in meinem Leben, und was ich gerade begriffen hatte, das vergäße ich fortan nie mehr.

Und wusste im selben Moment, dass ich es schon vergessen hatte.

Das Ganze war zu Ende. Um mich her gerann das zähe, verstockte, ausweglose Leben mit Kaminen, Sesseln, einer grinsenden Goldsonne an der Decke, Bildern an der Wand und Baal Petrowitsch im langen roten Umhang, gerann zur alten Form. Alles eben Erkannte konnte mir nicht mehr nützen, weil der Moment, da ich es erkannt hatte, der Vergangenheit angehörte. Jetzt aber herrschte Gegenwart. In ihr war alles real und konkret. Und es spielte keine Rolle, aus welcher Substanz die Dornen und Stacheln dieser Welt bestanden. Entscheidend war, wie tief sie ins Fleisch drangen. Und sie drangen mit jeder Sekunde tiefer - bis die Welt wieder so war wie immer.

»Und?«, fragte Baal Petrowitsch, in mein Gesichtsfeld rückend. »Wie ist das werte Befinden?«

Alles in Ordnung, wollte ich sagen, doch stattdessen sagte ich:

»Kann ich noch mal?«

»Au ja«, sagte Hera. »Ich auch. Geht das?«

Baal Petrowitsch lachte.

»Da seht ihrs. Nun wisst ihr, was Durst bedeutet.«

»Ist das zu machen oder nicht?«, beharrte Hera.

»Keinesfalls. Ihr müsst euch bis zum nächsten Mal gedulden.«

»Und dann wird es genauso sein wie diesmal?«, fragte ich.

Baal Petrowitsch nickte.

»Es wird immer so sein wie beim ersten Mal. Immer wieder so frisch und klar und ungreifbar. Wieder und wieder wird es euch zu dieser Erfahrung drängen. Und die Strapazen der Einstiegsphase werden euch nicht davon abhalten.«

»Kann man sich solche Eindrücke auch auf andere Weise verschaffen? Ohne Bablos?«, fragte Hera.

»Das ist ein schwieriges Feld. Da bin ich ehrlich überfragt«, antwortete Baal Petrowitsch. »Die Tolstoianer zum Beispiel sind der Meinung, dass man es kann - bei ausreichend schlichter Lebensführung. Aber soweit ich weiß, hat es noch bei keinem von ihnen geklappt.«

»Auch nicht bei Osiris?«, fragte ich.

»Osiris?«, Baal Petrowitsch runzelte die Stirn. »Über den hört man so manches. Er habe sich in den sechziger Jahren das Bablos intravenös gespritzt. Gedrückt, wie man damals zu sagen pflegte. Was der Kopf dabei auszuhalten hat, wage ich mir nicht vorzustellen. Ihn traut sich heute jedenfalls keiner mehr zu beißen. Niemand weiß, was in seinem Kopf vorgeht und was für eine Art Tolstoianer er in Wirklichkeit ist. Mit einem Wort: Osiris ist terra incognita. Doch es besteht die Ansicht, Heilige seien zu vergleichbarem Erleben fähig. Wieder andere sagen, auf den höchsten Stufen der Yogakunst gebe es ähnliche Erfahrungen.«

»Höchste Stufen, was heißt das?«, fragte Hera.

»Das kann ich nicht sagen. Keinem Vampir ist es bisher gelungen, einen so weit fortgeschrittenen Yogi zu beißen. Von Heiligen ganz zu schweigen, die gibt es schon lange nicht mehr. Der Einfachheit halber sollte man davon ausgehen, dass das Saugen von Bablos der einzig natürliche Weg für einen Vampir ist, um seinen Durst zu stillen. Durst und Bablos sind zwei Seiten eines biologischen Mechanismus, der der Großen Maus das Überleben sichert. So wie sexuelle Lust der Garant für die Fortpflanzung ist.«

Er tippte auf das Steuerpult, und ich hörte die Elektrik leise surren. Der Brustschild fuhr nach oben, mit einem Klick sprangen die Arretierungen an Armen und Beinen auf.

Ich erhob mich. Ein kleiner Drehwurm war noch zu spüren, ich fasste sicherheitshalber nach der Sessellehne.

Neben dem Kamin stand das Geldköfferchen - offen und leer. In der Asche hinter dem Kamingitter waren halb verkohlte Reste von Tausendrubelscheinen zu erkennen. Baal Petrowitsch hatte das Ritual mit größter Gewissenhaftigkeit durchgeführt; vielleicht war es für ihn eine Religion, als deren Hoher Priester er sich fühlte.

Jetzt stand auch Hera auf. Sie war blass und schaute ernst. Als sie die Hand hob, um ihre Haare zu ordnen, sah ich, dass sie zitterte.

»Bleibt noch eine kleine Formalität«, wandte sich Baal Petrowitsch an sie. »Und ladies first, wie es die Höflichkeit gebietet.«

Er hielt ein glänzendes rundes Etwas in der Hand; es hätte eine große Münze sein können. Sorgfältig befestigte er es an Heras Shirt, das davon gleich Falten schlug, das Ding war offenbar schwer.

»Was ist das?«, fragte Hera.

»Die Geldgott-Gedenkplakette«, antwortete Baal Petrowitsch. »Jetzt wisst ihr auch, warum wir die Namen von Göttern tragen.«

Nun war ich an der Reihe.

»Ich war früher einmal Juwelier«, erklärte er, »und fertige die Orden selbst an, so wie ich es damals gelernt habe. Jeder ist einmalig. Deiner ist etwas eigentümlich. Mit Eichenflügeln!«

»Wieso?«, fragte ich argwöhnisch.

»Es hat nichts zu bedeuten. Ergab sich einfach so. Es sollten Flügel werden, und dann sahen sie nach Eichenlaub aus. Aber gottlob sind wir keine Nazis. Wir sind Vampire. Also kein Eichenlaub, sondern Eichenflügel. Schau doch, ich finde, es sieht hübsch aus.«

Ich betrachtete die stumpfglänzende Platinscheibe auf seinem Handteller, aus der zwei goldene Flügel hervorstachen, die tatsächlich wie Eichenlaub aussahen. Winzige Brillanten formten die Initialen R II.

»Gefällt sie dir?«, fragte Baal Petrowitsch.

Ich nickte - mehr aus Höflichkeit.

»Auf dem Revers steht ein Leitspruch«, sagte Baal Petrowitsch. »Traditionsgemäß auch von mir ausgewählt.«

Ich drehte die Plakette um. Dort war rings um die Nadel ein Spruch eingraviert:

Der da saugt, das bin nicht ich, das sind die anderen. Graf Dracula.

Wie alle Äußerungen des Grafen, so war auch dieser Gedanke nicht taufrisch, doch ließ sich wenig dagegen sagen. Baal Petrowitsch nahm mir sein Erzeugnis wieder aus der Hand und heftete es an meine Brust, dabei piekte er mich mit der Nadel.

»Jetzt seid ihr richtige Vampire«, sagte er.

»Wo hat man die zu tragen?«, fragte ich.

»Häng sie dir ins Hamlet«, sagte Baal Petrowitsch. »Das tun die meisten.«

»Und wann findet die nächste Zeremonie statt?«, erkundigte sich Hera.

»Bedaure, das entscheide nicht ich«, sagte Baal Petrowitsch, die Hände hebend. »Den Plan erstellt Enlil, und die Primadonna segnet ihn ab.«

Damit war wohl Ischtar Borissowna gemeint.

»Wie ist denn da so die durchschnittliche Frequenz?«, sagte ich.

»Frequenz?«, fragte Baal Petrowitsch verblüfft. »Hm ... Interessant, darauf bin ich noch nie gekommen. Das haben wir gleich.«

Er zog ein Mobiltelefon aus der Tasche seines Umhangs und tippte wild in die Tasten.

»Die Frequenz«, sagte er nach einer ganzen Weile, »beträgt drei komma acht sechs mal zehn hoch minus sieben Hertz.«

»Und das heißt?«

»Na, Frequenz meint doch, wie oft in der Sekunde, nicht wahr? Dann also so oft. Das nächste Mal in ungefähr einem Monat.«

»Einmal im Monat ist sehr wenig«, sagte Hera. »Viel zu wenig. Das geht nicht.«

»Dann redet mit der Chefetage«, riet Baal Petrowitsch. »Wir haben ja auch unsere Hierarchie: Wer am tiefsten sitzt, hat das Sagen. Enlil zum Beispiel verfügt über eine eigene Hausbar. Er und die Primadonna können jeden Tag Bablos saugen, wenn ihnen danach ist. Aber ganz zu Anfang der Kreativkarriere, Kinder, da ist öfter als einmal pro Monat nicht drin ...«

Er sah auf die Uhr.

»Noch Fragen? Ansonsten wird es Zeit für mich.«

Fragen gab es weiter keine mehr.

Wir verabschiedeten uns von Baal Petrowitsch und traten hinaus auf den Korridor. Ich ergriff Heras Hand. So liefen wir bis zur Haustür, wo sie mir die Hand jedoch wieder entzog.

»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte ich.

»Nicht gleich«, antwortete sie. »Und ruf vorläufig nicht an. Ich melde mich.«

Mitra sah uns und kam herüber.

»Hera«, begann er, gegen die Sonne blinzelnd, »weil das doch heute dein Festtag ist, möchte ich, dass du ihn für ewig in Erinnerung behältst. Und da hab ich mir gedacht ...«

Er verstummte und starrte mich an.

»Ist was?«, fragte ich.

»Rama«, sagte er, »ich hab nichts gegen dich, aber ... ich glaube, du bist hier zu viel.«

»Wieso? Es ist auch mein Festtag, vergiss das nicht.«

»Das ist schon wahr. Aber ich weiß auch nicht, was man da machen kann ... Na gut, zwei Vorschläge gegen die Einsamkeit hätte ich noch. Erstens hast du ja Iwan. Ich hab ihn beim Warten auf Hera gebissen - im Großen und Ganzen findet er dich sympathisch, verlass dich drauf. Die andere Variante wäre, Loki anzurufen. Er ist zwar ein bisschen zu alt für dich, aber wenn du seine Freundin einschleimen möchtest, hätte er bestimmt nichts dagegen. Im Unterschied zu mir!«

Hera grinste. Und ich war schon wieder sprachlos - wahrscheinlich ging in meinem Kopf noch einiges durcheinander nach der Zeremonie. Mitra hakte Hera unter und ging mit ihr davon. Sie blickte sich nicht einmal um. Irgendetwas war in sie gefahren. Sie benahm sich anders, als man es hätte erwarten dürfen. Ganz anders. Und ich wusste nicht, was los war.

Sie stiegen ins Auto.

Loki anrufen, dachte ich, warum nicht. Vielleicht war das ein Ausweg. Natürlich war es das. Es gab ja keinen anderen.

Beim Auto angelangt, stieg ich hinten ein und knallte die Tür zu.

»Wohin solls gehen, Chef?«, fragte Iwan.

»Nach Hause.«

Iwan fuhr an, musste aber gleich wieder bremsen, um Heras Wagen, der aus dem Gebüsch geschossen kam, vorbeizulassen. Hinter den getönten Scheiben war nichts zu erkennen - und diese Undurchdringlichkeit entzündete meine Phantasie. Entflammte sie so lichterloh, dass die letzten verbliebenen Zweifel ausgeräumt wurden.

Ich wählte Lokis Nummer. Er nahm augenblicklich ab.

»Rama? Grüß dich. Was kann ich für dich tun?«

»Sie haben mir vom Duell zwischen Vampiren erzählt, wissen Sie noch?«

»Natürlich weiß ich das noch. Wieso fragst du? Willst du irgendwen herausfordern?«

Der fröhliche Tonfall ließ erkennen, dass er die Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht zog.

»Ja«, sagte ich. »Das will ich.«

»Machst du Witze?«

»Nein. Wie muss ich vorgehen?«

»Es genügt, mir das zu sagen«, antwortete Loki. »Alles Weitere organisiere ich, das gehört zu meinen Verpflichtungen. Aber ich muss sicher sein, dass du es vollkommen ernst meinst.«

»Ich meine es vollkommen ernst.«

»Wen willst du denn fordern?«

»Mitra.«

Loki schwieg eine Weile.

»Darf man fragen«, sagte er dann, »aus welchem Grund?«

»Der ist privat.«

»Hat es etwas mit... seinem Anteil an deinem Schicksal zu tun? Ich meine, mit Brahmas Tod?«

»Nein.«

»Und du hast es dir gut überlegt?«

»Ja«, antwortete ich.

»Ich muss dich warnen, Rama«, sagte Loki. »Das ist kein Spaß. Solltest du Mitra tatsächlich zum Duell fordern wollen, bringe ich die Sache in Gang. Aber solltest du es dir dann noch anders überlegen, entstünde eine peinliche Situation.«

»Ich. Will. Mitra. Tatsächlich. Zum. Duell. Fordern«, wiederholte ich. »Und ich werde es mir keinesfalls anders überlegen.«

»Na schön, wenn das so ist ... Welche Waffe würdest du bevorzugen? In der Regel bestimmt das der Herausgeforderte, aber manchmal lässt sich ein Konsens erzielen.«

»Ganz nach Belieben.«

»Gut«, sagte Loki. »Dann schick mir eine Mail mit der Duellorder. Aber nicht gleich. Du schreibst sie morgen früh, ausgeschlafen und mit klarem Kopf. Nachdem du noch einmal alles gut durchdacht hast. Dann beginne ich zu handeln.«

»Gut. Muss ich irgendeine Form einhalten?«

»Ich schicke dir ein Muster. Die Form ist im Grunde egal, aber die letzte Zeile muss lauten: Dafür bin ich bereit, Gott zu begegnen.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Was dachtest du? Ein Duell ist eine ernsthafte Angelegenheit. Du solltest dir im Klaren darüber sein, wie unerhört grausig das Ganze enden kann ...«

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