GEIST B

Von einer Bockleiter abgesehen, gab es in Enlil Maratowitschs Hamletklause keine Möbel. Die Einrichtung war asketisch: Kissen von langweiligem Grau auf dem Boden, an der Wand in ähnlich deprimierenden Tönen ein Rundgemälde, das die Grablegung eines unbekannten Ritters darstellte: Eine Menge ehrwürdiger Herren in Spitzenkragen geleiteten ihn auf seinem letzten Weg; der Tote selbst steckte in schwarzem Harnisch mit gespaltenem Brustschild, über dem krähengroß eine blau fluoreszierende Mücke schwebte.

Über unseren Köpfen befand sich ein breiter Kupferreif, der mit drei Stangen an der Decke befestigt war und beinahe den gesamten Raum einnahm. Irgendwie gab dieser Reif schon auf den ersten Blick zu erkennen, dass er aus sehr alter Zeit stammte.

Enlil Maratowitsch hing, die Füße hinter den Reif geklemmt, kopfunter mit verschränkten Armen im Raum. Er trug einen Trainingsanzug aus dicker schwarzer Baumwolle; die hinter seinem Kopf hängende Kapuze sah aus wie ein absurd-phantastischer Stehkragen - es hätte ein Kostümentwurf für ein Vampirmärchen bei Mosfilm sein können.

»Sie sehen aus wie ein Mobilvampir«, sagte Hera.

»Bitte?«, fragte Enlil Maratowitsch verwundert zurück.

»Im Fernsehen gabs mal so eine Reklame. Da ging es um Vampire, die nachts ihre Handygespräche führen, um Gebühren zu sparen. Tagsüber schlafen sie, mit dem Kopf nach unten wie Fledermäuse.«

Enlil räusperte sich beleidigt.

»Soviel ich weiß«, sagte er, »sparen Vampire keine Gebühren. Sie sparen Reklame.«

»Das möchte ich bezweifeln, wenn Sie erlauben, Enlil Maratowitsch«, sagte Hera. »Ich glaube ... Nein, ich glaube nicht, ich bin mir absolut sicher, dass seit etlichen Jahren eine weltweite PR-Kampagne zur Rehabilitierung der Vampire läuft. Diese Mobilvampire sind nur ein Beispiel dafür. Das merkt doch jeder Idiot, dass das Vampirreklame ist und keine Tarifreklame. Ganz zu schweigen von Hollywood.«

Sie hatte recht, das war mir sofort klar. Ich hätte einen Haufen weitere Beispiele parat gehabt, die ihre Ansicht bestätigten. Es muss tatsächlich einen Grund haben, warum die Menschen Vampire so gern idealisieren. Gleich ob man uns als Meister in Fragen des guten Geschmacks darstellt, als düstere Romantiker oder versonnene Träumer - es geschieht immer mit viel Sympathie. Vampire werden von gutaussehenden Schauspielern gespielt, angesagte Popstars stellen uns mit Vorliebe in ihren Videoclips dar. Kein Star, weder im Westen noch im Osten, findet an dieser Rolle irgendetwas Anrüchiges. Das ist wirklich sonderbar: Selbst Verführer Minderjähriger und Grabschänder müssten mit ihrem Tun dem Durchschnittsmenschen näherstehen als wir, doch denen haben Künstler niemals irgendwelche Sympathien entgegengebracht. Während über die Vampire eine anhaltende Woge von Mitgefühl und Liebe niedergeht. Einfach sagenhaft ...

Erst jetzt ging mir ein Licht auf, woran das lag. Merkwürdig, dass ich nicht früher darauf gekommen war.

»Das stimmt schon«, sagte Enlil Maratowitsch. »Alle Vampire der Welt werden regelmäßig um Spenden angegangen, wenn wieder einmal ein Vampirfilm fällig ist, damit kein Mensch auf die Idee kommt zu fragen, wer tatsächlich bei ihnen rote Flüssigkeit abzapft und auf welche Weise. Aber das kann natürlich nicht ewig so gehen. Eines Tages wird die Symphonie von Mensch und Vampir kein Geheimnis mehr sein. Und auf diesen Tag muss die Öffentlichkeit beizeiten vorbereitet werden.«

Der Moment schien mir günstig, die Frage loszuwerden, die mich beschäftigte.

»Sagen Sie, Enlil Maratowitsch ... Der Flug hierher ... War das denn nun der Große Sündenfall?«

»Nein.«

Ich war konsterniert. Enlil Maratowitsch lächelte.

»Der Große Sündenfall wird sein, eingeweiht zu werden. Eingeweiht in etwas, das ich euch noch heute offenbare. Dafür bräuchtet ihr nach Möglichkeit einen klaren Kopf. Ich schlage vor, ihr macht es euch erst einmal bequem.«

Dabei deutete er auf den Reif.

Das Kupfer war wie die Reckstangen in den Turnhallen mit einem transparenten Mantel aus Weichplastik beschichtet. Hera stieg als Erste die Bockleiter hinauf (ich wollte ihr assistieren, doch sie war sehr behände), ich kletterte hinterher und hing im nächsten Moment kopfunter am Reif. Das Blut schoss mir in den Schädel, was ich jedoch angenehm und entspannend fand.

Hera hing mir gerade gegenüber. Ein Streifen gelbes Licht von der Lampe fiel auf sie. Ihr T-Shirt war ein Stück nach unten gerutscht, der Nabel lag frei.

»Findest du es hübsch?«, fragte Enlil Maratowitsch.

Er hatte mich angesprochen. Schnell schaute ich woanders hin.

»Was meinen Sie?«

»Na, so zu hängen - behagt dir das?«

»Ja«, sagte ich, »es ist besser, als ich dachte. Das kommt vielleicht, weil das Bl... ich meine, weil die rote Flüssigkeit in die Zunge strömt?«

»Genau. Wenn ein Vampir schnell wieder zu Kräften kommen und sich konzentrieren muss, ist das die beste Methode.«

Da war etwas dran. Mit jeder Sekunde fühlte ich mich besser. Die während des Fluges verausgabten Kräfte kehrten wieder. Kopfunter zu hängen war genauso gemütlich, wie im Sessel am Kamin zu sitzen.

Ein paar Minuten verstrichen, in denen nicht gesprochen wurde.

Dann sagte Enlil Maratowitsch: »Heute sollt ihr ein Geheimnis erfahren. Aber erst einmal werdet ihr eine Menge Fragen auf dem Herzen haben. Vielleicht sollten wir damit beginnen.«

»Ja, sagen Sie, dieser Flug - was war das?«, fragte ich.

»Das ... war ein Flug.«

»Ich meine, haben wir das nur geträumt? War es eine Art Trance? Oder war das alles echt? Wie hätte ein zufälliger Zeuge es gesehen?«

»Die Grundvoraussetzung einer solchen Reise ist«, antwortete Enlil Maratowitsch, »dass ein zufälliger Zeuge nichts davon zu sehen bekommt.«

»Das ist es, was ich nicht verstehe«, sagte ich. »Wir sind die ganze Zeit an Häusern vorbeigeflogen, mit einem wäre ich beinahe kollidiert. Aber Mitra hat behauptet, keiner könne uns sehen. Wie ist das möglich?«

»Schon mal was von Tarnkappentechnik gehört? Wir haben es hier mit etwas Vergleichbarem zu tun. Nur dass Vampire keine Radarwellen schlucken, sondern gerichtete Aufmerksamkeit. «

» Sind wir währenddessen auf dem Radarschirm zu sehen ?«

»Bei wem?«

»Egal.«

»So lässt sich die Frage nicht stellen. Sobald wir auf einem Schirm zu sehen sind, ist der Schirm nicht zu sehen.«

»Ich schlage vor, das Thema zu wechseln«, sagte Hera.

»Vorschlag angenommen«, sagte Enlil Maratowitsch.

»Ich habe eine Vermutung«, fuhr Hera fort. »Ich glaube, ich weiß, wo die Zunge gewohnt hat, bevor sie sich im Menschen einnistete.«

»Aha. Dann sag!«

»In dieser Riesenfledermaus, die ich vorhin war?«

Enlil Maratowitsch ächzte anerkennend.

»Wir nennen sie die Große Maus. Mighty Bat auf Englisch. Sag nach Möglichkeit bitte nicht Mighty Mouse, wenn du Small Talk mit unseren amerikanischen Freunden treibst. Kommt manchmal vor, dass sich einer von uns verspricht, dann sind sie beleidigt. So ist ihre Kultur, daran lässt sich nichts ändern.«

»Hab ich denn richtig geraten?«, fragte Hera.

»Ja und nein.«

»Was soll das heißen? Ja oder nein?«

»Dass die Zunge in der Großen Maus gewohnt hat, wäre eine unzutreffende Formulierung. Sie war sie. Vor langer, langer Zeit, vielen Millionen Jahren. Damals liefen noch die Dinosaurier herum, deren rote Flüssigkeit der Großen Maus als Nahrung diente. Von daher sprechen wir vom Schrei der Großen Maus. Das muss man sich vorstellen: dass man einem Menschen, wenn man ihn beißt, heute noch denselben Befehl erteilt, der schon diesen großen Fleischberg seinerzeit willenlos gemacht hat! Das kann ich immer noch nicht fassen. Man möchte niederknien und beten ...«

Beten zu wem? lag mir die Frage auf der Zunge, doch ich stellte lieber eine andere.

»Sind diese Urzeit-Riesenmäuse in den Kohleflözen abgelagert? Gibt es Skelettfunde?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Diese Mäuse waren so klug, ihre Toten zu verbrennen. So wie es heutzutage die Menschen tun. Und sowieso waren sie nicht sehr viele. Sie stellten die Spitze der Nahrungspyramide dar.«

» Seit wann ?«, fragte ich.

»Seit eh und je. Es war die erste vernunftbegabte Zivilisation auf Erden. Sie hat keine materielle Kultur hervorgebracht: keine Gebäude, keine Gewerbe. Aber das ist kein Beweis für ihren niederen Entwicklungsstand, ganz im Gegenteil. Aus heutiger Sicht könnte man sie ökologisch nennen.«

»Und was ist mit dieser Zivilisation geschehen?«

»Eine globale Katastrophe hat sie vernichtet. Vor fünfundsechzig Millionen Jahren ist ein Asteroid auf der Erde eingeschlagen. Da, wo sich heute der Golf von Mexiko befindet. Gewaltige Tsunami-Wellen überfluteten das Festland und schwemmten alles Leben hinweg. Einzig die Große Maus entkam, indem sie sich in die Lüfte erhob. Eine Spur jenes Ereignisses findet sich übrigens in der Bibel: Und die Erde war wüst und leer, und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser ...«

»Ist ja irre«, sagte ich - nur um etwas zu sagen.

»Vor lauter Staub ward der Himmel schwarz. Finsternis und Kälte brachen herein. Binnen weniger Jahre waren beinahe alle Glieder der Nahrungskette ausgestorben. Die Dinosaurier waren weg. Die Große Maus, die sich von deren roter Flüssigkeit nährte, sah sich dem Tode nah. Doch den Vampiren gelang es, einen Kern aus sich zu extrahieren -das, was wir heute die Zunge nennen. Eine Art übertragbare Speicherkarte mit den Persönlichkeitsmerkmalen. Das Hirnmark - wurmförmig, zu neunzig Prozent aus Nervenzellen bestehend. Dieses Individualitätsdepot siedelte sich nun in den Schädeln anderer, besser an die neuen Verhältnisse angepasster Lebewesen an und ging mit ihnen eine Symbiose ein. Einzelheiten muss ich hier vielleicht nicht erläutern.«

»Vielleicht doch? Was waren das zum Beispiel für Lebewesen?«

»Lange Zeit überlebten wir in größeren Raubtieren. Säbelzahntigern zum Beispiel, anderen Großkatzen. Unsere Kultur war damals, wie soll ich sagen ... nun ja: ziemlich abstoßend. Heroisch gewalttätig sozusagen. Wir waren schrecklich, wir waren schön, wir waren gnadenlos. Schön und gnadenlos zugleich, das geht nicht lange gut. Vor ungefähr einer halben Million Jahren ereignete sich in der Welt der Vampire eine Revolution des Geistes ...«

Der Ausdruck Revolution des Geistes kam im Diskurs recht vielfältig zum Einsatz und konnte alles Mögliche bedeuten. Ich wählte den jüngsten Anwendungsfall:

»So wie auf dem Kiewer Majdan?«

Enlil Maratowitsch räusperte sich.

»Das nun nicht gerade. Das war bloß ein religiöser Appell. Wie ich schon erwähnte, standen die Vampire vor der Aufgabe, von der Schlachtvieh- zur Milchwirtschaft überzugehen. Sie beschlossen, sich ein Melktier zuzulegen. Infolgedessen entstand der Mensch.«

»Wie haben die Vampire ihn geschaffen?«

»Gezüchtet, sollte man besser sagen. So ähnlich, wie der Mensch sich Hund und Schaf züchtete.«

»Durch künstliche Auslese?«

»Jawohl. Zunächst wurde eine Reihe genetischer Modifikationen durchgeführt. Damit hatte man schon zuvor experimentiert. So ist der Großen Maus zum Beispiel die Existenz von sogenannten Warmblütern zu verdanken, die hauptsächlich dazu dienten, die rote Flüssigkeit optimal zu temperieren. Doch der Mensch war eine qualitativ neue Herausforderung.«

»Woraus wurde der Mensch gezüchtet! Aus Affen?«, wollte Hera wissen.

»So ist es.«

»Wo und wann geschah das?«

»Es hat sich ziemlich hingezogen. Die letzte genetische Modifikation erfolgte vor 180 000 Jahren in Afrika. Von dem Punkt aus nahm die moderne Menschheit ihre Entwicklung.«

»Und welche Methode lag der Selektion zugrunde?«, stellte Hera ihre nächste Frage.

»Methode, was soll das heißen?«

»Na, bei der Zucht von Milchkühen sucht man sich diejenigen aus, die viel Milch geben. So dass am Ende eine Kuh herauskommt, die mehr Milch gibt als jede andere. Worum ging es beim Menschen?«

»Die Vampire haben Tiere mit besonderen Geistesanlagen ausgesucht.«

»Nämlich welchen?«

»Das ist ein kompliziertes Thema«, sagte Enlil Maratowitsch. »Langweile ich euch damit auch nicht?«

»Nein«, sagte Hera und sah mich an.

»Es langweilt uns nicht«, bestätigte ich.

»Gut«, sagte Enlil Maratowitsch. »Aber da muss ich etwas weiter ausholen ...«

Er gähnte und schloss die Augen.

Es verging ungefähr eine Minute in völliger Stille. Anscheinend hatte Enlil Maratowitsch so weit auszuholen beschlossen, dass er erst einmal gar nicht mehr anwesend war. Ich vermutete schon, er wäre eingeschlafen, und sah Hera fragend an. Sie zuckte mit den Schultern. Aber da schlug Enlil Maratowitsch die Augen auf und begann zu sprechen.

»Es existiert eine alte Idee, die in Fantasy-Büchern und okkulter Literatur des Öfteren aufgewärmt wird: dass es den Menschen zwar so scheint, als wandelten sie auf der Oberfläche einer Kugel und richteten den Blick ins unendliche All - dass sie aber in Wirklichkeit im Inneren einer Hohlkugel leben, und der Kosmos vor ihren Augen ist eine optische Täuschung.«

»Das kenne ich«, sagte ich. »Das ist die esoterische Weltvorstellung der Nazis. Sie hatten sogar vor, Raketen zu bauen, die, senkrecht nach oben ausgerichtet, die Kerneiszone durchstoßen und in Amerika einschlagen sollten.«

Meine Belesenheit schien auf Enlil Maratowitsch nicht den geringsten Eindruck zu machen.

»In Wirklichkeit«, sprach er weiter, »handelt es sich um ein sehr altes Gleichnis, das schon auf Atlantis bekannt war. Es enthält eine Vision, die die Menschen zu jener Zeit nicht anders als allegorisch ausdrücken konnten. Die Vision ist die, dass wir nicht inmitten von Dingen leben, sondern inmitten von Wahrnehmungen, wie unsere Sinnesorgane sie bereitstellen. Was wir für Sterne, Gartenzäune oder Klettenbüsche halten, sind nur Anordnungen von Nervenreizen. Wir sind fest eingesperrt in unseren Leibern, und was uns Realität scheint, ist eine Interpretation der im Hirn ankommenden elektrischen Impulse. Die Sinnesorgane liefern uns Photographien von der Außenwelt. Während wir in der Kugel hocken, deren Wände mit diesen Photos tapeziert sind. Diese Kugel ist unsere Welt, wir können ihr nicht entrinnen, so sehr uns auch danach ist. Alle Photos zusammengenommen ergeben unser Bild einer Welt, von der wir annehmen, dass sie sich draußen befindet. Drücke ich mich verständlich aus?«

Ich bejahte.

»Ein simpel beschaffener Geist ist wie ein Spiegel im Inneren dieser Kugel. Er reflektiert die Welt und richtet sich danach: Ist das Spiegelbild schwarz, dann wird es Zeit, schlafen zu gehen. Wird es hell, geht man auf Nahrungssuche. Ist es heiß, muss man beiseitekriechen, bis es kälter wird, und umgekehrt. Jegliches Tun ist von Reflexen und Instinkten gesteuert. Wir nennen das einen Geist vom Typ A. Er hat Zugang nur zur gespiegelten Welt. So weit klar?«

»Klar.«

»Und jetzt versucht euch ein Lebewesen vorzustellen, das zwei Arten von Geist hat. Außer Geist A noch einen Geist B, der mit den Photos an den Kugelwänden absolut nichts zu schaffen hat, sondern Bilder in der eigenen Phantasie erzeugt. In seinen Tiefen entsteht ... nennen wir es ein Polarlicht aus abstrakten Begriffen. Lässt sich das vorstellen?«

»Ja.«

»Und jetzt kommt das Wichtigste. Stellt euch vor, Geist B wäre ein Objekt in Geist A. Die Phantasiebilder, die er produziert, überlagern sich dort mit den Photographien der Außenwelt. Was B in seinen verschwiegenen Kammern ausbrütet, erscheint A als Teil der Außenweltprojektion.«

»Jetzt wird es schwierig«, sagte ich.

»Das kommt dir nur so vor. Ihr seid beide viele Male täglich damit konfrontiert.«

»Ein Beispiel wäre schön«, sagte Hera.

» Gut. Stell dir vor ... sagen wir ... Du stehst auf dem Neuen Arbat und siehst zwei geparkte Autos vor dem Spielkasino stehen. Oberflächlich gesehen kaum zu unterscheiden, beide lang und schwarz. Na, der eine vielleicht ein bisschen flacher und länger. Siehst du sie vor dir?«

»Ja«, sagte Hera.

»Die Unterschiede, die du in der Form der Karosse und der Scheinwerfer ausmachst, im Klang des Motors und im Profil der Reifen - die arbeitet dir Geist A zu. Siehst du aber zwei Mercedesse stehen, von denen der eine glamourös ist, weil ein teures Modell vom Vorjahr, und der andere der hinterletzte Schrott, weil in so einem schon olle Beresowski zu

General Lebed in die Sauna gefahren ist, und heute kriegst du so einen für zehntausend Bucks - dann arbeitet Geist B. Das ist das Polarlicht, das er hervorbringt. Es bildet sich aber für dich auf zwei nebeneinanderstehenden schwarzen Autos ab, und du denkst, was Geist B suggeriert, wäre ein Abbild von etwas, das draußen wirklich existiert.«

»Das haben Sie gut erklärt«, sagte ich. »Aber existiert es denn draußen, wie Sie sagen, nicht tatsächlich?«

»Nein. Das lässt sich leicht beweisen. Alle Unterschiede, die Geist A bemerkt, kann man physikalisch messen. Und es wäre in einhundert Jahren noch genauso gut möglich. Während die Unterschiede, die Geist B der Welt zuschreibt, keiner objektiven Bewertung oder Messung unterliegen. Und in hundert Jahren würde keiner mehr verstehen, worin sie einmal bestanden.«

»Aber wie kommt es dann, dass ganz verschiedenen Leuten beim Anblick dieser Wagen ein und dasselbe durch den Kopf geht? Ich meine, dass sie den einen für Glamour halten und den anderen für Abkrach?«, fragte Hera.

»Weil Geist B bei allen diesen Leuten auf dieselbe Wellenlänge justiert ist. Er nötigt sie zu den gleichen Halluzinationen.«

»Und wer ist für den Inhalt dieser Halluzinationen verantwortlich?«, fragte ich.

»Geist B. Beziehungsweise eine Vielzahl solcher Geister, die sich gegenseitig stützen. Das unterscheidet die Menschen von den Tieren. Den Geist A haben auch die Affen. Den Geist B hat nur der Mensch. Das ist das Ergebnis der Selektion, die die Vampire im Altertum betrieben haben.«

»Wozu braucht aber nun das Melktier diesen Geist B?«

»Ist das noch nicht klar?«

»Nein.«

Enlil Maratowitsch wandte den Blick zu Hera.

»Mir auch nicht«, sagte sie. »Im Gegenteil, ich blicke immer weniger durch.«

»Das kann nur daran liegen, dass ihr immer noch wie Menschen denkt.«

Schon wieder dieser Urteilsspruch. Ich zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern.

»Dann bringen Sie uns bei, wie man anders denkt«, brummte Hera.

Enlil Maratowitsch brach in Lachen aus.

»Meine Liebe«, sagte er, »fünfhundert Marktforscher haben euch zehn Jahre lang ins Hirn geschissen, und ihr möchtet, dass ich dort mal eben in fünf Minuten ausmiste ... Nehmts mir nicht übel. Ich mache euch doch keine Vorwürfe. Ich war selbst so einer. Denkt ihr, ich weiß nicht, worüber ihr euch nachts den Kopf zerbrecht? Ich weiß das sehr gut: Ihr habt immer noch keine Ahnung, wo die Vampire ihre Dosis an roter Menschenflüssigkeit herkriegen. Ihr stellt euch Spendezentralen vor, gefolterte Kleinkinder, unterirdische Laboratorien und ähnlichen Firlefanz. Stimmts?«

»So in etwa«, gab ich zu.

»Wenn es doch einmal in vierzig Jahren anders gewesen wäre! Das ist für mich, wenn ihr es genau wissen wollt, das Verblüffendste gewesen, was mir im Leben widerfahren ist: die allgemeine Blindheit. Wenn euch erst der Schleier von den Augen gefallen ist, werdet ihr euch genauso wundern.«

»Was denn für ein Schleier nun?«, fragte Hera.

»Gehen wir doch einmal logisch vor. Da der Mensch nun einmal als Melktier auf der Welt ist, kann seine Hauptbeschäftigung nur im Zusammenhang mit der Nahrungsbereitstellung für uns Vampire stehen, nicht wahr?«

»Richtig.«

»Und jetzt sagt selbst: Welches ist die Hauptbeschäftigung des Menschen?«

»Kinder in die Welt zu setzen?«, schlug Hera vor.

»Das geschieht in der zivilisierten Welt immer weniger. Von einer Hauptbeschäftigung kann da nicht die Rede sein. Nein, was ist für den Menschen am allerwichtigsten?«

»Geld?«, fragte ich.

»Na, also! Und was ist das: Geld?«

»Als ob Sie das nicht selber wüssten!«, versetzte ich und zuckte die Achseln. Was übrigens gar nicht so einfach ist, wenn man kopfüber hängt.

»Ich vielleicht. Aber wisst ihr es?«

»Da gibt es an die fünf ... nein, sieben Definitionen.«

»Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber alle deine Definitionen haben einen grundlegenden Mangel. Sie sind erfunden zu dem einzigen Zweck, Geld zu verdienen. Und das ist, als wollte man die Länge eines Lineals mit ebendiesem Lineal messen ...«

»Sie halten die Definitionen für falsch?«

»Falsch, darum geht es nicht. Aber wenn man sie näher betrachtet, so sagen alle nur das eine: Geld - ist Geld. Sie besagen also gar nichts. Zugleich aber«, betonte Enlil Maratowitsch, den Zeigefinger hebend, »wissen die Leute unterschwellig sehr genau, was vorgeht. Denk einmal daran, wie die Angehörigen der sozialen Unterschichten ihre Vorgesetzten bezeichnen!«

»Ausbeuter?«

»Blutsauger?«, bot Hera an.

Ich erwartete, dass Enlil Maratowitsch sie für diese Antwort in der Luft zerreißen würde, doch das Gegenteil geschah: Er klatschte vergnügt in die Hände.

»Volltreffer, mein kluges Kind! Absauger roter Flüssigkeit, so nennen sie sie. Obwohl keiner von denen das im eigentlichen Sinne tut. Geht euch ein Licht auf?«

»Wollen Sie sagen ...«, begann Hera, aber Enlil Maratowitsch ließ sie nicht ausreden.

»Jawohl. Genau das will ich sagen. Die Vampire verwerten schon lange nicht mehr die biologische rote Flüssigkeit, sondern ein sehr viel weiter entwickeltes Medium menschlicher Lebensenergie. Das Geld!«

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte ich.

»Aber ja. Überleg doch mal. Was ist die menschliche Zivilisation, was stellt sie dar? Nichts als eine riesige Geldmaschine. Die Städte sind Geldfabriken, nur aus diesem Grund leben dort so viele Menschen auf einem Fleck.«

»Aber dort wird doch nicht nur Geld produziert...«

»Es geht immer nur um Wachstum«, unterbrach mich Enlil Maratowitsch, »obwohl keiner genau weiß, was da eigentlich wächst und wohin. Jedenfalls wächst es und wächst, und alle fiebern mit, ob es denn schneller oder langsamer wächst als bei den anderen. Zwischendurch geht das Ganze plötzlich den Bach runter, und es wird Staatstrauer verkündet. Und anschließend wächst es wieder. Und das, obwohl in der ganzen Zeit keiner dieser Stadtbewohner das seltsame Etwas auch nur ein einziges Mal gesehen hat...«

Er machte eine weit ausholende Gebärde, als deutete er auf ein unsichtbares Stadtpanorama außerhalb der Mauern.

»Die Leute produzieren ein Produkt, von dem sie keinerlei Vorstellung haben«, fuhr er fort. »Und das, obwohl sie tagein, tagaus an nichts anderes denken. Wie auch immer ein Mensch seinen Beruf bezeichnen mag - er schuftet an seinem zugewiesenen Platz im Steinbruch, wo Geld gewonnen wird. Sein Leben lang! Was er dort macht, nennt er Karriere ... Wie heißt noch mal der Steinbruch en français, da war doch was, hi-hi. . Glaubt nur nicht, dass ich Häme empfinde, doch der moderne Büroarbeitsplatz ist sogar äußerlich einem Koben im Rinderstall ähnlich: Statt dem Fließband mit dem Futter

hat das Büroproletariat einen Monitor vor der Nase, auf dem das Futter in digitaler Form abgebildet ist... Was wird in diesem Koben hergestellt? Die Antwort ist so offensichtlich, dass sie in die Idiomatik der verschiedensten Sprachen eingedrungen ist. Der Mensch macht Geld. He or she makes money.«

Ich hatte Lust zu widersprechen.

»Geld ist kein Produkt«, sagte ich. »Es ist ein Mittel zum Zweck, eine Erfindung, um das Leben zu erleichtern. Eine der Folgen der Evolution, die den Menschen über das Tier erhoben hat.«

Enlil Maratowitsch schaute mich spöttisch an.

»Glaubst du im Ernst, der Mensch hätte sich über die Tiere erhoben?«

»Natürlich. Was denn sonst?«

»Er ist viel tiefer gesunken. Nur ein pensionierter Millionär kann sich heutzutage die tierische Lebensart leisten: in freier Natur leben, unter gesunden klimatischen Bedingungen, mit viel Bewegung, ökologisch sauberer Nahrung und den lieben Gott eine guten Mann sein lassen. Überlegt doch mal: Kein Tier arbeitet!«

»Was ist mit den Eichhörnchen?«, fragte Hera. »Die sammeln Nüsse.«

»Das ist doch keine Arbeit, meine Liebe. Arbeit wäre, wenn sie einander von früh bis spät vertrocknete Bärenscheiße aufschwatzen müssten. Nüsse sammeln ist Shopping für lau. Arbeit verrichtet außer dem Menschen nur das sogenannte Nutzvieh, das er sich nach dem eigenen Ebenbild herangezüchtet hat. Hätte das Geld die Aufgabe, für ein leichteres Leben zu sorgen, wie du behauptest, warum müssen es die Leute dann ihr Leben lang aus dem Boden stampfen, bis sie alt und grau sind? Glaubt ihr ernsthaft, der Mensch täte das zu seinem Nutz und Frommen? Ich bitte euch. Der Mensch weiß noch nicht mal, was Geld eigentlich ist.«

Sein Blick ging zwischen Hera und mir hin und her.

»Dabei«, sprach er, »ist das wirklich nicht schwer zu begreifen. Man muss sich nur einmal die elementare Frage stellen: Woraus wird Geld gewonnen?«

Mir schien, die Frage war an mich gerichtet.

»Das lässt sich nicht in zwei Sätzen formulieren«, sagte ich, »diesbezüglich streiten die Gelehrten ...«

»Das sollen sie ruhig weiter tun. Aber für jeden Steinbrucharbeiter ist klar: Geld wird aus seiner Zeit und seiner Kraft gewonnen. Seine Lebensenergie, die er aus der Luft, der Sonne, der Nahrung und anderen Freuden des Lebens bezieht, wird zu Geld gemacht.«

»Sie meinen das eher so im übertragenen Sinn ...«

»Nein, im buchstäblichen. Der Mensch denkt, dass er das Geld für sich gewinnt. Und merkt nicht, dass er es in Wirklichkeit aus sich gewinnt. Das Leben ist so eingerichtet, dass er, will er ein bisschen Geld für den eigenen Bedarf haben, beträchtlich mehr für einen anderen produzieren muss. Und alles, was er für sich gewinnt, rinnt ihm unweigerlich, auf sonderbare Weise durch die Finger. Noch nicht bemerkt? Damals, als Transportkuli im Supermarkt?«

Hera schaute neugierig herüber. Ich hätte Enlil Maratowitsch an die Gurgel fahren können.

»Doch«, brummte ich.

»Der Grund, weswegen die Menschen nichts von der wahren Natur des Geldes verstehen, ist sehr einfach«, fuhr Enlil Maratowitsch fort. »Es ist nämlich nur im Rahmen des Cargo-Diskurses erlaubt, darüber zu reden. Geredet wird nicht davon, dass das Leben des Menschen zu einer unbegreiflichen Substanz verkocht wird. Sondern, welche Währung mehr Perspektive hat, der Euro oder der Yen. Und ob man dem Yen diesbezüglich trauen kann. Seriöse Menschen denken und reden von nichts anderem.«

»Das ist doch klar«, sagte ich. »Der Mensch strebt nach dem Geld, weil er andernfalls verhungern würde. So ist das Leben nun mal eingerichtet.«

»Wohl wahr«, sagte Enlil Maratowitsch. »Ich würde den Satz nur ein wenig umstellen. Den Akzent ein wenig verschieben.«

»Nämlich?«

»Das Leben ist so eingerichtet, dass der Mensch verhungert, wenn er noch etwas anderes will als Geld. Und ich versuche gerade zu erklären, wer es so eingerichtet hat und warum.«

»Mal angenommen, es stimmte«, sagte Hera. »Aber wie geht das vor sich mit dem Geldmelken? Der Mensch hat ja kein Euter.«

Enlil Maratowitsch lächelte.

»Wer sagt das?«

»Sie wollen behaupten, er hätte eins? Ein Kuheuter?«, fragte Hera - etwas verlegen, wie mir schien.

»Aber ja.«

»Wo, wenn ich fragen darf?« Die Frage kam sehr leise.

Meine Augen stahlen sich von ganz allein zu ihrer Brust. Was Enlil Maratowitsch nicht verborgen blieb.

»Im Kopf natürlich«, sagte er, den Blick auf mich gerichtet, und tippte sich vielsagend an die Stirn.

»Und wo da genau?«, schob ich schnell die Frage nach.

»Das erklärte ich doch gerade. Der Geist B ist das geldgebende Organ. Die Gelddrüse, die der Mensch als einziges Tier ...«

»Moment«, unterbrach ich ihn. »Wir hatten bisher nur gesagt, Geist B sei für den Unterschied zwischen den beiden Mercedessen verantwortlich. Wieso auf einmal Geld?«

»Klar herausdestilliert, ist dieser Unterschied nichts anderes als Geld. Und das kulturelle Milieu, das sich aus solchen Unterschieden zusammensetzt, ist der Steinbruch zu seiner

Gewinnung. Er ist nicht irgendwo, er ist im Kopf. Darum sage ich ja: Der Mensch holt das Geld aus sich selbst hervor.«

»Aber wie kann jemand in einem Steinbruch arbeiten, der in seinem Kopf ist?«

»Ganz einfach. In Geist B vollzieht sich unentwegt abstraktes Denken, das zu einem Geldkonzentrat verkäst wird. Ein analoger Vorgang zur Gärung in der Weinbütte.«

»Und was hat es mit diesem Geldkonzentrat auf sich?«

»Besagter Unterschied zwischen den beiden Fahrzeugen ist zum Beispiel so ein Konzentrat. Er verhält sich zum Geld wie Kokablätter zum Kokain. Geld, könnte man sagen, ist ein Produkt von Geist B in gereinigter und raffinierter Form.«

»Und ist dieses Geldkonzentrat nicht zufällig mit dem Glamour identisch?«, fragte Hera.

»Mit der Vermutung liegst du nicht falsch. Das Geldkonzentrat ist jedoch noch mehr. Praktisch jede Wahrnehmung, die in der modernen Stadt getätigt wird, geht darin ein. Darunter einige Sorten, die besonders viel Geldmasse pro Informationseinheit produzieren. Der Glamour ist hierbei konkurrenzlos. Deshalb umgibt der Mensch sich mit so viel Hochglanz und Reklame. Das ist wie der Klee für die Kuh.«

»Ist Glamour denn überall?«

»Natürlich. Er ist nur überall verschieden. In New York ist es ein Ferrari und ein Abendkleid von Donna Karan oder was weiß ich. In einem Dorf in Hinterasien ist es ein Handy mit großem Bildschirm und ein T-Shirt, wo Micky Mouse USA Famous Brand draufsteht. Aber die Substanz ist die gleiche.«

Hera schaute auf meine Füße. Die Hosenbeine waren herabgerutscht und gaben den Blick auf meine Socken frei, deren, Gummizüge mit Union-Jack-Labels besetzt waren.

»Und was spielt der Diskurs dabei für eine Rolle?«, fragte ich voller Sorge.

»Jede Weide braucht ihren Zaun«, gab Enlil Maratowitsch zur Antwort. »Damit die Herde sich nicht zerstreut.«

»Und wer ist außerhalb von dem Zaun?«

»Na, wer schon. Wir.«

Ich entsann mich, dasselbe, beinahe wortwörtlich, von Jehova gehört zu haben. Hera seufzte, Enlil Maratowitsch lachte.

»Was ist, hast du mehr vom Leben erwartet?«, fragte er. »Vergiss es.«

»Was ist mit den Leuten, die sich weigern, das Konzentrat zu fressen und Geld zu produzieren?«, fragte Hera.

»Ich bin ein gütiger Hirte«, erwiderte Enlil Maratowitsch, »und gifte nicht. Aber überleg doch mal selbst: Wie soll eine Kuh sich weigern, Milch zu geben? Sie müsste aufhören zu fressen.«

»Bestimmt ließe sich doch statt Geld irgendwas anderes produzieren? So mehr auf sowjetische Art?«

»Gute Frage ...« Enlil Maratowitsch legte die Stirn in Falten. »Auf einen kurzen Nenner gebracht, ist das so: Es gibt Viehzucht zur Fleischgewinnung, und es gibt Viehzucht zur Milchgewinnung. Wo die Milchviehzucht aufhört, fängt die Fleischviehzucht an. Wo die Fleischviehzucht aufhört, fängt die Milchviehzucht an. In Übergangszeiten gibt es eine Kombination aus beidem. Ein Drittes ist noch nicht erfunden.«

»Fleischviehzucht, was heißt das nun wieder?«

»Es heißt, was es heißt. Man kann Milch trinken, und man kann Fleisch essen. Es gibt Ressourcen, die der Mensch bei lebendigem Leibe produziert, und solche, die er im Tode hervorbringt... Zum Glück sind diese schrecklichen Technologien seit Langem geächtet und gehören der Vergangenheit an, wir müssen sie nicht weiter diskutieren.«

» Kriege ?«, fragte Hera.

»Nicht nur«, sagte Enlil Maratowitsch. »Aber Kriege gehören dazu, keine Frage. Es gibt solche und solche. Manchmal gelüstet es Vampire aus diversen Ländern, wie Kinder miteinander zu spielen. Sie nehmen dazu Menschen statt Bleisoldaten. Manchmal spielen gar Vampire eines Clans gegeneinander auf dem eigenen Territorium Krieg. Aber in der Regel versuchen wir die Ressourcen friedlich untereinander aufzuteilen. Es gelingt leider nicht immer.«

»Vielleicht müssten die Menschen sich diese Viehzüchter mal ordentlich vornehmen?«, mutmaßte Hera.

»Den Zaun abreißen!«, blies ich ins selbe Horn. »Zurück zur Natur!«

»Vergesst nicht, dass ihr jetzt dazugehört, Kinder«, sagte Enlil Maratowitsch. »Sonst würdet ihr nicht hier hängen. Euer Protest in allen Ehren - ich bin ja selbst ein milder und mitfühlender Charakter. Aber eines merkt euch ein für alle Mal: Rinder, Schweine und Menschen darf man nicht in die Freiheit entlassen. Vielleicht könnte man sich für die ersteren noch irgendwelche Sonderwege ausdenken - doch für Menschen ist es von vornherein unmöglich, da sie ihrem Wesen nach nur ein nach außen verlegter Teil unserer Peristaltik sind. Es gibt für sie keine natürlichen Lebensräume, denn sie selbst sind widernatürlich. Ein Mensch wüsste mit seiner Freiheit nichts anzufangen. Er wurde gezüchtet, um so zu leben, wie er es tut. Und man muss darüber keine Tränen vergießen -er hat es ja gar nicht mal schlecht. Anstelle von Freiheit hat er Freizügigkeit. Das ist eine phantastische Sache. Wir sagen ihm: Zupf dein Gras, wo es dir lieb ist! Je mehr Freizügigkeit, desto mehr Geld kannst du produzieren. Prima, oder nicht?«

Enlil Maratowitsch ließ ein zufriedenes Lachen hören.

»Die Hauptsache verstehe ich noch nicht«, sagte ich. »Sämtliche Geldströme werden von A bis Z durch den Menschen kontrolliert. Wie kommen die Vampire zu Geld, und was machen sie damit?«

»Das ist ein anderes Thema«, beschied Enlil Maratowitsch, »darüber reden wir später. Lasst uns jetzt ein bisschen schweigen ...«

Stille trat ein.

Ich schloss die Augen. Einfach so kopfunter zu hängen und an nichts zu denken gefiel mir. Alsbald fiel ich in eine Art Starre, beinahe wie Schlaf - doch es war keiner, es war kristallene Gedankenlosigkeit. Vielleicht das, wovon Iggy Popp sang: The fish doesnt think, because the fish knows everything ... Gut möglich, dass auch ich in diesem Zustand allwissend war - das ließ sich allerdings schwer nachweisen, denn dafür hätte man zu denken wieder anfangen müssen. Und das hätte den Zustand augenblicklich beendet.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Ein scharfes Händeklatschen riss mich aus der Versenkung. Ich schlug die Augen auf.

»Kikeriki!«, rief Enlil Maratowitsch munter.

Er fasste nach dem Reif und ließ sich mit einer für seine Körperfülle erstaunlichen Behendigkeit zu Boden gleiten. Ich begriff, dass die Audienz beendet war. Hera und ich hangelten uns gleichfalls nach unten.

»Noch mal zum Geldverkehr der Vampire« sagte ich. »Spannen Sie uns doch nicht auf die Folter. Wenigstens eine kleine Andeutung?«

Enlil Maratowitsch schmunzelte. Er zog eine Geldbörse aus der Tasche seiner Trainingshose, entnahm ihr einen Eindollarschein, riss ihn mittendurch und streckte mir die Hälften entgegen.

»Da hast du die Antwort«, sagte er. »Und jetzt raus hier, hopp, hopp!«

»Wohin?«, fragte Hera.

»Dort ist ein Fahrstuhl. Er bringt euch hinauf in meine Hausgarage.«

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