LE YELTSINE IVRE

Die ganze darauffolgende Woche hing ich im Hamlet des armen Brahma ab.

Der Drang dorthin war unwiderstehlich, nachdem das Auto mich am Morgen nach der Revue zu Hause abgeladen hatte. Ich gab ihm nach - und fiel sogleich in die bereits bekannte kristallene Starre.

Es war kein Schlaf und kein Wachzustand. Die schwere dunkle Kugel, als die ich mein Zungenbewusstsein wahrnahm, lag stabil an dem Ort, wohin sie zu gehören schien, und erstickte alle Intentionen, die mich in der sonst üblichen Körperposition heimzusuchen pflegten, noch im Keim. Wie das zuging, konnte ich mir vage erklären: Ist doch das Handeln des Menschen stets darauf angelegt, ein inneres Ungleichgewicht, den Konflikt zwischen der realen Lage der Dinge und eigener Wunschvorstellung, auszubalancieren (so wie eine Rakete auf ihr Ziel ausgerichtet wird, indem man die differenten Lesarten unterschiedlicher Sektoren ihres Halbleiterhirns miteinander abgleicht). Hängt man hingegen kopfunter, rollt die dunkle Kugel dorthin, wo früher Konflikte und Ungleichgewichte gewesen waren. Harmonie tritt ein, nichts vermag sie zu stören. Und diese Zungenharmonie mit sich selbst zu verlassen, besteht weder Grund noch Anlass.

Doch gab es auch hier Komplikationen. Am siebten Tag hörte ich plötzlich ein melodisches Signal, im Hamlet ging Licht an, und eine weibliche Tonbandstimme in nächster Nähe deklamierte ausdrucksvoll:

Nichts bereue ich auf meine letzten Tage so sehr wie die vielen Jahre, die ich sinnlos und zu nichts fähig kopfüber hängend in Finsternis und Stumpfheit zubrachte. Stunde und Minute verlieren sich gleichermaßen in diesem gräulichen Nichts; dem Narren Harmonie vorgaukelnd, lassen sie doch nur den Tod heranrücken ... Graf Dracula, Erinnerungen und Reflexionen.

Ich hangelte mich zu Boden. Offensichtlich war da ein Gerät angesprungen, das über die im Hamlet verbrachte Zeit wachte - und ich hatte mein Limit anscheinend ausgeschöpft. Ich wartete eine Stunde oder zwei, dann kletterte ich wieder auf die Stange. Diesmal dauerte es fünf Minuten, bis im Hamlet das Licht anging und ein Signal über meinem Kopf ertönte, das schon nicht mehr so melodisch klang wie das erste, sondern ziemlich grässlich. Auch das Tonband schaltete sich wieder ein. Diesmal sprach es im gemessenen Bass:

Die in Erstarrung gefallenen Söhne der Großen Maus wurden von einer mickrigen Horde Affen vernichtet, die nicht einmal wussten, was sie taten. Manche starben durch einen Pfeil; andere wurden von einem Feuerstoß hinweggerafft. Vortrefflichste Verfassung des Verstandes, hatten die Vampire ihr stummes Dahindämmern genannt. Aber das Leben - besser gesagt: der Tod - hat gezeigt, dass dies nur die dümmste aller ihrer Selbsttäuschungen war. Vitzliputzli Dunajewski, Allgemeine Geschichte der Vampire.

Ich versuchte das System zu überlisten: sprang zu Boden und sofort wieder zurück auf die silberne Stange. Eine Sekunde später keifte über meinem Ohr eine hysterische Clownstimme:

Was wird die Geschichte über mich sagen? Sie wird über mich sagen: noch so ein Wicht, der vergessen im Kleiderschrank hängt. Uuah-ha-ha-ha!

Ich beschloss, nicht weiter gegen die höhere Fügung anzukämpfen, ging zurück ins Wohnzimmer und legte mich auf das Sofa. Aber eigentlich wollte ich nur das eine: schnellstmöglich wieder in der Kammer hängen und mit dem verlässlichen schwarzen Kern die durch den Kopf flatternden Gedanken verprellen. Das Urteil der Geschichte war mir schnurz ... Doch ich konnte mir denken, dass das Limit mit Bedacht installiert war. Ich schloss die Augen und zwang mich zu schlafen.

Geweckt wurde ich vom Telefon. Hera war dran.

»Können wir uns sehen?«, fragte sie ohne lange Vorrede.

»Klar«, sagte ich, bevor ich nachdenken konnte.

»Komm ins Le Yeltsine Ivre.«

»Was ist das?«

»Ein oppositionelles Restaurant. Wenn du es nicht kennst, kann mein Chauffeur dich abholen.«

»Du hast einen Chauffeur? Mit Auto?«, staunte ich.

»Kannst du auch haben, bei Bedarf«, sagte sie. »Frag Enlil. Mach hin, ich warte. Schmatz!«

Und schon hatte sie aufgelegt.

Eine halbe Stunde nach dem Anruf klingelte der Chauffeur an der Tür. Inzwischen hatte ich geduscht, meine neue kohlschwarze Kluft angelegt (die sehr asketisch aussah -dabei hatte ich ein ganzes Bataillon Verkäufer im Archipel bemüht, die Auswahl zu treffen) und mir mit einem halben Glas Whisky Mut angetrunken.

Der Chauffeur war ein älterer Mann im Tarnanzug, der einen leicht beleidigten Gesichtsausdruck zur Schau trug.

»Was ist das für ein oppositionelles Restaurant?«, fragte ich.

»Liegt außerhalb. Vierzig Minuten mindestens. Wenn kein Stau ist.«

Unten erwartete uns ein schwarzer BMW-Geländewagen, jüngstes Modell. In so einem hatte ich noch nie gesessen. Die Aussicht, mir demnächst auch so einen Container zum Aufenthalt im Stau zulegen zu können, ließ mich aber ziemlich kalt. Entweder hatte ich die finanziellen Spielräume meines Clans inzwischen verinnerlicht, oder ich war ob des bevorstehenden Treffens viel zu nervös.

Von einem Restaurant Le Yeltsine Ivre hatte ich noch nichts gehört. In dem Namen klang Rimbauds berühmtes Gedicht Das trunkene Schiff an. Offenbar wurde hier unser Staatswesen, personifiziert im Gründungsvater des neuen Russland, als ein großes Schiff im Weltmeer begriffen. Merkwürdig, dass es Hera in so ein offiziöses Etablissement zieht, dachte ich. Aber vielleicht laden sich diese Klingeltöne von ganz allein in deine Seele, wenn du erst so einen Staatsboomer Vol.2 mit Chauffeur vor der Tür stehen hast ...

Ich überlegte, wie ich mich beim Wiedersehen verhalten sollte.

Eine Möglichkeit war, mir nicht anmerken zu lassen, dass ihr Biss mich verletzt hatte. Zu tun, als wäre nichts gewesen. Das ging nicht: Bestimmt würde ich rot werden, sie würde kichern, und der Abend wäre verdorben.

Oder ich konnte die beleidigte Leberwurst spielen. Das heißt, ich brauchte sie nicht zu spielen, ich hätte sie nur nicht unterdrücken müssen. Aber das ging gleich gar nicht. Der Spruch des Vorarbeiters bei den Transportkulis im Supermarkt fiel mir ein: Wer beleidigt ist, auf den scheißen die

Wölfe im Wald. Mit Heras Chauffeur mochte ich da nicht konkurrieren.

Ich entschied einfach, mir diesbezüglich nicht vor der Zeit den Kopf zu zerbrechen, sondern so zu handeln, wie es mir gerade einkam.

Das trunkene Jelzinschiff schien ein angesagter Laden zu sein - der Parkplatz war mit teuren Autos dicht gefüllt. Einen originelleren Eingang hatte ich auch noch nie gesehen: In die Ziegelfront war ein echter Panzer eingemauert, und die Besucher mussten auf den Turm, über dem die Eingangstür lag. Hinaufzukommen war übrigens nicht schwer, es gab eine Stahltreppe zu jeder Seite. Zahllose Fußabdrücke zeugten davon, dass Extremisten den Panzer auch von vorn bestiegen. An der Kanone hing ein Schild: Bitte nicht auf dem Lauf laufen! Die Geschäftsleitung.

Die Eingangszone drinnen war wie ein Flugzeugsalon gestylt; ein Mädchen in Stewardessenuniform lächelte einem entgegen und fragte nach der Bordkartennummer (man wurde nur mit Voranmeldung eingelassen). Nach Vorstellung des Managements sollte sich der Gast offenbar vom Panzerturm direkt in den Bauch des Präsidentenjets gefallen fühlen.

Mich erwartete ein als Steward verkleideter Kellner und gebot mir zu folgen. Der eigentliche Saal mit den Tischen wirkte konventionell, abgesehen von der großen Bühne (daran ein Schild: Dirioke ab 22.00 Uhr) und einem kleinen, runden, ziemlich tiefen Bassin, über das sich ein Brückenbogen spannte. (Dahinter gab es eine kleine Tür in der Wand mit der unerklärlichen Aufschrift NASS.) Der Durchgang zu den Separees befand sich am Ende des Saales.

Während wir uns der betreffenden Tür näherten, begann meine Zuversicht heftig zu wanken.

»Wo ist bitte die Toilette?«, fragte ich den Steward.

Er deutete auf eine Tür.

Nachdem ich in der blitzsauberen Räumlichkeit - genietete Pissoirs auf einem Flugzeugfahrgestell - mehrere Minuten zugebracht hatte, sah ich ein, dass eine weitere Betrachtung meines Gesichts im Spiegel keine neuen Erkenntnisse erwarten ließ. Ich kehrte zurück auf den Gang.

»Vielen Dank. Ich finde allein weiter«, sagte ich zu dem Steward.

Ich wartete, bis er verschwunden war, dann drückte ich die Klinke.

Hera saß in einer Ecke - auf einem Stapel bunter Kissen in Form rundlich-weicher Doppel-T-Profile. (Aha, auch das Boris Jelzin: »Sollten die Preise mehr als auf das Drei-, Vierfache steigen, gehe ich und lege den Kopf auf die Gleise.« -Witzig!) Sie trug ein kleines, schwarzes, hochgeschlossenes Kleid, das auf den ersten Blick sehr schlicht und keusch wirkte, doch ein sexuell aufreizenderes Kleidungsstück war mir nie untergekommen.

An der Wand stand ein Tisch mit zwei unberührten Gedecken. Vor Hera auf dem Fußboden ein Tablett mit Teegeschirr und einem angebissenen Cheesecake.

Sie schaute auf und mich an. Im selben Moment war meine Irritation wie weggeblasen, und ich wusste, was zu tun war.

»Grüß dich«, sagte sie. »Du guckst ja so finster und zu allem entschloss...«

Sie kam nicht zu Ende mit ihrem Satz. In zwei Sprüngen war ich bei ihr, ging in die Hocke und ...

Hier geschah etwas Unvorhergesehenes, das meine Uberfalltaktik um ein Haar vereitelt hätte. Als nämlich unsere Gesichter dicht voreinander waren, schloss sie plötzlich die Augen und öffnete die Lippen ein wenig, so als erwartete sie anstelle des Bisses etwas ganz anderes. Doch keine Macht der Welt hätte mich jetzt noch zurückhalten können. Als meine

Kiefer zuckten und sie merkte, was geschehen war, machte sich Enttäuschung auf ihrem Gesicht breit.

»Ach, Blödmann. Ihr hängt mir doch alle zum Hals raus ...«

»Entschuldige«, antwortete ich, den Rückzug in eine Zimmerecke, hin zu einem der Gleiskissenberge antretend, »aber du hast ja auch ... ich meine, da musste ich ...«

»Schon klar«, sagte sie mürrisch. »Musst du nicht erläutern.«

Und ich konnte nicht länger an mich halten. Mit geschlossenen Augen entglitt ich der physischen Welt, ergab mich mit allen Fasern meines Seins dem Anblick dessen, worüber ich so viele Nächte lang phantasiert hatte und was sich mir nun - endlich! - in aller Klarheit darbot. Dabei interessierten mich die Meilensteine ihres Lebens und seine dunklen und wunden Punkte am allerwenigsten; mein Taktgefühl verbot mir, dort hinzusehen. Was mich vor allem beschäftigte, war ihr Verhältnis zu mir. Und das klärte sich schnell.

Ich hatte mich nicht geirrt. Ich hätte sie soeben küssen können. Sie hätte nichts dagegen gehabt. Sie hatte es sogar erwartet. Und selbst wenn es nicht beim Küssen geblieben, wenn ich weiter gegangen wäre ... Wie weit, wusste sie selbst nicht. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät?, dachte ich. Schlug die Augen auf, machte eine schüchterne Bewegung zu ihr hin; sie begriff sofort, was ich im Schilde führte.

»Nein, mein Lieber«, sagte sie. »Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Entweder beißen oder das Übrige. Heute bleibst du gefälligst auf Abstand. Einen Meter bitte, mindestens.«

So einfach wollte ich nicht aufgeben. Doch es war besser, nichts zu übereilen.

»Möchtest du was essen?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf, sie warf mir trotzdem die Speisekarte zu.

»Guck mal rein. Die haben hier lustige Sachen zu essen.«

Ich begriff, dass sie mich ablenken wollte, damit ich möglichst nicht zu tief in sie hineinblickte. Aber sowieso mochte ich diese Welt nicht ohne ihre Erlaubnis betreten. Was ich hatte wissen wollen, war geklärt; in allem Übrigen herumzuwühlen konnte auch für mich nicht von Vorteil sein, da hatte Loki ganz recht. Instinktiv spürte ich, dass ich der Versuchung nicht erliegen durfte.

Also vertiefte ich mich in die Speisekarte. Auf der ersten Seite bekam man vermittelt, was es mit dem Namen des Restaurants auf sich hatte.

Dem alteingesessenen Russen ist die Extravaganz unseres Lebens schon lange kein Geheimnis mehr: Wie gräulich und widerwärtig einem das bestehende Regime auch immer erscheinen mag - was danach kommt, wird so sein, dass man des Vorausgegangenen unweigerlich mit akuter Nostalgie gedenkt. Sich diesem Gefühl mit Wonne hinzugeben, fällt am leichtesten bei Wodka (S. 17-18), Snacks (S. 1-3) und alledem, was Sie dazwischen noch so aufstöbern.

Mir war schnell klar, was Hera mit »lustigen Sachen« gemeint hatte. Es gab eine Tageskarte mit Fischgerichten, die schräge Namen trugen, zum Beispiel: Schwertfisch-Carpaccio »Comandante Ichdudajew« an Limonow-Mousse oder Bouillabaisse »Boule de Bassaiev« oder Fisch topf »Freiheit für Chodorkowski!«. Ich wurde neugierig. Also griff ich nach dem am Boden liegenden Funktelefon, auf dem ein Kellner mit Tablett abgebildet war, und wählte die Freiheit.

Dann ging ich daran, die Weinkarte zu studieren (beinahe erwartungsgemäß mit Aktenstudium überschrieben: das

Codewort des Präsidentenbüros, man erinnere sich, wenn Jelzin objektiv nicht ansprechbar war), und las mich beflissen durch die endlose Liste, bis Heras Transparenz endlich schwand. Erst da klappte ich die Karte zu und beglückwünschte mich im Stillen zu so viel Ritterlichkeit, die den Sieg über meine Neugier davongetragen hatte.

Der Sieg war freilich kein vollständiger - dies und das hatte ich bemerkt. Es nicht zu registrieren wäre genauso unmöglich gewesen, wie die Berge vor dem Fenster zu übersehen, wenn die Gardine zurückzogen wird. In Heras Leben musste eine peinliche Begebenheit stattgefunden haben. Sie hing mit Ischtar zusammen, der auch Hera gleich nach Bekanntschaft mit den Chaldäern ihre Aufwartung gemacht hatte. (Die anschließende Prozedur hatte sich genauso abgespielt wie bei mir, nur dass Marduk Semjonowitsch sie in die Gesellschaft eingeführt hatte, und nach der »spiritistischen« Seance war es eine Furie aus der Unterhaltungsbranche, gegen die sie sich unter Zuhilfenahme einer Flasche zur Wehr setzen musste.) Etwas war zwischen Ischtar und Hera vorgefallen, und jetzt steckte Hera in einer Depression. Noch dazu schien ihr irgendein Schreck in den Knochen zu sitzen.

Was am Grunde von Heartland genau geschehen war, ließ sich jedoch seltsamerweise nicht erkennen; man hatte den Eindruck einer Teilfinsternis. So etwas war mir nie zuvor begegnet, deshalb konnte ich mir eine Frage nicht verkneifen.

»Was ist da mit dir und Ischtar Borissowna gewesen?«

Heras Stirn furchte sich.

»Oh, bitte nichts davon, tu mir den Gefallen ... Alle wollt ihr nur das eine wissen - erst Mitra, jetzt du ...«

»Mitra?«, fragte ich.

Meine Aufmerksamkeit wischte diesem Namen hinterher - und ich begriff, dass Hera mit Mitra beinahe genauso gut stand wie mit mir. Beinahe. Und obendrein ...

Mitra hatte sie gebissen, musste ich mit einer Mischung aus Zorn und Eifersucht feststellen. Zweimal sogar! Und sie ihn einmal. Mehr war zwischen ihnen nicht passiert, doch das genügte vollauf. Ihre innige Vertrautheit miteinander war das Letzte, was ich im verblassenden Strom ihres Gedächtnisses noch hatte wahrnehmen können. Das Fenster schloss sich. Und kaum war es zu, verspürte ich den gewaltigen Drang, sie erneut zu beißen und zu erfahren, welche Rolle Mitra in ihrem Leben spielte.

Natürlich wusste ich, dass ich das nicht tun durfte. Denn es war völlig klar: Nach dem zweiten Biss würde ein dritter folgen müssen, dann ein vierter - und so ohne Ende. Sucht nach Blut, Sucht nach Entblößung ... Eine Krankheit des Gemütes, der zu erliegen ich mir plötzlich vorstellen konnte: beim geringsten Anlass die fremde Seele umstülpen, ihr Innerstes ans Licht zerren zu wollen ... Man bräuchte der Versuchung nur ein-, zweimal nachgeben, und schon liefe man Gefahr, dem geliebten Geschöpf das ganze Blut auszusaugen.

Etwas von alledem schien sich in meinem Gesicht widerzuspiegeln, denn Hera fragte errötend: »Was ist? Was hast du gesehen?«

»Mitra hat dich gebissen?«

»Ja. Darum möchte ich ihn nicht mehr sehen. Und bei dir wäre es das Gleiche, solltest du es ein zweites Mal wagen.«

»Was denn - nie mehr? Kein einziges Mal?«

»Es ist wichtig, dass wir beide einander vertrauen können«, sagte sie. »Wenn wir einander beißen, geht alles Vertrauen flöten.«

»Wieso?«

»Wozu noch vertrauen, wenn man sowieso alles weiß?«

Das war logisch.

»Aber ich wäre nicht der, der angefangen hat«, sagte ich. »Das warst du.«

»Ist ja wahr«, seufzte sie. »Das hat mir Loki so beigebracht. Mit einem Mann müsse man extrem zynisch und gnadenlos umspringen, auch wenn das Herz es anders möchte.«

In diese Erfahrungszone war ich bei ihr auch nicht vorgedrungen.

»Loki?«, fragte ich. »Was hat der dich denn unterrichtet?«

»Kampfkunst und Liebeskunst. Genau wie dich.«

»Aber er ist doch ... ein Mann!«

»Zu den Unterrichtsstunden in Liebeskunst kam er in Frauenkleidern.«

Das versuchte ich mir vorzustellen - vergeblich.

»Seltsam«, sagte ich. »Mich hat er das Gegenteil gelehrt: Ein Vampir dürfe eine Frau nicht beißen, wenn er in sie ... sich für sie interessiert. Um das Interesse nicht zu verlieren.«

Hera ordnete ihre Frisur.

»Und?«, fragte sie. »Passiert?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich hab ja so gut wie nichts gesehen. Du kannst davon ausgehen, dass ich immer noch nichts von dir weiß. Ich wollte nur, dass wir quitt sind. Als du mich damals vorm Museum gebissen hast, da ...«

»Hör auf damit«, sagte Hera. »Themawechsel.«

»Einverstanden«, sagte ich. »Was ich nur noch fragen wollte: Warum konnte ich nicht sehen, was dir mit Ischtar passiert ist? Wie geht das zu?«

»Es steht in ihrer Macht. Was zwischen Ischtar und der von ihr gebissenen Person geschieht, bleibt anderen verborgen. Was du mit ihr besprochen hast, könnte ich genauso wenig sehen. Nicht mal Enlil und Marduk können das.«

»Du kommst mir so verstört vor. Irgendwie von der Rolle.«

Heras Gesicht wurde wieder düster.

»Ich sagte doch, dass ich darüber nicht reden will. Vielleicht erzähl ichs dir später mal.«

»O.k.«, gab ich nach. »Lass uns von etwas Lebensbejahendem reden. Wie macht sich Loki im Kleid?«

»Hervorragend. Er hat sich sogar künstliche Titten umgeschnallt. Wenn du mich fragst: Ihm macht das großen Spaß.«

»Und was habt ihr im Liebeskurs durchgenommen?«

»Loki hat die Statistik ausgewertet.«

»Statistik? Was denn für eine Statistik?!«

»Interessiert dich das wirklich?«

Ich nickte.

»Also, er hat gesagt ...« Hera legte die Stirn in Falten. »Warte, ich habs gleich ... Das Verhältnis des durchschnittlichen Mannes zur Frau ist von Grobheit, Gemeinheit und äußerstem Zynismus geprägt... Umfragen zufolge gibt es vom Standpunkt männlicher Sexualmoral aus nur zwei Typen von Frauen: Zicken, die den Beischlaf verweigern, und Schlampen, die einverstanden damit sind. Der Mann verhält sich zur Frau nicht nur zynisch, sondern zutiefst irrational: Nach landläufiger Männermeinung - siebzig Prozent der Befragten stimmen dem zu - gehört die Mehrzahl junger Frauen in beide Kategorien zugleich, auch wenn das der elementaren Logik zuwiderläuft...«

»Und welche Schlussfolgerungen wurden gezogen?«

»Dass man mit einem Mann absolut gnadenlos umspringen muss. Weil er nichts anderes verdient.«

»Hattet ihr auch eine Gummifrau?«

Hera schaute mich groß an.

»Eine was?«

»Äh, ich meine ... einen Gummimann«, verbesserte ich mich.

»Nein. Ihr hattet eine Gummifrau?!«

Ich murmelte etwas in meinen Bart.

»Was habt ihr mit der gemacht?«

Ich winkte ab.

»War sie wenigstens schön?«

Nun wurde es mir zu viel.

»Könnten wir das Thema wechseln?«

»Von mir aus«, sagte Hera achselzuckend. »Du hast damit angefangen.«

Längere Zeit fiel kein Wort.

»Wir führen eine merkwürdige Unterhaltung«, stellte Hera deprimiert fest. »Immerzu müssen wir das Thema wechseln, man weiß gar nicht mehr, worüber man reden soll.«

»Wir sind eben Vampire«, versuchte ich eine Erklärung. »Da lässt sich das wohl nicht vermeiden.«

In dem Augenblick kam der Fischtopf.

Das Ritual nahm einige Minuten in Anspruch. Die Kellner stellten eine verschnörkelte Suppenterrine auf den Tisch, tauschten das unberührte Besteck aus, verteilten Teller. Aus den dampfenden Tiefen der Terrine zogen sie eine grellbunte Porzellanfigur mit geröteten Wangen - für den Moment dachte ich, dies müsste Chodorkowski sein, doch die Brust zierte ein anderer Name: Hillary Clinton. Der Kellner hielt uns die Figur würdevoll unter die Nase (ungefähr so, wie man einem Kunden den Korken vom teuren Wein zu schnuppern gibt), bevor er sie mit ebenso gemessener Bewegung wieder in der Suppe versenkte. Hillary roch nach Fisch. All dies schien irgendeinen subtilen Sinn zu haben, der sich mir allerdings verschloss.

Die Kellner verließen das Separee wieder, wir blieben auf dem Fußboden sitzen.

»Willst du nichts essen?«, fragte Hera.

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Ich muss an die Uhr denken.«

»Welche Uhr?«

»Patek Philippe. Das ist zu umständlich zu erklären. Außerdem: Was hat Hillary Clinton mit diesem Fischtopf zu tun? Scheint mir ein bisschen over the top.«

»Solchen Schnickschnack findest du in den teuren Häusern jetzt überall«, sagte Hera. »Das ist wie eine Epidemie. Im Aufstieg des Arschkriechers und genauso im IBAN Tsarevich. Oder warst du schon mal im Marie Antoinette am Twerskoi?«

»Nein.«

»Da steht eine Guillotine am Eingang. Marquis de Sade läuft zwischen den Tischen umher und bietet Desserts an. Im Echnaton, warst du da schon mal?«

»Auch nicht«, sagte ich und kam mir vor wie der dumme Iwan vom Dorf.

»Dort erzählen sie dir in vollem Ernst, sie hätten als Erste in Moskau den Monotheismus eingeführt. Und der Chef kleidet sich wie Osiris. Entkleidet sich, besser gesagt.«

»Osiris?«

»Jawohl. Der Zusammenhang ist rätselhaft. Zum Tag der Einheit am vierten November haben sie dort fünfmal hintereinander Iwan Sussanin auferstehen lassen, dazu haben sie Glinka gespielt, Ein Leben für den Zaren. Sie haben extra Zypressen angekarrt und Klageweiber.«

»Alle sind sie auf der Suche nach einer nationalen Idee«, beschied ich lapidar. Dabei war ich mit den Gedanken woanders. Der Name Osiris hatte mich aufhorchen lassen. Sollte das etwa ... ? Nein, ganz unmöglich. Ein Vampir würde niemals ein Restaurant führen.

Ich traute mich und fragte Hera, die doch immer alles wusste, nach einem Vampir namens Osiris. Fehlanzeige. Sie versprach, sich diskret zu erkundigen.

Ich stand auf und spazierte durchs Zimmer, als wollte ich mir die Beine vertreten. Eigentlich war das nicht nötig, ich suchte nur die Gelegenheit, Hera auf den Pelz zu rücken, und wollte, dass mein Manöver nicht auffiel.

Üblicherweise gelangen mir diese ach so ungezwungenen, zur akuten Verführungsphase überleitenden Positionsveränderungen nur sehr mittelmäßig, wodurch alles Nachfolgende halb so viel wert war. Ich führte mich in diesen Momenten auf wie ein sexuell befangener Idiot (der ich ja eigentlich auch war). Diesmal aber, da ich genau wusste, was in Hera vor sich ging, wollte ich dieses Geschenk des Himmels unbedingt auskosten.

Zum x-ten Mal am Fenster angekommen, trat ich den Rückweg zur Tür an, stoppte auf halber Strecke, schlug einen 9o°-Haken, machte zwei ungelenke Schritte auf Hera zu und setzte mich neben sie.

»Was hast du vor?«, fragte sie.

»Das ist wie in dem Witz«, gab ich zur Antwort. »Sitzt ein Vampir auf einem Eisenbahngleis, kommt ein anderer Vampir und sagt: >Rück mal ein Stück.<«

»Ah ja«, sagte Hera und errötete sanft. »Stimmt ja, wir sitzen auf Gleisen.«

Sie zog noch ein Gleiskissen heran und packte es zwischen uns.

Ich sah, dass mein Raumgewinnungsmanöver nicht gerade glänzend ausgefallen war. Ich musste also wieder ein Gespräch anknüpfen.

»Du, was ich dich schon immer fragen wollte ...« begann ich.

»Ja?«

»Deine Zunge. Spürst du sie? Zum Beispiel jetzt gerade?«

»Wie meinst du das?«

»Na, bis vor einiger Zeit, so die ersten vier bis sechs Wochen, hab ich sie ständig gespürt. Nicht nur physisch, sondern auch ... mit dem Gehirn irgendwie. Oder ... mit der

Seele, wenn du den Ausdruck gestattest. Das hat aufgehört. Das Gefühl ist völlig weg. Ich spüre sie überhaupt nicht mehr. Ich bin wieder so, wie ich früher war.«

»Das scheint dir nur so«, sagte Hera. »Wir sind nicht wie früher. Unser Gedächtnis hat sich einfach nur mitverändert, deshalb kommt es uns so vor, als wäre alles wie immer.«

»Wie funktioniert das?«

»Jehova hat es doch erklärt. Wir erinnern uns nicht an das, was wirklich war. Das Gedächtnis ist ein Satz chemischer Verbindungen. Die können sich nach den Gesetzen der Chemie sonstwie verändern. Frisst du zu viel Säure in dich rein, versauert auch das Gedächtnis, und so weiter. Und die Zunge hat unsere innere Chemie ziemlich durcheinandergebracht.«

»Klingt beängstigend«, sagte ich.

»Kein Grund zur Sorge. Die Zunge tut uns nichts Böses. Sie ist überhaupt Minimalist. Das ist nur am Anfang so, wenn sie in ihre neue Höhle umgezogen ist, in der Anlaufund Eingewöhnungsphase, dass sie ein bisschen spinnt. Dann gewöhnen wir uns aneinander. Sie hat ja nichts auszustehen, schläft die ganze Zeit, wie ein Bär im Winter. Sie ist unsterblich, verstehst du? Wacht nur auf, wenn es Bablos zu schlecken gibt.«

»Und während der Verkostungen?«

»Die verpennt sie. Was uns so tagtäglich passiert, geht sie nichts an. Unser Leben ist für sie wie ein Traum. Kann Vorkommen, dass sie ihn gar nicht mitkriegt.«

Ich dachte nach. Eine solche Sichtweise entsprach durchaus meinen Erfahrungen.

»Hast du das Bablos schon probiert?«

Hera schüttelte den Kopf.

»Das kriegen wir beide zusammen.«

»Wann?«

»Keine Ahnung. Wenn ich recht verstanden habe, irgendwann Knall und Fall. Ischtar bestimmt es. Auch Enlil und Marduk wissen über das Wie und Wann nicht Bescheid. Oder nur sehr vage.«

Jedes Mal, wenn ich von Hera etwas Neues erfuhr, versetzte mir die Eifersucht einen gelinden Stich.

»Weißt du was«, platzte ich heraus, »ich beneide dich. Nicht bloß, dass du ein Auto mit Chauffeur hast. Du weißt immer alles einen Monat früher als ich. Wie macht man das?«

»Kommunikationsfreudiger sein«, sagte Hera lächelnd. »Und weniger kopfunter im Schrank hängen.«

»Soll das heißen, dass du Marduk und Mitra und Enlil immerzu anrufst?«

»Nein. Sie rufen an.«

»Und wieso?«, fragte ich argwöhnisch.

»Ach, Rama. Wenn du dich ein bisschen dumm stellst, bist du einfach unwiderstehlich.«

Diese Worte beflügelten mich so, dass ich ihr den Arm um die Schulter legte.

O.k., natürliche und ungezwungene Bewegungen sehen anders aus. Aber immerhin schüttelte sie meine Hand nicht ab, das war doch was.

»Und mir ist noch eins unklar«, sagte ich. »Mit der Ausbildung bin ich fertig. Glamour und Diskurs in Vollendung. Die Initiation ist auch vorüber, man ist jetzt ein vollwertiger Vampir. Und was nun? Kriege ich irgendeine Arbeit? Nach dem Motto: Meinen Kampfplatz für den Frieden?«

»So ungefähr.«

»Und was hab ich da zu tun?«

Hera wandte mir ihr Gesicht zu.

»Ist die Frage ernst gemeint?«

»Natürlich. Man interessiert sich doch für seinen künftigen Lebensinhalt.«

»Ist doch völlig klar, was du tun wirst. Bablos saugen natürlich. Genau genommen tut es die Zunge. Und du sorgst für die Rahmenbedingungen. Baust dir ein Haus in Enlils Nähe, da wo alle von uns wohnen. Und beaufsichtigst die Überführung.«

Die steinernen Boote im Wasserfall neben Enlil Maratowitschs VIP-Bunker fielen mir ein.

»Mehr nicht?«

»Ja, was denn noch? Wolltest du für die Befreiung der Menschheit kämpfen oder wie?«

»Nein«, sagte ich, »was das betrifft, hat Enlil Maratowitsch mich schon aufgeklärt. Aber ich dachte, es gäbe noch andere Tätigkeiten zu verrichten ...«

»Wozu andere Tätigkeiten! Du denkst immer noch wie ein Mensch!«

Die Spitze ließ ich an meinem Ohr vorbeisausen.

»Soll ich denn leben wie ein Parasit?«

»Du bist ein Parasit«, antwortete Hera. »Beziehungsweise sein Fortbewegungsmittel.«

»Und du, was bist du?«

»Ich genauso«, sagte Hera seufzend.

Sie sagte es leise und irgendwie ernüchtert. Traurigkeit machte sich in mir breit. Und nach diesen Worten fühlte ich mich ihr näher denn je. Ich zog sie an mich und küsste sie. Es geschah wie von selbst, so natürlich wie nie zuvor in meinem Leben. Sie wehrte sich nicht. Ich fühlte, dass uns nur noch dieses idiotische Gleiskissen trennte, hinter dem sie sich vorhin verschanzt hatte. Ich warf es beiseite, und Hera lag in meinen Armen.

»Bitte nicht!«, bat sie.

Sie wollte es genauso wie ich, dessen war ich mir sicher.

Das verlieh mir in dem Moment die Selbstsicherheit, an der es mir sonst gewiss gefehlt hätte. Ich warf sie in die Kissen.

»Ich sagte: bitte nicht!«, sprach sie kaum hörbar.

Aber ich war kaum noch zu stoppen. Ging daran, sie auf die Lippen zu küssen und gleichzeitig den Reißverschluss an ihrem Rücken aufzuziehen.

»Bitte! Nein!«, flüsterte sie schon wieder.

Ich verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. Sie zu küssen war berauschend und beängstigend zugleich - wie ein Sprung in die Finsternis. Etwas an ihr war besonders, das spürte ich, sie war anders als all die anderen Mädchen, und mit jedem Kuss rückte ich ihrem Geheimnis näher. Immer zuversichtlicher fuhren meine Hände über ihren Leib, es war schon kein Fahren mehr, sondern ein Fummeln, so weit ging ich schon. Und da endlich ließ sie sich auf meine stürmischen Zärtlichkeiten ein: hob mein Bein an, platzierte mein Knie auf ihrem Oberschenkel.

Nun schien die Zeit anzuhalten. Ich fühlte mich als ein Läufer im Stadion der Ewigkeit, wie er dem Augenblick des Triumphs entgegensieht. Das Rennen ging zu Ende, ich lief vorneweg. Die Zielgerade! Vor mir ein Punkt alles überstrahlenden Glücks, von dem mich nur noch wenige Schritte trennten ...

Einen Moment später wurde mir schwarz vor Augen.

Nie zuvor hatte ich solch einen Schmerz gefühlt.

Ach was, nicht einmal geahnt hatte ich, dass es diesen Schmerz geben konnte: so grellfarbig-scharfkantig, pulsierend zwischen Körpergefühl und zuckendem Licht...

Sie hatte mit dem Knie zugestoßen. Eine präzise ausgerichtete Bewegung. Sie hatte extra mein Bein angehoben, damit freie Bahn war für einen Stoß von größtmöglicher Brutalität. Mich einrollen, wegpacken - für immer in Luft auflösen mit all meinen auf Sein und Nichtsein abhebenden Plänen - das war das Einzige, was ich wollte, doch es ging nicht, der Schmerz, sich auswachsend von Sekunde zu Sekunde, verhinderte es. Ich merkte, dass ich schrie, und wollte damit aufhören, aber auch das klappte nicht ganz, es wurde ein Jaulen daraus.

»Tut es weh?«, fragte Hera, die sich über mich beugte.

Sie sah bestürzt aus.

»A-a-a-a-ah«, winselte ich.

»Entschuldige bitte!«, sprach sie. »Es war ein Reflex. Loki hat das mit mir eingeübt: dreimal warnen und dann Ernst machen. Es tut mir sehr leid, wirklich.«

»O-o-o-oh ...«

»Möchtest du einen Tee?«, fragte sie. »Er ist aber schon kalt.«

»U-u-u-uh ... danke, ich will... keinen Tee ...«

»Das geht vorbei«, sagte sie. »Ich hab nicht sehr heftig zugestoßen.«

»Wie bitte?«

»Nein, wirklich. Es gibt fünf Angriffsarten. Das war die schwächste, die sogenannte Warnung. Man übt sie aus gegen Männer, zu denen man weiterhin Beziehungen pflegen möchte. Sie ist nicht gesundheitsschädigend.«

»Und du hast... nichts verwechselt?«

»Wo denkst du hin ... Tut es wirklich so sehr weh?«

Ich merkte, dass ich schon wieder fähig war, mich zu rühren, und ging auf die Knie. Der Versuch, mich aufzurichten, misslang noch.

»Du möchtest also ... weiterhin Beziehungen pflegen ...«, ächzte ich.

Reuevoll senkte sie ihren Blick.

»Ja. Schon.«

»Und das hat Loki dir beigebracht?«

Sie nickte.

»Und wie hast du den Stoß trainiert? ... Ihr hattet keinen Simulator, hast du gesagt.«

»Hatten wir nicht, nein. Loki hat sich den Tiefschutz vorgeschnallt. Aus der Eishockeytorwartausrüstung. Ich hab mir sämtliche Knöchel geprellt, trotz Schoner. Was ich für blaue Flecken hatte!«

»Und welche Stöße gibt es noch?«

Sie sah mich kurz an.

»Wozu musst du das wissen?«

»Nur so«, sagte ich. »Damit ich weiß, was ich zu erwarten habe bei... anhaltender Beziehungspflege.«

»Warnstoß, neutralisierender Stoß, Vernichtungsstoß, Vergeltungsstoß und Triumphstoß - so heißen die«, zählte sie achselzuckend an den Fingern auf.

»Und was bedeutet das im Einzelnen?«

»Das sagen die Namen doch schon. Den Warnstoß kennst du. Der neutralisierende Stoß wird ausgeführt, um den Gegner zu lähmen, ohne ihn zu töten. Damit man sich in Ruhe entfernen kann. Die übrigen drei ... sind ernsterer Natur.«

»Dann muss ich mich wohl bei dir bedanken, dass du mich nicht so ernst nimmst«, sagte ich. »Ich sollte jeden Morgen anrufen und Danke sagen. Wundere dich nur nicht, wenn dir die Stimme zu hoch vorkommt.«

Tränen traten in Heras Augen.

»Ich hatte dir doch gesagt, du sollst dich höchstens auf einen Meter nähern. Ich frage mich wirklich, wo ein Mädchen in dieser Stadt sich noch sicher fühlen kann.«

»Ich hatte dich doch gebissen und gesehen, dass du nichts dagegen hast...«

»Das? war vor dem Biss. Nach einem Biss verändert sich beim Mädchen das Hormongleichgewicht. Das hat physiologische Gründe, davon verstehst du sowieso nichts. Jedenfalls verliert man das Vertrauen in alles und jeden. Die Welt erscheint in vollkommen anderem Licht. Einem sehr düsteren. Zum Küssen hat man gleich gar keine Lust. Deshalb sagte ich dir doch: entweder beißen oder das andere. Dachtest du, ich mache Witze?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Irgendwie schon.«

Tränen rannen ihre Wangen hinab - erst nur die linke, dann auch die rechte.

»Genauso hat Loki es vorausgesagt«, sagte sie schluchzend. »Sie werden immer denken, du machst Witze, darum sollte man ihnen gleich in die Eier treten, und zwar mit Karacho ... Jetzt hast du Scheusal mich zum Heulen gebracht.«

»Ich bin das Scheusal?«, fragte ich, quasi interessehalber, nach.

»Mama hat immer gesagt: Wenn ein Junge dich zum Weinen bringt, dann verlass ihn ohne Reue. Ihr hatte die Mutter das Gleiche geraten, sie hat nicht drauf gehört und musste sich ihr Leben lang mit meinem Vater plagen ... Aber bei ihnen fing es wenigstens nicht gleich an. Du aber bringst mich schon beim ersten Rendezvous zum Heulen ...«

»Ich kann dich nur beneiden um solche Ratgeber«, sagte ich. »Mit Karacho in die Eier, verlassen ohne Reue - großartig! Für mich hatte nie einer gute Ratschläge übrig. Ich musste immer selber draufkommen.«

Beim zweiten Versuch gelang es mir, auf die Füße zu kommen.

»Gut«, sagte ich. »Ich geh dann mal.«

»Findest du allein nach Hause?«, fragte sie, ohne den Blick zu heben.

»Ich geb mir Mühe.«

Insgeheim hatte ich gehofft, dass sie mir ihren Wagen anbieten würde, doch sie blieb stumm.

Der Gang zur Tür war lang und einprägsam. Ich bewegte mich mit Trippelschritten vorwärts und hatte unterwegs genug Zeit, dieses und jenes Einrichtungsdetail, das mir bis dahin entgangen war, eingehender zu betrachten. Das meiste war allerdings banal: mikroskopisch kleine Fresken mit sardinischen Ansichten und sowjetische Parteiausweise, mit Tapeziernägeln an die Wand gepinnt.

An der Tür angelangt, wandte ich mich um. Hera saß immer noch so auf ihren Kissen: die Arme um die Knie geschlungen, das Gesicht dazwischen vergraben.

»Du, hör mal«, sagte ich.

»Ja?«, fragte sie leise zurück.

»Wenn du das nächste Treffen anberaumst, dann ... erinnere mich daran, dass ich vorher ein Todesbonbon esse.«

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