DAS ARCHIV

Aus dem bis hierhin Gesagten könnte der Eindruck entstehen, meine Vampirwerdung wäre ganz ohne innere Kämpfe abgegangen. Das stimmt nicht.

Die ersten Tage fühlte ich mich wie nach einer schweren Gehirnoperation. Nachts in meinen Träumen versank ich im schwarzen Sumpf, umgeben von einem Ring aus schweren Felsblöcken, oder ich verglühte in eines Backsteinmonsters Rachen, der zum Hochofen ausgebaut war. Aber härter noch als jeder Albtraum war der Moment des Erwachens, wenn ich das neue Zentrum meiner Persönlichkeit spürte, einen stählernen Kern, der nichts mit mir gemein hatte und doch mein Innerstes darstellte - so jedenfalls empfand ich diese Zunge, die in mir zu Bewusstsein gekommen und mit meinem Geist eine Symbiose eingegangen war.

Später, als die beiden Eckzähne nachgewachsen waren (sie sahen genauso aus wie die alten, nur heller), hörten die Albträume auf. Oder besser gesagt, ich nahm sie nicht mehr als Albträume wahr, fand mich mit ihnen ab: ein ähnlich notgedrungener Sinneswandel wie einstmals als Schulanfänger. Meine Seele berappelte sich, wie eine Stadt unter fremder Besatzung zu neuem Leben erwacht oder die Finger einer eingeschlafenen Hand. Doch hatte ich das Gefühl, rund um die Uhr von einer unsichtbaren Fernsehkamera beobachtet zu werden. Installiert war sie in meinem Inneren: Ein Teil von mir beobachtete den anderen.

Ich fuhr nach Hause, um meine Sachen zu holen. Das Zimmer, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, kam mir eng und düster vor. Die Sphinx im Flur erschien nur noch wie eine kitschige Karikatur. Mutter geriet bei meinem Anblick irgendwie außer sich, zuckte nur die Schultern und floh in ihr Zimmer. Nichts an diesem Ort, wo ich so viele Jahre gelebt hatte, berührte mich, alles hier war mir absolut fremd. Ich packte rasch zusammen, was ich brauchte, schob mein Notebook in die Tasche und fuhr zurück.

Nach dem Unterricht mit Baldur und Jehova hatte ich Zeit und nutzte sie, um meine neue Behausung zu erkunden. Die Flüssigbibliothek in Brahmas Kabinett hatte von Anfang an meine Neugier geweckt. Ich vermutete, dass es zu ihr einen Katalog geben musste. Bald schon hatte ich ihn in einem Fach des Sekretärs gefunden: ein großes, in seltsames Leder gebundenes Buch; Schlangenleder vielleicht. Es war von Hand geführt; zu jedem Schubkasten ein paar Seiten mit den nötigen Angaben und kurzen Kommentaren zu den jeweiligen Proben.

Das Archiv war in Rubriken eingeteilt, die an die Abteilungen einer Videothek denken ließen. Die größte war die erotische Abteilung, untergliedert nach Ländern, Epochen und Genres. Eindrucksvoll die Namen der handelnden Personen: im französischen Teil zum Beispiel von Gilles de Retz über die Marquise de Montespan und Heinrich IV. von Bourbon bis Jean Marais. (Wie es hatte gelingen können, die rote Flüssigkeit all dieser Leute zu archivieren, war mir ein Rätsel.)

Unter der Rubrik Militärs war Napoleon ebenso verzeichnet wie ein später Shogun der Tokugawa-Periode, Marschall Shukow und diverse World-War-II-Celebrities, darunter die Flieger-Asse Pokryschkin, Adolf Galland und Hans-Ulrich Rudel. Ein Teil dieses Personals tauchte auch in der Erotik-Abteilung auf, doch was da zu lesen stand, klang mir eher nach zufälligen Namensvettern, wenn nicht einem Geheim-

schlüssel: Achtung Pokryschkin. Russian Gay Community. 40er Jahre XX. Jh.

Beide Abteilungen, die militärische und die erotische, interessierten mich brennend - doch wie zumeist im Leben folgte die Enttäuschung auf dem Fuße. Die Abteilungen waren ausgelagert, die entsprechenden Kästen leer. Überhaupt nur drei Rubriken waren tatsächlich mit Präparaten bestückt: Bedeut. Maskenmacher, Pränatales Erleben und Literatur.

Die Hersteller der Masken, die der selige Brahma zusammengetragen hatte (die Sammlung hing an den Wänden ), interessierten mich herzlich wenig. Ebenso die Abteilung Literatur - dort rangierten etliche Namen aus dem Schullehrplan, die mir schon damals Brechreiz verursacht hatten. Um so neugieriger war ich auf das pränatale Erleben.

Wenn ich recht verstand, ging es um Erfahrungen, die der menschliche Fötus in der Gebärmutter sammelte. Worauf das hinauslief, konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht irgendwelche Lichtblitze, gedämpfte Umweltgeräusche, Kollern aus dem mütterlichen Darm, Druck von außen, kurz: etwas Unbeschreibliches, Schweben in Schwerelosigkeit, gekreuzt mit Achterbahn.

Ich überwand mich, sog ein paar Tropfen aus dem Reagenzglas mit der Aufschrift Italy-( in die Pipette, träufelte sie mir in den Mund und nahm auf dem Sofa Platz.

Was nun über mich kam, war so unlogisch und zusammenhanglos, als wäre es schon wieder geträumt. Mir war, als wäre ich eben aus Italien zurückgekehrt, wo ich mit einer bestimmten Auftragsarbeit nicht fertig geworden war, irgendeine Steinmetzkunst. Ich war traurig, auch weil ich vieles, was mir lieb und teuer gewesen, hatte zurücklassen müssen, ich sah es schattenhaft vor mir: Lauben in den Weinbergen, kleine Kutschen (Kinderspielzeug, das besonders deutlich in Erinnerung war), Seilschaukeln im Garten ...

Doch schon war ich an einem anderen Ort, der aussah wie ein Moskauer Bahnhof, anscheinend war ich gerade aus dem Zug gestiegen, lief nun durch eine unscheinbare Tür und befand mich in einem speziellen Gebäude, das ein wissenschaftliches Institut hätte sein können. Es wurde gerade neu eingerichtet, Mobiliar gerückt, das alte Parkett entfernt. Ich meinte wieder nach draußen zu müssen und lief einen langen Flur entlang. Er führte wendelförmig erst in die eine Richtung und dann, hinter einem kreisrunden Raum, in die andere ...

Nach längerem Herumirren auf diesem Flur bemerkte ich ein Fenster, schaute hinaus und musste feststellen, dass ich dem Ausgang kein Stück näher gekommen war, im Gegenteil, ich war mehrere Stockwerke höher geraten. Ich wollte jemanden nach dem Ausgang fragen. Doch wie zum Hohn war nun weit und breit kein Mensch zu entdecken. Das Wendel zurückzulaufen hatte ich keine Lust und öffnete aufs Geratewohl alle möglichen Türen, um irgendeinen Menschen zu finden.

Hinter einer der Türen befand sich ein Kinosaal. Hier wurde gerade sauber gemacht - mehrere Bedienstete wischten den Fußboden. Ich fragte, wie ich am einfachsten aus diesem Haus herauskäme.

»Am besten durch die Rinne da rutschen!«, gab eine Alte im blauen Kittel einen Tipp. »So machen wir das immer.«

Sie zeigte auf ein Loch im Fußboden, das in ein grünes Plastikrohr mündete - wie eine Wasserrutsche im Vergnügungspark. Ein Transportsystem, das mir fortschrittlich und modern vorkam. Einzig die Furcht, ich könnte mit meiner Jacke darin hängenbleiben, ließ mich zögern - das Rohr war doch recht eng. Andererseits war die Alte, die mir geraten hatte, diesen Weg zu nehmen, viel dicker als ich.

»Kommen Sie mit runter?«, fragte ich.

»Was denn sonst!«, sagte die Alte, beugte sich über das Loch und schwappte aus einer Schüssel, die sie in den Händen hielt, Schmutzwasser hinein, auf dem irgendwelche Federn schwammen. Ich war darüber nicht weiter verwundert, dachte mir nur, dass ich nun wohl warten müsste, bis die Rinne wieder getrocknet war ...

Hier hatte das Erlebnis sein Ende.

Bis zu diesem Tag hatte ich schon eine ausreichende Menge Diskurs geschluckt, um hinter die Symbolik des Traums zu steigen. Auch für die Häkchen hinter den Probenkennungen hatte ich eine Erklärung: Während der Versuch Italy-( ergebnislos geblieben war, würde wohl das daneben deponierte France-) mit einem Hechtsprung des lyrischen Helden die Rutsche hinab enden. Doch ging ich der Vermutung nicht nach. Alles in allem war mein pränatales Experiment doch recht freudlos verlaufen, die Fiebervisionen ließen eher an einen grippalen Infekt denken.

Jedenfalls brachte mich das Erlebnis auf die alte Metapher: der kleine Körper im Mutterschoß als ein Auto, in das die reisefertige Seele einsteigt. Uneinigkeit herrscht nur über die Frage, wann sie einsteigt: schon zu Beginn der Fahrzeugmontage oder doch erst, wenn der Wagen fertig ist? Es zeigte sich, dass diese Frage, an der Abtreibungsgegner und -befürworter sich unversöhnlich scheiden, gar nicht zwingend ist. Der Diskurs, den ich intus hatte, bot zu diesem Punkt weit interessantere Ansichten. Eine zum Beispiel besagte, die Seele steige überhaupt gar nicht erst ein, das ganze physische Leben gleiche der Fahrt einer ferngesteuerten Drohne. Auch radikalere Meinungen kamen vor: Nein, die Drohne fährt auch nicht, alles, was wir sehen, ist der dreidimensionale Film von einer solchen Fahrt, eingefangen wer weiß woher von einem festen Spiegel, Seele genannt. Diese Ansicht erschien mir seltsamerweise am realistischsten - wohl weil mein Spiegel mir zu der Zeit ziemlich viele fremde Filme vorführte. Doch was war das für ein Spiegel? Wo befand er sich? Als ich merkte, dass ich mir schon wieder über die Seele den Kopf zerbrach, war meine Laune gleich im Eimer.

Einige Tage später stieß ich in einem der Schübe auf ein falsch eingestelltes Röhrchen. Darin war weniger Flüssigkeit als in den anderen. Sein Index entsprach nicht dem des Kastens. Ich sah im Katalog nach und stellte fest, dass das Präparat den Namen Rudel ZOO trug. Den weiteren Angaben war zu entnehmen, dass es um den deutschen Flieger Hans-Ulrich Rudel ging. Die Probe gehörte eigentlich nicht ins Militärfach, sondern ins erotische. Es war das einzige Röhrchen von dort, das noch vorhanden war.

Natürlich schritt ich umgehend zur Verkostung.

Kampfhandlungen kamen in dem, was ich sah, überhaupt nicht vor - bis auf ein paar ausgeblichene Erinnerungen an einen Weihnachtsflug über Stalingrad. Auch die weltweit berüchtigten Unholde fehlten allesamt. Das Material war ausgesprochen privat und alltäglich: Hans-Ulrich Rudel bei seinem letzten Berlinbesuch, im schwarzen Ledermantel, mit irgendeinem monströsen Orden am Band um den Hals. Herablassender Geschlechtsverkehr mit einer glücksbleichen Oberschülerin nahe der U-Bahnstation Zoo - unter freiem Himmel, beinahe öffentlich. Außer diesem erotischen Programm enthielt das Präparat noch eine Reminiszenz an eine gigantische Betonzikkurat mit Plattformen für Flakbatterien. Das Bauwerk wirkte dermaßen irreal, dass ich Zweifel am Realitätsbezug dieser Einstellung bekam. Doch ansonsten wirkte das Ganze wie ein stilvoller Porno.

Ich bekenne, diesen Film nicht nur einmal angeschaut zu haben. Rudel hatte das Gesicht eines intelligenten Schlossers, das der Schülerin erinnerte an eine Margarinereklame. Intime Begegnungen zwischen wildfremden Leuten am Bahnhof Zoo schienen im Berlin kurz vor dem Fall an der Tagesordnung zu sein. Doch hatte man an diesen letzten arischen

Begattungsversuchen allgemein wenig Freude - der Vitaminmangel wirkte sich aus. Erstaunlich fand ich, dass Rudel sich in den Pausen zwischen den Gefechtseinsätzen auf dem Flugplatz im Diskurswerfen übte wie ein griechischer Athlet. Ich hatte mir diese Zeit ganz anders vorgestellt.

Noch ein paar Tage später kostete ich dann doch von einem Präparat aus der Abteilung Literatur. Brahmas großer Verehrung für Nabokov entsprach die Menge an Präparaten, die einen mehr oder minder direkten Bezug zu diesem Autor hatten: mindestens dreißig an der Zahl. Darunter welche mit seltsamen Namen wie Pasternak+1/2Nabokov - es ging nicht hervor, was gemeint war: wenn schon kein unbekanntes Kapitel aus dem Privatleben der Titanen, dann vielleicht der Versuch, beider Genien auf alchimistischem Wege in ein Mischungsverhältnis zu bringen.

Dieses Präparat wollte ich probieren. Aber auch hier erwartete mich eine Enttäuschung. Die Verkostung ergab überhaupt keine Bilder. Erst meinte ich, das Röhrchen enthielte pures Wasser.

Doch nach ein paar Minuten juckte es mir in den Fingern, und ich bekam Lust, ein Gedicht zu schreiben. Ich griff zu Stift und Notizblock.

Der Wunsch allein bedeutete freilich nicht, dass ein Talent zum Dichten sich abgezeichnet hätte. Zwar flossen die Zeilen ungehemmt aufs Papier, zu etwas Ganzem und Vollendetem wollten sie sich aber nicht fügen.

Nachdem ich den halben Block wieder durchgestrichen hatte, blieb das Folgende stehen:

Für deiner Birken Saft,


Für deiner Tender Wagenschmiere,


Für deinen blauen Schnee,


Für deiner Kuppeln Rundumleuchten ...

Danach lief die Inspiration gegen eine massive Wand. So wie der Einstieg formuliert war, hätte nun die Gegenleistung angesprochen werden müssen: »... kannst du mich ...« - ja, was? Das war nicht so einfach. Was, fragte ich mich, bemüht, die Warte des Außenstehenden einzunehmen, was könnte ich dir für deinen geschmierten Tender bieten? Angemessene Antworten in deftiger Volkssprache kamen mir zur Genüge in den Sinn, doch in einem Gedicht gehörte sich das nicht.

Ich beschloss, das poetische Experiment auf sich beruhen zu lassen, und wollte mich vom Sofa erheben. Da plötzlich spürte ich etwas in mir hochsteigen, eine Woge von Glück schwoll an in meiner Brust, wollte hervorbrechen und die Menschheit mit glitzerndem Schaum bedecken. Ich holte tief Luft und ließ es herausschwappen. Danach schrieb meine Hand von ganz allein:

My sister, do you still recall


The blue Hasan and Khalkhin-Gol?

Das war alles. Zuletzt klapperte mir im Kopf noch eine dubiose dreistufige Anrufung herum, etwas wie »Hamsun! Hazienda! Hakamada!«, dann ging der Muse das Licht aus.

Die Unzulänglichkeit dieses Versuches war möglicherweise auf einen Mangel an Gefühlsbaustoffen in meiner Seele zurückzuführen. Auch der größte Architekt benötigt Ziegel. Und was Nabokov anging, fehlte es mir vielleicht auch einfach am englischen Vokabular.

Doch ganz umsonst war das Experiment auch nicht gewesen. Ich lernte daraus, dass es offenbar möglich war, den Informationsgehalt eines Präparates zu begrenzen: Über das Leben der Dichter zum Beispiel erfuhr man überhaupt nichts.

Ich beschloss, Mitra danach zu fragen.

»Hast du etwa in der Bibliothek geschnüffelt?«, fragte er missmutig.

»Naja.«

»Lass die Finger davon. Genügt dir das Material im Unterricht nicht? Ich kann Jehova bitten, dir noch etwas mehr aufzubürden ...«

»Schon gut«, sagte ich, »ich tu’s nicht wieder. Erklär mir trotzdem mal, wie es kommt, dass in einer Probe nur ein einzelnes Merkmal übrig bleibt? Zum Beispiel nur eine bestimmte Sorte Versbausteine? Und keine Bilder?«

»Destillation. Dafür gibt es eine spezielle Technologie. Die rote Flüssigkeit durchläuft eine zylindrische Spirale im Helm eines Fegevampirs. Der fällt in eine besondere Art Trance und konzentriert sich auf denjenigen Aspekt der Probe, der bewahrt bleiben soll. Alle übrigen Fraktionen werden durch chemische Substanzen, die der Feger zu sich nimmt, gelöscht. Man verfährt so, um ein bestimmtes Informationsspektrum zu separieren. Die menschliche Erfahrung im Ganzen ist schädlich und destruktiv. Und hochdosiert sogar tödlich. Was meinst du, weshalb die Menschen sterben wie Fliegen? Aufgrund ihrer Lebenserfahrung!«

»Und wieso muss ich diese Erfahrung im Unterricht eimerweise schlucken?«

»Das ist etwas anderes. Dir werden ungereinigte Präparate verabreicht, damit du sozusagen Ballaststoffe gewinnst.«

»Wozu brauche ich die?«

»Ein Schiff ohne Ballast kentert und sinkt. Leitet man hingegen eine bestimmte Menge Wasser ein - von dem, was sich jenseits der Bordwand befindet -, gewinnt es an Stabilität. Du musst für jede Art Erlebnis gewappnet sein. Das ist wie eine Impfung. Unangenehm natürlich, aber nicht zu umgehen. Es gehört zum Ausbildungsprogramm eines jeden angehenden Vampirs.«

Auch ohne ausdrückliches Verbot hätte ich von weiteren Bibliotheksexperimenten Abstand genommen. Mitra hatte recht: Während der Vormittagsstunden waren Proben zuhauf zu verkosten; damit in der Freizeit fortzufahren wäre pathologisch gewesen.

Eine Frage aber brannte mir auf den Nägeln.

Enlil Maratowitschs Ausführungen hatte ich entnommen, dass die Menschen in den Augen der Vampire so etwas wie Milchvieh sind: gezüchtet, um als Nahrungsquelle zu dienen. Das zu glauben fiel mir schwer - und nicht nur, weil die Menschheit dabei so jämmerlich wegkam.

Vor allem hatte ich den »MelkVorgang« noch nirgends beobachtet. Der Biss, mit Hilfe dessen der Vampir sich Zugang zu einer fremden Innenwelt verschaffte, konnte es nicht sein. Er war eine Blutanalyse, gewiss keine Nahrungsaufnahme. Es musste also noch ein anderes Verfahren geben.

Ich versuchte mir den Vorgang bildlich vorzustellen. Vielleicht, dass Vampire die zu medizinischen Zwecken gespendete rote Flüssigkeit tranken? Oder existierten etwa irgendwo in der Dritten Welt Plantagen, wo Menschen regelrecht »aufgezogen« wurden?

In der Trivialkultur wurde über solche Themen des Öfteren spekuliert. Ich erinnerte mich an den Film Die Insel, wo naivinfantile Menschen zur Ersatzteilgewinnung in unterirdischen Höhlen gehalten werden. In weißen Jogginganzügen wandeln sie über sterile Korridore und hoffen darauf, irgendwann im Leben das große Los zu ziehen ... Und in Blade: Trinity sieht man eine Fabrik mit vakuumverpackten Komaleichen; sie produzieren rote Flüssigkeit, die zur Tränkung von Vampiren dient, und müssen dazu gar nicht bei Bewusstsein sein.

War das etwa die Wirklichkeit?

Und noch ein Rätsel gab es. Vampire nahmen gewöhnliche Menschennahrung zu sich. Mehrmals schon hatte ich mit Baldur und Jehova nach dem Unterricht zu Mittag gespeist - was durchaus kein gothic event war. Wir gingen in ein Mittelklasserestaurant am Sadowoje Kolzo und aßen Sushi. Alles lief sehr menschlich ab. Nur einmal, Jehova hatte sich einen frischgepressten Tomatensaft bestellt, zuckte sein großer Adamsapfel beim Leeren des Glases auf so abstoßende Weise, dass ich mich in dem Moment ernsthaft fragte, ob ich das Zeug zum Vampir hatte. Ansonsten taten Baldur und Jehova in meiner Gegenwart nichts, was an Blutsaugen gemahnte oder auch nur darauf anspielte.

Vielleicht wurde die rote Flüssigkeit ja nur an bestimmten, rituell festgelegten Tagen konsumiert?

Ich versuchte, Baldur und Jehova über die Entnahmetechnologie auszufragen, erhielt aber jedesmal die Antwort, die ich schon von Enlil Maratowitsch kannte: Darüber reden wir später, alles zu seiner Zeit, warte erst mal den Großen Sündenfall ab ...

Ich musste vermuten, dass eine besondere Initiation auf mich wartete, nach der erst die Vampire mich als ihresgleichen akzeptieren und in ihre düsteren Geheimnisse einweihen würden. Aber dann, dachte ich, und meine Fäuste ballten sich unwillkürlich - dann schreiten wir gemeinsam zur Tat ... Und ich würde womöglich meinen Spaß daran haben. Pfui Teufel!

Koteletts waren mir übrigens als Kind genauso widerwärtig vorgekommen. Doch irgendwann hatte man mich an sie gewöhnt.

Mir blieb noch die Hoffnung, im Archiv Antwort auf meine Fragen zu finden. Ich blätterte also noch einmal im Katalog und stieß tatsächlich auf ein interessantes Detail.

Auf der vorletzten Seite fand sich ein merkwürdiger Eintrag. Ein Kasten enthielt nur ein einziges Präparat mit der skurrilen Bezeichnung Geschichte: Bissstütze und Mausbefehl.

Der betreffende Schub befand sich ganz oben unter der Decke. Ich zog ihn auf und fand keines der üblichen Reagenzglasgestelle vor, sondern eine rote Schachtel, ähnlich dem Etui eines teuren Füllfederhalters. Darin lag jedoch ein ganz normales Röhrchen, nur dass der Pfropfen rot war. Meine Spannung stieg.

Ich wartete bis zum Abend und wagte die Verkostung.

Die Antwort auf meine eigentliche Frage bekam ich zwar nicht, erfuhr aber eine Menge Wissenswertes auf anderem Gebiet.

Endlich wusste ich nun, warum die Bisse von Brahma und Enlil Maratowitsch nicht zu spüren gewesen waren. Bislang hatte ich angenommen, es läge an einem in die Wunde gesprühten Betäubungsmittel, wie das bei manchen großen Blutsaugern in den Tropen geschieht. Doch das war ein Irrtum.

Vielmehr baut sich zwischen Beißer und Gebissenem augenblicklich ein psychischer Kontakt auf, analog dem Täter-Opfer-Schema im sadomasochistischen Tandem. Das Opfer nimmt den Vorgang praktisch gar nicht wahr. Zwar registriert der Körper den Biss, »versteht«, was vor sich geht - jedoch nicht auf der Persönlichkeitsebene, sondern sozusagen ein Stockwerk tiefer, in der Kontakt- und Valenzzone des Bauchhirns. Höher kann das Signal nicht gelangen, weil das Opfer zugleich mit dem Biss gewissermaßen eine kräftige Ohrfeige bekommt, die es in eine kurzzeitige Schockstarre versetzt und alle Standardreaktionen blockiert.

Die Funktion dieser Ohrfeige übernimmt ein spezieller, von der Zunge ausgehender psychischer Befehl. Bei den Vampiren heißt er: der Schrei der Großen Maus. Seine genaue Beschaffenheit ist unklar, jedenfalls handelt es sich um keinen physischen Laut. Dieser Befehl ist viele Millionen Jahre alt; seine Macht ist so zwingend, dass selbst der größte Dinosaurier sich augenblicklich unterordnete.

Der fremde Wille wird hierbei nicht gewaltsam gebrochen. Eher handelt es sich um einen eigentümlichen biologischen Pakt, der sich in Millionen von Jahren herausgebildet hat: Das Tier gab gehorsam von seinem Blut ab, und sein Leben wurde verschont. Der Schrei der Großen Maus gehört somit in eine ganz andere Erdepoche, doch die Urzonen des Gehirns halten den damit verbundenen Schrecken immer noch gespeichert.

Leider war die Probe aus dem roten Etui sorgfältig von allen Informationen darüber gesäubert, wer den Befehl im Altertum bei welcher Gelegenheit zum Einsatz brachte. Dafür klärten sich einige wissenschaftliche Details. Beispielsweise erfuhr ich, dass der Befehl in den höhergelegenen psychischen Zentren nicht registriert wird, weil der betreffende Prozess nur ganze 350 Millisekunden dauert, also die Schwellzeit unterschreitet, ab der Menschen und andere große Tiere Ereignisse bewusst wahrnehmen können. Daher bleibt im Gedächtnis des Gebissenen nichts haften - und falls doch, wüsste das Hirn unverzüglich mit Verdrängung zu reagieren.

Was empfinden die Menschen also während des Bisses? Die Reaktionen unterscheiden sich geringfügig: von unbestimmbarer Sehnsucht über böse Vorahnung bis hin zu akuten Schwächeanfällen. Man wird gepeinigt von unangenehmen Gedanken. Verstorbene Verwandte fallen einem ein, überzogene Kredite und versäumte Fußballreportagen - der Verstand des Opfers maskiert die Vorgänge selbst auf alle nur denkbare Weise. Vermutlich ist das der ungewöhnlichste aller von der Evolution erfundenen Schutzmechanismen.

Außerdem kam ich hinter das Geheimnis meiner neuen Eckzähne. In Form und Größe waren sie, wie gesagt, ganz normal, nur etwas heller als meine ureigenen. Wie sich herausstellte, ist es nicht eigentlich der Zahnkörper, der die Haut des Opfers ritzt, sondern eine aus ihm kommende elektrische Entladung. Wie der Funken in einem Piezofeuerzeug. Die Elektrodrüsen sind am Gaumen des Vampirs, längs des Zweithirns, gelegen, also da, wo sich früher die Mandeln befunden haben. Infolge der Entladung entsteht über der Wunde eine kleine Vakuumzone, so dass ein paar Blutstropfen herausgesogen werden. Der Biss wird von einem praktisch nicht wahrnehmbaren Zucken des Kopfes begleitet - so kann der Vampir die Blutstropfen im Flug auffangen und mit der Zunge gegen den Gaumen drücken; die Verkostung beginnt. Im Idealfall bleiben auf der Haut des Gebissenen keine Spuren zurück oder höchstens ein, zwei mikroskopische Tröpfchen der roten Flüssigkeit; dass ein Biss zu einer regelrechten Blutung führte, ist noch nie vorgekommen. Das Opfer nimmt keinerlei Schaden.

Außer diesen Informationen enthielt das Präparat noch ein paar Richtlinien zum Thema »Wie verhalte ich mich beim Beißen?«. Es handelte sich um Ratschläge taktischer Art.

Dem Vampir wurde empfohlen, den Anschein zu erwecken, als wollte er seinem Opfer dezent etwas mitteilen. Vorsicht war angeraten: In der Nähe befindliche Personen sollten nicht denken, er kaute dem Opfer ein Ohr ab, flüsterte Anzüglichkeiten, schnupperte fremdes Parfüm und so weiter - so viele Hüter der öffentlichen Moral es gibt, so viele Möglichkeiten der Interpretation.

All das stand mir bevor.

Von dem Maler Dejneka gibt es ein Bild, welches Künftige Flieger betitelt ist: Drei Halbwüchsige sitzen am Meeresstrand und schauen versonnen in den Himmel, wo fern und verschwommen ein Flugzeug dahinfliegt. Hätte ich ein Bild Künftiger Vampir malen sollen, dann hätte es vielleicht so ausgesehen: bleicher Jüngling neben schwarzem Kaminloch im Sessel versunken, den starren Blick auf ein Fledermausphoto gerichtet.

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