Als Kind war ich an Wundern interessiert. Wahrscheinlich hätte ich nichts dagegen gehabt, ein fliegender tibetischer Yogi zu sein wie Milarepa oder ein Zauberlehrling wie Carlos Castaneda und Harry Potter. Auch mit etwas einfacheren Missionen hätte ich mich einverstanden erklärt: Kosmosheld werden, einen neuen Planeten entdecken oder einen von diesen großen Romanen verfassen, die das menschliche Herz erschüttern und die Kritiker zum Zähneknirschen veranlassen und zum Dreckschleudern vom Grunde ihrer Gruben.
Aber Vampir? Blutsauger? ...
Nachts träumte ich schlecht. Ich sah meine Bekannten, wie sie sich grämten über mein Malheur und bedauerten, dass sie mir nicht hatten helfen können. Gegen Morgen träumte ich von meiner Mutter. Sie war traurig und zärtlich zugleich - so wie ich sie im wirklichen Leben seit Langem nicht mehr erlebt hatte. »Romännchen, Liebes!«, flüsterte sie, ein Taschentuch mit dem Wappen derer von Storkwinkel vor ihre Augen gepresst, »meine Seele hing über deinem Bettchen und hütete deinen Schlaf! Aber dann hast du mich mit Sekundenkleber angeklebt, da konnte ich nichts mehr für dich tun!«
Ich hätte nicht gewusst, was antworten, aber die Zunge sprang mir bei, die diesen Träumen genauso aufmerksam folgte wie ich (und sowieso zwischen Traum und Wirklichkeit wenig Unterschiede machte):
»Tut mir leid, aber Sie sind gar nicht seine Mama«, sagte sie mit meiner Stimme, »seine Mama hätte ihm vorgehalten, dass er den Kleber schnüffelt.«
Danach wurde ich wach.
Ich lag in einem riesigen Bett unter reich besticktem braungoldenem Himmel. Gardinen von gleichem Braungold ließen kaum Licht herein; die Einrichtung des Zimmers war, was man heutzutage gothic nennt. Auf einem Schemel neben dem Bett stand ein Telefonapparat mit schwarzem Ebonitgummigehäuse, den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nachempfunden.
Ich erhob mich und schlurfte ins Bad.
Als ich mich im Spiegel sah, fuhr ich erschrocken zurück. Um die Augen waren schwarzlila Blutergüsse, die das halbe Gesicht einnahmen, so wie man es von Gehirnerschütterungen kennt. Sie waren gestern noch nicht da gewesen und sahen scheußlich aus. Aber alles Übrige ging schon wieder. Das Blut hatte ich noch am Vorabend abgewaschen; am Hals unterhalb des Jochbeins war nur ein kleines schwarz verkrustetes Löchlein geblieben wie von einem durch die Haut gedrungenen Nagel. Es blutete nicht, tat auch nicht weh -man musste sich wundern, dass so eine kleine Wunde einen derart glühenden Schmerz verursacht haben konnte.
Mein Mund sah aus wie früher - nur dass der leicht angeschwollene Gaumen einen dicken orangenen Belag trug. Die Gegend, wo er sich ausbreitete, fühlte sich etwas taub an. In den frischen Zahnlücken verspürte ich ein dumpfes Ziehen - und o Wunder, in den schwarzen Kratern waren schon die zuckerweißen Spitzen der neuen Zähne zu sehen -sie wuchsen in unglaublichem Tempo.
Die Kugel in meinem Inneren war noch da, doch sie beunruhigte mich nicht mehr. Über Nacht hatte ich mich schon beinahe daran gewöhnt. Eine ergebene Entrücktheit hatte sich meiner bemächtigt - so als wäre das alles nicht mir, sondern einem anderen passiert, den ich aus einer vierten Dimension beobachtete. Die daraus resultierende Unverbindlichkeit erschien angenehm, versprach eine zuvor nicht gekannte Freiheit... aber eigentlich war ich noch zu schwach, um Selbstanalyse zu betreiben.
Nach dem Duschen nahm ich eine Quartierbesichtigung vor. Die Wohnung war frappierend in den Ausmaßen und ihrem düsteren Luxus. Außer dem Schlaf- und dem Archivzimmer gab es einen Kinoraum mit einer Sammlung von Masken an den Wänden (venezianische Masken, afrikanische, chinesische und solche, die ich nicht zuordnen konnte) sowie eine Art Wohnzimmer mit Kamin und Sitzgruppe und einem altmodischen Radioempfänger im Mahagonigehäuse an prominentester Stelle.
Dann gab es noch einen Raum, dessen Bestimmung mir nicht aufging - kein richtiges Zimmer, eher eine größere Abstellkammer, deren Fußboden mit dicken, weichen Kissen ausgelegt war. Die Wände mit schwarzem Samt tapeziert, darauf Sonne, Mond und Sterne mit menschlichen Gesichtern; sie schauten streng und abweisend. In der Mitte der Kammer hing an einer Kette eine Vorrichtung von der Decke, die aussah wie ein riesiger silberner Steigbügel - eine gebogene Metallstange mit Querstrebe. Aus der Wand ragte ein metallener Knauf; wenn man daran drehte, fuhr der Bügel über den Kissen hoch oder runter. Ich hatte keine Vorstellung, wozu dieses Gerät gut sein konnte - wenn man nicht einen großen Papagei daraufsetzen wollte, der der Einsamkeit frönte ... Ferner waren über die Wände des Raumes kleine weiße Kästchen verteilt, die Rauchmelder hätten sein können.
Das Archivzimmer, in dem Brahma sich die Kugel gegeben hatte, kannte ich bereits. Dadurch, dass ich schon einige Zeit darin verbracht hatte, sah ich mich zu einer eingehenderen Untersuchung berechtigt.
Ganz offenbar war dies das Arbeitszimmer des vormaligen Hausherrn gewesen - obwohl sich schwerlich sagen ließ, worin seine Arbeit bestanden haben mochte. Ich zog aufs Geratewohl ein paar Schübe in der Archivwand auf und fand darin Plastikgestelle mit reihenweise Reagenzgläschen vor, alle schwarz verstöpselt. In jedem befanden sich zwei, drei Milliliter einer klaren Flüssigkeit.
Eine Ahnung, was das sein konnte, lag nicht fern. Mitra hatte mir die Kostprobe Windows Chrrr aus einem ganz ähnlichen Gefäß kredenzt. Augenscheinlich handelte es sich hier um eine Vampirbibliothek. Die Gläschen waren mit Nummern und Buchstaben versehen. Auch an den Vorderseiten der Kästen gab es aus mehreren Buchstaben und Ziffern bestehende Signaturen.
Die beiden Aktgemälde an der Wand waren spezieller Art. Auf dem einen, in einem Sessel sitzend, ein nacktes Mädchen von vielleicht zwölf Jahren. Unvorteilhafterweise hatte sie Nabokovs Glatzkopf auf ihren zarten Schultern sitzen, die Nahtstelle war von einem Halstuch mit streng bürgerlichem Tüpfelmuster verdeckt. Lolita war der Titel des Bildes.
Das andere zeigte ein ungefähr gleiches Mädchen, nur mit sehr viel hellerer Haut und fehlenden Brustwarzen. Hier sah Nabokov schon ganz alt und hinfällig aus, und das Tarnhalstuch über der Naht hatte ein bizarres, poppiges Muster, mit Sternschnuppen, Kickerhähnen und geographischen Symbolen. Dieses Bild hieß Ada.
Gewisse anatomische Details der kindlichen Körper waren ausgeführt, doch man schaute nicht gern genauer hin, zumal der durchdringend-verächtliche Blick der beiden Nabokovs den Betrachter das Fürchten lehrte. Diesen Effekt hatte der unbekannte Künstler meisterlich hinbekommen.
Plötzlich meinte ich eine leise Zugluft im Nacken zu spüren.
»Vladimir Nabokov als Wille und Vorstellung«, sagte eine sonore Bassstimme in meinem Rücken.
Ich fuhr erschrocken herum. Hinter mir in einem Meter Entfernung stand ein kleiner dicker Mann im schwarzen Jackett über dunklem Rollkragenpullover. Dem Anschein nach in den Fünfzigern; buschige Brauen, Hakennase, hohe Stirn. Seine Augen waren von einer verspiegelten Sonnenbrille verdeckt.
»Verstehst du, was der Künstler uns damit sagen wollte?«, fragte er.
Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Nabokovs Romane Lolita und Ada sind Varianten einer Dreierkiste der Marke Wladimir-sei-bei-uns. Darum geht es.«
Mein Blick wanderte von Lolita zu Ada, auf deren milchweißer Haut ich eine stattliche Anzahl Fliegenpunkte bemerkte.
»Lolita«, wollte ich wissen, »kommt das eigentlich von LOL?«
»Wie bitte?«
»Laughed out loud«, erläuterte ich. »Eine Floskel aus dem Netz. Wir sagen auch Lautes Online-Lachen dazu oder einfach *lach*. Demzufolge wäre Lolita ein Mädchen, das viel und gerne lacht.«
»Ach ja«, seufzte der Fremde, »andere Zeiten, andere Kulturen. Manchmal fühlt man sich schon wie ein Museumsstück ... Hast du Nabokov gelesen?«
»Klar«, log ich.
»Und wie fandest du es?«
»Nachtmahr einer grauen Stute«, sagte ich lässig.
Das war eine Redewendung meines alten Großvaters gewesen, wenn ihm einer Blödsinn erzählte. Mit derlei Poesie setzt man sich als Rezensent nicht gleich in die Nesseln, soviel wusste ich.
»Oho, das trifft den Nagel auf den Kopf!«, freute sich der Fremde. »Nicht umsonst heißt die Stute auf Englisch mare. Das erwähnt unser verehrter Autor sogar an einer Stelle. Aber wieso grau? Ach so! Verstehe, verstehe ... Schlimmer als alle bösen Träume ist die Schlaflosigkeit! Wie sagt doch der Meister: Insomnia, your stare is dull and ashen ... Aschgrau, ließe sich sagen ...«
Mir fiel ein, dass die Hintertür die ganze Zeit offen gestanden hatte. Offenbar war hier ein Geisteskranker eingedrungen.
»Die ganze russische Geschichte stürzt ins Loch dieses Albtraums ... Und vor allem die Blitzartigkeit des Übergangs von der Mahr zur Materialisierung. Das graue Stütchen ... Mit einem schlechten Traum fing es an, den Zuckungen eines Pferdehirns - und schon ritt Budjonny über die Hänge der Halbinsel Krim und köpfte mit der Reitgerte die Kletten ...«
Sein Blick verlor sich in der Ferne.
Vielleicht doch kein Geisteskranker, dachte ich.
»Ich verstand noch nicht ganz«, fragte ich höflich, »weshalb die Romane des Schriftstellers Nabokov eine Dreierkiste sind?«
»Weil er es nicht lassen kann, sich selbst zwischen die Liebespaare in seinen Büchern zu legen. Und hin und wieder eine subtile Replik fallen lässt, mit der er auf sich aufmerksam macht. Was wiederum nicht sehr leserfreundlich ist, soweit es sich nicht um gerontophile Leserschaft handelt ... Weißt du übrigens, welches erotische Buch ich am liebsten habe?«
Dieser Fremde hielt mit seinen Gedanken erstaunlich wenig hinterm Berg.
»Nein«, sagte ich.
»Nimmerklugs Reise zum Mond. Gerade weil dort kein schlüpfriges Wort fällt, ist dieses Kinderbuch der erotischste Text des zwanzigsten Jahrhunderts. Du liest es und stellst dir vor, was diese Knirpse, Schraubfix, Rennefix, Nudeldick und wie sie alle heißen, in ihrer Rakete so anstellen auf dem langen Weg zum Mond ...«
Nein, dieser Mann ist nicht geisteskrank, der ist im Gegenteil ganz vernünftig, stellte ich fest.
»Ja, darüber hab ich als Kind auch nachgedacht«, sagte ich. »Und wer sind Sie?«
»Ich heiße Enlil Maratowitsch.«
»Sie haben mich ganz schön erschreckt.«
»Du hast da eine feuchte Stelle im Nacken, willst du es dir vielleicht abwischen?«, sagte er und hielt mir ein Papiertaschentuch hin.
Ich spürte nichts, tat aber, wie geheißen. Auf dem Taschentuch zeichneten sich zwei kopekengroße Blutflecke ab. Sofort war mir klar, warum er von den Knirpsen angefangen hatte.
»Aha. Sie also auch ...«
»Andere Leute verkehren hier nicht.«
»Und wer sind Sie genau?«
»In der Menschenwelt würde ich wohl als Chef gelten ... Bei den Vampiren heißt das einfach Koordinator.«
»Ah ja«, sagte ich. »Und ich dachte schon, Sie wären nicht bei Trost! Schlaflosigkeit, Nabokov auf dem Mond und so weiter. Ist das Ihre spezielle Ablenkungsmethode? Den Biss zu überspielen?«
Enlil Maratowitsch lächelte schuldbewusst.
»Wie fühlst du dich?«
»Geht so.«
»Aussehen tust du jedenfalls bescheiden, das darf man wohl sagen. Aber so pflegt es immer zu sein. Ich hab dir eine Salbe mitgebracht, damit schmierst du die blauen Flecken über Nacht ein. Dann sind sie morgen weg. Und hier sind außerdem Kalziumtabletten. Davon nimmst du fünfzehn pro Tag. Das ist gut für die Zähne.«
»Danke.«
»Ich sehe, du bist nicht gerade erbaut von dem, was dir zugestoßen ist. Du brauchst mir nichts vorzumachen, ich weiß es. Das ist normal. Und sogar erfreulich. Denn es bedeutet, dass du ein guter Mensch bist.«
»Müssen Vampire etwa gute Menschen sein?«
Enlil Maratowitschs Brauen schnellten in die Höhe.
»Aber natürlich!«, rief er. »Was denn sonst?«
»Na, ich dachte nur ...«, hob ich zur Erklärung an, sprach aber nicht weiter.
Sagen wollte ich, dass man bestimmt kein guter Mensch sein muss, um anderen Leuten das Blut auszusaugen. Eher das Gegenteil. Aber das hätte wohl unhöflich geklungen.
»Rama«, sagte Enlil Maratowitsch, »du hast keine Ahnung, wer wir in Wirklichkeit sind. Alles, was du über Vampire weißt, ist erstunken und erlogen. Ich will dir was zeigen. Komm mit.«
Ich folgte ihm in das Zimmer mit dem Kamin und den Sesseln. Enlil trat vor den Kamin hin und wies auf ein darüberhängendes Bild. Es war die Nahaufnahme einer Fledermaus in Schwarzweiß. Schwarze Knopfaugen, gespitzte Hundeohren und eine runzlige Nase, die etwas von einem Schweinsrüssel hatte. Eine Mischung aus Ferkel und Hund, so konnte man es sehen.
»Was ist das?«
»Das ist eine Vampirfledermaus. Desmodus Rotundus. Sie kommt in Amerika beiderseits des Äquators vor. Ernährt sich von der roten Flüssigkeit größerer Säuger. Besiedelt alte Höhlen in Großfamilie.«
»Und warum zeigen Sie die mir?«
Enlil Maratowitsch ließ sich in einem Sessel nieder. Lud mich mit einer Geste ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Wenn man sich die Märchen so anhört, die in Mittelamerika über dieses winzige Wesen erzählt werden«, begann er, »dann könnte man glauben, es gäbe kein grässlicheres Geschöpf auf der Welt. Diese Fledermaus sei eine Höllenbrut, heißt es da. Und dass sie Menschengestalt annehmen könne, um ihr Opfer ins Dickicht zu locken. In Schwärmen pflege sie über diejenigen herzufallen, die sich im Wald verlaufen, beiße sie zu Tode. Und dergleichen Unsinn mehr. Wenn die Menschen eine Höhle finden, in der Vampirfledermäuse siedeln, räuchern sie sie aus. Oder sprengen sie gleich mit Dynamit in die Luft.«
Er schaute mich an, als erwartete er irgendeine Erwiderung. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
»Aus unerfindlichem Grunde meinen die Menschen, das Gute gepachtet zu haben«, fuhr er fort. »Und die Vampire gelten als die Ausgeburt des Bösen schlechthin. Betrachten wir aber doch einmal die Tatsachen. Nenne mir einen einzigen Grund, weshalb die Menschen besser sein sollten als die Vampirfledermäuse!«
»Vielleicht weil sie einander helfen?«, hatte ich einen Vorschlag
»Das kommt bei Menschen äußerst selten vor. Vampirfledermäuse hingegen helfen einander unentwegt. Das Futter, das sie nach Hause bringen, wird unter allen aufgeteilt. Sonst noch was?«
Mehr fiel mir erst einmal nicht ein.
»Der Mensch«, sagte Enlil Maratowitsch, »ist der grausamste und sinnloseste Mörder auf Erden. Keinem Lebewesen in seiner Nähe hat er je Gutes getan. Und was das Schlechte angeht... Soll ich anfangen aufzuzählen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dieses winzige Tierchen aber, das der Mensch zum Inbegriff seiner geheimen Ängste gemacht hat - es tötet gar niemanden! Fügt nicht einmal ernsthaften Schaden zu. Akkurat ritzt die Vampirfledermaus mit den Schneidezähnen die Haut des Wirtes und trinkt ihre zwei Milliliter, nicht mehr und nicht weniger. Was kann das, sagen wir, einem Stier oder einem Pferd schon anhaben? Oder auch einem Menschen? So ein Aderlass gilt vom medizinischen Standpunkt aus als nützlich. In der Literatur ist zum Beispiel ein Fall beschrieben, wo eine Vampirfledermaus einem fiebernden katholischen Mönch das Leben gerettet hat. Wohingegen«, er hob belehrend den Zeigefinger, »kein einziger Fall überliefert ist, in dem ein katholischer Mönch einer fiebernden Fledermaus beigesprungen wäre ...«
Dagegen ließ sich schwer etwas einwenden.
»Sämtliche Vorstellungen, die Menschen über Vampire haben, sind falsch, Rama, merk dir das. Wir sind ganz und gar nicht die heimtückischen Monster, als die man uns hinstellt ...«
Ich schaute auf das Fledermausbild. Das flauschige Schnäuzchen sah wirklich nicht bedrohlich aus - eher klug, zappelig und ein bisschen verschreckt.
»Was sind wir dann?«, fragte ich.
»Weißt du, was eine Nahrungskette ist?«
»So was wie McDonald’s?«
»Nicht ganz. Einer Nahrungskette gehören Pflanzen und Tiere an, die durch das Prinzip »Fressen und gefressen werden« miteinander verbunden sind. Kaninchen und Schlange zum Beispiel, oder Grashüpfer und Kröte ...«
Bei diesen Worten zwinkerte er mir lächelnd zu.
»... oder Frosch und Franzose. Na ja, oder Franzose und Leichenwurm. Die Menschen sehen sich diesbezüglich als Gipfel einer Pyramide: Sie können essen, wen sie wollen, wann? sie wollen, wie sie wollen und wie viel sie wollen. Darauf gründet das menschliche Selbstwertgefühl. Doch in Wahrheit hat diese Pyramide noch eine höher gelegene Etage, von der die meisten Menschen keine Vorstellung haben. Und das sind wir, die Vampire. Wir sind die Krone auf Erden. Das vorletzte Glied.«
»Und das letzte wäre?«
» Gott.«
Darauf erwiderte ich nichts, drückte mich nur etwas tiefer in meinen Sessel.
»Und die Vampire sind nicht nur der Schlussstein der Nahrungsketten, sie sind auch ihr humanstes Glied. Ihr hypermoralischstes.«
»Na, ich weiß nicht«, sagte ich. »Bei anderen zu schmarotzen scheint mir nicht in Ordnung.«
»Und ein Tier zu töten, um sein Fleisch zu essen - das findest du besser?«
Wieder wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte.
»Was ist humaner«, fuhr Enlil Maratowitsch fort, »Kühe zu melken, um ihre Milch zu trinken, oder sie zu schlachten und zu Koteletts zu verarbeiten?«
»Melken ist humaner.«
»Eindeutig! Selbst Graf Leo Tolstoi, von dem die Vampire sich viel sagen ließen, hätte sich damit einverstanden erklärt. Und die Vampire richten sich danach, Rama. Wir töten niemanden. Jedenfalls nicht zu kulinarischen Zwecken. Die Aktivitäten von Vampiren ähneln eher der Milchwirtschaft.«
Auch bei ihm hatte ich - wie bei Mitra - den Eindruck, dass er die Dinge etwas zuspitzte.
»Das lässt sich doch nicht vergleichen«, hielt ich dagegen. »Kühe werden von den Menschen extra gehalten. Sie sind eine künstliche Züchtung, wie sie in der wilden Natur gar nicht vorkommt. Vampire betreiben hingegen keine Menschenzucht, oder?«
»Woher willst du das wissen?«
»Wollen Sie mir erzählen, die Vampire hätten sich den Menschen herangezüchtet?«
»Jawohl«, erwiderte Enlil Maratowitsch. »Genau das will ich sagen.«
Ich dachte zunächst, das sollte ein Witz sein. Doch sein Gesicht blieb vollkommen ernst.
»Wie haben die Vampire das denn angestellt?«
»Das verstehst du sowieso nicht, bevor du nicht die Grundlagen von Glamour und Diskurs studiert hast.«
»Die Grundlagen von was?«
»Glamour und Diskurs«, wiederholte er. »Das sind die zwei wichtigsten Lehren der Vampirologie. Siehst du - nicht einmal die kennst du. Und maßt dir an, über diese schwierige Materie zu urteilen. Im Zuge deiner ordentlichen Ausbildung werde ich dir von der Schöpfungsgeschichte erzählen und wie Vampire die menschlichen Ressourcen zu nutzen verstehen. Jetzt vergeuden wir damit nur Zeit.«
»Und wann werde ich Glamour und Diskurs studieren?«
»Ab morgen. Zwei unserer besten Experten werden Vorlesungen halten, Baldur und Jehova. Sie kommen zeitig, geh also am besten etwas früher schlafen. Noch Fragen?«
Ich dachte nach.
»Sie sagen, Vampire hätten die Menschen überhaupt erst gezüchtet. Wie kommen die Menschen dann darauf, sie als heimtückische Monster anzusehen?«
»Das soll über die Lage der Dinge hinwegtäuschen. Und lustiger ist es so herum auch.«
»Aber die Menschenaffen existieren auf der Erde schon viele Millionen Jahre. Der Mensch auch schon ein paar hunderttausend. Wie könnten die Vampire ihn gezüchtet haben?«
»Vampire leben auf der Erde seit undenklichen Zeiten. Vor den Menschen mussten sie sich anders ernähren. Aber ich sage es noch einmal, hierüber zu diskutieren wäre verfrüht. Hast du noch irgendwelche Fragen?«
»Hab ich. Könnte natürlich sein, dass Sie auch die verfrüht finden.«
»Das käme auf den Versuch an.«
»Wie macht es ein Vampir, dass er die Gedanken eines anderen Menschen lesen kann? Beim Blutsaugen, meine ich?«
Enlil Maratowitsch rümpfte die Nase.
»Beim Blutsaugen!«, wiederholte er verächtlich. »Puh! So reden wir nicht darüber, Rama, merk dir das. Nicht nur, weil es vulgär klingt. Du könntest anderen Vampiren damit zu nahetreten. In meiner Gegenwart - von mir aus. Ich führe selbst zuweilen gern einmal lose Reden. Doch es gibt andere«, er wies mit dem Kopf in unbestimmte Richtung, »die würden dir das nicht verzeihen.«
»Und wie sagen die Vampire?«
»Vampire sagen: während einer Verkostung.«
»Na gut. Wie kann ein Vampir während einer Verkostung die Gedanken eines Menschen lesen?«
»Dich interessiert die technische Seite?«
»Die technische Seite kenne ich schon. Mich interessiert die wissenschaftliche Erklärung.«
Enlil Maratowitsch seufzte schwer.
»Weißt du, Rama, jede Erklärung geht von den jeweils herrschenden Vorstellungen aus. Handelt es sich um eine wissenschaftliche Erklärung, dann eben von den Vorstellungen, die in der Wissenschaft herrschen. Im Mittelalter war man zum Beispiel der Ansicht, die Pest würde über die Poren der Haut übertragen. Darum hat man den Leuten vorsichtshalber den Badehausbesuch verboten, weil die Poren sich dort weiten. Heute meint die Wissenschaft, die Pest würde von Flöhen übertragen, weshalb sie den Leuten vorbeugend empfiehlt, möglichst oft in die Sauna zu gehen.
Vorstellungen wandeln sich, Verdikte dementsprechend. Verstehst du?«
Ich nickte.
»Siehst du, und die moderne Wissenschaft hat einfach nicht die Vorstellungen parat, auf deren Grundlage sich eine wissenschaftliche Antwort auf deine Frage geben ließe. Ich könnte es an einem Beispiel aus einem anderen Bereich zu erklären versuchen, von dem du mehr verstehst. Du kennst dich mit Computern aus, nicht wahr?«
»Ein wenig«, sagte ich bescheiden.
»Und ob du dich auskennst - das hab ich doch gesehen. Erinnere dich einmal daran, warum die Firma Microsoft so scharf darauf war, den Netscape-Browser vom Markt zu verdrängen!«
Es war mir nicht unangenehm, mit meinen Kenntnissen zu glänzen.
»Damals wusste noch keiner, wie die Entwicklung des Computers weitergehen würde«, sagte ich. »Es gab zwei Konzepte. Dem einen zufolge sollten alle persönlichen Daten des Users auf seiner Festplatte gespeichert sein. Das andere sah vor, den Computer zu einem simplen Netzanschlussgerät zu machen und alle Information im Netz zu hinterlegen. Der User würde sich einkoppeln, ein Passwort eingeben und bekäme Zugang zu seinem Schließfach. Hätte dieses Konzept sich durchgesetzt, dann wäre heute nicht Microsoft alleiniger Marktführer, sondern Netscape.«
»Genau so ist es!«, sagte Enlil Maratowitsch. »Selbst hätte ich es keinesfalls so klar zu formulieren gewusst. Und nun stell dir vor, das menschliche Hirn wäre ein Computer, über den noch niemand etwas weiß. Heute sind die Gelehrten der Meinung, er wäre so eine Art Festplatte, auf der alles Wissen der Menschheit gespeichert ist. Aber vielleicht kommt eines Tages einer drauf, dass das Hirn nur ein simples Modem ist für den Anschluss an ein Netz, welches sämtliche Daten enthält. Wäre das vorstellbar?«
»Im Prinzip schon«, sagte ich. »Durchaus.«
»Na, und das Übrige ist einfach. Wenn der User sich einloggt, muss er sein Passwort angeben. Wenn einer das Passwort abfängt, kann er das Schließfach genauso benutzen wie sein eigenes.«
»Aha, verstehe. Sie wollen vermutlich sagen, dass als Passwort ein Code dient, der im Blut enthalten ist?«
»Ich hatte doch darum gebeten, dieses Wort nicht zu benutzen!«, raunzte Enlil Maratowitsch. »Gewöhne dir das bitte gleich ab. Schriftlich kannst du das B-Wort benutzen, so oft du magst, da ist es normal. Aber im mündlichen Gebrauch gilt es für einen Vampir als unschicklich und unzulässig.«
»Was wäre anstelle des B-Worts denn schicklicher?«
»Rote Flüssigkeit.«
»Rote Flüssigkeit?«
Der Ausdruck war tatsächlich schon ein paarmal gefallen.
»Ein Amerikanismus«, erklärte Enlil Maratowitsch. »Die angelsächsischen Vampire sagen red liquid, und wir kopieren es. Das ist eine lange Geschichte. Im neunzehnten Jahrhundert hat man Fluid dazu gesagt. Dann kam das Wort in Verruf. Als die Elektrizität in Mode kam, sagte man Elektrolyt oder einfach Elektro, bis auch das wieder einen Ruch von Vulgarität bekam, und man begann den Ausdruck Präparat zu verwenden. In den Neunzigern sagte man dann Lösung dazu. Und jetzt eben rote Flüssigkeit... Hirnrissig, das Ganze. Aber gegen den Strom zu schwimmen ist sinnlos.«
Er sah auf die Uhr.
»Noch Fragen?«
»Ja, sagen Sie, was ist das für eine Besenkammer mit Kleiderbügel?«
»Das ist keine Besenkammer«, antwortete Enlil Maratowitsch, »das ist unser Hamlet.«
»Shakespeare?«
»Nein, nicht Shakespeare. Aber aus dem Englischen. Es bedeutet: kleines Dorf ohne Kirche. Eine unheilige Zuflucht sozusagen ... Das Hamlet ist unser Ein und Alles. Es hat mit einem Aspekt unseres Alltags zu tun, der vielleicht etwas beschämend, aber sehr, sehr faszinierend ist. Mehr dazu später. Jetzt muss ich wirklich gehen.«
Er erhob sich aus dem Sessel. Ich begleitete ihn zur Tür.
Auf der Schwelle wandte er sich um, tat eine zeremoniöse Verbeugung und sagte, mir tief in die Augen schauend:
»Wir sind froh, dass du wieder bei uns bist.«
»Auf Wiedersehen«, stammelte ich irritiert.
Die Tür schloss sich hinter ihm.
Und mir ging auf, dass der letzte Satz nicht an mich gerichtet war, sondern an die Zunge.