Enlil Maratowitsch holte mich am Fahrstuhl ab.
»Du kommst gerade richtig«, sagte er mit einem Blick auf meine Stirn. »Die Tombola läuft schon.«
»Tombola?«
»Du bekommst einen Chaldäer für die Verkostung zugelost. «
»Von wem?«
»Das machen sie immer selbst, da mischen wir uns nicht ein. Sie haben dafür ein ziemlich hübsches Ritual. Die Lose mit den Namen kommen in einen roten Zylinderhut ... Das siehst du ein andermal.«
Wir kamen an seinem Kabinett vorbei und gelangten vor die große Tür, die in den runden Saal führte. Außer uns war niemand auf dem Korridor.
»Wir warten hier«, sagte Enlil Maratowitsch. »Wenn die Tombola zu Ende ist, werden sie uns holen.«
»Ich bräuchte eine Serviette, um mir die Stirn abzuwischen.«
»Wo denkst du hin! Ischtars Kuss ist deine Eintrittskarte ins neue Leben. Die muss für alle sichtbar sein.«
»Eine Eintrittskarte an merkwürdiger Stelle.«
»Es gibt keine bessere. In den Diskotheken pflanzen sie einem diese bunten Stempel auf die Haut, damit erst gar keiner anfängt, an den Papierdingern herumzufrisieren. So ist das auch hier ... Inklusive Freigetränke, hi-hi ...«
»Da Sie gerade von Getränken reden ... Wann kriege ich das Bablos?«
Enlil Maratowitschs Blick war voller Befremden, ja, beinahe verächtlich.
»Glaubst du, du wärest schon reif für den Dienst?«
Diese Frage fand ich erheiternd. Ach ja! dachte ich. Vampire sind, scheints, auch wieder nur eine Schar Erwählter für den höheren Dienst am Volke. Hätte man sich denken können ... Das auszusprechen verkniff ich mir jedoch.
»Warum denn nicht?«, fragte ich. »Ischtar Borissowna wollte mir schon eine Portion ausgeben, es war bloß gerade keines im Haus.«
Enlil Maratowitsch lachte auf.
»Rama!«, sagte er. »Ischtar hat sich einen Scherz mit dir erlaubt. Ich weiß wirklich nicht, was ich von deinem Leichtsinn halten soll. In unserer Welt ist nicht alles so einfach, wie du es dir ausmalst.«
»Wo ist das Problem?«
»Das wirst du gleich merken. Hast du dein Todesbonbon dabei?«
Ich zuckte zusammen.
»Wozu?«, fragte ich.
»Hast du es dabei oder nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. Das Lächeln auf Enlil Maratowitschs Gesicht erlosch.
»Hat Loki dir nicht eingeschärft, dass ein Vampir niemals ohne Todesbonbon aus dem Haus geht?«
»Das hat er, ich hab nur ...«
»Versuche gar nicht erst, dich herauszureden. Zur Strafe für diese unverzeihliche - ich betone: ganz und gar unverzeihliche - Säumigkeit müsste ich dich eigentlich mit leeren Händen zur Verkostung schicken. Damit dir das eine Lehre fürs Leben ist. Ich tue es nur deshalb nicht, weil dies auf den Ruf unserer ganzen Gemeinschaft zurückfiele. An dieser Stelle dürfen wir kein Risiko eingehen ...«
Im nächsten Moment hielt Enlil Maratowitsch ein in schillernd grünes Papier mit Goldkante gewickeltes Bonbon in der Hand. So eines hatte ich noch nicht gesehen.
»Iss es gleich!«, forderte er mich auf. »Damit du nicht auch noch das verlierst.«
Ich wickelte das Bonbon aus und schob es mir in den Mund.
»Und wozu das?«
»Du musst einem dieser Chaldäer aufs Zahnfleisch fühlen. Sein Innerstes vor allen Anwesenden nach außen kehren. Damit setzt du dich einer großen Gefahr aus.«
»Inwiefern?«
»Weil diese Chaldäer es in sich haben. Und wenn du dich anschickst, dem Publikum das zu eröffnen, was dem Objekt am allerpeinlichsten ist, wird es wahrscheinlich versuchen, dich zum Schweigen zu bringen. Womöglich ein für alle Mal. Und dann erginge es dir ohne dieses Bonbon schlecht.«
»Moment!«, sagte ich erschrocken. »So haben wir nicht gewettet. Von einer normalen Verkostung war die Rede ...«
»Das ist eine normale Verkostung. Aber der Gefühlsausbruch des Gebissenen ist in diesem Fall nun einmal der einzige Nachweis von Authentizität. Schon deswegen musst du tief graben bei ihm, bis ganz auf den Grund, hörst du? Die Dinge ans Tageslicht holen, derer er sich am meisten schämt und die er am sorgfältigsten versteckt. Zieh sie hervor! Und sei gefasst, dass er versucht, dich daran zu hindern.«
»Und wenn ihm das gelingt?«
»Hast du Bammel?«
»Klar«, gab ich zu.
»Dann solltest du erst einmal für dich klären, wer du bist«, sagte Enlil Maratowitsch. »Eine Vorstadtschlafmütze oder ein richtiger Stecher.«
»Ein was?«
»Ein Stecher. So sagen wir, wenn einer nicht nur ein Vampir ist, sondern noch dazu ein richtiger Mann. Also?«
Vorstadtschlafmütze war keine Alternative.
»Ein Stecher!«, erwiderte ich entschlossen.
»Dann zeig es. Vor allem dir selbst. Und allen Übrigen mit. Es ist einfacher, als du denkst. Wovor hast du Angst? Du hast das Todesbonbon, das der Chaldäer nicht hat.«
»Ist das Verfallsdatum auch nicht überschritten?«, fragte ich besorgt.
»Das werden wir sehen«, sagte Enlil Maratowitsch lächelnd.
Wie ich den Kampfgeist in mir zu schüren hatte, wusste ich noch: tat die verlangten Atemzüge in der notwendigen Reihenfolge und spürte umgehend, wie eine hüpfende Leichtigkeit in meinen Körper einzog - so, wie es während Lokis Lektionen gewesen war, nur mit ein paar neuen, überraschenden Zutaten. Zum Beispiel konnte ich nun spüren, was hinter meinem Rücken geschah. Ich erkannte schemenhaft den Korridor, die Wand- und Fußbodenflächen mit all ihren Unebenheiten - als hätte ich ein Fischauge auf dem Rücken. Das war schwindelerregend.
Da ging die Saaltür auf, Marduk Semjonowitsch und Loki kamen heraus. Man sah ihnen an, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war.
»Na, wer ist es?«, fragte Enlil Maratowitsch.
»Du wirst dich wundern«, sagte Marduk Semjonowitsch. »Sie haben Semnjukov gezogen. Den Stellvertretenden Minister. Hol ihn der Satan.«
»Ach, du Seh...«, murmelte Enlil Maratowitsch. »Das hat uns noch gefehlt. Jetzt sitzen wir in der Tinte ...«
»Was ist denn los?«, fragte ich erschrocken.
»Weißt du was, gib das Bonbon am besten wieder her. Ach, du hast es schon gegessen? ... He-he-he, keine Bange, ich mache nur Witze. Aber sieh zu, dass du ihn nicht ganz totschlägst, o.k.? Das wäre sonst ein schwerer Verlust. Sie würden seinetwegen vielleicht nicht Schwanensee im Fernsehen zeigen, aber eine Größe ist er.«
»Ich habe nicht die Absicht, jemanden totzuschlagen. Mir genügt es, wenn ich am Leben bleibe.«
»Andererseits egal, ob tot oder lebend«, korrigierte sich Enlil Maratowitsch. »Hauptsache, es sieht gut aus. Wir verbuchen es unter Autounfall.«
Mit diesen Worten schob er mich zur Tür, aus der uns Musik und Stimmengewirr entgegenschlugen. Enlils Griff war zartfühlend und freundschaftlich, trotzdem kam ich mir vor wie ein in die Arena gepeitschter Gladiator.
Der Saal hatte sich optisch verändert: Scheinwerfer strahlten, das Ganze ließ jetzt tatsächlich an eine Zirkusmanege denken. Die Tische mit dem Büfett waren an die Wand gerückt. In der Mitte des Saales drängten sich die Chaldäer, bildeten dort einen lebhaften Kreis. Es waren mehr geworden - manche offenbar aristokratisch genug, erst zum zweiten Akt zu erscheinen. Hie und da zwischen all der goldblitzenden Maskenhaftigkeit waren menschliche Gesichter zu entdecken - das konnten nur Vampire sein. Sie warfen mir aufmunternde Blicke zu.
Ein paar Chaldäer trugen zur Maske nichts als ein flauschiges Röckchen aus Federn oder langmähniger Schafwolle. Die so Gewandeten hatten allesamt einen durchtrainierten Körper vorzuzeigen. Vermutlich war das Trend-Fashion für die fitnessgestählte chaldäische Klientel.
Einer dieser halbnackten Herkulesse stand, Arme vor der Brust verschränkt, in der Mitte des Kreises. Sein metallisches Antlitz warf gnadenlos grelle Lichtreflexe. Der Oberkörper bestand aus haarigen Muskelbergen; ein solider Bierbauch störte die Harmonie, vermehrte den Schrecken. Hätten die
Hunnen oder Vandalen Denkmäler hinterlassen, dann Figuren dieser Art, dachte ich. In dem schwarzen Gestrüpp auf seiner Brust hing ein Kettchen mit Amulett: irgendwelches totemhaftes Getier mit und ohne Flügel.
Wäre ich geneigt gewesen, die Bedeutung des Moments bis hierhin noch zu unterschätzen - die Blicke der Vampire sprachen Bände. Da war auf der einen Seite unsere fragile Welt, behütet nur durch jahrhundertealte Vorurteile und das Todesbonbon. Auf der anderen die brutale Menschenherde ... Sicherheitshalber wiederholte ich mein Ertüchtigungsritual. Gemessen ein- und ausatmend, näherte ich mich dem halbnackten Chaldäer, grüßte ihn mit einem soldatisch knappen Nicken und sprach:
»Guten Abend. Wie Sie wissen, haben wir beide nun einen Auftritt ... na, sozusagen im Tandem zu absolvieren. Dafür sollten wir uns zunächst miteinander bekannt machen. Ich heiße Rama. Von Ihnen kenne ich bisher nur den Nachnamen. Ihr werter Vor- und Vatersname ist wie?«
Die Maske drehte sich zu mir herum.
»Ich dachte, das könntest du selber herausfinden!«, sprach sie. »Oder etwa nicht?«
»Aha. Das heißt, Sie hätten nichts dagegen, wenn ich ...«
»Und ob ich was dagegen habe!«, unterbrach mich die Maske resolut.
Im Saal wurde gelacht.
»Nun, wenn es so ist, muss ich leider Gewalt anwenden. Selbstverständlich streng unter Einhaltung der geltenden Regeln.«
»Das möchte ich sehen«, sagte Semnjukow, »wie das wohl aussehen soll.«
Ich tat einen Schritt auf ihn zu. Er nahm eine lässige Boxerhaltung ein. Ein Hieb dieser Faust konnte mich augenblicklich ins Jenseits befördern. Ich beschloss es nicht darauf ankommen zu lassen und wahrte von vorne lieber Distanz.
Ich wollte von hinten an ihn herangelangen.
Das war strapazierend für Muskeln und Gelenke, gelang dafür jedoch so ansehnlich, wie Enlil Maratowitsch es gewünscht hatte. Die Sequenz von Bewegungen, mit denen ich in die beabsichtigte Position gelangte, nahm kaum mehr als eine Sekunde in Anspruch. Für mich war es jedoch eine sehr lange Sekunde, so lang wie eine vollständige Kür in künstlerischer Gymnastik.
Zuerst tat ich einen langsamen, unsicheren Schritt auf ihn zu. Er breitete höhnisch die Arme aus, als wollte er mich damit umfangen. Da hechtete ich nach vorn und war, ehe er sich versah, unter seinem Arm hinweggetaucht, stand hinter ihm und äffte, an seinem Rücken lehnend, die Pose nach, so dass sich ein lustiges Spiegelbild ergab. Er begann sich umzuwenden. Währenddessen drehte ich, Gefahr laufend, mir den Hals zu verrenken, mit einer träge erscheinenden, doch blitzschnellen Bewegung den Kopf und ließ die Kiefer zusammenklappen ... Diese Sekunde war filmreif, sogar zeitlupenwürdig - das möchte ich ohne falsche Bescheidenheit behaupten.
Als Semnjukow sich ganz zu mir herumgedreht hatte, war ich der Reichweite seiner Fäuste längst wieder entronnen -ohne mich noch einmal umzuschauen. Doch kaum hatte er einen Schritt in meine Richtung getan, gebot ich ihm, ohne hinzusehen, mit einer Geste Einhalt.
»Stopp!«, sagte ich, »Stopp. Alles schon geritzt, Iwan Grigorjewitsch ... Jetzt haben wir die Rollen zu tauschen. Ich werde Sie zur Weißglut treiben, und Sie haben dem zu widerstehen.«
»Dass ich Iwan Grigorjewitsch bin, weiß der ganze Saal«, sagte Semnjukow.
Ich schmatzte ein paarmal vernehmlich (mehr der Wirkung halber und vielleicht, um die älteren Vampire nachzuahmen) und sagte: »Ich schlage ein Gentlemen’s Agreement vor. Vor Ihren Füßen verläuft eine dicke schwarze Linie. Das Fußbodenmuster, sehen Sie?«
Ich konnte die Linie selbst nicht sehen, wusste aber genau, wo sie war: als hätte ein Navigationssystem in meinem Kopf die Position errechnet. Offensichtlich verfügte Enlil Maratowitsch über eine besondere Sorte Todesbonbons. Die Chefsorte.
»Könnten wir uns so einigen, dass ich das Spiel als gewonnen ansehen darf, wenn Sie diese Linie überschreiten?«
»Wozu brauche ich ein Gentlemen’s Agreement?«, fragte Semnjukow.
»Um beizeiten alle Manieren fallen lassen zu können.«
»Ah ja«, sagte Semnjukow in artigem Ton. »Da bin ich aber mal gespannt.«
Mein Gefühl sagte mir, dass er einen Schritt zurückgetan hatte.
Ich runzelte die Stirn, setzte eine Miene auf, die äußerste Konzentration widerspiegeln sollte. Ließ ungefähr eine Minute vergehen, in der im Saal absolute Stille herrschte. Dann begann ich.
»Also, was lässt sich über Ihr Innenleben sagen, Iwan Grigorjewitsch? An jedem noch so bösen Menschen, heißt es, lässt sich ein guter Faden finden. Um das Gute in Ihnen aufzuspüren, musste ich die werten Anwesenden im Saal etwas auf die Folter spannen, aber leider: Ich fand an Ihnen nur zwei halbwegs menschliche Züge: dass Sie erstens homosexuell sind und zweitens ein Mossad-Agent. Der Rest ist zum Gruseln. Selbst mich, den professionellen Vampir, gruselt es, ich bin außer mir. Und dabei sah ich schon in manchen Abgrund, das können Sie mir glauben ...«
Semnjukow schwieg. Gespannte Stille herrschte im Saal.
»Die Abgründe kennen wir, Rama«, hörte ich Enlil Maratowitsch hinter mir sagen. »Die kennt jeder hier im Raum. Mach mal Nägel mit Köpfen, Junge. Was du bisher zum Besten gibst, ist wenig investigativ. Von so alten Hüten bleibt niemandem die Spucke weg.«
»Dazu habe ich diese Fakten ja auch nicht angeführt, eher zu seiner Entlastung. Aber wenn es Sie nach den schmutzigsten, schändlichsten und schmählichsten Umständen dieser Person gelüstet - bitte schön ... Dann lasse ich die Details seines Intimlebens außen vor, verschweige die finanziellen Unanständigkeiten und die pathologische Schwindelei, denn nichts von alledem scheint Iwan Grigorjewitsch zu genieren, für ihn sind das die Grundzüge einer modernen dynamischen Persönlichkeit. Womit er bedauerlicherweise sogar recht hat. Doch da ist etwas, das ist selbst ihm hochgradig peinlich. Etwas gibt es, das er tief vor sich und anderen vergräbt ... Vielleicht schweigen wir lieber davon?«
Ich spürte, wie die Spannung im Saal zu knistern anfing.
»Aber ach, es muss ja doch ans Licht«, fuhr ich fort. »Also. Iwan Grigorjewitsch steht auf vertrautem Fuß mit vielen Wirtschafts- und Finanzgrößen dieses Landes, vermögenden Leuten, von denen mancher hier zugegen ist. Sie kennen Iwan Grigorjewitsch als Geschäftsmann von Rang; diese seine Geschäfte befinden sich bis auf Weiteres in treuhänderischer Verwaltung einer Gruppe von Rechtsanwälten, da unser Held seit vielen Jahren ein Staatsamt bekleidet...«
Ich spürte, wie Semnjukows Kopf zu rucken und zu zucken anfing; etwas an dem Gesagten schien durchaus nicht seine Zustimmung zu finden. Ich verstummte in Erwartung eines Einspruchs. Doch es kam nichts. So brachte ich die Sache zu Ende.
»Meine Herren, Iwan Grigorjewitschs peinlichstes, dunkelstes und schmutzigstes Geheimnis besteht darin, dass es diese treuhänderische Verwaltung gar nicht gibt. Aktien, Rechtsanwälte, all das ist reiner Bluff, denn er ist gar kein Geschäftsmann. Es gibt nur ein paar Scheinfirmen, Potjomkinsche Dörfer, die aus einem Namen, einem Logo und einem Briefkasten bestehen. Und er braucht diese Firmen nicht für irgendwelche dunklen Machenschaften, sondern, um Machenschaften vorzutäuschen. Am Beispiel von Iwan Grigorjewitsch lässt sich, nebenbei gesagt, deutlich machen, was heutzutage Reiche von Armen unterscheidet. Ein Reicher gibt vor, weniger Geld zu haben, als er in Wirklichkeit hat. Ein Armer tut so, als hätte er mehr. In diesem Sinne ist Iwan Grigorjewitsch zweifellos einer der Allerärmsten und schämt sich dieser Armut über alle Maßen - obwohl ihn die meisten seiner Mitbürger für unermesslich reich halten. Er verfügt über vielerlei ausgetüftelte Wege und Möglichkeiten, seine reale Situation zu verschleiern - selbst so ausgeklügelte Dinge wie ein Potjomkinsches Offshore gehören dazu. In Wirklichkeit aber lebt er wie jeder stinknormale Beamte von Bestechungsgeldern. Und auch wenn er sie in beträchtlicher Höhe einstreicht - sie reichen nicht. Denn das Leben, das Iwan Grigorjewitsch führt, ist kostspielig. Und neben den Leuten, mit denen er sich in Davos oder Courchevel vergnügt, kann er sowieso nicht bestehen ... So sieht es aus.«
»Wusste ich’s doch!«, sagte eine männliche Stimme inmitten der Chaldäer.
»Mir ist es neu«, erwiderte ein anderer.
»Mir auch«, versetzte ein dritter.
In diesem Moment übertrat Iwan Grigorjewitsch den Strich auf dem Fußboden. Wahrscheinlich ohne es zu merken, doch anderen blieb der verhängnisvolle Schritt nicht verborgen. Aufgeregte Stimmen ertönten: »Verspielt!« -»Alles futsch!« -, so als handelte es sich um eine Fernsehquizaufzeichnung. Mit einem ergebenen Nicken quittierte Iwan Grigorjewitsch seine Niederlage - und fiel im nächsten Moment mit den Fäusten über mich her.
Ich sah es nicht, spürte es nur. Sein Arm kam auf meinen Nacken zugeflogen. Ich kippte den Kopf zur Seite, und die Faust schoss knapp neben dem Ohr hinter meinem Rücken hervor. Ich sah das weiße Zifferblatt der Schweizer Uhr an seinem Handgelenk - Vacheron Constantine, das Malteserkreuz - an mir vorbeiwischen.
Das Seltsame war, dass mir die Vorgänge in der gegenständlichen Welt extrem verlangsamt erschienen, während sich die Gedanken, die ich mir dazu machte, im Normaltempo abspulten. Wieso hat dieses Kreuz eigentlich acht Spitzen? fragte ich mich und verbot mir im nächsten Moment die Gedankenabschweifung. Der Ratschlag fiel mir ein, den der junge Paris vor dem Duell im Troja-Film von seinem Bruder Hektor bekommt: »Denk an nichts als an sein Schwert -und an deines!« Aber anstelle von Schwertern stellte ich mir plötzlich eine psychoanalytische Couch vor. Immer kam einem dieser grauenvolle Diskurs dazwischen ...
Alles, was nun folgte, geschah in Echtzeit geradezu blitzartig, mein subjektives Chronometer hingegen registrierte einen Vorgang von gleicher Umständlichkeit wie, sagen wir, das Herstellen eines belegten Brotes oder das Wechseln der Batterien in einer Taschenlampe.
Bevor Iwan Grigorjewitsch meinen Standort erreicht hatte, sprang ich zur Seite und riss noch im Flug den Oberkörper herum, bekam so in dem Moment, da der massige Körper an mir vorbeirauschte, seine Schulter zu fassen und ließ mich von der Schwerkraft seiner Vorwärtsbewegung mitreißen. Gemeinsam schwebten wir durch den Raum wie ein Paar Eiskunstläufer. Gegen seine Korpulenz kam ich mit bloßen Fäusten schwerlich an. Etwas Schweres musste her, nach
Möglichkeit aus Metall. Der einzig passende Gegenstand, der zur Hand war, saß ihm auf dem Kopf: die Maske. Ich riss sie herunter, schwang sie durch die Luft und knallte das stoische goldene Pokerface gegen Semnjukows Schädel. Unmittelbar nach dem Schlag ließ ich die Schulter los, und wir fuhren auseinander. Die Maske verblieb in meiner Hand. All dies gelang spielend - höchstens, dass von dem Ruck und der Anspannung die Gelenke ein wenig schmerzten.
Während ich auf meinen Füßen landete, sah ich den Rivalen ein paar taumelnde Schritte tun, ehe er bäuchlings zu Boden ging (eine vorgetäuschte Ohnmacht, um der Schmach zu entgehen, wie ich vermutete).
Wahrscheinlich war der Gedanke an Hektor doch nicht zufällig gewesen. Zu sehr erinnerte die kleine Szene von eben an jene Episode im Film, wo Brad Pitt den thessalischen Recken tötet, als dass ich der Verführung hätte entgehen können, mich ein wenig wie Achilles zu fühlen. Ich ging ein paar Schritte auf den Haufen der Chaldäer zu, setzte mir die Maske vors Gesicht, ließ den Blick durch die Menge gehen und röhrte geradeso wie Brad Pitt:
»Is there no one else?«
Die Antwort - ganz wie im Film - war Schweigen.
Die Maske war unbequem, sie drückte auf die Nase. Beim Abnehmen bemerkte ich, dass der goldene Nasenschild platt gedrückt war wie von einem Hammerschlag. Vielleicht verstellte sich Semnjukow ja doch nicht.
»Rama«, raunte Enlil Maratowitsch mir zu, »du musst den Bogen nicht überspannen. Alles in Maßen!«
Und zur Bühne gewandt, klatschte er in die Hände und rief: »Musik!«
Selbige erlöste den Saal umgehend aus der Erstarrung. Ein paar Chaldäer eilten auf Semnjukow zu, beugten sich über ihn, hoben ihn an und schleiften ihn zur Tür. Als ich sah, dass er mit den Beinen zappelte, beruhigte sich mein Gewissen.
Die Chaldäer wurden munter, sie verteilten sich im Saal, versorgten sich mit Getränken und unterhielten sich angeregt. Um mich machte man einen Bogen. Allein stand ich da mit der schweren Maske in der Hand und wusste nicht weiter. Enlil Maratowitsch schaute streng herüber, winkte mich zu sich. Ich war mir sicher, dass eine Abreibung bevorstand. Doch weit gefehlt.
»Sehr gut!«, lobte er mich leise, mit düster gefurchter Stirn. »Genau so muss man mit diesem Drecksack umspringen. Du hast dich ordentlich geschlagen! Der Schreck ist denen allen ins Mark gefahren. Dazu muss man junge Muskeln haben, ich könnte das nicht mehr.«
»Wieso Muskeln?«, protestierte ich gekränkt, »Ich meine, das war vor allem eine Sache des Intellekts!«
Enlil Maratowitsch überhörte meinen Einspruch geflissentlich.
»Aber das war noch nicht alles«, sagte er. »Jetzt musst du ihnen noch ein bisschen ums Maul gehen. Small Talk treiben.«
Bei diesen Worten drohte er mir mit dem Zeigefinger. Von ferne musste unser Gespräch so aussehen, als stauchte ein strenger Papa sein ungezogenes Söhnchen zusammen. Wie wenig die Mimik den Worten entsprach, war kurios.
»Die Ballkönigin spielen, ja?«, fragte ich.
»Ausziehen musst du dich nicht«, antwortete Enlil Maratowitsch. »Und auch keinen Pudel hinter dir herzerren. Es reicht, wenn du den wichtigsten Herrschaften die Hand schüttelst, damit sie dich persönlich kennenlernen. Komm, ich stelle dich vor. Und immer schön lächeln - sie sollen glauben, du wärest ein kaltes, scheinheiliges Aas.«