DIE SONNENSTADT

Von Geburt an lebte ich allein mit meiner Mutter in Moskau. Wir wohnten im Haus der Gewerkschaft der Theaterschaffenden, nahe der Metrostation Sokol. Das Haus war höchste sowjetische Kategorie: ein hoher Block aus beigem Backstein, geradezu westliches Format. In solchen Häusern ließen sich für gewöhnlich die ZK-Nomenklatura und ausgewählte Schichten der geistigen Elite der Sowjetunion nieder - immer standen irgendwelche schwarzen Wolgas mit Rundumleuchte davor, und auf den Treppenabsätzen lagen massenweise Kippen bester amerikanischer Zigarettenmarken. Mama und ich wohnten in einer kleinen Zweizimmerwohnung, wie sie in Abendländern unter der Bezeichnung one bedroom firmieren.

In diesem »Bedroom« wuchs ich auf. Tatsächlich hatte der Architekt ihn sich als Schlafzimmer gedacht: ein kleiner Schlauch, winziges Fenster mit Blick auf den Parkplatz. Ich durfte das Zimmer nicht nach meinen Vorstellungen einrichten, Mama suchte das Tapetenmuster aus, entschied, wo das Bett zu stehen hatte und wo der Tisch, wollte sogar bestimmen, was an die Wände kam. Das führte immer wieder zu Streit, einmal bezeichnete ich sie als »kleine Sowjetmacht«, worauf eine ganze Woche lang Funkstille zwischen uns herrschte.

Etwas Kränkenderes als diese Formulierung hätte man sich für sie auch schwerlich ausdenken können. Meine Mutter, »eine große, dünne Frau mit verhärmtem Gesicht«, wie ein Theaterschriftsteller aus der Nachbarschaft sie einmal dem Abschnittsbevollmächtigten gegenüber beschrieb, hatte früher dissidentischen Kreisen angehört. Im Gedenken daran wurde vor Gästen des Öfteren eine Tonbandkassette abgespielt, auf der der Bariton eines bekannten Systemgegners seine anklagenden Verse vortrug und Mamas Stimme aus dem Hintergrund gewagte Zwischenrufe vom Stapel ließ. Deklamierte der Bariton zum Beispiel:

Steckst du deinen Fünfer rein in den


Metroautomat,

Folgen dir zwei Herren in Grau. Folgen


äußerst delikat.

Stehst du brav im Gastronom, stehst nach


Wodka an,

Sitzen die zwei Herren in Grau hinterm


Eisschrank an...

hörte man Mamas jugendliche Stimme dazwischenrufen: »Trag das vom Arsch mit Ohren vor! Und Solschenizyn!«

Auch noch deftigere Wörter, die wohlbehütete Kinder in Perestroika-Zeiten ansonsten eher von kichernden Gören auf der Nachbarpritsche des Kindergartenschlafraums beigebracht bekamen, hörte ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. Wobei Mama nicht müde wurde zu erläutern, die Verwendung obszönen Vokabulars sei in diesem Kontext von künstlerischer Notwendigkeit diktiert und daher gerechtfertigt. Das Wort Kontext war für mich noch rätselhafter als jene anderen; hinter alledem ahnte ich die düstere, geheimnisvolle Erwachsenenwelt, in die mich The Wind of Change, der aus dem Fernseher geweht kam, hineintreiben wollte.

Die Menschenrechtskassette war etliche Jahre vor meiner Geburt aufgenommen worden; das ließ darauf schließen, dass

Mama sich infolge Heirat (und die wiederum davon gekrönt, dass ich auf die Welt kam) aus dem aktiven Kampf zurückgezogen hatte. Wobei die mütterliche Nähe zur revolutionären Demokratie, die meine Kindheit mit ihrem Wetterleuchten erhellte, vom Sowjetregime in seiner Schwindsucht wohl gar nicht bemerkt worden war.

Vom Bett aus gesehen rechts schmückten zwei Bilder die Wand. Sie waren von gleicher Größe (vierzig Zentimeter breit, fünfzig hoch - meine erste Messung, als ich das Lineal in der ABC-Schützen-Grundausrüstung entdeckte). Das eine stellte einen kleinen Zitronenbaum im Kübel dar, das andere einen ebensolchen Apfelsinenbaum. Eigentlich unterschieden sie sich nur in Farbe und Form der Früchte: gelb und länglich die einen, rund und orange die anderen.

Und direkt über dem Bett hing dieser geflochtene Fächer in Herzform. Er war viel zu groß, um ihn zum Wedeln zu benutzen. In der Einbuchtung zwischen den Herzbuckeln gab es einen runden Griff, weshalb der Fächer einer kleinköpfigen Riesenfledermaus ähnelte. In der Mitte war er rot lackiert.

Ich glaubte einen blutsaugenden Flughund vor mir zu haben (von so etwas hatte ich in der Zeitschrift Rund um den Erdball gelesen), der tagsüber an der Wand schlief und nachts zum Leben erwachte. Das eingesogene Blut schimmerte durch seine Haut wie durch einen Mückenbauch, daher auch der rote Fleck in der Mitte.

Das Blut musste meines sein.

Mir war schon klar, dass in meinen Ängsten Geschichten nachwirkten, wie ich sie zur Genüge in den Ferienlagern vernommen hatte - sie wurden von Jahrgang zu Jahrgang unverändert zum Besten gegeben. Trotzdem kam es regelmäßig zu Albträumen, aus denen ich in kaltem Schweiß erwachte. Es kam so weit, dass ich mich vor der Dunkelheit fürchtete, denn die Anwesenheit des sich an der Wand rekelnden Flughundes war physisch zu spüren, und damit er wieder zum Palmblattfächer wurde, musste ich das Licht einschalten. Da alle Beschwerden bei der Mutter nicht fruchteten, beschränkte ich mich darauf, den Fächer heimlich mit Sekundenkleber an der Tapete festzukleben. Damit war die Angst gebannt.

Meinen ersten Weltentwurf brachte ich gleichfalls aus dem Ferienlager mit nach Hause. Dort hatte ich eine erstaunliche Wandmalerei gesehen: Eine flache Erdscheibe lagerte auf drei Walfischen in einem fahlblauen Ozean. Dieser Erde entwuchsen Bäume, Telegrafenmasten ragten hervor, sogar eine lustige rote Straßenbahn rollte durch eine Ansammlung gleichförmiger weißer Wohnblocks. UdSSR war auf den Rand der Erdscheibe geschrieben. Dass ich in diesem Land geboren war, wusste ich, und auch, dass es bald darauf zerbröselt war. Schwer zu begreifen! Häuser, Bäume und Straßenbahnen - alles noch da, nur der Grund, auf dem sie sich befunden hatten, fehlte ... Doch war ich da noch klein genug, dass mein Verstand sich mit diesem Paradoxon genauso zufriedengab wie mit hunderten anderer. Zumal mir bereits schwante, dass die sowjetische Katastrophe ihre wirtschaftliche Ursache hatte: Wenn man zwei Ziviloffiziere zu etwas beorderte, was in normalen Gesellschaften Sozialhilfeempfänger unter sich ausmachen, konnte das kein gutes Ende nehmen.

Aber dies waren nur die blassen Schemen der Kindheit.

Ein richtiges Bewusstsein meiner selbst hatte ich erst von dem Moment an, da die Kindheit zu Ende war. Es geschah, als ich im Fernsehen einen alten Trickfilm wiedersah. Eine Kolonne glücklicher kurzbeiniger Sowjet-Comichelden marschierte da über den Bildschirm. Fröhlich die Arme schwenkend, sangen sie:

Da kam die grüne Kröte


und bracht' den Schreck in Nöte


und bracht' den Schreck in Nöte


Und fraß den Heuschreck auf. Das hätt' er unter Bäumen


sich niemals lassen träumen,


sich niemals lassen träumen,


solch traurigen Verlauf!...

Ich wusste sofort: Die fröhlichen Kobolde erwiesen der Sowjetunion aus ihrer Sonnenstadt, wohin die Menschen den Weg nun doch nicht gefunden hatten, die letzte Ehre.

Beim Anblick der Koboldkolonne brach ich in Tränen aus. Nicht dass die UdSSR nostalgische Gefühle in mir geweckt hätte - ich hatte ja gar keine Erinnerung an sie. Es lag an den großen Glockenblumen, die längs ihres Weges standen und sie deutlich überragten. Diese Riesenblumen riefen mir etwas ins Gedächtnis, etwas Einfaches und Entscheidendes, das ich schon vergessen hatte.

Ich begriff, dass diese freundliche Kinderwelt, wo einem alles so riesig vorkam wie diese Blumen und wo, genau wie in dem Trickfilm, an glücklichen, sonnigen Wegen kein Mangel gewesen war - dass sie unwiderruflich hinter mir lag. Sie war irgendwo auf der Wiese geblieben, wo der Heuschreck gesessen hatte. Und es war klar, künftig würde ich es mit der Kröte zu tun kriegen - und das von Mal zu Mal konkreter.

Sie hatte tatsächlich einen grünlichen Bauch, der Rücken war schwarz, und an jeder Ecke hatte sie ihre kleine gepanzerte Botschaft stehen: eine sogenannte Wechselstelle. Die Erwachsenen glaubten an nichts anderes mehr, doch ich sah schon kommen, dass auch die Kröte sie irgendwann hinters Licht führen würde, und dann wäre es für den Heuschreck zu spät.

Außer diesen Männlein im Film schien es keiner für nötig zu erachten, sich von dem ungereimten Land meiner Geburt zu verabschieden. Selbst die drei Walfische, die es getragen hatten, taten so, als hätten sie nichts damit zu tun, und eröffneten ein Möbelgeschäft. (Ihre Reklame lief öfter im Fernsehen. Zwei Männer in weißen Anzügen kamen eine endlose Treppe heruntergetänzelt und trällerten: »Drei Wale - erste Wahl!«. Der dritte, durfte man annehmen, war im Außendienst; an der Firma sei der FSB mit 100 Prozent Kapital beteiligt, behauptete Mama, die jedesmal die Stirn kraus zog, wenn der Möbelclip gezeigt wurde; wahrscheinlich erkannte sie in den Anzugträgern ihre »zwei Herren in Grau« von damals wieder und nahm ihnen übel, dass sie sie so einfach vergessen und die Karriereleiter erklommen hatten.)

Über die Geschichte meiner Familie wusste ich nichts. Aber ein paar Gegenstände in meiner Umgebung hatten eine unergründlich düstere Aura.

Da war zum einen dieser altmodische Kupferstich. Zu sehen war eine Löwenfrau mit lasziv zurückgeworfenem Kopf, entblößter Brust und mächtigen Krallentatzen. Die Graphik hing im Flur unter einer elektrischen Kerze, die wie ein Heiligenlämpchen aufgemacht war. Sie gab nur funzliges Licht, wodurch das Bild an Magie und Unheimlichkeit gewann.

Meine Vermutung war, dass ein Geschöpf wie das dargestellte die Menschen hinter der Grabesschwelle in Empfang nimmt. (Den seltsamen Ausdruck »Grabes Schwelle« nahm meine Mutter häufig in den Mund, er war mir darum geläufig, bevor ich ihn recht begriffen hatte. Dass man einfach zu existieren aufhören konnte, war eine zu schwierige Abstraktion, als dass ich es mir hätte vorstellen können. Für mich war der Tod eher etwas wie ein Umzug; dorthin führte ein schmaler Pfad an den Tatzen der Sphinx vorbei.)

Eine andere Botschaft aus der Vergangenheit war das Silberbesteck mit eingraviertem Wappen: Pfeil und Bogen und drei fliegende Kraniche. Ich stieß darauf in der Anrichte, die Mama für gewöhnlich verschlossen hielt.

Nach hinreichender Missbilligung meiner Neugierde gab Mutter bekannt, es handele sich um das Wappen derer von Storkwinkel, eines baltischen Geschlechts, dem mein Vater entstammte. Dagegen klang mein Name schon nicht mehr sehr aristokratisch: Storkin. Eine übliche Form sozialer Mimikry in Zeiten des Kriegskommunismus, lautete die bündige Erklärung der Mutter.

Mein Vater hatte der Familie kurz nach meiner Geburt den Rücken gekehrt; Näheres über ihn war nicht zu erfahren, so sehr ich auch bohrte. Sobald ich das Thema ansprach, sah ich meine Mutter erblassen, eine Zigarette anzünden, und dann sagte sie jedes Mal dasselbe - zuerst leise, sich allmählich hineinsteigernd, am Ende schrie sie. »Raus. Hörst du nicht? Soll ich dir Beine machen? Raus hier, du Kanaille! Saukerl, verschwinde!«

Ich meinte zuerst immer, es müsse ein dunkles, romantisches Geheimnis hinter alledem stecken. Aber dann, beim Eintritt in die achte Klasse, hatte meine Mutter ein Wohnraummeldeformular auszufüllen, und ich erfuhr über meinen Vater etwas mehr.

Er arbeitete als Journalist bei einer großen Zeitung; ich fand sogar eine Kolumne von ihm im Internet. Von dem kleinen Photo über der Spalte blickte freundlich ein kahlköpfiger Herr mit Nickelbrille; was den Text selbst anging, so stellte er die Behauptung auf, Russland werde nicht zu einem normalen Land, solange Volk und Regierung es nicht lernten, das Eigentum anderer zu respektieren.

Der Gedanke ging in Ordnung, aber er begeisterte mich nicht sonderlich. Vielleicht lag es daran, dass mein Vater gern Ausdrücke wie Plebs und kompetente Eliten gebrauchte, die ich damals nicht verstand. Das Lächeln in meines Erzeugers Gesicht weckte in mir ein eifersüchtiges Missbehagen: Es galt nicht mir, das sah man, sondern den kompetenten Eliten, deren Eigentum zu respektieren ich gefälligst zu lernen hatte.

Dann kam ich aus der Schule und musste mir überlegen, was ich werden wollte. Hochglanzjournale und Werbeanzeigen vermittelten klare Orientierungen, was im Leben anzustreben war, nur die Wege und Mittel zum Erfolg erwiesen sich als hoch konspirativ.

»Wenn die Menge Flüssigkeit, die ein Rohr pro Zeiteinheit durchläuft, gleichbleibt oder linear ansteigt«, so hatte der Physiklehrer uns im Unterricht eingebläut, »folgt daraus logisch, dass für neue Leute so bald kein Platz am Rohr sein wird.«

Das Theorem klang einleuchtend, und ich beschloss mich von dem Rohr möglichst fernzuhalten, anstatt wie alle darüber herzufallen. Also entschied ich mich dafür, ans Institut der Länder Asiens und Afrikas zu gehen und irgendeine exotische Sprache zu studieren, um mir anschließend in den Tropen Arbeit zu suchen.

Um am Institut angenommen zu werden, brauchte es Nachhilfeunterricht bei den dort angestellten Lehrern; dadurch wurde man nicht unbedingt schlauer, erhöhte aber garantiert seine Chancen. Die Lektionen waren teuer, und Mutter lehnte es rundweg ab, sie mir zu bezahlen. Da ich wusste, dass es nicht an ihrem Geiz lag, sondern am schmalen Familienbudget, murrte ich nicht weiter. Ein neuer Versuch, den Vater ins Gespräch zu bringen, endete mit dem üblichen Krach. Ein richtiger Mann müsse sich von Anfang an alleine durchschlagen, befand Mama.

Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn klar gewesen wäre, wie und wohin. Der wattige Nebel um mich her bot keine

Angriffsfläche. Darin den Weg zum Geld und ans Licht finden zu wollen schien nicht sehr aussichtsreich.

Gleich die erste Aufnahmeprüfung verriss ich - es war ein Aufsatz, der aus irgendwelchen Gründen in den Räumen der Physikalischen Fakultät der Moskauer Universität geschrieben wurde. Das Bild der Heimat in meinem Herzen hieß das Thema. Ich schrieb über den Trickfilm, die Kobolde und ihr Heuschreckenlied, die UdSSR-Baumscheibe und die stiften gegangenen Wale. Zwar dachte ich mir gleich, dass, wer an einer renommierten Hochschule ankommen will, lieber nicht die Wahrheit sagt, aber ich sah keine andere Wahl. Mein Verderben, so sagte man mir, sei der Satz gewesen: »Und doch bin ich ein Patriot: Ich liebe unsere grausame, ungerechte unter Dauerfrostbedingungen existierende Gesellschaft.« Denn hinter »ungerechte« hätte ein Komma gehört.

Als ich der Kommission meine letzte Aufwartung machte, sah ich eine Zeichnung an der Tür hängen, darauf eine fröhliche Schnecke (aber auch sie schien, wie der Vater auf dem Photo im Netz, einem anderen zuzulächeln). Darunter stand der Vers eines alt japanischen Dichters:

O Schnecke! Beim Besteigen des Fujiyama übereile nichts!

Ich zückte den Stift und schrieb darunter:

Oben auf dem Berg sind schon genug Schnecken.

Dies war meine erste schmerzliche Niederlage im Leben. Meine Antwort an das Schicksal war, dass ich im Supermarkt bei uns nebenan als Transportarbeiter anfing.

Die ersten paar Tage schien es mir, als hätte ich mich nun, an den Grund des Lebens abgetaucht, dem Zugriff sozialdar-winistischer Gesetze entzogen. Doch ich begriff sehr schnell, dass keine Tauchtiefe und kein Ghetto mich vor diesen Gesetzen retten konnten, weil jede Zelle des gesellschaftlichen Organismus nach denselben Prinzipien funktioniert wie die Gesellschaft im Ganzen.

Ich weiß sogar noch die Gelegenheit, bei der mir das klar wurde (und bei der ich auf dem Grat zur Hellseherei balancierte, aber das sollte sich erst viel später herausstellen). Ich hatte einen englischen Film gesehen: Dune - Der Wüstenplanet. Da gibt es sogenannte Navigatoren, die das Raumfahrtmonopol innehaben. Diese Wesen konsumieren regelmäßig eine bestimmte Droge, die aus ihnen ein Zwischending zwischen Mensch und Flugsaurier macht. Der Navigator breitet seine Schwingen aus, biegt sich den Raum zurecht, und schon hat sich eine Raumschiffflotte von einem Teil des Universums in den anderen katapultiert... Mir kam die Vorstellung, irgendwo in Moskau könnte ein ähnlich grausiges Geschöpf seine Flügel über die Welt breiten. Die Menschen merken nichts und wimmeln ameisengleich durcheinander, um ihren täglichen Pflichten nachzugehen, dabei gibt es diese Pflichten gar nicht mehr. Ringsum ist schon ein anderer Kosmos, in dem neue Gesetze herrschen, sie haben es nur noch nicht bemerkt.

Diese Gesetze wirkten auch in der Welt der Transportarbeiter. Hier galt es als rechtens zu stehlen (in bemessenen Grenzen, versteht sich), ab und an gemeinsame Sache zu machen und ansonsten um einen Platz an der (unsichtbaren) Sonne zu kämpfen, und das nicht irgendwie, sondern mit einem von der Tradition geheiligten Repertoire an Gesten und Gebärden. Kurz: Selbst hier hatte man seinen Fuji, so mickrig und bekotzt er auch war.

Müßig zu sagen, dass ich beim Aufstieg wieder einmal hinterherhinkte. Ich wurde fortlaufend zu Nachtschichten eingeteilt und bei den Vorgesetzten angezinkt. Loser unter Transportmaxen zu sein fand ich dann doch schwer erträglich, und als es zum zweiten Mal nach dem Schulabschluss Sommer wurde, kündigte ich.

Fürs Erste genügte mir das im Supermarkt verdiente Geld (das gar nicht so wenig war, selbst wenn man das geklaute abzog), um eine gewisse Unabhängigkeit von der Mutter zu pflegen; den Umgang mit ihr reduzierte ich auf ein Minimum. Übrig blieb eigentlich nur ein einziges Ritual. Hin und wieder hielt Mama mich auf dem Flur an und rief: »Sieh mir in die Augen!« Sie war überzeugt davon, dass ich Drogen nahm, und meinte unterscheiden zu können, wann ich high war und wann nicht. Ich nahm überhaupt nichts, aber irgendwie kam meine Mutter beinahe täglich zu dem Schluss, ich hätte - manchmal unterstellte sie mir gleich einen ganzen Cocktail von Substanzen. Nicht die Pupillengröße oder die Rötung der Augen waren ausschlaggebend für ihr Verdikt, sie ging nach anderen Anzeichen, die sie geheimhielt, damit ich keine Maskerade betrieb - schon deshalb war es prinzipiell unmöglich, die mütterlichen Expertisen anzuzweifeln. Ich stritt gar nicht erst mit ihr, wohl wissend, dass ich damit nur bewies, wie recht sie hatte. (»Dass du immer so aggressiv wirst, wenn du unter Drogen stehst!«)

Außerdem verfügte Mama über beträchtliche hypnotische Fähigkeiten. Sie brauchte nur zu sagen: »Bei dir hüpfen ja die Wörter!« - und schon hüpften sie tatsächlich, auch wenn ich vorher gar nicht hätte sagen können, was mit dem Ausdruck gemeint war. Darum packte ich, wenn es zu penetrant wurde, lieber meine Sachen und verließ für ein paar Stunden das Haus.

Eines schönen Sommertages brach wieder einmal eine Drogenkrise aus und nahm Formen an; es war kein Bleiben. Beim Verlassen der Wohnung konnte ich nicht an mich halten und verkündete: »Es reicht. Ich ziehe aus.« - »Das wäre eine gute Nachricht!«, antwortete Mama aus der Küche.

Natürlich meinten weder ich noch sie das in diesem Moment wirklich ernst.

Im Stadtzentrum war es angenehm: wenig Menschen, wenig Krach. Ich streifte durch die Seitenstraßen zwischen Twerskoi Bulwar und Sadowoje Kolzo, und was ich dabei dachte, war so diffus, dass es sich schwerlich in Worte übersetzen lässt: Das Gute an Moskau im Sommer sind nicht die Häuser, nicht die Straßen, sondern dass es die geheimnisvollen Sehnsuchtsorte ahnen lässt, an die man von hier verreisen könnte, wenn ... Diese Ahnungen steckten überall, in einem Windhauch ebenso wie dem vorbeischwebenden Pappelflaum (die Pappeln blühten in diesem Jahr zeitig) oder dem Wolkenstreif am Himmel.

Plötzlich fiel mir ein grüner Kreidepfeil auf dem Trottoir ins Auge. Daneben stand in gleich grüner Schrift:

Nutzen Sie die Chance zum Eintritt in die Elite!


22.06. 18.40-18.55 Uhr


Garantiert einmalig!

Auf meiner Uhr war es viertel vor sieben. Außerdem war heute just der zweiundzwanzigste, Sommersonnenwende. Der Pfeil war von den Sohlen der Passanten schon ziemlich verwischt. Ein Scherz, das war klar. Aber ich bekam Lust, bei dem von Unbekannt angebotenen Spiel mitzuspielen.

Ich schaute mich um. Die wenigen Passanten gingen ihrer Wege, ohne auf mich zu achten. Auch in den umliegenden Fenstern gab es keine Auffälligkeiten zu entdecken.

Der Pfeil zeigte auf eine Toreinfahrt. Ich ging hinein und sah einen weiteren grünen Pfeil auf dem Asphalt, der in die Tiefe des Hofes wies. Sonst keine Botschaften. Ich ging die paar Schritte hinein und fand mich auf einem kleinen düsteren Hinterhof wieder: zwei Autowracks, ein Müllcontainer und die geweißte Ziegelwand eines Hinterhauses, darin eine Tür. Auf dem Asphalt davor noch ein grüner Pfeil.

Im Treppenhaus mehr davon.

Der letzte Pfeil befand sich im vierten Stock. Er zeigte auf eine gepanzerte Tür; offenbar der Hintereingang einer großen Wohnung. Die Tür war nur angelehnt. Mit stockendem Atem spähte ich in den Spalt hinein, prallte im nächsten Moment erschrocken zurück.

Im Halbdunkel hinter der Tür stand ein Mann. Er hielt einen Gegenstand in der Hand, der aussah wie eine Lötlampe. Mehr bekam ich nicht mit. Im nächsten Augenblick tat der Mann etwas, und es wurde finster um mich.

An dieser Stelle hatten sich meine Erinnerungen der Gegenwart so weit angenähert, dass mir wieder einfiel, wo ich mich befand - das heißt: Ich kam zu Bewusstsein.

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