MITRA

Ich stand immer noch an der Sprossenwand und musste dringend aufs Klo. Außerdem stimmte in meinem Mund etwas nicht. Ich inspizierte ihn mit der Zunge und stellte fest, dass die beiden oberen Eckzähne ausgefallen waren - da klafften jetzt zwei Lücken. Ich musste die Zähne im Schlaf verschluckt oder ausgespuckt haben, im Mund waren sie jedenfalls nicht mehr.

Irgendein lebendiges Wesen schien im Zimmer zu sein - doch ich konnte meinen Blick nicht fokussieren und sah deshalb nur einen verschwommenen Fleck. Der Fleck bemühte sich um mich, indem er leise Töne von sich gab und monotone Bewegungen vollführte. Plötzlich gelang es mir doch, die Augen scharfzustellen, und ich sah vor mir einen unbekannten Mann in Schwarz. Er wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum, wohl um zu prüfen, ob ich auf Lichtreize reagierte. Nun, da er sah, dass ich wieder bei Bewusstsein war, nickte der Fremde freundlich und sagte: »Mitra.«

Ich verstand, dass das sein Name war.

Mitra war ein hagerer, hochgewachsener junger Mann mit stechendem Blick, hauchdünnem Oberlippenbärtchen und einem Goatie. Er hatte etwas von einem Mephisto, aber als Upgrade: ein Dämon auf der Höhe der Zeit, der den archaischen Dienst am Bösen aufgegeben hat und den Weg des Pragmatismus beschreitet, auch das Gute nicht scheut, wenn man damit schneller zum Ziel kommt.

»Roma«, sagte ich mit rauer Stimme und richtete den Blick auf das Sofa an der Wand.

Die Leiche war verschwunden. Wie auch das Blut auf dem Fußboden.

»Wo ist...«

»Weggeschafft«, sagte Mitra. »Welch tragisches Ereignis. So plötzlich und unerwartet.«

»Wieso war er maskiert?«

»Sein Gesicht war durch einen Unfall entstellt.«

»Hat er sich deswegen erschossen?«

Mitra zuckte die Achseln.

»Das weiß niemand. Der Verstorbene hat einen Brief hinterlassen, aus dem hervorgeht, dass du seine Nachfolge antrittst ...«

Während er dies sagte, maß Mitra mich mit einem forschenden Blick.

»... und das scheint so zu sein.«

»Ich will nicht«, sagte ich leise.

»Du wi-i-illst nicht?«, fragte er gedehnt zurück.

Ich schüttelte den Kopf.

»Das soll einer verstehen«, sagte er. »Ich finde, du müsstest froh sein. Du bist doch ein tougher Bursche, sonst hätte Brahma dich nicht ausgesucht. Und die einzige Perspektive für einen toughen Burschen in diesem Land ist es, sich vor den Arschfickern zum Affen zu machen.«

»Mir scheint, da gibt es noch andere Möglichkeiten«, wandte ich ein.

»Klar. Wer das nicht will, wird von den Affen in den Arsch gefickt. Zum gleichen schlechten Preis.«

Ich widersprach nicht weiter. Man merkte, der Mann kannte das Leben nicht nur vom Hörensagen.

»Du bist jetzt jedenfalls ein Vampir«, fuhr er fort. »Und scheinst noch nicht begriffen zu haben, was für ein Glück du gehabt hast. Hör auf zu zweifeln. Es gibt sowieso kein Zurück. Sag mir lieber, wie ist das werte Befinden?«

»Mies«, sagte ich. »Ich hab höllische Kopfschmerzen. Und muss aufs Klo.«

»Noch was?«

»Zahnausfall. Die oberen Eckzähne.«

»Das schauen wir uns alles gleich an«, sagte Mitra. »Sekunde.«

In seiner Hand erschien ein kurzes Röhrchen mit schwarzem Pfropfen, halb gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit.

»Dieses Gefäß enthält rote Tinte aus der Vene eines Menschen. Eins zu hundert verdünnt.«

»Wer ist dieser Mensch?«

»Das findest du selbst heraus.«

Ich verstand nicht, wie er das meinte.

»Mund auf!«, sagte Mitra.

»Ist das nicht riskant?«

»Nein. Ein Vampir ist immun gegen alle Krankheiten, die durch die rote Flüssigkeit übertragen werden.«

Ich kam der Aufforderung nach. Mitra ließ sorgfältig ein paar Tropfen aus dem Röhrchen auf meine Zunge fallen. Die Flüssigkeit war von Wasser nicht zu unterscheiden - wenn da etwas beigemengt war, schmeckte man es jedenfalls nicht.

»Reibe jetzt die Zunge gegen den Gaumen. Dann kriegst du was zu sehen. Wir nennen es den Persönlichkeitsparcours.«

Ich tippte mit der Zungenspitze gegen den Gaumen. Dort gab es einen Fremdkörper. Es tat aber nicht weh - ein leichtes Zwicken allenfalls, wie von einem schwachen elektrischen Schlag. Ich fuhr also kreisend mit der Zunge über den Gaumen, und auf einmal ...

Wäre ich nicht an die Sprossenwand gefesselt gewesen, ich hätte vermutlich das Gleichgewicht verloren. Es war eine dermaßen starke und hellsichtige Erfahrung, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Mit einem Mal sah ich - besser gesagt: ich fühlte - einen fremden Menschen. Und zwar von innen - als wäre ich plötzlich er, so wie es einem manchmal im Traum widerfährt.

Dieser Mensch erschien mir als eine Lichtwolke, Polarlicht vielleicht, in der sich zwei Zonen unterscheiden ließen: eine der Anziehung und eine der Abstoßung, könnte man sagen. Wie Licht und Finsternis, Wärme und Kälte. Durch eine Vielzahl von Klecksen und Ausbuchtungen so ineinander verwoben, dass man warme Inseln im Eismeer zu sehen meinte oder aber kalte Seen auf heißem Boden. Die Abstoßungszone war angefüllt mit Beschwernissen und Antipathien - allem, was diesem Menschen zuwider war. Die Zone der Anziehung enthielt wiederum all das, was ihm das Leben lebenswert machte.

Und ich sah, was Mitra als Persönlichkeitsparcours bezeichnet hatte. Quer durch beide Zonen führte tatsächlich eine schwer zu beschreibende, weil eigentlich unsichtbare Route, eine Art Rinne, in die die Aufmerksamkeit von ganz allein hineinrutschte. Es war die Spur eingefahrener Gewohnheiten des Denkens, eine von immer gleichen Gedankengängen gegrabene Furche - etwas wie eine Bahn, unscharf an den Rändern, die entlang tagein, tagaus gedacht wurde. Folgte man dem Persönlichkeitsparcours, ließ sich binnen weniger Sekunden alles Maßgebliche über diesen Menschen erfahren. Dazu bedurfte es keiner zusätzlichen Erläuterungen von Seiten Mitras - es war, als hätte ich es längst gewusst.

Der Mann arbeitete als Computeringenieur bei einer Moskauer Bank. Er hatte seine kleinen Geheimnisse vor den Leuten, ein paar davon konnten einen durchaus erröten lassen. Aber sein heimliches Hauptproblem, seine Scham und Schande war, dass er mit dem Betriebssystem Windows nicht zurechtkam. Er hasste es wie ein Strafgefangener seinen fiesesten Aufseher. Das ging bis an die Grenze des Lächerlichen. Es konnte ihm zum Beispiel die Laune verderben, wenn er jemanden auf Spanisch »hasta la vista« sagen hörte - weil ihn das an Windows Vista erinnerte. Alles, was mit seiner Arbeit zusammenhing, befand sich in der Zone der Abstoßung, in deren Mitte das Window-Fähnchen wehte.

Was die Mitte der Anziehungszone ausmachte, schien ohne Weiteres klar zu sein: der Sex. Dem war aber bei näherem Hinsehen doch nicht so. Die größte Freude in seinem Leben war das Bier. Etwas überspitzt ausgedrückt, wollte dieser Mensch nicht mehr vom Leben, als nach dem Geschlechtsverkehr möglichst viel gutes deutsches Bier zu trinken. Dafür ertrug er alle Unbill seines Dienstes. Vielleicht war ihm dies selbst gar nicht so klar - aber mir.

Ich kann nicht sagen, dass ich dieses fremde Leben zur Gänze überblickte. Es war, als stünde ich im Türspalt eines dunklen Raumes und ließe einen Taschenlampenstrahl über die Wandmalereien wandern. Mit dem Effekt, dass das Bild, auf dem mein Strahl gerade verweilte, näher rückte und sich auffächerte in eine Vielzahl kleinerer Bilder, und dies immer so fort. Ich hatte Zugriff auf jede einzelne Erinnerung - doch es waren viel zu viele. Außerdem ließ die Leuchtkraft der Bilder allmählich nach - wie wenn bei einer Taschenlampe die Batterie schwächer wird. Bis zuletzt alles verschwunden war.

»Hast du was gesehen?«, fragte Mitra.

Ich nickte.

»Was denn?«

»Einen Computerfachmann.«

»Beschreib ihn mir.«

»Wie zwei Waagschalen«, sagte ich. »Auf der einen das Bier, auf der anderen Windows.«

Mitra wunderte sich über meinen komischen Satz nicht im Geringsten. Er ließ einen Tropfen der Flüssigkeit auf seine Zunge fallen, schien ein paar Sekunden zu schmecken.

»Stimmt!«, sagte er dann. »Windows chrrrrr ...«

Das konnte nun wieder ich verstehen: Der Computerfachmann ließ nämlich seinem Hass gegen eine der Versionen des von ihm zu betreuenden Produkts freien Lauf, indem er das XP als russische Buchstaben nahm und aussprach - es ergab sich ein grimmiges Knurren.

»Was hab ich da gesehen? Was war das?«

»Deine erste Verkostung. In der extremen Light-Variante! Das Präparat in Reinform hätte dich vergessen lassen, wer du bist. Und es hätte sehr viel länger gewirkt. Wenn man das nicht gewöhnt ist, kann es einen traumatisieren. Aber so empfindlich ist man nur am Anfang. Du wirst dich schnell daran gewöhnen ... Gratuliere! Jetzt bist du einer von uns. Jedenfalls so gut wie.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »aber wer sind Sie denn?«

Mitra lachte.

»Ich schlage vor, gleich zum Du überzugehen.«

»Von mir aus. Was bist du für einer, Mitra?«

»Ich bin dein älterer Freund. So sehr viel älter übrigens auch wieder nicht. Jedenfalls von gleicher Sorte wie du. Ich hoffe, dass wir Freunde werden.«

»Wenn das so ist«, sagte ich, »dürfte ich vielleicht im Voraus um einen Freundschaftsdienst bitten?«

»Selbstverständlich«, sagte Mitra lächelnd.

»Könntest du mich von dieser Wand losbinden? Ich muss aufs Klo.«

»Oh, natürlich. Bitte um Entschuldigung, ich musste mich erst überzeugen, dass alles normal verlaufen ist.«

Als die Stricke zu Boden fielen, wollte ich einen Schritt nach vorn machen - und wäre umgekippt, wenn Mitra mich nicht aufgefangen hätte.

»Vorsicht!«, sagte er. »Es kann sein, dass der Gleichgewichtssinn noch nicht wieder richtig funktioniert. Da müssen noch ein paar Wochen vergehen, bis die Zunge ganz angewachsen ist... Kannst du laufen? Oder soll ich helfen?«

»Geht schon. Wohin?«

»Links den Flur lang. Neben der Küche.«

Die Toilette, dem Stil der Wohnung angepasst, glich einem Museum für Sanitärgotik. Ich nahm Platz auf einer Art gnostischem Thron, schwarz, mit Loch in der Mitte, und suchte meine Gedanken zusammenzunehmen. Es gelang aber nicht - die Gedanken wollten partout nichts miteinander zu tun haben. Sie waren gar nicht mehr richtig da. Ich empfand weder Angst noch Aufregung, war überhaupt nicht in Sorge, wie das Ganze weitergehen würde.

Erst beim Verlassen der Toilette fiel mir auf, dass ich unbewacht war. Auf dem Flur kein Mensch. In der Küche auch nicht. Die Tür zur Hintertreppe, über die ich hereingekommen war, lag nur ein paar Schritte von der Küche entfernt. Aber ich dachte nicht daran zu fliehen, das war das Seltsamste. Ich wusste, dass ich gleich ins Zimmer zurückkehren und mein Gespräch mit Mitra fortsetzen würde.

Wieso fliehe ich nicht? fragte ich mich.

Irgendetwas sagte mir, dass das nicht ratsam war. Bei dem Versuch zu erkunden, woher ich diese Überzeugung nahm, machte ich eine äußerst seltsame Feststellung. Mein Verstand hatte gewissermaßen einen neuen Schwerpunkt: etwas wie eine schwarze Kugel, die so stabil und unerschütterlich war, dass die Seele getrost darauf bauen konnte, um in der Balance zu bleiben. Dort wurde neuerdings über Tun und Lassen entschieden. Der Fluchtgedanke war auf dieser Waage abgewogen und für zu leicht befunden worden.

Die Kugel wollte, dass ich zurückging. Und weil die Kugel es wollte, wollte ich es auch. Wobei die Kugel mir nicht erst mitteilte, was sie wollte. Sie rollte einfach auf die Seite, wo die richtige Entscheidung lag, und ich rollte mit. Darum also hat Mitra mich allein aus dem Zimmer gehen lassen! dachte ich mir. Weil er wusste, dass ich nicht weglaufe. Er hatte wohl auch so eine Kugel in sich drin.

»Was ist das?«, fragte ich, kaum dass ich das Zimmer wieder betreten hatte.

»Wovon sprichst du?«

»Ich hab da jetzt in mir so einen Kern. Alles, was ich zu denken versuche, geht da durch. Als hätte ich ... meine Seele verloren.«

»Deine Seele? Wozu brauchst du denn die?«

Ich muss sehr entgeistert dreingeschaut haben, denn Mitra brach in Lachen aus.

»Die Seele. Bist du das, oder bist das nicht du?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

»Wie ich es frage. Was du Seele nennst - bist das du, oder ist das was anderes?«

»Ich denke, das bin ich ... Oder nein, wahrscheinlich doch noch was anderes ...«

»Lass uns logisch rangehen. Ist die Seele was anderes als du - was bekümmert sie dich dann? Und bist du es selber -wie könntet ihr einander verlieren?«

»Ah ja, ich seh schon«, sagte ich, »blauen Dunst vormachen kannst du.«

»Dir bringen wir das auch noch bei ... Aber mir ist schon klar, warum du dich so heiß machst.«

»Ja?«

»Das ist der Kulturschock. In der Mythologie der Menschen gilt es als ausgemacht: Wer zum Vampir wird, der verliert seine Seele. Das ist Unfug. Es wäre dasselbe, als wenn man sagte, ein Boot verliert seine Seele, nur weil man einen Motor anbringt. Du hast nichts verloren. Nur etwas dazugewonnen. Und zwar so viel, dass alles, was du vorher zu haben glaubtest, zu einem Nichts zusammenschrumpft. Daher das Verlustgefühl. «

Ich setzte mich auf das Sofa, wo vor Kurzem noch die Leiche des Mannes mit der Maske gelegen hatte. Es hätte mich eigentlich gruseln müssen, auf diesem Platz zu sitzen, doch die schwere schwarze Kugel in mir scherte das nicht.

»Ich habe kein Verlustgefühl«, sagte ich. »Ich habe nicht einmal das Gefühl, ich selber zu sein.«

»Korrekt«, sagte Mitra. »Du bist ja auch ein anderer jetzt. Was dir wie ein Kern vorkommt, ist in Wahrheit die Zunge. Bis vor Kurzem hat sie in Brahma gelebt, jetzt lebt sie in dir.«

»Das hat Brahma auch gesagt, entsinne ich mich. Die Zunge würde auf mich übergehen.«

»Aber glaub nur nicht, dass es Brahmas Zunge war. Brahma hat der Zunge seinen Körper geliehen, nicht umgekehrt.«

»Wessen Zunge ist es dann?«

»Es ist nicht so, dass sie jemandem gehörte. Sie gehört sich selbst. Die Persönlichkeit eines Vampirs teilt sich in Kopf und Zunge. Der Kopf ist der menschliche Faktor. Die soziale Person mit allem Sack und Pack und Gerümpel. Die Zunge ist das zweite Persönlichkeitszentrum, das wichtigere. Sie macht dich zum Vampir.«

»Und was ist das - die Zunge?«

»Ein lebendiges Geschöpf der anderen, höheren Art. Die Zunge ist unsterblich und geht von einem Vampir auf den anderen über - sie sattelt um, sollte man wohl sagen, wie ein Reiter. Weil sie nun einmal nur in Symbiose mit einem Menschen existieren kann. Da, schau her!«

Mitra deutete auf das Bild mit dem reitenden Napoleon. Der sah einem Pinguin ähnlich, und wenn man wollte, konnte man das Ganze für eine Zirkusnummer halten: ein Pinguin zu Pferde, während die Böller krachen.

»Körperlich kann ich die Zunge gar nicht spüren«, sagte ich. »Ich spüre sie anders.«

»Das ist ganz in Ordnung so. Der Trick ist der, dass das Bewusstsein der Zunge mit dem des Menschen, in dem sie sich ansiedelt, verschmilzt. Ich habe den Vampir mit einem Reiter verglichen, aber ein Kentaur wäre das passendere Bild. Manche behaupten, die Zunge unterwerfe sich den menschlichen Verstand. Richtiger wäre es zu sagen, dass sie den menschlichen Verstand auf ihr Niveau hebt.«

»Sagtest du: hebt?«, fragte ich. »Mein Gefühl ist eher, in eine Grube gefallen zu sein. Wenn ich mich in die Höhe gehoben fühlen soll, wieso diese ... Dunkelheit?«

»Hm ... Dunkel kann es unter der Erde genauso wie im hohen Himmel sein. Aber ich kenne das Gefühl. Das ist jetzt eine schwierige Phase für dich und die Zunge. Eine zweite Geburt, ließe sich sagen. Für dich im übertragenen Sinne, für die Zunge ganz buchstäblich. Es ist für sie eine neue Inkarnation, denn das ganze menschliche Gedächtnis, alle Erfahrung, die der Vampir zuvor gesammelt hatte, ist passe, wenn die Zunge einen neuen Körper sattelt. Du bist ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ein neugeborener Vampir, der lernen muss. Lernen, lernen und nochmals lernen.«

»Was denn lernen?«

»Du wirst dich in kürzester Zeit zu einer kulturell hochstehenden, distinguierten Persönlichkeit entwickeln müssen. Die in ihren physischen Möglichkeiten und intellektuellen Horizonten das Gros der Menschheit bei Weitem übertrifft.«

»Und wie soll das gehen, in so kurzer Zeit?«

»Wir verfügen über eine spezielle Methodik, die schnell und effektiv ist. Doch das Wichtigste bekommst du von der Zunge beigebracht. Du wirst sie bald nicht mehr als Fremdkörper empfinden. Ihr werdet zu einem Ganzen verschmelzen.«

»Soll das heißen, dass die Zunge einen Teil des vorhandenen Gehirns wegätzt?«

»Nein. Sie ersetzt die Mandeln und tritt in Kontakt mit dem präfrontalen Cortex. Praktisch kommt ein zweites Gehirn zu deinem hinzu.«

»Und ich bleibe dabei ich selbst?«

»In welchem Sinne?«

»Na ja, womöglich bin das dann gar nicht mehr ich?«

»Jedenfalls wirst du morgen ein anderer sein, als du heute bist. Und übermorgen wieder ein ganz anderer. Wenn sich schon was ändern muss, dann sollte man doch wenigstens etwas davon haben, oder nicht?«

Ich erhob mich vom Sofa und lief ein paar Schritte durch das Zimmer. Jeder Schritt kostete Kraft, und das störte beim Denken. Mir schien, Mitra wollte mich ein bisschen hinters Licht führen mit dem, was er sagte. Vielleicht machte er sich auch nur lustig über mich. Aber in dem Zustand mochte ich nicht mit ihm streiten.

»Was soll ich jetzt machen?«, fragte ich. »Nach Hause gehen?«

Mitra schüttelte den Kopf.

»Auf gar keinen Fall. Du wirst die nächste Zeit hier in dieser Wohnung wohnen. Die persönliche Habe des Verstorbenen wurde bereits entfernt. Alles Übrige erbst du. Hier kannst du arbeiten.«

»Was denn arbeiten?«

»Es werden Lehrer kommen und dich unterrichten. Gewöhne dich an deine neue Beschaffenheit. Und an den neuen Namen.«

»Ach? Wie heiße ich denn jetzt?«

Mitra griff nach meiner Schulter, drehte mich mit dem Gesicht zum Spiegelschrank. Ich sah furchtbar aus. Mitra zeigte auf meine Stirn. Dort gab es bröselige braune Schriftzeichen zu sehen. Ich erinnerte mich, wie Brahma mir vor seinem Tod mit Blut etwas an die Stirn gemalt hatte.

»A-M-A-T ...« buchstabierte ich. »Oder nein, A-M-A-R ...«

»Rama«, korrigierte Mitra. »Vampire tragen nach altem Brauch die Namen von Göttern. Aber kein Gott ist dem anderen gleich. Über den Sinn deines Namens denk selbst nach. Er ist die Lampe, die dir auf deinem Wege leuchten soll.«

Er schwieg - wohl in Erwartung einer Nachfrage. Aber ich hatte keine.

»Das mit der Lampe sagt man nur so«, erläuterte Mitra. »Auch aus alter Sitte. Genaugenommen könntest du dich auch ohne Lampe nicht verlaufen. Vampire haben nur den einen Weg. Und der ist nur in einer Richtung begehbar, ob mit oder ohne Lampe.«

Er lachte.

»Jetzt muss ich los«, sagte er. »Wir sehen uns zum Großen Sündenfall wieder.«

»Was soll das denn sein?«, fragte ich, in der Annahme, dass Mitra schon wieder scherzte.

»Eine Art Prüfung. Für die Vampirberechtigung!«

»Mit Prüfungen sieht es bei mir mau aus«, sagte ich. »Da rausche ich immer durch.«

»Versuche nicht einzustehen für das, was das System verbockt hat. Du hast einen sehr guten Aufsatz geschrieben, frisch und aufrichtig. Er lässt sogar auf eine gewisse literarische Begabung schließen. Auf dem Fuji waren andere Schnecken gefragt, daran lags.«

»Hast du mich etwa gebissen?«

Er nickte und fuhr mit der Hand in die Jackentasche, holte ein schmales Glasröhrchen hervor: ungefähr Zigarettenlänge, beidseitig mit Plastikstöpseln verschlossen. Ein paar Tropfen Blut waren darin.

»Das ist deine Personalakte. Da werden noch ein paar andere Einblick nehmen. Unsere Vorgesetzten!«

Dabei schaute er vielsagend zur Decke.

»Jetzt noch zu ein paar lebenstechnischen Dingen. Im Sekretär liegt Geld, das könntest du brauchen. Essen wird vom Restaurant unten gebracht. Die Haushaltshilfe kommt zweimal die Woche putzen. Wenn etwas fehlt, dann kauf es.«

»Soll ich mit der Visage auf die Straße gehen?«, fragte ich, auf mein Spiegelbild deutend.

»Das vergeht schnell. Ich kümmere mich darum, dass dir das Nötigste schon mal gebracht wird. Schuhe, Klamotten und so.«

»Willst du die Größe wissen?«

»Weiß ich doch!«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.

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