HERA

Der Wagen fuhr aus der unterirdischen Betonbox, vorbei an einem Wachhäuschen, durch ein Tor - und schon zogen wieder Kiefern vor dem Seitenfenster vorbei. Ich hatte Enlil Maratowitschs Haus nicht zu Gesicht bekommen, nur einen drei Meter hohen Zaun. Es war schon um die Mittagszeit; demnach hatten wir die ganze Nacht und den Morgen hindurch im Hamlet gehangen. Wo die viele Zeit bloß hin war?

Hera, die neben mir saß, ließ den Kopf an meine Schulter sinken. Ich war baff. Bis ich merkte, dass sie einfach nur eingeschlafen war. Ich schloss die Augen und tat so, als schliefe ich auch, dabei legte ich meine Hand auf die ihre. So saßen wir eine gute Viertelstunde, bis sie erwachte und ihre Hand wegzog.

Ich klappte die Augen auf, schaute gähnend aus dem Fenster, so als wäre auch ich gerade aufgewacht. Wir waren kurz vor Moskau.

»Wohin jetzt?«, fragte ich Hera.

»Nach Hause.«

»Ach, lass uns im Zentrum aussteigen. Noch ein bisschen spazieren gehen.«

»Gut«, sagte Hera, auf die Uhr schauend. »Nur nicht zu lange.«

»Fahren Sie uns zur Puschkinskaja«, sagte ich dem Fahrer. *

Der nickte.

Den Rest der Fahrt schwiegen wir - ich wollte nicht, dass der Fahrer, der uns hin und wieder über den Spiegel beobachtete, etwas mitbekam. Er sah aus wie der Darsteller des amerikanischen Präsidenten in einem Middle-Budget-Disaster-Movie: strenger dunkler Anzug, rote Krawatte Ton in Ton, beherrschtes, müdes Gesicht. Dass ein solch steiler Typ uns kutschierte, schmeichelte mir.

Vor dem Shangri-La-Casino stiegen wir aus.

»Wohin gehen wir?«, fragte Hera.

»Den Twerskoi Bulwar runter«, schlug ich vor.

Vorbei am Springbrunnen und dem im Benzindunst schmachtenden Puschkin auf seinem Sockel liefen wir die Treppen zur Unterführung hinab.

Mein erster Biss fiel mir ein. Der Tatort lag ganz in der Nähe. Es heißt ja, den Täter ziehe es immer wieder dort hin. War das der Grund, weshalb ich den Fahrer gebeten hatte, uns hier abzusetzen?

Hera zu beißen wäre keine gute Idee gewesen - das hätte unserem Spaziergang ein schnelles Ende bereitet. Nein, diese Prüfung musste ich ohne Spickzettel bestehen, so wie jedermann. Das war die Rache ... Unsicherheit ergriff mich, beinahe ein Schwächeanfall. Ich beschloss, dieses Gefühl schleunigst niederzuzwingen - am besten mit einer starken, ins Schwarze treffenden Sentenz, die Scharfsinn und Beobachtungsgabe unter Beweis stellte.

»Seltsam«, sagte ich. »Als ich klein war, gab es hier unten nur ein paar einzelne Stände. Dann rückten sie aufeinander zu, und jetzt sind sie zu einer Mauer verwachsen ...«

Ich deutete mit dem Kopf auf die gläserne Front.

»Ja«, sagte Hera gleichgültig. »Jede Menge Konzentrat.«

Wir verließen den Tunnel auf der anderen Straßenseite und liefen zum Twerskoi. Als wir die großen Granitschalen am Ende der Treppe passierten, war ich nahe daran anzumerken, dass in ihnen immer irgendwelcher Müll lag, leere Flaschen vor allem, doch dann verkniff ich mir fürs Erste eine weitere Demonstration von Scharfsinn und Beobachtungsgabe. Doch irgendetwas musste ich sagen, das Schweigen wurde langsam peinlich.

»Woran denkst du?«, fragte ich.

»An Enlil. Wie er wohnt. Das Hamlet über dem Abgrund. Ziemlich pathetisch. Aber mit Stil. Das können sich die wenigsten leisten.«

»Und dass man nicht an der Stange hängt, sondern am Reif«, sagte ich, »das hat was Philosophisches.«

Zum Glück fragte Hera nicht nach, was denn das Philosophische daran war, ich hätte es schwerlich zu sagen gewusst. Sie lachte nur - anscheinend hielt sie es für einen Witz.

Mir fiel wieder ein, dass ich Heras Photo als UserPic im Livejournal gesehen zu haben glaubte. Vielleicht hatte sie dort einen Account? Ich hatte einen - mit an die fünfzig registrierten Friends (was nicht hieß, dass ich ihnen alle Details meines Lebens anvertraute). Als Gesprächsthema war es jedenfalls geeignet.

»Sag mal, kann es sein, dass ich dein Gesicht von einem UserPic im Livejournal kenne?«

»Nein, kann nicht sein. Ich hab kein Depplog.«

Uff. Den Ausdruck hatte ich noch nie gehört.

»Nanu? So streng?«

»Nicht streng«, widersprach sie. »Bloß nüchtern. Jehova hat uns doch erläutert, aus welchem Grund die Leute bloggen.«

»Kann mich nicht entsinnen. Aus welchem denn?«

»Der menschliche Verstand ist heute drei maßgeblichen Einflüssen ausgesetzt: Glamour, Diskurs und sogenannte News. Hat ein Mensch lange genug Werbung, Expertentipps und Ereignisse des Tages in sich hineingefressen, entsteht bei ihm der Wunsch, selbst zur Marke, zum Experten, zur

Nachricht zu werden. Dafür gibt es die Weblogs, die stillen Örtchen des Geistes. Bloggen ist ein Abwehrreflex der verstümmelten Psyche, die pausenlos Glamour und Diskurs hervorkotzt. Das ist nicht zum Lachen. Aber ein Vampir hat es nicht nötig, in dieser Kanalisation herumzukrauchen.«

Darauf lachte sie schon wieder. Ihre Art zu lachen war übrigens interessant: lauthals, aber knapp, so als bräche sich die Heiterkeit nur für einen kurzen Augenblick Bahn, bevor die Klappe wieder zuging. Es war, als nieste sie ihr Lachen hervor. Und wenn sie lächelte, bildeten sich auf ihren Wangen längliche Grübchen. Grübchen konnte man es schon fast nicht mehr nennen - Gruben.

»Naja«, sagte ich, »in mein eigenes Blog schreibe ich eigentlich kaum noch was rein. Aber weil ich nun mal weder Zeitung lese noch Fernsehen gucke, erfahre ich im Livejournal, was es Neues gibt. Da liest man aus erster Quelle, was die Profis denken - jeder Experte hält sich heutzutage ein Blog.«

»Blogs statt Zeitungen zu lesen«, beschied Hera, »das ist, als äße man zwar kein Fleisch, aber die Exkremente von Fleischern.«

Ich hüstelte.

»Wo hast du das denn aufgeschnappt?«

»Gar nicht aufgeschnappt. Ich denke selbst.«

»Im Livejournal ließe sich hinter so eine Aussage wenigstens ein Smiley setzen.«

»Ja, klar. Smileys sind ein visuelles Deo. Die setzt der User, wenn er das Gefühl hat, dass von ihm ein schlechter Geruch ausgeht«, konterte Hera. »Und er will sichergehen, dass er gut riecht.«

Ich musste an mich halten, um nicht diskret beiseitezutreten und meinen Körpergeruch zu prüfen. Bis ans Ende des Boulevards liefen wir schweigend.

»Na gut«, sagte ich. »Beim Diskurs scheinst du auf der Höhe der Zeit zu sein. Aber was den Glamour angeht ... Oder bin vielleicht ich nicht auf dem Laufenden? Ist das der letzte Schrei, so Tom-Sawyer-mäßig rumzulaufen?«

»Tom-Sawyer-mäßig, was soll das heißen?«

Ich ließ meinen Blick von ihrem verwaschenen schwarzen Fußball-T-Shirt über die Jeans, die vielleicht auch mal schwarz gewesen waren, zu den Sneakers hinabgehen.

»Na ja. Als hättest du vor, einen Zaun anzustreichen.«

Das war natürlich ein Schlag unter die Gürtellinie. So was sagt man einem Mädchen nicht ... Jedenfalls hoffte ich inständig, dass es ein Schlag unter die Gürtellinie war.

»Findest du mich schlecht angezogen?«, fragte sie.

»Ach, was heißt schlecht. Arbeitsklamotten sind cool. Dir steht das. Aber es ist nicht gerade das urbane Outfit...«

»Moment mal. Bist du ernstlich der Meinung, dass ich Arbeitsklamotten trage? Und nicht vielleicht du?«

Mein Jackett zierte ein Dreiangel, Rußflecke an mehreren Stellen, und trotzdem war ich mir sicher, dass mein Äußeres den Normen einigermaßen entsprach. Immerhin war alles, was ich am Leib hatte - Jackett, Hose, Hemd, Schuhe - bei LovemarX erworben. Ich hatte eine Kleiderpuppe, die auf der Verkaufsfläche herumstand, komplett abgeräumt; nur die Strümpfe hatte ich dazugekauft. Mit dieser Methode wusste ich meine Inkompetenz in Glamourfragen zu bemänteln. Und sie funktionierte: Kein anderer als Baldur hatte mir ein Kompliment gemacht. Ich sei gekleidet wie ein grönländischer Schwuler zur Brunftzeit, meinte er.

»Deine Bürouniform zeigt durchaus nicht an, dass du der erniedrigenden Arbeit des Zaunanstreichens entkommen bist«, gab Hera selbst die Antwort, die sie hören wollte. »Im Gegenteil. Sie teilt deiner Umwelt mit, dass du zehn Uhr morgens im Kontor zu sein, einen Eimer Farbe zu imaginie-ren und bis sieben Uhr abends einen eingebildeten Zaun in deinem Kopf anzustreichen hast. Mit einer kurzen Mittagspause. Und man kann nur hoffen, dass dein Obermanager mit dem Fortgang der Arbeit zufrieden ist, den er an deiner optimistischen Miene und der Röte deiner Wangen ablesen wird ...«

»Wie kommst du darauf ...« wollte ich protestieren, kam aber nicht weit.

»Was für beknackte Ansichten!«, stieß sie hervor. »Und das aus dem Munde eines Vampirs! Rama, du siehst aus wie ein Notariatsgehilfe vor dem Personalgespräch. Als steckte in deiner Innentasche der zweimal säuberlich gefaltete Kurz-Lebenslauf, und du traust dich nicht, ihn noch mal rauszuholen und durchzulesen, weil deine Hände vor lauter Pflichtbewusstsein schwitzen, und du fürchtest, die Buchstaben könnten verschwimmen. So einer will mir Vorschriften machen! Und das, wo ich zur Feier des Tages unsere Nationaltracht angelegt habe!«

»Nationaltracht?!«, fragte ich perplex.

»Die Nationaltracht der Vampire ist schwarz. Und sowieso bedeutet industrial exemption im 21. Jahrhundert, dass es dich kaltlässt, was der Käptn der Galeere, auf der du ans Ruder gekettet bist, von deinem Jackett hält. Alles andere wäre Arbeitskleidung. Ob mit oder ohne Rolex. Mit Rolex sogar erst recht.«

Tatsächlich trug ich eine am Arm - nicht protzig, aber echt. Deren Gewicht mir auf einmal unerträglich vorkam; ich schob das Handgelenk in den Ärmel. Überhaupt fühlte ich mich gerade, als würde ich in einem Fass auf die Niagarafälle zutreiben.

Wir überquerten den Neuen Arbat. Hera machte vor einem Schaufenster halt, betrachtete forschend ihr Spiegelbild, zog einen Lippenstift aus der Tasche und malte sich die Lippen grellrot nach. Nach dieser Prozedur sah sie aus wie eines dieser Vampirmädchen aus den Comics.

»Hübsch«, stammelte ich.

»Danke.«

Sie schob den Lippenstift zurück in die Tasche.

»Sag mal, glaubst du eigentlich diese Geschichte, dass der Mensch eine Züchtung der Vampire sein soll?«, fragte ich.

»Warum nicht?«, sagte sie achselzuckend. »Mit den Schweinen und den Kühen haben die Menschen das doch auch hingekriegt.«

»Aber das ist doch nicht dasselbe! Menschen sind etwas anderes als Vieh. Sie haben eine großartige Kultur und Zivilisation erschaffen. Dass das alles nur deshalb in der Welt sein soll, damit die Vampire problemlos an ihre Nahrung kommen, kann ich einfach nicht glauben. Schau dich doch um ...«

Hera nahm meine Aufforderung übertrieben genau. Sie blieb stehen, glotzte mit komisch klappernden Augen in die Runde: Ein Stück vom Neuen Arbat gab es zu sehen, das Filmtheater, das Verteidigungsministerium und die Metrostation Arbatskaja, die aussieht wie ein mongolisches Steppenmausoleum.

»Schau selbst!«, sagte sie und deutete voraus auf eine Werbetafel. Auf ihr wurde für Klosettbecken geworben. In Riesenziffern der Preis: 9999 Rbl., darunter der Schriftzug: Eldorado -Tiefpreisterritorium!

»Ich würde ihnen Freudgold als Werbeslogan vorschlagen«, witzelte ich. »Obwohl, nein, das heben wir uns für einen Action-Thriller auf ...«

Plötzlich geriet das Klosett in Bewegung und zerfiel in senkrechte Streifen: Die Tafel bestand aus drehbaren Dreiecksleisten. Als sie sich wieder geschlossen hatten, war eine Werbung für Telefontarife zu sehen, in lebensfrohen Gelbund Blautönen gehalten: $10 - nicht zu verachten! Melde dich an und kassiere! Sekunden später drehten die Leisten sich erneut, und die letzte Werbebotschaft erschien - strenge schwarze Schrift auf weißem Grund:

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

»Fürwahr eine großartige Kultur und Zivilisation«, spottete Hera.

»Ja, nun«, sagte ich. »Da haben irgendwelche Protestanten eine Werbefläche gemietet und werben für ihr Grundbuch. Es gibt genug Peinlichkeiten, keine Frage. Aber deswegen glaube ich noch lange nicht, dass menschliche Sprachen und Religionen, deren bloße Aufzählung ganze Bücher füllt, ein Nebeneffekt der Lebensmittelpolitik von Vampiren sind.«

»Was stört dich an dem Gedanken?«

»Die Unverhältnismäßigkeit von Zweck und Ergebnis. Das ist, als stellte man ein großes Eisenhüttenwerk hin, um die Produktion von ... was weiß ich ... Büroklammern anzuschieben.«

»Hätten die Vampire sich diese Sprachen und Religionen erst alle ausdenken müssen, das wäre wirklich umständlich«, antwortete Hera. »Aber das haben die Menschen ja selber hingekriegt. Es ist, wie du selbst sagst, ein Nebeneffekt.«

»Wenn Menschen zu nichts weiter da wären, als die Vampire zu ernähren, hätte die menschliche Zivilisation einen extrem niedrigen Wirkungsgrad.«

»Ja, und wenn? Was gehts uns an? Müssen wir vor irgendwem dafür einstehen?«

»Das nicht, aber ... Ich glaubs einfach nicht. In der Natur geschieht nichts zufällig und umsonst. Und das hier erschiene mir überwiegend umsonst.«

Hera verzog das Gesicht. Man hätte es für eine Grimasse der Wut halten können, aber den Gesichtsausdruck kannte ich schon: So sah es aus, wenn Hera angestrengt nachdachte.

»Kennst du Termiten?«, fragte sie dann.

»Sind das diese kleinen weißen Ameisen, die Holz von innen her aushöhlen? Über die hat doch dieser Wie-hieß-der-noch-mal geschrieben ... Mark Cash?«

»Du meinst Marquez?«

»Kann sein. Ich habs nicht selbst gelesen, stand so im Diskurs. Das über die Termiten auch. Gesehen habe ich noch keine.«

»Ich auch nicht«, sagte Hera. »Aber ich hab einen Film darüber gesehen. Die Termiten haben ein Königspaar, das von gewöhnlichen Termiten bewacht wird. König und Königin hocken in ihren Zellen und können nicht raus, werden von den Arbeitstermiten pausenlos geleckt und gefüttert. Termiten haben ihren eigenen Architekturstil - Acid-Goth würde ich das nennen. Es gibt eine komplizierte Sozialhierarchie. Viele verschiedene Berufsstände: Arbeiter, Soldaten, Ingenieure. Am verblüffendsten fand ich, dass ein neuer Termitenhügel immer dann entsteht, wenn ein junges Königspaar den alten Bau verlässt, um ein neues Reich zu gründen. An Ort und Stelle angekommen, knabbern sie sich gegenseitig erst mal die Flügel ab und ...«

»Du willst die menschliche Zivilisation mit der der Termiten vergleichen, ja?«

Sie nickte.

»Allein schon die Tatsache, dass du das tust, spricht dafür, dass Menschen und Termiten meilenweit auseinander liegen.«

»Wieso?«

»Weil du schwerlich zwei Termiten finden wirst, die ihren Bau mit einer Saure-Goten-Kirche vergleichen.«

»Erstens hat goth nichts mit Goten zu tun. Zweitens kann keiner wissen, worüber Termiten sprechen. Und drittens hast du mich nicht ausreden lassen. In dem Film war die Rede davon, dass es zwei Arten von Soldaten bei den Termiten gibt. Gemeine - die haben am Kopf so eine Art Kneifzange. Und Nasentermiten - mit einem langen Sporn am Kopf. Dieser wird mit einem chemischen Reizstoff geschmiert, der aus einer Stirndrüse kommt. Als sich herausstellte, dass dieser Drüsenstoff Heilwirkung besitzt, hat man die Termiten künstlich zu halten begonnen, um diesen Stoff zu gewinnen. Und nun mal angenommen, man könnte dem Nasentermiten aus so einem künstlich angelegten Bau begreiflich machen, dass seine ganze große, komplizierte Monarchie mitsamt ihrer einzigartigen Architektur und ausgewogenen Sozialordnung nur ein Abprodukt ist, weil es eigentlich nur darum geht, dass irgendwelche Affen an ihren Drüsenstoff heranwollen - er würde es bestimmt nicht glauben. Und falls doch, erschiene es ihm jedenfalls auf kränkende Weise unverhältnismäßig.«

»Ein Stirndrüsenextrakt aus dem niederen Management«, fasste ich zusammen. »Hübscher Vergleich.«

»Auf Enlil Maratowitschs Mist gewachsen. Aber bitte keine Ausfälligkeiten gegen das Büroproletariat, das ist gemein. Die sind nicht schlechter als wir, haben einfach weniger Glück gehabt.«

»Gut«, sagte ich friedfertig. »Dann eben gehobenes Management.«

Wir näherten uns der Erlöserkathedrale. Hera deutete auf eine der Sitzbänke. Christus - Jahwe für Arme war in gelber Farbe an die Lehne gesprüht.

Russlands Kultur war in den letzten Jahren so durcheinandergeschüttelt worden, dass man nicht mehr unterscheiden konnte, ob das eine Schmähung des Erlösers oder seine Lobpreisung sein sollte ... Urplötzlich fiel mir der von Enlil

Maratowitsch zerrissene Geldschein ein. Ich zog ihn aus der Tasche und las die Spruchbänder rings um die Augenpyramide vor.

»Novus Ordo Seclorum und Annuit Coeptis. Was heißt das übersetzt?«

»Das eine heißt: neue Weltordnung«, sagte Hera. »Das andere könnte heißen: Unsere Bestrebungen werden feindselig aufgenommen.«

»Was meinen die damit?«

»Freimaurergeschwafel. Du bist auf der falschen Fährte.«

»Ja, ich denke auch. Die Geste selbst wird von Bedeutung gewesen sein, oder? Dass er den Schein zerrissen hat? Vielleicht gibt es irgendein spezielles Verfahren der Geldvernichtung. So was wie Annihilation. Die eingeschlossene Energie wird frei.«

»Wie soll das funktionieren?«

Ich überlegte.

»Na, sagen wir, das Geld wird auf einem Sonderkonto angelegt. Und dann auf irgendeine besondere Art vernichtet. Das Geld verschwindet, und Lebenskraft wird frei, die von den Vampiren aufgesaugt werden kann ...«

»Klingt unwahrscheinlich«, sagte Hera. »Wo soll da Lebenskraft freiwerden? Das Konto existiert innerhalb eines Bankcomputersystems. Man kann nicht mal sagen, wo genau.«

»Vielleicht scharen sich die Vampire um ein Notebook, von dem sie einen Befehl aussenden, meinetwegen auf die Kaimaninseln. Mit einem speziellen Vampirstick am USB.«

Hera prustete.

»Was hast du?«

»Ich stelle mir die Sause vor, wenn Insolvenz angesagt ist.«

»Kein übler Gedanke«, sagte ich. »Vielleicht passiert das überhaupt alles zentralgesteuert. Sagen wir, der Dollarwert wird um zehn Prozent gesenkt, und davon machen wir uns sechs Monate ein lustiges Leben.«

Plötzlich hielt Hera inne.

»Stopp mal«, sagte sie. »Ich glaube ...«

»Was ist denn?«

»Mir geht ein Licht auf.«

»Und welches?«

»Wahrscheinlich trinken Vampire nicht die rote Flüssigkeit von Menschen, sondern einen speziellen Cocktail. Er wird Bablos genannt und aus alten, aus dem Verkehr gezogenen Banknoten hergestellt. Das muss Enlil gemeint haben, als er den Schein zerriss ...«

»Wo nimmst du das denn her?«

»Mir ist ein Gespräch wieder eingefallen, das ich zufällig mit angehört habe. Ein Vampir fragte Enlil in meinem Beisein, ob denn alles bereit sei zum Bablossaugen. Und die Antwort von Enlil war, eine Lieferung Altgeld von Goznak stehe noch aus. Damals konnte ich mir überhaupt nicht zusammenreimen, wovon die Rede war. Aber jetzt...«

»Eine Lieferung Altgeld von Goznak?«, fragte ich ungläubig zurück.

»Ja! Überleg doch mal. Die Leute walken ihr Geld unentwegt in den Händen, befingern es, zählen es nach, stecken es weg, stapeln es, kritzeln darauf herum. Es ist für sie der zentrale Gegenstand überhaupt. So saugt sich das Geld allmählich mit Lebenskraft voll. Je länger so ein Schein in Umlauf ist, desto stärker lädt er sich auf. Und wenn er schon ganz mürbe ist und buchstäblich trieft vor menschlicher Energie, wird er aus dem Verkehr gezogen. Und die Vampire mixen sich ihren Drink daraus.«

Ich dachte nach. Das Ganze klang reichlich sonderbar und unappetitlich zumal - aber glaubwürdiger als meine Kaimaninsel-Version.

»Interessant«, sagte ich. »Wer war denn dieser andere Vampir, mit dem Enlil Maratowitsch gesprochen hat?«

»Er heißt Mitra.«

»Ach? Du kennst Mitra?«, wunderte ich mich. »Ah ja ... Er hat mir ja deinen Brief überbracht.«

»Er hat mir lustige Dinge von dir erzählt. Zum Beispiel, dass ...«

Hera hielt sich glucksend die Hand vor den Mund, als wäre ihr ein Wort zu viel entfahren.

»Was hat er erzählt?«

»Ach, nichts. Ich schweife ab.«

»Nein, komm, jetzt sprich zu Ende, wenn du schon mal angefangen hast.«

»Ist mir entfallen«, erwiderte Hera. »Meinst du, wir reden die ganze Zeit nur über dich? Es gibt genug andere Themen.«

»Und was für welche, wenns kein Geheimnis ist?«

»Er macht mir Komplimente«, sagte Hera lächelnd.

»Was denn für Komplimente?«

»Das sag ich nicht. Ich möchte deine Inspiration nicht in feste Bahnen lenken. Falls du vorhast, mir auch mal eins zu machen.«

»Hast du Komplimente nötig?«

»Mädchen können nie genug davon haben.«

»Ja, bist du denn ein Mädchen? Ich dachte, du bist ein Vampir! Oder eine Vampirin, wie du mir schriebst.«

Sogleich merkte ich, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. Zu spät. Heras Gesicht verdüsterte sich. Wir überquerten die Straße und bogen schweigend in die Wolchonka. Ein, zwei Minuten vergingen, dann hörte ich sie sagen:

»Mir ist wieder eingefallen, was Mitra erzählt hat. Er sagte, du hättest zu Hause Brahmas Archiv stehen. Zweifelhaftes Material hätten sie vorsorglich entfernt, aber eine einzelne Probe aus Kriegszeiten wäre übersehen worden. Irgendwas mit nordischem Sex im Zoo, glaube ich. Du hättest sie leer gesüffelt, sagt Mitra.«

»Die blanke Lüge!«, empörte ich mich. »Gekostet hab ich davon, das geb ich zu. Ein-, zweimal vielleicht. Aber nicht mehr. Es ist noch genügend davon übrig. Jedenfalls war es das. Vielleicht ist es ausgelaufen ... Und außerdem hat dieser Mitra ja selber ...«

Hera lachte.

»Wofür rechtfertigst du dich eigentlich?«

»Ich rechtfertige mich nicht, ich ... Ich mag es einfach nicht, wenn hinter dem Rücken der Leute üble Nachrede geführt wird.«

»Was ist daran übel? Wäre es übel gewesen, hättest du das Zeug ja wohl nicht ausgeschleckt, oder?«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Hera trat zur Bordsteinkante und hob den Arm.

»Was tust du?«, fragte ich.

»Ich nehme für den Rest des Weges ein Auto.«

»Nerve ich dich?«

»Nein, wieso denn? Ganz im Gegenteil. Aber es ist Zeit für mich.«

»Laufen wir noch das Stück bis zum Gorki-Park?«

»Ein andermal«, sagte sie lächelnd. »Schreib dir meine Handynummer auf.«

Ich hatte gerade noch die Zeit, die Nummer in mein Handy einzutippen, da hielt vor uns ein gelbes Taxi. Ich streckte ihr die Hand hin. Sie nahm meinen Daumen in ihre Faust.

»Ich finde dich nett und sympathisch«, sagte sie. »Aber tu mir den Gefallen und zieh dieses Jackett nicht mehr an. Und lass das Haargel weg.«

Sie beugte sich zu mir, gab mir ein Küsschen auf die Wange, stupste auf reizende Art ihren Kopf gegen meinen Hals.

»Schmatz«, sagte sie.

»Schmatz«, entgegnete ich. »Nett, Sie kennenzulernen.«

Während das Taxi davonfuhr, spürte ich etwas Feuchtes am Hals, fuhr mit der Hand darüber - und sah an meinem Handteller rote Flüssigkeit kleben. Etwa so viel, wie wenn man eine Mücke nach dem Stich totklatscht.

Am liebsten wäre ich dem Taxi nachgejagt und hätte die Heckscheibe eingeboxt. Oder eingetreten. Dass die Splitter nur so flogen! Aber das Auto war schon viel zu weit weg.

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