VILLA DEI MISTERI

An Loki IV. von Rama II.


Dienstlich!

Duellorder

Mitra VI. treibt Missbrauch mit den Obliegenheiten eines Kurators für junge Vampire. Anstatt ihnen zu helfen, ihren Platz im System zu finden, nutzt er ihre Unerfahrenheit aus und erschleicht ihr Zutrauen, um dieses dann auf zynischste Weise zu gebrauchen. Mich in Details zu ergehen untersagt mir die Diskretion. Doch meine Ehre gebietet es, den Schuft zu bestrafen. Sein Umgang mit den jungen Vampiren des letzten Jahrgangs muss kategorisch und ein für alle Mal unterbunden werden.



Dafür bin ich bereit, Gott zu begegnen.


Rama II.

Ich las den Brief noch einmal durch. Der Satz Doch meine Ehre gebietet es, den Schuft zu bestrafen kam mir nun reichlich aufgeblasen vor. Ich strich ihn und schrieb stattdessen: Doch ich kann nicht untätig bleiben. Dann überlas ich das Ganze ein weiteres Mal und kam darauf, dass der Eindruck entstehen könnte, ich selbst wäre Mitras Opfer. Also ergänzte ich Diskretion durch Mitgefühl. Nun schien mir alles richtig zu sein. Ich schickte die Mail ab (Lokis Adresse war passend: sadodesperado stand da als local-part) und harrte einer Antwort.

Nach einer halben Stunde klingelte mein Telefon.

»Ich hoffe, du hast dir wirklich alles gut überlegt«, fing Loki wieder an. »Die Maschine ist angelaufen.«

»Hab ich. Vielen Dank.«

»Keine Ursache. Jetzt schreibt Mitra seine Order. Er war übrigens gar nicht überrascht. Ich frage mich, was da zwischen euch vorgefallen ist.«

Ich sagte nichts. Loki atmete eine Weile schweigend in den Hörer. Als er merkte, dass mit einer Antwort nicht zu rechnen war, fuhr er fort: »Es braucht ein paar Tage Vorbereitungszeit, bis wir wissen, wo und wie. Dann melde ich mich wieder bei dir ... Stell dich drauf ein, Junge, dass gewichtige Dinge auf dich zukommen. Denk an die Ewigkeit.«

Und er legte auf.

Das mit der Ewigkeit sollte vermutlich ein Scherz sein. Aber wie man so sagt: In jedem Scherz steckt auch ein Scherz. Ich blickte auf den Bildschirm, wo noch meine Duellorder stand. Alles an ihr war deutlich und klar. Bis auf die Begegnung mit Gott, auf der Loki beharrt hatte. Das zu unterschreiben, hatte ich klein beigegeben.

Der Sinn dieses Satzes war mir immer noch vollkommen schleierhaft. Gott war ich selbst - das hatte meine gestrige Erfahrung hinreichend geklärt. Das Problem war nur, dass sie sich nicht so leicht wiederholen ließ. Um neuerlich Gott zu werden, brauchte es Bablos.

Hieraus ergab sich die logische Frage: War ich wirklich Gott, wenn meine Empfindungen und Erfahrungen von einem Umstand abhingen, der außerhalb von mir lag? Jeder Theologe hätte dies bestritten. Mit wem dann aber, wenn nicht mit mir, würde ich im Falle höherer Gewalt das Vergnügen haben?

Mir wurde bang und unbehaglich. Nervös begann ich durch die Wohnung zu tigern, musterte die vertrauten Dinge um mich her in der Hoffnung, eines könnte mir ein geheimes Zeichen oder meinen Gedanken eine neue Richtung geben: die schwarz-weiße Fledermaus, Napoleon zu Pferde, zwei angewiderte Nymphetten ... Falls einer meiner Penaten die Antwort wusste, hielt er sich jedenfalls bedeckt.

Mein chaotisches Herumgerenne führte mich bis vor das Archiv. Ich setzte mich auf das Sofa und blätterte im Katalog. Nichts Brauchbares fiel mir ins Auge. Schließlich erinnerte ich mich, dass in der Schublade des Sekretärs ein paar unregistrierte Kostproben aus dem Literaturzyklus herumlagen. Ich schaute nach, nahm jedes Gläschen einzeln in die Hand - vielleicht fand sich ja etwas Theologisches darunter. Aber auch hier nichts, was der Erhabenheit des Moments entsprochen hätte: Präparate wie Tjuttschew + alban, source code oder Babel + 2% Marquis de Sade interessierten mich wenig.

Plötzlich aber kam ich darauf, mit wem ich meine Frage erörtern konnte.

Ich trat zum Fenster und schaute nach unten. Mein Auto stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Hinter der heruntergelassenen Scheibe saß Iwan mit konzentriert beleidigtem Gesicht und las einen seiner sogenannten ironischen Krimis. (Vor ein paar Tagen hatte ich ihn gefragt, worin die Ironie bestünde, seither war er noch beleidigter.) Ich zog das Telefon aus der Tasche. Nach ein paar Sekunden hatte die Funkwelle ihr Opfer gefunden - Iwan hob den Kopf, und ich hörte seine Stimme:

»Guten Tag, Chef.«

»Ich muss noch mal zu Osiris«, sagte ich. »In zehn Minuten. Ich zieh mich nur schnell um und trink den Kaffee aus.«

Bei Osiris war alles wie beim vorigen Mal. Türöffner war erneut der schnauzbärtige Moldawier, der allerdings in der Zwischenzeit stark abgemagert war, eine geradezu wächserne Farbe angenommen hatte. Die Kartenspieler im großen Zimmer übersahen mich geflissentlich.

Meinen Bericht von der Zeremonie hörte sich Osiris mit der Herablassung des alten Psychonauten an, dem der Nachbarsjunge seine erste Erfahrung mit einer aus dem Aschenbecher geklauten Kippe schildert.

»War das nun Gott«, fragte ich, »was ich da gespürt habe?«

»Es wird gemeinhin angenommen«, erwiderte Osiris, »doch in Wirklichkeit weiß es keiner. Vielleicht Gott, vielleicht auch nur der Saum seines Mantels. Schleppenschauder hat man es im Altertum genannt. Die Vampire wussten nicht, wie sie sich das Phänomen erklären sollten, bis die Menschen dann Gott erfanden.«

»Erfanden die Menschen Gott oder entdeckten sie, dass es ihn gibt?«

»Das ist doch dasselbe.«

»Wieso dasselbe?«

Osiris seufzte.

Was folgte, war ein Schwall neuer Erläuterungen des schon Bekannten, beginnend bei der Bablosdestillation im Affenschädel über Gott als die neue Sekundärfraktion bis hin, zum Beweis der Spiegelthese in der Heiligen Schrift ... Und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Allmählich begann ich mich in der Holzhammerlogik meines Gesprächspartners zurechtzufinden. Ich musste meine Frage anders stellen. Direkter.

»Sagen Sie ... diese Lehre, die Sie mir da zu verklickern versuchen ... Ist sie wahr?«

Osiris räusperte sich verdutzt.

»Du hast mich nach der Überlieferung der Vampire gefragt. Ich habe dir diese Überlieferung dargelegt. Wahrheit -das ist eine ganz andere Frage.«

»Und die stelle ich gerade. Ist diese Überlieferung wahr?«

Osiris bedachte mich mit einem langen Blick.

»Siehst du, Rama«, sagte er, »solange du jung bist, produziert dein Organismus alle notwendigen Hormone, und auch bei den Rezeptoren für das Gehirn ist alles im grünen Bereich. In dieser Phase wird jedes Zwei-mal-zwei-ist-Vier eine leuchtende Aureole der Wahrheit um sich haben. Doch dieses Leuchten ist nichts als eine Widerspiegelung deiner Vitalität. So wie zum Beispiel auch die Musik. In der Jugendzeit gibt es jede Menge gute Musik, später kommt nichts Gescheites mehr hinzu. Jeder, der ein bisschen älter wird, denkt so. Oder nimm die Frauen. In deiner Jugend erscheinen sie dir wer weiß wie attraktiv. Bist du erst über die sechzig, und diverse Zipperlein stellen sich ein, rückt das alles in den Hintergrund im Vergleich zu Stuhlgang und steifen Gelenken ...«

»Sie wollen damit sagen, dass die Wahrheit in uns selbst beschlossen liegt, ja?«

»So ist es. Die Menschen sind geneigt, diesem Wort einen sonstwie höheren Sinn beizumessen. Das muss nicht sein. Wahrheit ist nicht metaphysischer, sondern chemischer Natur. Solange genügend Lebenskraft in dir ist, findet sich immer ein angemessener verbaler Ausdruck dafür. Immer lässt sich ein Abrakadabra ausdenken, das in den Neuronenketten deines Hirns eine Erregung hervorruft, welche sich wie der geheiligte Odem der Wahrheit anfühlt. Was für Wörter das letztendlich sind, spielt keine große Rolle, denn alle Wörter sind sich gleich: alles Spiegel, in denen sich der Geist reflektiert. «

Ich wurde langsam gereizt.

»Sie widersprechen sich selbst«, stellte ich fest.

»Inwiefern?«

»Sie sind doch kein einfacher Vampir, Sie sind Tolstoianer.

Wenn die Wahrheit nur eine chemische Reaktion ist, wozu haben Sie dann den Weg des Geistes gewählt? Warum kultivieren Sie das einfache Leben?«

»Warum, darum«, sagte Osiris und blickte auf die Uhr. »Wenn du weg bist, rufe ich meine Gastarbeiter, kultiviere zweimal hundert einfache Gramm Wodka, und dann wird alles wieder wahr. Die Risse in den Wänden, der Staub auf dem Fußboden, selbst das Kollern in den Gedärmen ... Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist alles Lüge.«

»Aber wenn sich alles auf Chemie und Bablos reduziert, wozu dann überhaupt die Begriffe: Gott, Wahrheit, Universum? Woher kommt das?«

»Geist B hat zwei Arbeitstakte. Einen Nutztakt und einen Leertakt. Während des Arbeitstaktes erzeugt der Mensch das Aggregat M5. Der Leertakt ist die Phase, in der kein Bablos produziert wird. Der Rückhub des Kolbens. Aber Geist B schaltet währenddessen nicht ab, er sucht sich Beschäftigung mit irgendeiner sinnlosen Abstraktion: Was ist Wahrheit? Gibt es einen Gott? Wie ist die Welt entstanden? -irgend so was. Dieser ganze Tinnef, dessentwegen du hier auftauchst. Zwischen den parallelen Spiegeln werden diese Fragen ins Unendliche projiziert, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und phasenverschoben, dann tauchen sie irgendwann als Antwort auf sich selbst wieder ins Bewusstsein. Eine Welle der Erregung durchzuckt die Neuronenketten, und der Mensch meint, er hätte den Stein der Weisen gefunden. Denn alle menschlichen Wahrheiten haben das Format einer Gleichung, bei der ein Begriff mit einem anderen kurzgeschlossen wird: Gott ist Geist. Der Tod ist unausweichlich. Zweimal zwei ist vier. E gleich mc2. Das schadet niemandem. Nur wenn es gar zu viele solcher Gleichungen gibt, sinkt der Ausstoß von Bablos. Deshalb können wir die Kultur der Menschen nicht dem Selbstlauf überlassen. Wenn es sein muss, zwingen wir sie mit eiserner Hand zurück in die alten Geleise.«

»Wie geschieht das?«

»Du bist doch in Glamour und Diskurs ausgebildet. Das sind unsere Methoden. Wenn dich Details interessieren, musst du dich an die Chaldäer wenden. Allgemein läuft es darauf hinaus, dass die Leertakte in Geist B möglichst kurz gehalten werden. Wenn alles gut läuft, wird kein Mensch nach Gott suchen. Denn der wartet schon auf ihn am Kircheneingang, gleich neben der Kollekte. Genauso wenig wird er die Kunst nach ihrem Sinn befragen. Er weiß, dass der einzige Sinn darin liegt, Steuern zu sparen. Und so weiter. Der Kampf um die Erhöhung von cos(π) ist eine nationale Aufgabe, wie es in dem Pennälerwitz heißt.«

»Hat das Leben dann überhaupt einen Sinn?«, fragte ich. »Oder ist es sinnlos bis dorthinaus?«

»Nein, wieso. Man kann allerlei Sinn darin sehen. Für jeden Geschmack etwas. Man kann es leben, als wäre es aus einem Guss, beseelt und bedeutungsvoll. Aber wenn die letzte Seite dieses Lebens umgeschlagen ist, wird aller Sinn wie ein trockener Strohhalm vom Winde verweht.«

»Und wozu dann das alles?«

Osiris beugte sich nach vorn, nahm einen Gegenstand vom Tisch und hielt ihn mir vor das Gesicht.

»Was ist das?«, fragte er.

Ich schaute auf seine Finger. Dazwischen steckte ein Nagel: alt und an der Kuppe etwas rostig, wahrscheinlich schon mal irgendwo eingeschlagen gewesen, wieder herausgezogen worden.

»Das? Ist ein Nagel«, antwortete ich brav.

»Richtig. Ein Nagel. Ein alter Nagel. Wir können den simpelsten Gegenstand hernehmen - einen alten, rostigen Nagel. Ihn betrachten. Und uns fragen: Was ist das?«

»Ein Nagel«, wiederholte ich achselzuckend. »Was gibt es da zu fragen?«

»Aber wovon ist die Rede? Von diesem Stück Metall? Oder von dem Eindruck, den du davon gewinnst? Oder ist der Nagel der Eindruck? Oder ist der Eindruck der Nagel? Anders gesagt: Geht es dir darum, dass der Nagel in unserem Bewusstsein widergespiegelt wird, oder darum, dass wir das Wort Nagel auf unsere Umwelt projizieren, um aus der Vielzahl von Elementen diejenigen hervorzuheben, die mit dieser Lautgruppe zu bezeichnen Übereinkunft besteht? Oder geht es dir womöglich um den finsteren und unheimlichen Glauben gewisser Leute, demzufolge so ein Nagel autonom und außerhalb der Grenzen des Bewusstseins existiert?«

»Ich blicke nicht mehr durch«, sagte ich.

»Richtig. Du blickst nicht mehr durch. Und dabei bleibt es.«

»Und was hat das alles mit meiner Frage zu tun?«

»Das will ich dir sagen. Du fragst mich: Worin besteht der Sinn des Lebens? Das hier«, er fuchtelte mit dem Nagel in der Luft herum, »ist ein simples Stück Schrott. Wir haben gesehen, dass der Leertakt deiner Geldtitte nicht einmal das zu durchschauen in der Lage ist. Obwohl du das Ding angreifen, verbiegen oder jemandem in die Hand rammen kannst. Du aber fragst mich nach etwas, das nirgends existiert als in der Einbildung. Und auch dort nicht permanent und verlässlich. Eine schüttere Wortwolke ersteht für einen kurzen Moment und bezaubert durch die Illusion von Sinn, um spurlos wieder zu verschwinden, sobald Geist B sich fragt, wo das Geld ist. Verstehst du?«

»Nein.«

»Auch gut, Rama. Finde dich ab damit.«

Ich nickte.

»Fängt der Mensch - und der Vampir ist, unter uns gesagt, auch nur eine verbesserte Ausgabe des Menschen -, fängt der erst mal an, über Gott nachzudenken, über den Ursprung der Welt und ihren Sinn, dann ähnelt er dem Affen im Marschallsrock, der, seinen nackten Arsch schwenkend, durch die Zirkusarena springt. Zur Entschuldigung des Affen lässt sich sagen, dass die Menschen ihm den Rock angezogen haben. Du, Rama, ziehst dir die Jacke selber an.«

Osiris warf den Nagel auf den Tisch und drückte den Knopf neben dem Wandtelefon. Auf dem Korridor klingelte es.

»Zeit zum Mittagessen. Grigori bringt dich zur Tür.«

»Danke für die Aufklärung«, sagte ich, mich erhebend. »Auch wenn ich, ehrlich gesagt, nicht viel schlauer bin als zuvor.«

»Das muss man auch nicht sein wollen«, sagte Osiris lächelnd. »Man muss nicht alles verstehen - das vor allem ist es, was man verstehen muss. Wozu etwas verstehen wollen, was man ohnehin schon weiß? Ein Tropfen Bablos erklärt mehr als zehn Jahre philosophische Dispute.«

»Warum sind Sie dann vom Bablos auf die rote Flüssigkeit umgestiegen?«, fragte ich.

Osiris zuckte die Schultern.

»Some dance to remember«, sagte er, »some dance to forget.«

Der schnauzbärtige Moldawier kam herein, und ich verstand, dass die Audienz beendet war.

Wie beim letzten Mal brachte der Moldawier mich zur Wohnungstür. Diesmal aber trat er mit mir auf den Treppenabsatz hinaus und schloss die Tür hinter sich bis auf einen Spalt.

»Der Fahrstuhl geht nicht«, sagte er leise. »Ich bringe Sie hinunter.«

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, nahm aber sicherheitshalber den äußeren Weg, die Wand entlang, und hielt mich vom Geländer, hinter dem der Treppenschacht gähnte, fern.

»Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit«, sagte der Moldawier. »Ich bin eigentlich Professor für Theologie in Kischinjow. Das hier ist nur ein Zubrot für mich. Bei uns in Kischinjow besteht derzeit kein Bedarf an Theologieprofessoren.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich mitfühlend.

»Wissen Sie«, fuhr der Moldawier fort, »es kommen des Öfteren junge Vampire hierher, die mit unserem Arbeitgeber Gespräche führen. Ich habe draußen vor der Tür zu wachen für den Fall, dass der Chef klingelt. Da hört man so manches. So kann ich mir ein Bild machen davon, was für Vorstellungen in der Welt heutzutage herrschen. Für gewöhnlich mische ich mich da nicht ein. Aber heute ging es um Gott. Und hier fühle ich mich als Theologe berufen, zu dem, was Sie gesagt bekamen, eine nicht unmaßgebliche Ergänzung zu liefern. Ich möchte Sie nur bitten, vor dem Chef nichts darüber verlauten zu lassen. Überhaupt: bis zum nächsten Kontrollbiss zu niemandem ein Wort! Bis dahin bin ich in Urlaub gefahren. Können Sie mir das versprechen?«

»Sie scheinen mit unseren Gepflogenheiten im Detail vertraut zu sein«, bemerkte ich. »Selbst über den Kontrollbiss wissen Sie Bescheid. Von dem sogar ich das erste Mal höre.«

»Kommen Sie mir nicht ironisch, junger Mann. In Ihren Kreisen ist jeder Biss ein Kontrollbiss.«

»Da können Sie recht haben«, seufzte ich. »Gut, versprochen. Worin besteht Ihre Ergänzung?«

»Sie betrifft das, was man in Ihren Kreisen gemeinhin als Geist B bezeichnet. Den jungen Vampiren wird erzählt, der menschliche Geist B sei nichts als eine Geldtitte. Aber das ist nicht wahr.«

»Und was ist er in Wahrheit?«

»Sind Sie schon mal in Pompeji gewesen?«

»Italien? Nein«, antwortete ich, »aber gehört habe ich davon. Alte römische Stadt, unter Vulkanasche konserviert, darüber habe ich einiges gelesen.«

»Genau«, sagte der Moldawier. »Der interessanteste Ort in Pompeji ist die Villa dei Misteri.«

»Ach, ich erinnere mich. Diese Villa am Stadtrand. Der Name kommt von den Fresken, auf denen ein Initiationsritual für dionysische Mysterien dargestellt ist. Wir hatten sogar Bilder dazu im Diskurs. Sehr schöne. Aber wie kommen Sie jetzt auf diese Villa?«

»Schauen Sie, dieses Haus existierte von Mitte des dritten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung bis zum Untergang von Pompeji. Dreihundert Jahre. Heute kann selbstverständlich keiner wissen, was für Mysterien damals dort abliefen. Aber die Fresken beflügeln unsere Phantasie so sehr, dass man nicht müde wird, darüber zu streiten. Meiner Ansicht nach sind die Fresken nicht einmal die Hauptsache. Im Flur des Hauses gibt es Malereien mit rätselhaften kleinen Details - irgendwelche ägyptischen Symbole auf schwarzem Grund, etwas wie Embleme, Schlangen oder so -, ganz ähnlich wie auf den alten Singer-Nähmaschinen. Na, die werden Ihnen wohl kaum mehr begegnet sein.«

»Ihre Gedanken sind ziemlich sprunghaft. Erst waren Sie bei Geist B, dann auf einmal bei dieser Villa, und jetzt sind wir bei Singer-Nähmaschinen angelangt.«

»Warten Sie, gleich klärt sich das. Auf Photos fällt es nicht auf, aber wenn Sie selbst in dieser Villa stehen, stoßen Sie auf eine Reihe Ungereimtheiten. Einerseits die Fresken, oh ja. Andererseits steht da inmitten all der Pracht eine grobe und primitive Kelterpresse ... Dann fallen Ihnen irgendwelche missratenen Wirtschaftsgebäude ins Auge, angebaut an unpassendster Stelle. Währenddessen erläutert der Reiseführer, in dieser Villa seien tatsächlich Initiationen vorgenommen worden. Irgendwann vor langer, langer Zeit. Aber nach den ersten Erdstößen - lange vor dem verheerenden Vulkanausbruch - hätten die Besitzer das Haus verkauft und verlassen. Danach sei die Villa zum Landwirtschaftsbetrieb umfunktioniert worden, Wein wurde gekeltert...«

»Was wollen Sie mir mit alledem sagen?«

»Ich will damit sagen: Der Mensch ist auch so eine Villa der Mysterien. Zwar behauptet ihr Vampire, ihr hättet die Villa selbst gebaut, um Bablos darin abzupressen. Und die alten Fresken an den Wänden stellt ihr euch als Nebeneffekte eurer landwirtschaftlichen Betätigung vor. Da wurde halt zur Genüge geschweinert und gespritzt an den Bottichen, aus denen es gärte und schäumte, und plötzlich waren diese Bilder an der Wand ...«

Wir standen inzwischen an der Haustür.

»Gut«, sagte ich. »Haben Sie eine andere Version?«

»Jawohl. Der Geist B - Ihnen auch unter der Bezeichnung Geldtitte vertraut - ist ein Raum für abstrakte Begriffe. Die in der Außenwelt nirgends Vorkommen. Gott ist ja auch nicht in der Welt. Geist B wurde geschaffen, damit Gott einen Ort hatte, an dem er den Menschen erscheinen konnte. Unser Planet ist bestimmt kein Gefängnis. Er ist ein sehr geräumiges Haus. Ein Zauberhaus. Mag sein, dass in den Untergeschossen irgendwo auch ein Gefängnis ist, aber eigentlich ist es ein Palast Gottes. Man hat Gott schon viele Male zu töten versucht, ihm viel und übel nachgeredet, selbst die Nachricht, er habe eine Prostituierte geehelicht und sei daran gestorben, war in den Medien zu erfahren. All das ist nicht wahr. Man weiß einfach nie, in welchem der Gemächer er gerade wohnt - er wechselt sie beständig. Bekannt ist nur, dass dort, wohin er sich jeweils begibt, Sauberkeit herrscht und ein Licht angesteckt ist. Und es gibt Zimmer, da lässt er sich niemals sehen. Von diesen Zimmern gibt es leider mehr und mehr. Dort pfeift der Wind hinein und weht jede Menge Glamour und Diskurs an. Und wenn sie dann vollgemüllt sind und schimmeln, zieht der Geruch die Flughunde an.«

»Damit meinen Sie uns, ja?«

Der Moldawier nickte.

»Na klar«, sagte ich. »Wie immer. Alles auf die Vampirjuden schieben. Dafür braucht es nicht viel Grips.«

»Wieso Vampirjuden?«, fragte der Moldawier.

»Juden, Fledermäuse, Vampire - die ganze Monsterabteilung ... So was hat man bei euch immer kaltgemacht.«

»Was soll das heißen, bei euch?«

»Bei euch Menschen natürlich!« Ich merkte, wie ich mich in Rage redete. »Was soll man von euch auch anderes erwarten. Ging ja schon gut los, eure Geschichte: gleich als Erstes ein Genozid!«

»Was? Wieso?«

»Na, wer hat denn die Neandertaler abgeschlachtet vor dreißigtausend Jahren? Dachten Sie, das ist vergessen? Das vergessen und vergeben wir nie! Mit Genozid ging es los, mit Genozid wird es enden, denken Sie an meine Worte! Und stempeln Sie die Vampire gefälligst nicht zu Sündenböcken ...«

»Sie haben mich falsch verstanden«, entgegnete der Moldawier erschrocken. »Ich will den Vampiren gewiss nicht alles in die Schuhe schieben. Jedes Zimmer in dem Haus ist für sich selbst verantwortlich. Es kann Gott zu sich einladen. Oder lieber Ihre Gesellschaft suchen. Natürlich wird sich jedes Zimmer zuerst einmal am Göttlichen orientieren, das hat man so im Blut. Aber Glamour und Diskurs haben die meisten Zimmer längst dorthin gebracht, dass sie Mode und Design für das A und O halten. Und hängt ein Zimmer erst einmal diesem Glauben an, dann haben sich die Fledermäuse schon darin angesiedelt. Da wird Gott wohl kaum noch hineinschauen. Doch gebe ich den Vampiren keine Schuld. Ihr seid ja nicht zuständig für die Zimmer in dem Palast. Ihr seid Fledermäuse. Das ist euer Metier.«

»Und was wird aus dem Palast werden, Ihrer Meinung nach?«

»Gott hat viele solcher Paläste. Sollten in dem hier irgendwann sämtliche Zimmer von Mäusen in Beschlag genommen sein, wird Gott ihn liquidieren. Besser gesagt, er wird nicht weiter daran bauen, das läuft auf dasselbe hinaus. Äußerlich, so sagt man, wird es sich als ein ungeheuer gleißendes Licht ausnehmen, das die ganze Welt verbrennt. Tatsächlich aber verschwindet nur die Illusion der Materie, und Gottes Natur, die alles durchdringende, wird zutage treten, wie sie ist. Genauso wie es angeblich am Ende eines jeden einzelnen Lebens geschieht ... Unser Palast macht schwere Zeiten durch. In beinahe jedem Zimmer wohnen die Mäuse. Überall schmatzen die Destillatoren, in denen das M5~Aggreggat sich ablagert...«

»Sie sind gut informiert!«, sagte ich. Der Moldawier ging nicht darauf ein.

»Die Frage ist doch: Was tun wir, wenn Gott eines Tages die Nase voll von uns hat und das Projekt für beendet erklärt?«, sagte er.

»Keine Ahnung. Vielleicht werden wir auf einem neuen Planeten dienstverpflichtet ... Mich interessiert etwas anderes. Sie sind doch Professor für Theologie. Sprechen von Gott, als wäre es Ihr guter Bekannter. Dann sagen Sie doch mal: Warum hat er das alles so eingerichtet? Warum lässt er unser Leben so leer und sinnlos sein?«

»Wenn Ihr Leben einen Sinn hätte«, entgegnete der Moldawier kühl, »dann täten diejenigen recht daran, die die Fiedermäuse zu sich hereinlassen. Dann hätte Gott keinen Ort zum Wohnen mehr.«

»Soso ... Aber warum erzählen Sie mir das eigentlich alles?«

»Ich möchte Ihnen eine Telefonnummer geben«, antwortete der Moldawier und streckte mir ein Kärtchen mit Goldschnitt entgegen. »Wenn Sie mögen, kommen Sie zu unseren Gebetsabenden. Dass der Weg zurück ein leichter sein wird, kann ich nicht versprechen. Aber Gott ist gnädig.«

Ich griff nach dem Kärtchen. Darauf stand:

Zu Gott durch Gottes Wort


Gebetshaus Logos KataKombo

Auf der Rückseite standen die Telefonnummern.

Ich schob das Kärtchen in meine Hosentasche. Dabei fuhr ich mit der Hand über die Stelle an meinem Gürtel, wo das Futteral mit dem Todesbonbon hätte sein müssen. Es war nicht dort, ich war wieder einmal ohne aus dem Haus gegangen. Doch selbst wenn ich es dabeigehabt hätte ... Die Geste war rein reflektorisch gewesen.

»Ich sehe schon«, sagte ich. »Anstelle der Weinpresse wollen wir in der Villa dei Misteri eine kleine Kerzenfabrik aus dem Boden stampfen, ja? Aber daraus wird nichts, das lassen die Chaldäer nicht zu. Bestenfalls kriegen Sie einen kleinen Hobbykeller. Wenn noch Platz übrig sein sollte ...«

»Seien Sie nicht zynisch. Gehen Sie in sich, nehmen Sie sich die Zeit.«

»Das werde ich, keine Sorge«, erwiderte ich. »Ich sehe, Sie sind ein guter Mensch. Besten Dank für Ihre Anteilnahme an meinem Schicksal.«

Der Moldawier lächelte traurig.

»Jetzt muss ich aber«, sagte er und klopfte sich an das

Pflaster am Hals, »sonst wundert sich mein Chef, wo ich bleibe. Und Sie denken an Ihr Versprechen und erzählen keinem von unserem Gespräch.«

»Ich glaube ja nicht, dass sich jemand dafür interessiert. Obwohl... Wissen Sie was? Sie sollten Ischtar Borissowna zu werben versuchen! Sie ist reif dafür. Damit verrate ich Ihnen eine Insider-Information ...«

»Denken Sie nach«, blieb der Moldawier bei dem seinen. »Noch steht Ihnen der Weg zurück offen.«

Dann drehte er sich um und lief die Treppen hinauf.

Ich trat aus dem Haus und schlenderte zum Auto.

Der Weg zurück, dachte ich. Wohin zurück eigentlich? Ist da noch was?

Ich stieg ein und sah im Spiegel Iwans Gesicht. Es lächelte. Den beleidigten Gesichtsausdruck beizubehalten gelang ihm dennoch.

»Beim Nachdenken übers Leben hab ich gerade ein chinesisches Sprichwort erfunden«, sagte er, einen Schwall Mentholpastillengestank ausstoßend. »Soll ichs sagen?«

»Sag schon.«

»Du kannst in tausend Ärsche kriechen - aus dir wird nicht der Kaiser von China.«

Der Gedanke, so gerechtfertigt er war, schien reichlich anzüglich. Plötzlich wurde mir klar, dass Iwan betrunken war. Womöglich schon seit dem frühen Morgen. Vielleicht war er auch bei unseren früheren Begegnungen nicht nüchtern gewesen. Mir wurde himmelangst zumute. Woher sollte ich wissen, was diesem Mann so durch den Kopf ging?

»Da ist was dran«, sagte ich, mich diskret nach vorn beugend, »die soziale Mobilität in unserer Gesellschaft hat abgenommen. Daran muss sich wahrlich etwas ändern. Andererseits ... Kaiser wird man vielleicht nicht, aber Kaiserin?«

Während des letzten Satzes zuckte mein Kopf, wie es sich gehörte. Ich ließ mich in die Rücklehne fallen und hatte eine Weile zu tun, die Pfade der Persönlichkeit meines Chauffeurs auszuleuchten.

Die Bedenken waren umsonst. Höchstens eine Verkehrskontrolle musste man fürchten. Aber diese Hera wieder ... Wie konnte man nur so schamlos mit einem Chauffeur flirten ... Vielleicht ist das bei denen eine Berufskrankheit, dachte ich verächtlich.

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