LOKI

Der letzte Lehrgang für den angehenden Vampir hatte es noch einmal in sich. Er nannte sich »Kampf- und Liebeskunst«.

Den Unterricht führte Loki, ein großer, hagerer alter Mann mit langen gelben Haaren, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem romantischen Dichter Tjuttschew aufwies, nur ohne den aristokratischen Schliff. Er trug beständig eine Nickelbrille und ein langes schwarzes Jackett mit fünf Knöpfen, das an einen Gehrock aus den Zeiten des Krimkriegs erinnerte.

Einen zweiten Lehrer gab es nicht, Loki unterrichtete beide Fächer. Zuerst kam der Kampfkunstlehrgang dran, anschließend sollte die Liebe zur Meisterschaft geführt werden.

Loki war älter als Baldur und Jehova. Es schien merkwürdig, dass ausgerechnet so ein Greis seine Schüler in Kampfkunst unterwies - doch ich kannte die weißbärtigen Meister aus den Hongkong-Filmen und wollte darum keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Loki pflegte eigentümliche Unterrichtsmethoden. Er trug nicht vor, er diktierte - und verlangte, dass ich Wort für Wort mitschrieb. Außerdem hatte ich mit Federhalter zu schreiben, und die Tinte hatte violett zu sein. Die Schreibutensilien brachte er zur ersten Stunde in seinem schwarzen Köfferchen mit, dem gleichen, wie Baldur und Jehova es hatten. Auf meine Frage, wozu das alles, fiel die Antwort knapp aus:

»Tradition.«

Die erste Stunde begann damit, dass er vor die Wand trat und mit Kreide einen Satz daran schrieb:

Das Geheimnis der Zählebigkeit auch des zählebigsten Menschen besteht nur darin, dass ihn noch keiner zu töten vermochte.


Loki IX.

Ich verstand, dass er sich hier selbst zitierte.

»Das bleibt bis zum Ende des Lehrgangs stehen«, ordnete er an. »Ich möchte, dass dieses Prinzip in deinem Bewusstsein ordentlich Wurzeln schlägt.«

Dann hieß er mich am Tisch vor meinem Heft Platz nehmen, legte die Hände auf den Rücken und begann im Zimmer auf- und abzuwandern. Währenddessen diktierte er in betulichem Tempo:

»Die Kampfkunst des Vampirs ... unterscheidet sich faktisch nicht... von der des Menschen ... soweit sie die Technik des Nahkampfs Mann gegen Mann betrifft ... Ein Vampir wendet die gleichen Schläge, Würfe und Finten an ... die im klassischen Zweikampf anzutreffen sind ... Hast du’s? Der Unterschied besteht darin, wie der Vampir diese Techniken benutzt ... Die Kampfkunst der Vampire ist extrem amoralisch und darum effektiv ... Ihr bestimmendes Moment ist, dass der Vampir sofort, im ersten Zugriff, den gemeinsten und brutalsten aller in Frage kommenden Tricks zur Anwendung bringt ...«

Ich hob den Kopf vom Heft.

»Und wie lässt sich jeweils bestimmen, welches der gemeinste und brutalste Trick ist?«

»Oho!«, Loki hob den Zeigefinger. »Sehr gut! Die Frage trifft ins Schwarze. Wenn ein Vampir einen Kampf verliert, dann meistens deshalb, weil er zu lange darüber nachdenkt, welcher seiner Tricks im gegebenen Fall der gemeinste und brutalste ist. Darum darf man in dieser Situation gar nicht nachdenken. Man muss seinem Instinkt vertrauen. Und um ihm vertrauen zu können, muss man die Gemeinheit des Ganzen vorübergehend ausblenden. Das ist es, was diese Kampfstrategie so gemein macht. Ein Paradoxon. Hast du’s?«

»Ja«, sagte ich. »Aber die Menschen vertrauen ja genauso auf ihren Instinkt, wenn sie sich prügeln. Und denken nicht nach über die Gemeinheit ihres Tuns. Worin unterscheiden wir uns von ihnen?«

Loki räusperte sich.

»Steh auf!«, befahl er. »Dann erklär ich’s dir.«

Ich stand auf.

Besser gesagt, ich wollte aufstehen. Doch bevor ich die Beine ganz gestreckt hatte, bekam ich unversehens einen Fausthieb ins Sonnengeflecht.

Der Schlag war nicht heftig, aber äußerst infam - Loki hatte den Moment abgepasst, da ich mich in der instabilsten Position befand. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel mitsamt dem Stuhl nach hinten um, wobei ich mir schmerzhaft den Ellbogen prellte.

»Kapiert?«, fragte Loki, als wäre nichts dabei.

Ich sprang auf die Füße. Loki streckte beschwichtigend die Hände aus. »Belassen wir’s dabei. Friede!«

Meine Wut erlosch. Trotzdem wollte ich Loki ein paar passende Worte sagen - da bekam ich von ihm einen schmerzhaften Tritt gegen den Knöchel. Das war der Gipfel der Niedertracht - nachdem er eben erst sein Friedensangebot unterbreitet hatte! Vor Schmerz ging ich in die Knie.

Loki trat zum Fenster, zog ein Bonbon im roten Papier aus der Hosentasche, wickelte es aus und schob es sich in den Mund.

»Und wenn ich Ihnen jetzt eine in die Fresse haue?«, fragte ich.

»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?«, fragte Loki mit gefurchter Stirn zurück. »Ich bin dein Lehrer. Wenn mein Schüler Fragen hat, muss ich sie ihm beantworten. Und zwar so, dass er die Sache ein für alle Mal begreift. Klar?«

»Klar«, sagte ich mürrisch und rieb mir den geprellten Knöchel. »Trotzdem, tun Sies nicht noch mal. Sonst kann ich für nichts garantieren.«

»Versprochen«, sagte Loki und wandte sich ab. Mir schien, sein voriges Verhalten war ihm selbst etwas peinlich. Ich drehte mich zum Tisch, um wieder Platz zu nehmen. Währenddessen kam er von hinten gesprungen und trat mir gegen die Innenseite der Wade. Mein Bein knickte unwillkürlich ein, ich fiel schon wieder auf die Knie. Und bekam im selben Moment eine schallende Ohrfeige. Im Nu war ich wieder auf den Füßen und ging stumm mit den Fäusten auf Loki los.

Es sei erwähnt, dass ich in der zehnten Klasse eine Zeit lang Karate betrieben hatte. Wodurch freilich noch lange kein Jackie Chan aus mir geworden war. Mit einem Tritt eine Fliese an der Wand der Schultoilette zu zertrümmern oder ein angeknicktes Brett mit einem Faustschlag durchzuhauen -dazu hatte es gerade so gereicht. Und immerhin wusste ich aufgrund meiner Vorkenntnisse das, was Jackie Chan auf der Leinwand vollführte, gebührend einzuschätzen.

Umso beeindruckter war ich von dem, was ich nun zu sehen bekam.

Loki entzog sich meinem Angriff, indem er gegen die Wand sprang, ein paar Schritte an ihr hinauflief (wobei nur die Beine sich bewegten) und, als die Schwerkraft seinen Körper in eine Parallele zum Fußboden gebracht hatte, einen Salto schlug, aus dem er weich hinter meinem Rücken landete. An alledem war gar nichts Überirdisches - alles blieb im

Rahmen der Gesetze der Physik, nur dass es für ein solches Manöver ein Übermaß an Gewandtheit brauchte und an Mut wohl ebenso.

In der nächsten Sekunde ließ er sein gestrecktes Bein knapp an meinem Gesicht vorbeipfeifen, so dass ich zurückprallte, packte mich am Handgelenk und knickte es um - mit einem so sicheren Griff, dass ich jeden Gedanken an Widerstand sogleich aufgab.

»Ich ergebe mich!«, schrie ich.

Loki ließ meinen Arm los. Vor Staunen vergaß ich alle Kränkungen.

»Wie ... wie machen Sie das?«

»Setz dich hin und schreib!«

Ich setzte mich zurück an den Tisch.

»Um einen Vampir in jeglicher Kampfsituation unschlagbar zu machen, haben die Vampire das Todesbonbon geschaffen ... Hast du?«

»Ach! Was Sie vorhin gegessen haben? Das rot eingewickelte?«

»Genau«, sagte Loki.

Er fuhr mit der Hand unter seinen Gehrock und zog noch ein Bonbon hervor: klein, rund, in rotem Glanzpapier. Ähnlich wie die Lutschbonbons, die in Flugzeugen verteilt werden.

»Darf ich probieren?«

Loki dachte kurz nach.

»Heute nicht«, entschied er. »Du bist mir zu ... aufgekratzt. «

»Fürchten Sie, dass ich Sie ... naja, verprügele?«

Loki lachte verächtlich.

»Du grüner Junge ... Glaubst du, das macht das Bonbon?«

»Nicht? Was sonst?«

»Das Bonbon nützt wenig ohne den Geist des Kriegers. Weißt du überhaupt, was das ist?«

Richtig wusste ich es nicht.

»Dann schreib.«

Ich beugte mich über mein Heft.

»In der chinesischen Provinz Hubei«, begann Loki zu diktieren, »befindet sich das malerisch gelegene Wudang-Gebirge. Wudang bedeutet Schild des Kriegers. Seit Urzeiten leben dort daoistische Mönche und betreiben Kampfkunst ... Der berühmteste von ihnen ist Zhang San Feng, welcher fliegen konnte ...«

Loki machte eine Pause, wohl weil er meine Rückfrage gewärtigte, ob dieser Zhan San Feng tatsächlich geflogen sei. Ich tat ihm den Gefallen nicht.

»In den Wudang-Bergen existieren heute zahlreiche Wushu-Akademien, wo arglosen Touristen schön anzusehende, aber nutzlose Tänze mit Schwert und Stab beigebracht werden ...«

Loki imitierte diese. Tänze mit ein paar ins Lächerliche übertriebenen Bewegungen. Es sah wirklich lustig aus.

»Die Dao-Mönche, die die wahre Kampfkunst betreiben, zogen sich noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Berge zurück, weitab von Straßen, Hotels und, ha-ha, Massagestudios. Es gibt nur noch wenige wahre Meister, doch es gibt sie. Um ihr Leben fern der Menschen fristen zu können, benötigen die Mönche Existenzhilfe in beträchtlicher Höhe ... Hast du? Die Vampire stellen ihnen diese Mittel bereit. Dafür spenden ihnen die besten daoistischen Meister einmal jährlich Kostproben ihrer roten Flüssigkeit. Aus diesen Präparaten fertigen die Vampire einige Sorten Todeskonfekt. Doch ohne den Geist des Kriegers bleiben diese Bonbons wirkungslos ... Hast du? Das wars für heute.«

Die ganze folgende Nacht wälzte ich mich in meinem Baldachinbett und überlegte, was das für ein Geist sein konnte.

Meine Mutmaßungen gingen in verschiedene Richtungen. Erstens hielt ich es für möglich, dass es tatsächlich irgendeinen Geist gab, mit dem man in Kontakt treten musste. Zweitens konnte es sich um einen heroischen Bewusstseinszustand handeln, den man sich über einen langen Zeitraum anzuerziehen hatte, ohne auf irgendwelche vampirischen Hilfsmittel zurückgreifen zu können. (Diese Variante erschien mir am wenigsten verlockend.) Und drittens mochte dieser »Geist des Kriegers« mit einer speziellen Prozedur Zusammenhängen, die die Physis veränderte - es wäre ansonsten kaum zu erklären gewesen, dass der alte und offensichtlich unsportliche Loki die Beine werfen konnte wie ein mit Amphetaminen abgefüllter Akrobat.

Alle drei Hypothesen trafen nicht zu.

Der Geist des Kriegers war eine bestimmte Abfolge von Atemzügen - kurzen und langen. Es war eine Art Code, der das Bonbon zur Wirkung brachte. Das hatte mit daoistischen Exerzitien zu tun: Das Atemzentrum wurde auf diese Weise reguliert. Wie es genau ablief, wurde von Loki nicht weiter vertieft - wohl weil er sich darin selbst nicht erschöpfend auskannte. Sich die Abfolge zu merken genügte.

Kurz darauf gestattete Loki mir, von einem Todesbonbon abzubeißen. Zu sehen gäbe es nichts Besonderes, warnte er vorab; das Bonbon enthalte keine Informationen über das Leben der Mönche, nur ihre kriegerischen Fähigkeiten würden zugänglich gemacht. Ich schritt zum Selbstversuch.

Der Geschmack erinnerte an eine Lakritzstange. Ich hielt die geforderte Atemfolge ein und empfand einen leichten Schwindel, dann Leichtigkeit. Aber das war es auch schon. Mich in meinen neuen Zustand vertiefend, konnte ich nichts Ungewöhnliches bemerken - wie das schon bei Pasternak+1/2Nabokov der Fall gewesen war. Alle Hinweise auf die Spender waren getilgt.

Erworben hatte ich das Vermögen zur virtuosen Körperbeherrschung. Das war allerdings beeindruckend. Als Erstes versuchte ich mich an einem Spagat, was bei meinen Karateübungen als Schüler nie geklappt hatte. Zu meiner Verblüffung gelang es mir nun ohne Weiteres - zuerst quer, dann auch längs.

Anschließend ahmte ich mühelos nach, was Loki vorgemacht hatte: lief die Wand hinauf, schlug einen Salto und landete auf den Füßen. Loki befahl mir, ich solle ihn nun angreifen, und im nächsten Augenblick ließ ich eine Schlagfolge auf ihn niederprasseln, wie ich sie selbst bis dahin nur aus dem Kino kannte (wobei freilich kein einziger dieser Schläge sein Ziel fand).

Als die Wirkung des Bonbons sich verlor, war ich nicht imstande, die Kunststücke zu wiederholen.

Nicht in der Elastizität der Muskeln liege das Geheimnis dieser Biegsamkeit und Beweglichkeit, erläuterte Loki, sondern in ihrer Fähigkeit zu schlagartiger Entspannung. Sie vor allem sei die Voraussetzung, um in den Spagat fallen und hohe Beinkicks landen zu können.

»Physiologisch gesehen sind Nervenimpulse vom Hirn an die Muskelzellen dafür verantwortlich. Auch langes Training vermag die physische Beschaffenheit von Muskeln, Knochen und Bändern nur unmaßgeblich zu ändern. Was sich ändert, ist die Impulsfolge der die Mechanik ansteuernden Nervensignale. Auf diesen Code zielt das Todesbonbon. Jeder durchschnittliche Mensch wird einem trainierten Kämpfer an Kraft unterlegen sein. Doch seine Physis reicht aus, um dasselbe zu leisten. Es ist nur der Nervenapparat, der nicht mitspielt. Dies betrifft ebenso die Schlagkraft. Sie hängt nicht nur vom Zustand der Muskelfasern ab, sondern von der Fähigkeit, die vitale Energie zu konzentrieren. Das Präparat verschafft dem Vampir einen zeitweisen Zugang zu diesen Fertigkeiten. Das Verfahren hat freilich seine Grenzen. Zweihundert Kilo Gewicht stemmen wirst du niemals können, selbst wenn du einem Gewichtheber-Weltmeister die ganze rote Flüssigkeit absaugst.«

»Das heißt«, sagte ich, »wenn ein Turner fleißig trainiert, arbeitet er mehr an seiner Software als an der Hardware?«

»Diesen Drogenslang verstehe ich nicht«, antwortete Loki.

Jetzt war auch klar, warum ein Vampir die fiesesten aller Tricks anzuwenden gezwungen war. Hier ging es nicht um ethische Entscheidungen, sondern um die nackte Notwendigkeit. Das Todesbonbon verlieh eine enorme Selbstsicherheit; man bekam Lust, mit dem Gegner zu spielen wie mit einem Kätzchen. Doch sobald die Wirkung des Bonbons nachließ, wurde der Vampir angreifbar. Er durfte also Todeszeit, wie Loki es nannte, auf gar keinen Fall sinnlos vergeuden.

Ein Vampir war angehalten, stets ein Todesbonbon bei sich zu tragen. Loki gab mir ein kleines Etui und führte vor, wie man das Bonbon herausbekam: Man drückte eine Feder, und es sprang einem direkt in den Mund. Damit es schneller ging, ließ sich auf das Auswickeln verzichten: Das Papier war geeignet, mitverschluckt zu werden. Man trug das Ausrüstungsbonbon am Gürtel und wandte es nur an, wenn Gefahr für Leib und Leben drohte.

»Sagen Sie, kommt es eigentlich vor, dass Vampire gegeneinander kämpfen? Ich meine, zwei Vampire haben jeder ein Bonbon gegessen und prügeln sich?«

»Was heißt prügeln«, sagte Loki. »Vampire sind keine Kinder. Wenn zwei Vampire ein ernsthaftes Problem miteinander haben, lösen sie es mit Hilfe eines Duells.«

»Ach? So etwas gibt es noch?«

»In unserer Welt ja. Wenn auch nicht häufig.«

»Und wie sieht so ein Duell aus?«

»Das erzähle ich ein andermal.«

Zur nächsten Stunde erschien er mit einer langen schwarzen Rolle - wie die, in denen man technische Zeichnungen transportiert.

»Zu dem«, sagte Loki, »was du über Duelle wissen solltest ... Des Öfteren in der langen Geschichte der Existenz von Vampiren gab es zwischen ihnen Auseinandersetzungen persönlicher Art. Vampire rekrutierten sich zumeist aus den höheren Gesellschaftsschichten, wo man strittige Fragen durch Duelle zu lösen gewohnt war. Diese Gewohnheit wurde in die Welt der Vampire hineingetragen. Nach den ersten Todesfällen erging jedoch ein Verbot. Das Problem ist, dass ein Vampir bei so einem Duell nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das der Zunge riskiert. Und für eine Zunge besteht, wie du dir vielleicht denken kannst, nicht der geringste Grund, sich auf ein Duell einzulassen. Das wäre dasselbe, als wenn ein Pferd anfinge auszuschlagen, und der auf ihm sitzende Reiter ...«

»Ich verstehe schon«, fiel ich ihm ins Wort, »Sie müssen das Beispiel nicht ausführen.«

»Andererseits wäre es sträflich, die Humanbedürfnisse eines Vampirs zu ignorieren oder ihn zu einem bloßen Transportmittel herabzuwürdigen. Und sei es nur deshalb, weil ein depressiver psychischer Hintergrund der menschlichen Persönlichkeit sich negativ auf das Befinden der Zunge auswirkt. Deshalb wurde ein Kompromiss entwickelt, der es den Vampiren erlaubt, ihre Beziehungen zu klären, ohne das Leben der Zunge zu gefährden - und das des Vampirs.«

»Aber dann verkommt das Duell doch zur Farce.«

»O nein!«, widersprach Loki mit einem Lächeln. »Worin besteht denn deiner Meinung nach der Sinn eines Duells?«

Ich zuckte mit den Schultern. Es schien mir zu offensichtlich, um es erklären zu müssen.

»Menschen werfen sich böse Worte an den Kopf«, sagte Loki, »doch diese Worte haben kein Gewicht. Der Mensch nimmt viele davon in den Mund, wenn der Tag lang ist. Ein Duell hat seinen Sinn darin, den Worten ein zusätzliches Gewicht zu verleihen: das Gewicht der Kugel, der Klinge, des Gifts. Von daher haben die Vampire eine einfache Lösung gefunden: Sie unterteilen das Duell in zwei Hälften. Zuerst wird ausgehandelt, welcherart Gewicht den Worten beizumessen sei. Und dann wird geklärt, wem es auferlegt wird. Verstehst du?«

»Bis jetzt noch wenig.«

»Zuerst schreibt jeder Teilnehmer eine sogenannte Duellorder, wo er ausführlich darlegt, welche Strafe er für seinen Gegner ausersehen hat. Das kann alles Mögliche sein: Amputation von Gliedmaßen, Beraubung des Seh- oder Hörsinns, Auspeitschung - je nachdem, wie groß die Wut der Duellanten ist. Die Sekundanten haben sich zu vergewissern, dass die Maßnahme der physischen Existenz der Zunge keinen Abbruch tut, dann bestätigen sie die beiden Orders. Und das eigentliche Duell kann beginnen.«

»Die Duellanten wissen, was sie im Falle ihrer Niederlage erwartet?«, fragte ich.

»Nein«, erwiderte Loki. »Das ist gegen die Regeln. Und jedes Mal, wenn diese Regeln missachtet werden, sind die Folgen äußerst bedauerlich. Wie zum Beispiel beim letzten Mal.«

»Was geschah da?«

»Dem Unterlegenen wurden Nase und Ohren abgeschnitten. Sein restliches Leben trug er eine Maske. Es währte allerdings nicht lange ...«

»Warten Sie«, sagte ich, von jäher Unruhe erfasst, »wer war dieser Mann? Wie hieß er? Doch nicht etwa ...?«

»Ja. Es war Brahma. Zwar erfolgte die Amputation durch den besten plastischen Chirurgen der Stadt, er hat keinerlei Schmerzen erleiden müssen. Doch fiel er anschließend in eine tiefe Depression, und die Zunge mochte nicht länger in seinem Körper verweilen.«

»Mit wem hat Brahma sich duelliert?«

»Das dürfte ich dir eigentlich nicht sagen«, zögerte Loki. »Aber wenn du es unbedingt wissen willst... Mit Mitra.«

»Mitra?!«

»Jawohl. Darum hat Mitra dich in unserer Welt in Empfang genommen. Das ist Sitte, wenn einer das Duell nicht überlebt. Der Sieger wird zum Betreuer des Novizen, auf dessen Leib die Zunge übergeht. Aber sprich dieses Thema bitte keinesfalls in Mitras Gegenwart an - ein solches Verhalten gilt als ausgesprochen taktlos. Hast du mich verstanden?«

Ich nickte. Die Neuigkeit überraschte mich doch einigermaßen.

»Das heißt«, sagte ich, »ohne Mitra wäre ich nicht hier ...«

»Nein«, sagte Loki, »so solltest du nicht denken. Mitra hatte auf die Wahl keinen Einfluss. Übrigens spielte auch Brahma dabei keine große Rolle. Die Zunge entscheidet selbst.«

»Und weswegen kam es zum Duell?«, fragte ich.

»Es hing irgendwie mit Brahmas Archiv zusammen«, antwortete Loki. »Brahma war ein passionierter Sammler. Mitra lieh sich einen Teil der Sammlung aus, irgendwelche Boudoir-Raritäten, Genaues weiß ich nicht. Er tat das nur zu seinem Vergnügen, machte Brahma aber weis, es wäre in dringender Angelegenheit. Und dann gab es irgendwelche Probleme damit. Entweder hat Mitra alles allein ausgesoffen oder verschludert oder an irgendwen weitergegeben - das weiß ich nicht im Detail. Jedenfalls kamen die Präparate abhanden. Brahma wurde furchtbar zornig und forderte Mitra zum Duell. Zuvor verkündete er, dass er Mitra die Finger abschneiden würde. Mitra, als er das hörte, wollte ihm nichts schuldig bleiben ... Den Rest kennst du.«

»Klingt, als wäre Mitra ein erfahrener Duellant?«

»Erfahrung bedeutet hierbei recht wenig«, sagte Loki. »Das Schicksal entscheidet.«

»Und wie verläuft das Duell an sich? Mit Todesbonbon?«

»Ja, in einer speziellen Duellausgabe. Gewonnen aus der roten Flüssigkeit der weitbesten Fechter und Schützen.«

»Mit welcher Waffe?«

»Florett oder Pistole«, sagte Loki. »Für beides verwenden Vampire Spezialausführungen.«

Er nahm die Rolle vom Tisch, öffnete sie und zog ein Florett hervor.

»Da schau her.«

Am Ende des Stahlstabs saß eine kleine kupferfarbene Kugel von ein, zwei Zentimetern Durchmesser. Eine kurze Nadel schaute aus ihr hervor.

»Das ist ein Tranquilizer«, sagte Loki. »Bei einem Schusswaffenduell feuert die Pistole ein Projektil mit derselben Substanz ab. Beim Getroffenen tritt augenblicklich eine Lähmung ein. Er bleibt bei Bewusstsein, kann atmen, doch weder sprechen noch sich bewegen. Die Wirkung des Tranquilizers hält circa vierzig Minuten an. In dieser Zeit müssen die Sekundanten die Duellorder in allen Punkten ausführen. Das ist für sie mitunter eine außerordentliche Bürde, wie zum Beispiel im Fall von Mitra und Brahma. Aber die Sache wird stets zu Ende gebracht - selbst wenn der menschliche Aspekt dabei zu Tode kommen sollte ...«

Nach allem, was ich eben erfahren hatte, kam Mitra in meinem Leben die Rolle des bösen Geistes zu. Obwohl ihm andererseits kaum eine böse Absicht zu unterstellen war.

Loki schien meine Gedanken zu erraten.

»Komme Mitra ja nicht mit dieser Sache!«, wiederholte er seine Mahnung. »Das wäre nicht nur schlechter Stil, es wäre eine grobe Verfehlung.«

»Versprochen«, sagte ich.

Gern hätte ich noch mehr über diese rätselhaften Dao-Mönche erfahren, aus deren roter Flüssigkeit das Todesbonbon gemacht wurde. Ich wagte Loki danach zu fragen. Er zeigte sich erstaunt.

»Wozu willst du das wissen?«

»Interessiert mich einfach. Lässt sich nicht irgendwie Einblick in ihr Leben nehmen?«

»Es gibt Bonbons zweiter Wahl«, sagte Loki achselzuckend, »die mangelhaft bereinigt sind. Viel lässt sich da trotzdem nicht erkennen. Diese Mönche sind ja keine einfachen Menschen.«

»Dürfte ich eins davon haben?«

Er gab keine Antwort - ich nahm an, weil er die Bitte abwegig fand. Aber zur nächsten Stunde händigte er mir ein in der Mitte halbiertes Bonbon aus.

»Aus einer minderwertigen Charge«, erläuterte er. »Da könnte was dabei sein ... Du bist schon ein seltsamer Bursche, Rama«, fügte er hinzu.

Noch am selben Abend, als es dunkel wurde, legte ich mich ins Bett und schob mir beide Bonbonhälften in den Mund.

Loki hatte recht gehabt, viel war nicht zu sehen. Aber das, was ich erlebte, bleibt unvergesslich.

Der Dao-Mönch, aus dessen roter Flüssigkeit der Drops gemacht war, hieß Xú Beishan (ich verstand sogar, was das ungefähr bedeutet: »Gewährung nördlicher Güte«). Er war über die zweihundert und spürte das Alter allmählich naher Nach Maßstäben normalsterblicher Menschen in bester körperlicher Verfassung, kam er sich selbst gebrechlich vor und zu nichts mehr nütze.

Mit ihm unternahm ich eine Wanderung durch die Wudang-Berge.

Xú Beishan musste sich durch Touristenströme zur heilige Stätte durchkämpfen - getarnt als Arbeiter, der mit seinem Joch zwei Steinblöcke für den Straßenbau hinaufschleppte,

Ich sah die roten Götzentempel mit Dächern aus glänzen grünen Ziegeln. Auch die großen Basaltschildkröten in der halbzerstörten Backsteinpavillons. Wir liefen auf dem Kamm des Berges, wo ein schmaler Pfad entlangführte, weit unter uns blinkte ein Bergsee.

Schließlich langte der Mönch am Ziel seines Weges an. »Schwebender Fels« hieß der Platz. Tatsächlich schien dieser Felsblock über dem Abgrund zu schweben. Obenauf gab es eine sorgfältig mit Steinen ausgelegte Fläche. Es war eine Stätte von hoher Macht und Heiligkeit. Xú Beishan war gekommen, um von den Geistern ein Zeichen zu erhalten.

Er wartete geduldig, bis alle Touristen abgestiegen waren, warf sein Joch mit den Steinen ab, stieg die Stufen hinauf zum offenen Altar, verbeugte sich mehrmals und wartete.

Das Zeichen der Geister war von seltsamer Art.

Ein singvogelgroßer Schmetterling mit nachtblauen Samtflügeln, schwarz und braun betupft, kam geflogen wie von ungefähr, gaukelte einmal um den Mönch herum und landete auf dem Rand des Altars.

Eine Zeit lang ergötzte sich der Mönch an dem Anblick. Bis er zuletzt gewahrte, dass die Flügel an den Rändern fransig und gesplissen waren - so sehr, dass ihre Form bereits verunstaltet schien. Kaum war dem Mönch das aufgefallen, riss der Falter sich von seinem Ruheplatz los und flatterte auf und davon, hinein ins grüne Labyrinth aus Zweigen und Ästen der am Felsrand wachsenden Bäume.

Allein wäre ich nie darauf gekommen, was dieses Zeichen zu bedeuten hatte. Der Mönch aber wusste es gleich - und mit ihm wusste auch ich es. Solange ein Schmetterling fliegen kann, ist es völlig gleich, wie verschlissen seine Flügel sind. Und kann der Schmetterling nicht mehr fliegen, ist er kein Schmetterling mehr, so einfach ist das.

Der Mönch tat eine Verbeugung zum Altar hin und stieg die Stufen wieder hinab. Mir fiel das steinerne Treppengeländer auf mit einem Relief in Form von Blumenvasen. Einige der Stufen waren ebenso verziert, sehr alt, ausgetreten von Tausenden Sohlen.

Als ich wieder zu mir kam, befiel mich Traurigkeit. Und es widerte mich an, ein Vampir zu sein.

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