JEHOVA

Während Baldur die Klärung jeder Frage so gezielt anging, dass sich der Kern der Sache gar nicht verfehlen ließ, besaß Jehova einen anderen Vorzug: Er konnte in wenigen Worten ganze Bedeutungsfelder umreißen, Leuchttürme setzen im schwierigen Labyrinth der Begriffe. Häufig bediente er sich dabei überraschender Vergleiche.

»Wenn du wissen willst, was das ist: die menschliche Kultur«, sagte er einmal, »dann erinnere dich an die Ureinwohner Polynesiens. Dort gibt es Stämme, die die Technik des weißen Mannes anbeten. Insbesondere Flugzeuge, die über den Himmel geflogen kommen mit allerlei schönen und leckeren Dingen an Bord. Cargo-Kult nennt sich dieser Glaube. Die Aborigines bauen rituelle Flughäfen, um damit sozusagen die Coca-Cola vom Himmel zu locken ...«

Mein Kopf funktionierte wieder einmal nach dem Motto »Alles, was nicht mir passiert ist, weiß ich.«

»Nein, das ist Unsinn«, sagte ich. »Das haben die Aborigines den amerikanischen Anthropologen bloß weisgemacht, damit sie schneller wieder gehen. Und dass Aborigines noch andere Wünsche haben könnten, hielten die Anthropologen sowieso nicht für möglich. Nein, der spirituelle Kern des Cargo-Kultes liegt tiefer. Die Bewohner Melanesiens waren von den Heldentaten der Kamikaze-Flieger so beeindruckt, dass sie diese rituellen Flughäfen errichteten, um die Seelen der Piloten zur Wiedergeburt auf ihrer schönen Insel einzuladen -für den Fall, dass es im Yasukuni-Schrein zu eng wird.«

»Interessant«, sagte Jehova. »Das ist mir neu. Aber es ändert nichts an den Tatsachen. Die Ureinwohner bauen nicht bloß Start- und Landebahnen nach, sie bauen auch Flugzeugreliefs aus Erde, Sand und Stroh, vielleicht, damit die Seelen der Kamikaze eine Behausung haben. Diese Flugzeuge sind mitunter sehr beeindruckend. Sie haben bis zu zehn Turbinen, gebaut aus alten Büchsen und Eimern. Da gibt es Meisterwerke, künstlerisch gesehen. Doch diese Erdflieger fliegen nicht. Das Gleiche gilt für den menschlichen Diskurs. Ein Vampir darf ihn keinesfalls ernst nehmen.«

Ich gab Baldur diese Unterhaltung wieder.

»Soll das heißen, ich lerne hier Flugzeuge aus Sand und Stroh bauen?«, fragte ich.

Baldur warf mir einen flammenden Blick zu.

»Nicht nur das«, sagte er. »Du lernst auch noch, dabei schwul auszusehen. Damit alle denken, dieser Flugzeugbastler scheißt Geld, und dich noch mehr dafür hassen ... He, Rama, hast du schon wieder vergessen, wer du bist? Du bist ein Vampir!«

Noch tagelang gingen mir Jehovas Worte nach, während ich im Internet ein paar Paradebeispiele einschlägiger Diskursverrenkungen studierte, darunter auch noch einmal das, was Papa über den Plebs und die kompetenten Eliten geschrieben hatte. Inzwischen konnte ich beinahe alles verstehen, Verweise, Anspielungen und kulturelle Referenzen inklusive. Und all das konnte noch so geistreich, subtil und gut geschrieben sein, Jehova behielt recht: Diese Flugzeuge waren nicht zum Fliegen bestimmt. Man fand viele kluge Worte darin, doch sie klimperten hohl und penetrant wie die aus dem Staub geklaubten europäischen Münzen in den Halsketten der Kannibalen.

Dies notierte ich in mein Heft:

Der Moskauer Cargo-Diskurs unterscheidet sich vom polynesischen Cargo-Kult dadurch, dass er statt mit Bruchstücken fremder Flugtechnik mit Jargonanleihen in Schnipselform jongliert. Die terminologische Camouflage im Aufsatz eines sogenannten Sachverständigen erfüllt die gleiche Funktion wie die knallorangene Schwimmweste aus einer abgestürzten Boeing, wenn ein afrikanischer Kopfjäger sie trägt: Es ist nicht nur eine Art von Maskierung, es ist Kriegsbemalung. Eine ästhetische Projektion des Cargo-Diskurses ist dabei der Cargo-Glamour, der das nachwachsende Office-Prekariat nötigt, auf Vollwertnahrung zu verzichten, um stattdessen eine teure Business-Uniform zu erwerben.

Als ich Jehova diesen Eintrag stolz präsentierte, tippte er nur den Finger an die Schläfe und sagte: »Rama, du hast das Wichtigste noch nicht verstanden. Du scheinst zu glauben, der Moskauer Cargo-Diskurs stünde dem New Yorker oder Pariser irgendwie nach, und darin läge das Problem. Aber das ist es nicht. Jede menschliche Kultur ist Cargo-Kultur. Die Erdflugzeuge des einen Stammes können nicht besser sein als die des anderen.«

»Wieso können sie das nicht?«

»Weil Erdflugzeuge keiner Vergleichsanalyse standhalten. Sie fliegen nicht, sie haben keine technischen Parameter, die man nebeneinanderhalten könnte. Sie haben nur diese eine magische Funktion. Und die hängt nicht von der Anzahl Blecheimer unter den Flügeln und deren Farbe ab.«

»Aber wenn es, wie Sie sagen, gar nichts anderes als diese Erdflugzeuge gibt, was nehmen die Leute dann als Vorlage?«, fragte ich. »Damit ein Cargo-Kult entsteht, muss doch wenigstens einmal ein richtiges Flugzeug am Himmel vorbeigekommen sein, oder nicht?«

»Nicht am Himmel«, erwiderte Jehova. »Es flog durch den menschlichen Geist. Als Große Fledermaus.«

»Sie meinen die Vampire?«

»Jawohl. Aber dieses Thema zu diskutieren ist vorerst zwecklos. Dafür bist du noch zu ungebildet.«

»Eine Frage noch«, legte ich nach. »Sie sagen, die ganze menschliche Kultur sei ein Cargo-Kult. Was ist es denn, was die Menschen da basteln, wenn keine Erdflugzeuge?«

»Städte.«

»Städte?«

»Na ja. Und alles Übrige.«

Ich versuchte mit Baldur darüber zu reden, doch auch der verweigerte sich der Diskussion.

»Das hat noch Zeit«, sagte er. »Du musst nichts übereilen. Der Erwerb von Wissen setzt eine bestimmte Abfolge voraus. Was wir heute behandeln, wird Fundament sein für das, was du morgen erfährst. Man kann ein Haus nicht vom Dachboden her bauen.«

Dagegen ließ sich nichts sagen.

Noch eine soziale Fertigkeit, die ich mir anzueignen hatte, war die Vampspiritualität. (Jehova sprach auch hier wahlweise von Metrospiritualität, woraus ich schloss, es könnte ungefähr dasselbe sein.) Mein Lehrer definierte sie als »Geltungskonsum im spirituellen Bereich«. In praktischer Hinsicht ging es bei der Vampspiritualität darum, den Zugang zu den alten geistigen Traditionen zu demonstrieren - und zwar dort, wo sie am exklusivsten waren: Photosessions mit dem Dalai Lama gehörten ebenso ins Programm wie dokumentarisch verbriefte Begegnungen mit Sufi-Scheichs und Latino-Schamanen, nächtliche Hubschraubervisiten auf Athos usw.

»Läuft es da etwa genauso?«, war meine missmutige und zugegeben etwas unscharf formulierte Frage.

»Hier wie immer und überall«, bestätigte Jehova. »Sieh doch mal genau hin, was bei der menschlichen Kommunikation vor sich geht. Warum macht ein Mensch den Mund auf?«

Ich zuckte die Achseln. Also gab Jehova die Erläuterung.

»Vor allem will der Mensch seinen Mitmenschen nahebringen, er sei weit prestigeträchtigerer Konsumformen teilhaftig, als diese von ihm glauben. Wie er auch umgekehrt den Anwesenden klarzumachen versucht, dass ihre Konsumformen weit weniger Geltung genießen, als sie in ihrer Naivität zu glauben geneigt sind. Diesem Sinn und Zweck sind alle sozialen Manöver untergeordnet. Ja, es sind einzig diese Fragen, die bei Menschen handfeste Emotionen hervorrufen können.«

»Mir scheint, ich bin in meinem Leben auch schon anderen Menschen begegnet«, sagte ich mit milder Ironie.

Jehova schenkte mir einen langen, sanftmütigen Blick.

»Schau, Rama«, sagte er, »jetzt gerade wieder bist du dabei, mir den Gedanken zu suggerieren, deine Konsumformen wären den meinen an Geltung überlegen, und meine wären, wie man heutzutage sagt, ein Griff ins Klo. Es geht in der Kommunikation von Menschen einzig und allein um Konsum. Von dieser Regung der menschlichen Seele spreche ich. Anderes ist bei Menschen nicht anzutreffen, da kannst du lange suchen. Nur die konkret angesprochene Konsumform wechselt. Mal sind es Dinge, mal Erlebnisse, Kulturtatsachen, Bücher, Konzepte, Geisteszustände und so weiter.«

»Das ist ja ekelhaft«, sagte ich aufrichtig.

»Verachten sollte man den Menschen aber deswegen nicht«, sprach Jehova, den Zeigefinger hebend. »Das schreib dir hinter die Ohren. Eine Kuh nur deshalb auszulachen, weil sie so ein komisches fettes Euter zwischen den Beinen baumeln hat, ist für einen Vampir nicht minder schmählich als für einen Menschen. Wir haben ihn gezüchtet, Rama, also sollten wir ihn lieben und mit ihm fühlen. So wie er ist. Außer uns tut das sowieso keiner.«

»Gut«, sagte ich. »Und wie empfehlen Sie zu reagieren, wenn einer sein Dalai-Lama-Bild aus der Brieftasche zieht?«

»Ganz einfach: Du zeigst deines, wo du mit Christus oder Buddha oder Mohammed drauf bist... Nein, nicht mit Mohammed, das wäre unklug. Da genügen Pfeile vom Bildrand her, mit der Anmerkung: Hier steht Mohammed.«

Nun wollte ich noch wissen, was das Wort Spiritualität bedeutet - da wir es schon mehrfach gebraucht hatten. Ich studierte das Thema durch Zufallsverkostung und verallgemeinerte meine Erkenntnisse in folgender Notiz:

Die dem russischen Leben nachgesagte Spiritualität bedeutet, dass kein materielles Gut, sondern Bluff die vornehmste in Russland produzierte und konsumierte Ware ist. Die Unfähigkeit, ordentlich zu bluffen, wird spirituelle Armut genannt. Das Bluffen lernt man mit zunehmender Erfahrung und zunehmendem Geld, darum gibt es hier nichts spirituell Ärmeres als einen jungen Manager.

Der Glamour-Lehrgang war umfangreich, doch wenig davon blieb mir im Bewusstsein hängen. Er enthielt zahlreiche Verkostungen; ich musste eine Unmenge sinnloser Proben zu mir nehmen, von denen eine jede den Sack Lebenserfahrung, der sich auf meinen Schultern blähte, schwerer machte. Bis heute kann ich nicht begreifen, wie ich dergleichen überhaupt runterbekam:

hirni $%


blow azz


cavalli No3


sssärr!


oppla mascha ts-ts-ts.


tschechos

Doch waren die Surftouren im trüben Nebel fremder Seelen nicht umsonst. Immer klarer nahm ich wahr, was ringsum vor sich ging. Stieß ich auf einen Zeitungsbericht über die Promenadenkonzertsaison im Schloss Archangelskoje oder über die zweite Moskauer Segelregatta auf dem Natternluch, fühlte ich mich nicht mehr klein und armselig, sondern wusste, da richten die Funktionäre des Regimes, seine neue Infanterie, die den Parteisekretären und Volkstanzensembles alter Schule den Rang abgelaufen hat, nur mal wieder ihr ideologisches Sperrfeuer gegen mich.

Gleiches betraf den Diskurs. Ich kam nun schon leichter dahinter, dass das Scharmützel zweier Intellektueller, von denen der eine als Kettenhund des Regimes auftritt und der andere ihn furchtlos von allen möglichen Seiten attackiert, dass dies keine ideologische Auseinandersetzung ist, sondern ein Duett für Mundharmonika und Konzertina, stimmungsvoller Background zur realen, aus dem Natternluch hervorirrlichtelierenden Ideologie.

»Während der Glamour, wie wir nun wissen, die Ideologie des Regimes ist«, fuhr Jehova fort, »sind die wichtigsten Künste für uns Pi-ahr, Dshi-ahr, Bi-ahr und Vieh-ahr. ... Mit einem Wort: die Werbung.«

Pi-ahr war klar, Dshi-ahr meinte wohl G. R. - government relations. Was die anderen beiden sein sollten, war ich zu faul zu fragen.

Der Werbung waren zwei Unterrichtsstunden gewidmet. Alle gängigen Theorien, die Menschen zu dem Thema entwickelt hatten, ließen wir beiseite (Jehova bezeichnete sie als Scharlatanerie), um uns mit der einen zentralen Technologie zu befassen, die in Handel, Politik und Medien gleichermaßen Anwendung findet. Ihren Ansatz definierte Jehova so: aus Fragmenten der Wahrheit (d.h. unter Vermeidung glatter Lügen) ein Bild zu schaffen, welches mit der Wirklichkeit genau so viel zu tun hat, wie es den Absatz zu steigern vermag. Das klang simpel, doch die Einlassung war wesentlich: Wenn der Bezug zur Realität keine Absatzsteigerung ermöglichte, musste man sich eben um andere Bezüge kümmern. Durch dieses Nadelöhr zogen alle Karawanen.

Unter den Beispielen, die diese Idee veranschaulichen sollten, fand sich das folgende lingualgeometrische Objekt:

Man spricht nicht darüber.


Und vergisst es doch nicht.


Das ist die Wurzel von allem.


Die Quelle, aus der wir alle kommen - du ebenso


wie jene, die du vorbehaltlich »anders« nennst.


Nicht irgendwo im Himalaya, nein, in dir drin.


Das ist real und spürbar.


Greifbar und verlässlich.


Gib zu: Das ist das Wahre.

Die Erläuterung sah so aus:

Bsp. 3: Unkonventionelle Positionierung einer analphallischen Penetration unter Einbeziehung orthogonal zum Standard-Diskurs des Sabtschäkts verlaufender Kontexte.

»Ah ja. Und wozu ein Kreuz?«, fragte ich Jehova.

Jehova schüttelte einen Tropfen klare Flüssigkeit aus dem Gläschen auf seinen Finger, leckte ihn ab und schaute eine Zeit lang versonnen in die Ferne.

»Du hast das Kleingedruckte übersehen«, sagte er dann. »Wozu ein Kreuz? - das ist der Slogan des Konzepts.«

Als Beispiel für die Anwendung der zentralen Technologie im Politbusiness musste das Projekt der regierungstreuen Jugendbewegung True Batch Nadeshda herhalten, das unter Surkow_Fedajin/built3 05 zu genießen war. Auf Resonanz in den englischsprachigen Medien abzielend, fußte es auf einem Zitat aus dem späten Nabokov, das wiederum einen frühen Okudshawa in Oberflächenübersetzung enthielt. Aus:

Nadeshda, ja wernus' togda,


Kogda trubatsch otboy sygrajet...

dt.: Nadeshda [Hoffnung], ich kehre zurück / Sobald der Hornist zum Rückzug bläst



machte Nabokov:

Nadezhda, I shall then be back


When the true batch outboys the riot...

dt.: Nadeshda [Hoffnung], ich kehre zurück / wenn die treue Gang den Mob an Kerligkeit aussticht

Die Frage »Wozu ein Hornist?«, brauchte ich hier nicht zu stellen.

Damit war der Schnellkurs in Werbung vorbei, und wir kehrten zurück zur allgemeinen Theorie des Glamours.

Heute kommt mir das Gewicht, das ich meinen Erleuchtungen damals beimaß, etwas komisch vor; es springt einen an aus jeder akkurat gepinselten Zeile meiner Kladde:

Das Bedürfnis nach wissenschaftlichem Kommunismus kommt auf wenn der Glaube, man könne den Kommunismus errichten, nachlässt; das Bedürfnis nach Glamour entsteht, wenn die natürliche sexuelle Attraktivität sich verliert.

Dieser Gedanke erfuhr übrigens nach Bekanntschaft mit den Probereihen Laufstegfleisch 05-07 und Shahidin Beelzebub ultimate (irgendein misogyner Vampir hatte sich diese Bezeichnungen für weibliche Models ausgedacht) noch eine wichtige Präzisierung:

Alles nicht so einfach. Was heißt schon natürliche sexuelle Attraktivität? Betrachtet man ein Mädchen, das als ideale Schönheit gilt, von Nahem, so sieht man Poren, Härchen, Risse. Eigentlich doch nur ein mit französischer Hautcreme eingeriebenes dummes junges Tier. Der Eindruck von Schönheit oder Hässlichkeit entsteht durch Abstand zum betrachteten Objekt, wenn die Gesichtszüge sich auf ein Schema reduzieren, das sich an die im Bewusstsein gespeicherten Vervielfältigungsschablonen anlegen lässt. Woher diese Schablonen stammen, weiß man nicht - doch lässt sich vermuten, dass es heute nicht mehr der genetisch gesteuerte Fortpflanzungsinstinkt ist, der sie bereitstellt, sondern die Glamourindustrie. ln der Robotertechnik nennt man diese Form von Ausblendung override ... Das Thema Glamour ist jedenfalls genauso unerschöpflich wie das Thema Diskurs.

Es gab komische Momente. Eine Probe tauchte, verschieden nummeriert, gleich zweimal in meinem Lehrplan auf. Ihre Kennzeichnung war Kurator Kunstprojekte Rh4. Die rote Flüssigkeit stammte von einer Dame in mittleren Jahren, die nun wirklich an eine Shahidin denken ließ. Baldur und Jehova hatten sie beide auf ihrer Liste: Ihrer Meinung nach lag das Betätigungsfeld dieser Dame exakt in der Mitte zwischen Glamour und Diskurs; eine unschätzbare Informationsquelle, so hieß es. Den Eindruck hatte ich nicht. Thema der Verkostung war die Erforschung der Innenwelt eines Künstlers von heute, doch diese Kuratorin beherrschte nicht einmal den Jargon ihres Berufsstandes, sie musste sich die nötigen Ausdrücke im Internet zusammenklauben. Dafür trat ein rührendes persönliches Detail zutage: Sie hatte nur ein einziges Mal im Leben einen Orgasmus gehabt - nämlich als ein betrunkener Liebhaber sie als Schamlaus des Kompradorenkapitals titulierte.

Ich äußerte Jehova gegenüber mein Unverständnis und durfte hören, ebendies sei das Lernziel gewesen und das Thema mithin erledigt. Was ich nicht glauben konnte. Also gab er mir noch drei weitere Künstler sowie einen Galeristen zu kosten. Dem entsprang die folgende Notiz in meinem Heft:

Der Künstler von heute ist eine Analprostituierte mit aufgemaltem Arsch und zugenähtem Mund. Der Galerist ist ein Mensch, der es fertigbringt, als ihr geistiger Strizzi zu firmieren, obwohl Geist das Letzte ist, was bei alledem eine Rolle spielt.

Schriftsteller, die wir gleichfalls im Glamourkurs behandelten, kamen kaum besser weg. Nach Einsichtnahme in die entsprechende Kollektion schrieb ich in mein Heft:

Was ist für einen Schriftsteller das Wichtigste? Ein fieses, düsteres, eiferndes, gehässiges Ego zu haben. Alles andere fügt sich.

Der Lehrplan der Abteilung Diskurs enthielt Kritiker, Experten, Kulturologen (inzwischen hatte ich heraus, was das war) verschiedenster Couleur »in Online und Print«. Eine halbstündige Exkursion durch ihr Universum erlaubte mir die folgende Regel zu erkennen und niederzuschreiben:

Die Größe einer Laus ist veränderlich; sie ergibt sich aus der Größe des Objekts, auf das sie jeweils scheißt, plus 0,2 mm.

Mein letzter Eintrag im Lehrgang Glamourdiskurs war dieser:

Antiglamour ist auf dem besten Wege, die aussichtsreichste Technik zur Beförderung des Glamours zu werden. Vermittels seiner »Bloßstellung« infiltriert der Glamour Winkel und Verliese, wo er von allein nie hingekommen wäre.

Nicht alle Verkostungen hatten einen einsichtigen Zweck. Baldur ließ mich des Öfteren in einen Menschen hineinsehen, nur damit ich ein bestimmtes spanisches Schuhmodell aus Krokodilleder kennenlernte oder eine Kollektion Eau de Cologne für den Herrn, tatsächlich aus Köln. Ein galanter englischer Wirtschaftswissenschaftler befand sich als Spezialist für teure Claretsorten im Glamourständer, darauf folgte die Bekanntschaft mit einem japanischen Modedesigner, der die besten Seidenkrawatten der Welt entwarf. (Wie sich herausstellte, hatte sein Vater am Galgen geendet.) Das alles erschien mir natürlich erst einmal als purer Kräfteverschleiß. Bis mir irgendwann aufging, dass es bei diesen Ausflügen nicht bloß um Zufluss an Information ging, sondern um eine Transformation meines gesamten Denkens.

In den mentalen Abläufen besteht nämlich zwischen Vampiren und Menschen ein gravierender Unterschied. Zwar verwenden beide die gleichen Denkfiguren. Doch von einer zur anderen bewegt sich der Vampir auf vollkommen anderen Wegen. Was bei ihm der edlen Flugbahn einer durch die Dämmerung jagenden Fledermaus gleicht, ist beim menschlichen Denken so vorhersehbar wie das Kreisen einer Stadttaube über einer verschneiten Müllkippe.

»Nur die Besten unter den Menschen können annähernd so gut denken wie Vampire«, sagte Baldur. »Sie nennen es Genialität.«

Jehovas Kommentare waren diesbezüglich zurückhaltender.

»Genialität, na, ich weiß nicht«, sagte er. »Die lässt sich weder definieren noch analysieren. Wir haben es hier mit ganz durchschaubaren Prozessen zu tun. Vampirisches Denken entsteht dort, wo die Quantität an Verkostungen umschlägt in eine neue Qualität assoziativer Verknüpfungen.«

Rein technisch gesehen, war mein Gehirn schon bereit und in der Lage, auf neue Art zu funktionieren. Doch die Trägheit der menschlichen Natur forderte ihren Tribut. Viele Dinge, die für meine Mentoren selbstverständlich waren, kapierte ich einfach nicht. Was ihnen als logische Brücke erschien, war für mich oft ein gedanklicher Abgrund.

»Glamour hat zwei wesentliche Aspekte«, hörte ich Jehova in einer der Stunden sagen. »Zum einen die brennende, unerhört peinigende Scham ob der Kümmerlichkeit der eigenen Existenz, der körperlichen Unvollkommenheit. Zum anderen die rachsüchtige Häme, die einen angesichts der unverhüllten Kümmerlichkeit eines anderen überkommt...«

»Wieso das nun wieder?«, wunderte ich mich. »Ich dachte, Glamour wäre durch Geld artikulierter Sex. Jedenfalls etwas Attraktives. Wo ist das hin?«

»Du denkst wie ein Mensch«, stellte Jehova fest. »Sag selbst: Wo ist es hin?«

Ich dachte nach. Doch mir fiel nichts ein.

»Ich weiß es nicht«, bekannte ich.

»Nichts ist von sich aus kümmerlich oder hässlich. Es braucht einen Bezugspunkt. Damit ein Mädchen merkt, dass es arm und hässlich ist, muss sie ein Boulevardmagazin aufschlagen, wo man ihr die superreiche Schönheitskönigin präsentiert. Damit sie was hat, sich zu vergleichen.«

»Und wozu muss sie das?«

»Versuch es dir selbst zu erklären.«

Ich dachte nach.

»Sie muss das, weil ...« Mit einem Mal ging mir die Vampirlogik auf. »Sie muss das, damit die, die durch diese Journale zu hässlichen Entlein werden, die Hefte mit ihren paar Kröten auch weiterhin finanzieren!«

»Gut getroffen! Aber das ist nicht die Hauptsache. Du sprichst von der Finanzierung des Glamours. Aber worin besteht sein Ziel?«

»Der Glamour kurbelt die Wirtschaft an? Weil seine Opfer Geld beschaffen müssen?«, riet ich aufs Geratewohl.

»Das wäre eine zu menschliche Logik. Du bist doch kein Ökonom, Rama, du bist Vampir. Konzentriere dich!«

Ich schwieg, mir fiel nichts mehr ein.

Jehova wartete noch ein Minütchen, bevor er die Lösung bekanntgab: »Glamour hat zum Ziel, das Leben des Menschen in einer Wolke aus Schmach und Selbstverachtung vergehen zu lassen. Ein Zustand, welcher Ursünde geheißen wird - und in den man gelangt, indem man unentwegt Bilder von Schönheit, Erfolg und intellektueller Brillanz konsumiert. Glamour und Diskurs versenken ihre Konsumenten in Elend, Kümmerlichkeit und Idiotie. Alles Eigenschaften, die relativ sind. Doch die Leiden, die sie hervorrufen, sind echt. Im Erleben von Schmach und Armseligkeit geht ein Menschenleben dahin.«

»Und wozu ist die Ursünde gut?«

»Um das Denken des Menschen in einen Rahmen zu pressen. Seinen wahren Platz in der Symphonie von Mensch und Vampir vor ihm zu verhüllen.«

Ich konnte mir denken, dass das Wort Symphonie hier etwas wie Symbiose meinte. Trotzdem trat mir ein großes Orchester vor Augen mit Jehova am Dirigentenpult, in schwarzem Frack und mit blutverschmiertem Mund ...

»Dass Glamour eine Maskerade ist, sehe ich noch ein«, teilte ich meine Überlegungen mit. »Aber wieso lässt sich dasselbe vom Diskurs behaupten?«

Jehova schloss die Augen und sah nun aus wie Jedi-Meister Yoda.

»Im Mittelalter hat keiner etwas von Amerika geahnt«, sagte er. »Es musste nicht getarnt werden, weil keiner auf die Idee kam, danach zu suchen. Das ist die allerbeste Tarnung. Wenn wir irgendein Objekt vor den Menschen verstecken wollen, müssen wir nur dafür sorgen, dass keiner daran denkt. Zu diesem Zweck müssen wir das menschliche Denken beaufsichtigen, den Diskurs kontrollieren. Die Diskurshoheit besitzt, wer die Grenzen vorgibt. Sind die Grenzen erst einmal gezogen, kann man dahinter eine ganze Welt verbergen. In der befindest du dich jetzt. Gib zu, dass die Welt der Vampire nicht übel maskiert ist.«

Ich nickte.

»Außerdem«, fuhr Jehova fort, »betreibt der Diskurs auch Tarnung durch Magie. Ein Beispiel. Kein Mensch wird bestreiten, dass viel böses Unheil in der Welt ist, oder?«

»Wohl kaum.«

»Aber wo genau das Böse seine Quelle hat, darüber streiten die Zeitungen tagtäglich! Das ist eines der großen Phänomene dieser Welt, denn eigentlich müsste der Mensch in der Lage sein, das Böse seiner Natur nach zu erfassen, er hat einen Instinkt dafür, der keine Erläuterungen braucht. Dass ihm das Böse trotzdem unbegreiflich vorkommt, ist ein faustdicker magischer Akt.«

»Stimmt«, sagte ich düster. »Da ist was dran.«

»Der Diskurs ist wie ein Stacheldraht, der unter Strom steht. Nicht der Körper kriegt bei Berührung den Schlag, sondern der Geist. Der Diskurs trennt das Territorium, das man nicht betreten darf, von dem, das man nicht verlassen darf.«

»Und was ist das für ein Territorium, das man nicht verlassen darf?«

»Na, was schon. Der Glamour! Schlag ein beliebiges Hochglanzmagazin auf und schau hin. In der Mitte Glamour, und an den Rändern Diskurs. Oder umgekehrt. Der Glamour ist entweder von Diskurs umgeben oder von gar nichts, und für den Menschen gibt es kein Entrinnen: Wo nichts ist, kann er sich nur langweilen, und im Diskurs bleibt er stecken. Muss er eben den Glamour breittreten.«

»Und was bringt das?«

»Der Glamour hat noch eine weitere Funktion, über die wir noch nicht gesprochen haben«, erwiderte Jehova. »Für Vampire ist es die allerwichtigste. Aber darüber zu reden wäre noch zu früh. Davon erfährst du nach dem Großen Sündenfall.«

»Aha. Und wann passiert der?«

Schweigen war die Antwort.

So verwandelte ich mich Schritt für Schritt, Schluck für Schluck in einen kulturell avancierten Metrosexuellen - bereit, in das Herz der Finsternis abzutauchen.

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