Die Salbe, die Enlil Maratowitsch dagelassen hatte, wirkte unerhört schnell - am nächsten Morgen waren die Blutergüsse um meine Augen tatsächlich verschwunden, so als hätte ich sie mir wie Schminke aus dem Gesicht gewaschen. Nun sah ich, von den zwei Zahnlücken abgesehen, wieder aus wie vorher, was meine Stimmung deutlich aufhellte. Die Zähne wuchsen - sie juckten die ganze Zeit. Auch das Krächzen hatte aufgehört, die Stimme war die alte. Ich nahm die angeratene Dosis Kalzium und beschloss meine Mutter anzurufen.
Ihre erste Frage war, wo ich gerade auf der Schnauze liege. Das war ihr Lieblingsscherz, dem man entnehmen durfte, dass sie beim Kognak saß und in gnädiger Stimmung war. Auf diese Frage folgte unweigerlich eine zweite: »Aber dass du, wenn du so weitermachst, früher oder später tatsächlich auf der Strecke bleibst, weißt du?«
Ich ließ sie die Frage erst noch stellen, log ihr dann etwas vor von einem Klassentreffen und einer Datscha ohne Telefon und gab bekannt, ich hätte jetzt eine Wohnung gemietet und käme demnächst meine Sachen holen. Drogenabhängige werden nicht älter als dreißig, verkündete Mama trocken und legte auf.
Die Familienfrage war geklärt.
Dann rief Mitra an.
» Schläfst du noch ?«, fragte er.
»Nein, nein«, sagte ich, »ich bin schon auf.«
»Enlil Maratowitsch ist von dir angetan«, verkündete er. »Deine erste Prüfung hast du sozusagen schon mal bestanden.«
»Er sagte, heute kämen irgendwelche Lehrer.«
»Richtig. Gib dir Mühe und denk an nichts anderes. Ein guter Vampir wird nur, wer den Rahm abschöpft von dem, was der denkende Teil der Menschheit geleistet hat.«
Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte es an der Tür. Ich schaute durch den Spion und sah zwei schwarz gekleidete Männer. Auch die Hebammenköfferchen in ihren Händen waren schwarz.
»Wer ist da?«, fragte ich.
»Baldur«, sprach eine tiefe, satte Stimme.
»Jehova«, sprach eine andere, die dünner und höher war.
Ich öffnete.
So wie die beiden vor mir standen, erinnerten sie an irgendwelche mittleren Staatssicherheitskader im Ruhestand: rosige, rüstige alte Männer, die anständige Westautos fahren, gute Wohnungen in irgendeiner der Schlafstädte haben und immer wieder einmal auf einer Datscha vor den Toren von Moskau Zusammenkommen, um beim Saufen und Dominospielen die Sau rauszulassen. Nur der Glanz ihrer Augen weckte in mir den Verdacht, das prollige Aussehen könnte Tarnung sein.
Noch eine Merkwürdigkeit hatte das Pärchen an sich, die ich unterschwellig wahrnahm, ohne genau sagen zu können, worin sie bestand; erst als sie dann einzeln erschienen, kam ich dahinter. Sie ähnelten einander sehr und waren zugleich grundverschieden. Sah man sie zusammen, überwogen die Unterschiede. Doch wenn ich sie einzeln traf, kam es vor, dass ich sie, trotz ungleicher Größe und nicht sehr ähnlichen Gesichtern, verwechselte.
Baldur war mein Lehrer in Glamour, Jehova unterrichtete
Diskurs. Der komplette Lehrgang in beiden Fächern dauerte drei Wochen. Wobei der Stoff, den ich mir in dieser Zeit anzueignen hatte, dem Umfang nach einem Universitätsstudium gleichkam mit nachfolgendem Magisteraufbaustudiengang plus Doktorat.
Ich gebe zu, ich war zu dem Zeitpunkt ein zwar aufgeweckter, doch reichlich ungebildeter junger Mann und wusste bei vielen Wörtern nicht recht, was sie bedeuteten. Die Termini Glamour und Diskurs zum Beispiel hatte ich schon des Öfteren gehört; Diskurs war etwas Kluges und Unverständliches, Glamour etwas Schickes und Teures, das war meine Vorstellung davon. Außerdem klangen für mich beide wie die Namen gewisser Kartenspiele im Knast. Was gar nicht einmal so fern der Wahrheit war, wie sich zeigen sollte.
Als das Ritual der gegenseitigen Vorstellung absolviert war, sagte Baldur: »Glamour und Diskurs sind die zwei wesentlichen Künste, die ein Vampir in Vollendung beherrschen sollte. Ihre Quintessenz ist zum einen Tarnung, zum anderen Kontrolle. Und was sich daraus ableitet, ist Macht. Verstehst du dich zu maskieren? Vermagst du Kontrolle auszuüben? Macht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann bringen wir es dir bei.«
Baldur und Jehova machten es sich auf Stühlen in zwei gegenüberliegenden Ecken des Arbeitszimmers bequem. Mich platzierten sie auf dem roten Sofa - das, auf dem sich Brahma erschossen hatte. Kein verheißungsvoller Anfang, wie ich fand.
»Heute werden wir dich parallel unterrichten«, begann Jehova. »Weißt du warum?«
»Weil Glamour und Diskurs im Grunde ein und dasselbe ist!«, gab Baldur die Antwort.
»Jawohl«, stimmte Jehova zu. »Es sind die zwei Säulen der modernen Kultur, die hoch über unseren Köpfen in einem Bogen zueinanderfinden.«
Sie schwiegen erwartungsvoll, was ich darauf sagen würde.
»Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht recht, wovon Sie reden«, gab ich zu. »Ein und dasselbe, schön und gut, und warum dann zwei verschiedene Wörter?«
»Sie sind verschieden nur auf den ersten Blick«, sagte Jehova.
»Das Wort Glamour geht auf das Schottische zurück und bedeutet dort so viel wie Zauberei. Da ist es wiederum von grammar abgeleitet und dieses von grammatica. Damit bezeichnete man im Mittelalter verschiedene Formen von Gelehrsamkeit, darunter auch okkulte Praktiken, die mit Schriftkundigkeit assoziiert wurden. Womit wir schon fast beim Diskursbegriff angelangt wären.«
Das fand ich nun doch interessant.
»Und wo kommt dann das Wort Diskurs her?«
»Im Mittellatein gab es den Begriff discursus - das hieß: zappeln, hin- und herrennen. Betrachten wir die Etymologie jedoch genauer, so haben wir das Verb discurrere, wobei currere rennen bedeutet und dis- eine Vorsilbe der Negation ist. Diskurs hieße demnach: Rennen verboten! Damit keiner auf Fluchtgedanken kommt.«
»Flucht wovor?«
»Wenn du das verstehen willst, sollten wir besser bei A anfangen«, sagte Baldur. Er beugte sich zu seinem Köfferchen hinunter und zog eine bunte Illustrierte hervor. Schlug sie in der Mitte auf und drehte sie zu mir herum.
»Was du auf diesen Photos siehst, ist Glamour. Die Textblöcke dazwischen sind Diskurs. So weit, so klar?«
Ich nickte.
»Man könnte es anders formulieren«, sagte Baldur. »Alles, was der Mensch sagt, ist Diskurs ...«
»... und wie er dabei aussieht, ist Glamour«, ergänzte Jehova.
»Aber dieses Postulat taugt allenfalls als Ausgangspunkt ...«, sagte Baldur.
»... weil die Bedeutung der beiden Begriffe in Wirklichkeit weit darüber hinausgeht«, beendete Jehova den Satz.
Allmählich bekam ich den Eindruck, vor einer Stereoanlage zu sitzen, bei der zwei zackige Vampire als Lautsprecherboxen dienen. Und was ich da hörte, stammte eindeutig aus der Schublade Psychedelics der Sixties - damals mochten es die Rock-Avantgardisten, den Sound so zu zersägen, dass der Konsument den Stereoeffekt in vollem Umfang genießen konnte.
»Glamour ist Sex, der sich durch Geld artikuliert«, sprach die linke Box. »Oder wenn man so will: Geld, das durch Sex artikuliert wird.«
»Und Diskurs ist sublimierter Glamour«, konterte die rechte Box. »Kannst du mit dem Begriff Sublimation etwas anfangen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann sagen wir besser so«, nahm die linke Box den Faden auf: »Diskurs ist ein Mangel an Sex, ausgedrückt durch fehlendes Geld.«
»Im Extremfall kann der Sex in der Glamourgleichung auch außerhalb der Klammer stehen«, gab die rechte Box von sich. »Geld, artikuliert durch Sex, lässt sich darstellen als durch durch Geld artikulierten Sex artikuliertes Geld. Also letztlich durch Geld artikuliertes Geld. Gleiches betrifft den Diskurs, nur mit einer Korrektur ins Imaginäre.«
»Diskurs ist ein schillerndes Spiel unbewusster Inhalte, die der Glamour hervorbringt, während er im blanken Neid auf kleiner Flamme vor sich hinköchelt«, sprach die linke Box.
»Glamour«, sprach die rechte, »ist ein schillerndes Spiel gegenstandsloser Bilder, die der Diskurs hervorbringt, während er im Feuer sexueller Erregung verdampft.«
»Glamour und Diskurs verhalten sich zueinander wie Yin und Yang«, sprach die linke.
»Der Diskurs umrahmt den Glamour, ist für ihn eine edle Verpackung«, erklärte die rechte.
»Der Glamour verleiht dem Diskurs Vitalität, bewahrt ihn vor der Austrocknung«, wusste die linke zu ergänzen.
»Betrachte den Glamour am besten als Diskurs des Körpers ...«, sprach die rechte.
»... und den Diskurs als Glamour des Geistes«, gab die linke zurück.
»An der Schnittstelle dieser Begriffe entsteht die ganze moderne Kultur«, sprach die rechte.
»Als dialektische Einheit von glamourösem Diskurs und diskursivem Glamour!«, setzte die linke darauf.
Baldur und Jehova sprachen die Wörter Glamour und Diskurs profimäßig englisch aus, Betonung auf der ersten Silbe, was für sich genommen schon Respekt einflößte und dazu führte, dass man ihren Ausführungen traute - aber nicht verhindern konnte, dass ich sehr bald einschlief.
Meine Lehrer zogen es vor, mich nicht zu wecken. Wie sie mir hinterher erklärten, eignet man sich das Material im Schlaf viermal schneller an, weil störende mentale Prozesse ausgeschaltet sind. Als ich aufwachte, waren Stunden vergangen. Jehova und Baldur sahen erschöpft, aber zufrieden aus. Ich hatte keine Erinnerung an das, was in der Zeit geschehen war.
Die nachfolgenden Unterrichtsstunden liefen allerdings vollkommen anders ab.
Gesprochen wurde kaum - nur ganz selten bekam ich von den Lehrern etwas diktiert. Zu Beginn jeder Unterrichtseinheit packten sie Plastikgestelle auf den Tisch, von denen eins wie das andere aussah, nämlich wie zur Ausrüstung eines DNA-Testlabors gehörig. In den Gestellen waren kurze Reagenzgläschen mit schwarzen Gummistöpseln aufgereiht. In jedem befand sich eine geringe Menge transparenter Flüssigkeit; an die länglichen Stöpsel waren Papierstreifen mit Nummern und Buchstaben geklebt.
Präparate!
Der Unterricht folgte einer einfachen Methode. Ich ließ mir jeweils zwei, drei Tropfen aus einem Gläschen auf die Zunge rinnen und schluckte sie mit einer klaren, leicht bitteren Flüssigkeit, die Fixierer genannt wurde. Daraufhin erstanden in meinem Gedächtnis ganze Massive zuvor nicht vorhandenen Wissens - ein geistiges Polarglühen, Informationsleuchtfeuer. Das war nicht anders als bei meiner allerersten Verkostung - nur mit dem Unterschied, dass dieses Wissen sich nicht wieder verflüchtigte, wenn die Wirkung des Präparats abklang. Zu verdanken war dies dem Fixierer, einer komplizierten, auf die Gehirnchemie Einfluss nehmenden Substanz. Bei Anwendung über einen längeren Zeitraum war er gesundheitsschädlich, darum musste der Unterricht so kurz wie möglich sein.
Die zu verkostenden Präparate waren Cocktails - raffinierte Kombinationen aus der roten Flüssigkeit einer Vielzahl von Leuten, deren Schatten sich in meiner Wahrnehmung übereinanderlegten und einen schemenhaften Chor zum jeweiligen Thema ergaben. Neben dem reinen Wissensstoff wurde ich auch mit Details ihrer Biographie abgefüllt, die oftmals lästig und öde waren. Die gelüfteten Geheimnisse weckten keine Neugier in mir, im Gegenteil.
Mit der Art und Weise, wie ein normaler Student ein Kapitel aus einem Buch oder eine Vorlesungsmitschrift paukt, hatte die Form des Wissenserwerbs aus den Präparaten nicht viel zu tun. Die Quelle, aus der ich mich versorgte, glich einem Endlosfernsehprogramm, wo Schulsendungen sich abwechseln mit Seifenopern, Familienphotoalben und schlechten Amateurpornos. Wenn man sich andererseits vor Augen hielt, dass ein normaler Student die nützliche Information von sich aus ganz ähnlich garniert, durfte meine Ausbildung als vollwertig gelten.
Eigentlich machte das geschluckte Wissen mich nicht klüger. Doch wenn ich nun über irgendetwas nachdachte, kamen die neuen Informationen unversehens aus dem Gedächtnis gesprungen, die Gedanken gingen andere Wege, trugen mich an Orte, die ich mir tags zuvor nicht hätte vorstellen können. Am besten scheint mir diese Erfahrung durch ein altes sowjetisches Lied wiedergegeben, das ich in der Blüte meiner Jugend gehört hatte (darin seien Breschnews Memoiren vertont, hatte Mama damals gewitzelt):
Heute will ich vor der Sonne
aufstehn,
Über weite Stoppelfelder
laufen ...
Mein Gedächtnis spielt mir böse
Streiche:
Alles, was nicht mir passiert ist,
weiß ich ...
Zuerst wurde mir himmelangst dabei. Begriffe, von Kindesbeinen an vertraut, erblühten in völlig neuen Bedeutungen, die ich nicht gekannt und über die ich nie nachgedacht hatte. Es geschah ganz plötzlich - wie jene Kettenreaktionen im Bewusstsein, wenn ein zufälliges Erlebnis einen vergessenen Traum aus dem Gedächtnis heraufholt, der alles um einen her in anderem Licht erscheinen lässt. Soviel ich wusste, waren die Symptome der Schizophrenie auch nicht viel anders.
Doch da die Welt von Tag zu Tag interessanter wurde, verlor ich schon bald alle Furcht, begann die Veränderungen gar zu genießen.
Einmal fuhr ich beispielsweise mit dem Taxi die Warschawskoje entlang und sah an einer Fassade zwei Bären prangen mit dem Schriftband Einiges Russland darüber. Und augenblicklich kam mir in den Sinn, dass das russische Wort für Bär - medwed - nicht immer sein richtiger Name war, sondern ursprünglich nur eine Umschreibung mit der Bedeutung: der den Honig isst. Die alten Slawen nannten ihn so, weil sie fürchteten, er könnte sich eingeladen fühlen, wenn man ihn bei seinem wahren Namen nennt. Aber wie lautet dieser Name? fragte ich mich und wusste im selben Moment die Antwort: Ich entnahm sie dem russischen Wort für Bärenhöhle, berloga - der Ort, wo ... der Bär liegt. Bär! Genau wie die weniger abergläubischen Deutschen und Engländer dieses Tier nennen. Und wieder verknüpfte mein Gedächtnis das Wort schlagartig mit einer ihm innewohnenden Erklärung: Bär bärjot. Heißt: Der Bär hat ein »einnehmendes« Wesen ...
Diese Gedankenkette spulte sich in Blitzesschnelle ab, und als das Ergebnis vorlag, die jäh aufscheinende Wahrheit hinter dem neuen Emblem der siegreichen Bürokratie, hatte das Taxi die Fassade mit den Bären noch nicht passiert. Ich musste lachen. (Der Fahrer, im Glauben, meine Fröhlichkeit hätte dem Lied im Radio gegolten, drehte es lauter.)
Das Hauptproblem, vor dem ich anfangs stand, war, im Wust der Wörter nicht die Orientierung zu verlieren. Solange das Bewusstsein die Dinge nicht scharfgestellt hatte, konnte ich mich auf groteskeste Weise im Bedeutungswirrwarr verirren. Tenderness war ein mit der Eisenbahn trampendes Sommerloch-Ungeheuer, xenophob sein hieß, Xenia Sobtschak nicht zu mögen, ein Patriarch war ein patriotischer
Oligarch, eine Primadonna, obschon von Adel, stank nach Priem, enfant terrible hörte ich als: Aller Anfang ist schrecklich schwer. Am durchschlagendsten aber war meine Erkenntnis, Petrograd könnte nicht von Peter dem Großen abgeleitet sein, sondern von petrol. Hoch lebe das Ölgeschäft! Nach dieser Auslegung wäre Petrodworez ein passender Name für jedes Nobelbüro der Branche, und die berüchtigte Prophetie eines Dichters am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Und Petersburg ward Petrograd nun
In Stunden, die man nie vergisst...
könnten in Wirklichkeit den G8-Gipfel neunzig Jahre später gemeint haben.
Besonders an fremden Wörtern wucherten die Bedeutungen. Den Namen Gore Vidal konnte ich nicht lesen, ohne ihn sofort kyrillisch transkripiert zu sehen, und dann stand da: Viel Leids Gesehen ... Kein Name für einen amerikanischen Erfolgsschriftsteller, sondern einer, der nach roher Zwiebel und Gorkis Universitäten roch. Das Gleiche bei Gay Pride: Da ich nun wie selbstverständlich wusste, das pride im Englischen auch ein Löwenrudel ist, stand mir, noch bevor ich die eigentliche Bedeutung des Ausdrucks realisiert hatte, ein schwules Idyll in der afrikanischen Savanne vor Augen: Zwei Old Boys mit Hängeschnauzern lagen Seit an Seit unter einem dürren Baum im verbrannten Gras, spannten in die Runde und ließen ihre Muskelpakete spielen; ein properer Jungmann führte seinen Trizeps im Schatten eines Affenbrotbaums vor, umringt von sich kugelnden Welpen, die ihn belästigten mit ihrem Gejuchze und Getue, sodass der Knabe sie ab und zu mit einem leisen Knurren zurechtwies ...
Kurzum: Ein Zuviel an Information konnte einem genauso zu schaffen machen wie Unwissenheit.
Ich machte rasante Fortschritte, ohne mich sonderlich anstrengen zu müssen, büßte jedoch zugleich meine innerliche Bewegungsfreiheit ein. Jehova hatte mich gewarnt: Der Unterricht würde mich älter machen. Denn das reale Alter eines Menschen richtet sich nach dem, was er alles hinter sich hat. Dafür, dass ich mir fremdes Wissen unter den Nagel riss, bezahlte ich mit meiner Unerfahrenheit, die ja nichts anderes ist als Jugend. Vorläufig bekümmerte mich das jedoch nicht weiter, da mir die diesbezüglichen Währungsreserven unerschöpflich schienen. Indem ich mich ihrer entledigte, hatte ich das Gefühl, Ballast abzuwerfen, und ein unsichtbarer Ballon zöge mich in den Himmel hinan.
Der Diskursunterricht würde mir das verborgene Wesen der modernen Philosophie eröffnen, versicherten Baldur und Jehova. Einen wesentlichen Raum im Lehrplan nahmen Fragen der menschlichen Moral ein, Begriffe von Gut und Böse. Wobei wir uns ihnen nicht von außen her näherten, nicht über das Studium dessen, was die betreffenden Leute gesagt und geschrieben hatten, sondern durch Kenntnisnahme ihrer intimsten Gedanken und Gefühle. Überflüssig zu sagen, dass dies meinen Glauben an die Menschheit schwer erschütterte.
Beim Betrachten diverser Geistesgrößen fiel mir eine interessante Gemeinsamkeit auf. Jeder dieser Menschen trug eine Art moralische Schiedsstelle mit sich herum, die der Verstand in aller Aufrichtigkeit anrief, wenn wieder einmal irgendeine Schurkerei zu begehen anstand. Diese Instanz hatte regelmäßige Aussetzer - und ich verstand, warum dem so war. Hier der betreffende Eintrag in meinem Heft:
Die Menschen haben schon immer geglaubt, dass das Böse in der Welt triumphiert und das Gute erst nach dem Tode vergolten wird. So entstand eine Art Balance zwischen Himmel und Erde. Diese Balance ist in unserer Zeit gestört. Die himmlische Belohnung erscheint heutzutage nur noch absurd. Der Triumph des Bösen in der irdischen Welt bleibt jedoch bestehen. Darum muss jeder normale Mensch, der nach dem Positiven auf Erden sucht, unweigerlich zum Parteigänger des Bösen werden: Das ist so logisch wie der Eintritt in eine alleinherrschende Partei. Das Böse, auf dessen Seite der Mensch sich schlägt, steckt nur in seinem Kopf und nirgends sonst. Wenn aber nun alle Menschen insgeheim zum Bösen konvertieren, das einzig und allein in ihren Köpfen besteht - was braucht das Böse dann noch, um zu triumphieren?
Das Verständnis von Gut und Böse berührte unmittelbar Fragen der Religion. Was ich darüber in den Religionsstunden erfuhr (Religion als »Regionalkult«, wie Jehova sich auszudrücken beliebte), fand ich doch sehr verblüffend. Wie den Proben der Reihe Gnosis+ zu entnehmen war, wurde kurz nach Entstehung des Christentums der Gott des Alten Testaments in neuer Doktrin als Teufel angesehen. Später dann, in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, als es galt, den römischen Staat zu befestigen, wurden Gott und Teufel politisch korrekt zu einem Anbetungsgegenstand vereinigt, dem zu huldigen ein rechtgläubiger Patriot des untergehenden Abendlandes nicht umhin konnte. Die Quellentexte wurden sortiert, abgeschrieben und dabei sorgfältig im neuen Geist redigiert, alles Übrige verbrannt, wie es sich gehört.
Dazu schrieb ich das Folgende in mein Heft:
Jedes Volk (im Grunde jeder einzelne Mensch) sollte sich seine Religion tunlichst selbst erarbeiten, anstatt die alten, abgetragenen Klamotten zu übernehmen, in denen es von fremden Flöhen wimmelt ... Daher rühren alle Krankheiten! Völker, die heutzutage auf dem Vormarsch sind - Indien, China usw. -, importieren lediglich Technologie und Kapital, die Religion bleibt hausgemacht. Ein jedes Mitglied dieser Gesellschaften darf sich sicher sein, die eigenen Kakerlaken anzubeten und nicht irgendwelche untergeschobenen, nachträglich frisierten, womöglich nur falsch ab geschriebenen oder übersetzten. Bei uns hingegen ... Eine Handvoll Texte zum Fundament der nationalen Weltanschauung zu machen, von denen man nicht weiß, wer sie wo wann geschrieben hat - das ist, als hätte man auf einem Strategiecomputer eine geklaute Version von Windows 95 in türkischer Sprache installiert: ohne Updatemöglichkeit, mit Sicherheitslücken, Würmern und Viren en masse und einer von unbekannter Künstlerhand umgemodelten dynamischen Bibliothek *.dll, weshalb sich das System alle zwei Minuten aufhängt. Die Menschen bräuchten eine offene Architektur des Geistes: open source. Doch die Judäochristen sind schlau. Jeder, der solch eine Architektur vorschlägt, ist der Antichrist, ln einer fernen Zukunft hocken und mit einem gefakten Hintern fäkalieren, der noch in der fernen Vergangenheit hängt - das ist das eindrücklichste aller Wunder des Judäochristentums.
Einige dieser Sentenzen mögen etwas sehr anmaßend für einen Vampir am Anfang seiner Laufbahn erscheinen. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass Begriffe und Ideen dieser Art mir schon immer recht wenig bedeutet haben.
Den Diskurs eignete ich mir spielend an, auch wenn er
mich in eine misanthropische Stimmung versetzte. Hingegen hatte ich mit dem Glamour von Beginn an meine Schwierigkeiten. Das meiste kapierte ich noch irgendwie - bis zu dem Moment, wo Baldur sagte: »Manche Experten sind der Meinung, es gäbe in der modernen Gesellschaft keine Ideologie, nur weil sie als solche nicht ausformuliert ist. Aber das ist ein Irrtum. Die Ideologie der anonymen Diktatur ist der Glamour. «
Ich sah eine Woge lähmender Stumpfheit über mich kommen.
»Und der Glamour in einer anonymen Diktatur ist was?«
»Rama«, sagte Baldur missmutig, »das haben wir doch schon in der ersten Lektion durchgenommen. Der Glamour der anonymen Diktatur ist ihr Diskurs.«
In Baldurs und Jehovas Worten klang das alles sehr eingängig und glatt. Der Vorstellung aber, Photos von halbnackten Weibern mit Brillanten an den Silikontitten könnten die Ideologie eines Regimes ausmachen, mochte ich beim besten Willen nicht folgen.
Zum Glück gab es eine effektive Methode, Fragen dieser Art zu klären. Hatte ich in Baldurs Ausführungen etwas nicht verstanden, fragte ich in der nächsten Stunde Jehova danach und bekam eine alternative Erläuterung nachgereicht. Und war etwas an Jehovas Darlegungen unklar, konnte ich Baldur fragen. Am Ende bewegte ich mich wie ein Bergsteiger, der, die Füße links und rechts gegen die Wände stemmend, einen Kamin hinaufläuft.
»Wieso meint Baldur, Glamour wäre eine Ideologie?«, fragte ich bei Jehova nach.
»Eine Ideologie beschreibt einen nicht ersichtlichen Zweck, der die ersichtlichen Mittel heiligt«, erwiderte er. »Den Glamour darf man als Ideologie betrachten, da er eine Antwort ist auf die Frage: Wozu war das alles nötig?«
»Was alles?«
»Nimm ein Geschichtsbuch zur Hand und lies das Inhaltsverzeichnis.«
Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon Termini und Konzepte in ausreichender Zahl geschluckt, um das Gespräch auf passablem Niveau fortführen zu können.
»Wie ließe sich dann das zentrale Ideologen! des Glamours formulieren?«, fragte ich.
»Ganz einfach«, sagte Jehova. »Verkleidung!«
»Verkleidung?«
»Jawohl. Wenn man den Begriff etwas weiter fasst. Verkleidung meint auch den Umzug von der Kaschirka auf die Rubljowka und von da nach London, die Verpflanzung der Haut vom Gesäß ins Gesicht, den Geschlechtswandel und alles so etwas. Auch der ganze zeitgenössische Diskurs lässt sich als Verkleidung sehen - beziehungsweise als permanente Neuverpackung der paar Themen, die für die öffentliche Diskussion zugelassen sind. Darum sprechen wir davon, dass der Diskurs eine Spielart des Glamours ist, und ebenso umgekehrt. Kapiert?«
»Klingt nicht gerade romantisch«, sagte ich.
»Was dachtest denn du?«
»Ich dachte, Glamour verheißt Wunder. Sie sprachen selbst von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: Zauberei. Ist es nicht das, was man sich davon verspricht?«
»Glamour verheißt Wunder, so ist es«, sagte Jehova. »Und diese Verheißung maskiert den Umstand, dass das Leben ganz ohne Wunder vonstatten geht. Verkleidung und Maskerade sind mehr als nur Technologie, sie sind der einzige reale Inhalt - von Glamour ebenso wie von Diskurs.«
»Glamour kann die Verheißung des Wunders also unter keinen Umständen einlösen?«
Jehova dachte einen Moment nach.
»Doch, unter Umständen schon.«
»Welchen?«
»Na, zum Beispiel in der Literatur.«
Das erstaunte mich. Literatur hätte ich für die unglamouröseste Veranstaltung gehalten, die man sich vorstellen konnte. Und Wunder hatten dort, soviel ich wusste, schon seit Jahren nicht mehr stattgefunden.
»Der Schriftsteller von heute«, erklärte Jehova, »wenn er einen neuen Roman abschließt, verbringt ein paar Tage über einem Packen Hochglanzjournale und platziert in seinem Text eine Anzahl teurer Auto- und Krawattenmarken sowie Restaurants, was dem Buch einen gewissen High-Budget-Abglanz verleiht.«
Ich erzählte Baldur davon und sagte: »Jehova sieht darin ein Beispiel für ein Glamourwunder. Was ist daran wunderbar? Das ist doch eine triviale Maskerade.«
»Du hast noch nicht verstanden«, sagte Baldur. »Das Wunder vollzieht sich nicht am Text, sondern am Autor. Anstelle des Ingenieurs der menschlichen Seelen haben wir nun einen zum Nulltarif arbeitenden Werbeagenten.«
So ließ sich, dank der Methode wechselseitiger Befragung, beinahe jedes Problem klären. Nur manchmal führte sie zu noch größerer Konfusion. Einmal bat ich Jehova um eine Erläuterung des Begriffs Expertise, dem ich beinahe täglich im Internet begegnete, meist im Zusammenhang mit einem sogenannten Sachverständigenrat.
»Eine Expertise ist ein Gutachten. Genauer gesagt: ein Format neurolinguistischer Programmierung, das der anonymen Diktatur zu Diensten ist«, schnarrte Jehova seine Definition herunter.
»Na-a-a-ja«, brummte Baldur, als ich ihn um einen Kommentar dazu anging. »Klingt gut. Nur dass sich im realen Leben kaum unterscheiden lässt, wer wem die Füße küsst: das Gutachten der Diktatur oder die Diktatur dem Gutachter. «
»Wieso das?«
»Weil die Diktatur, selbst wenn sie anonym ist, konkretes Geld auf den Tisch legen muss. Und das einzige greifbare Ergebnis, das die neurolinguistische Programmierung bringt, ist das Honorar für den NLP-Coach.«
Am nächsten Tag bereute ich es bitter, die Frage nach den Expertisen gestellt zu haben. Jehova brachte ein komplett gefülltes Gestell der Kennung Sachverst.rat No. 1-18 mit zum Unterricht. Ich musste alle Proben verkosten. Hier der Eintrag, den ich in einer Pause zwischen den Gaben verfasste:
Jeder moderne Intellektuelle, der sein Gutachten auf dem Markt verkauft, tut zweierlei: Er sendet Zeichen, und er prostituiert Inhalte, ln Wirklichkeit sind dies zwei Aspekte eines einzigen Willensaktes, der die Tätigkeit eines modernen Philosophen, Kulturwissenschaftlers, »Sachverständigen« zur Gänze beschreibt: Die gesendeten Zeichen künden von der Bereitschaft, Inhalte zu prostituieren, und die Prostitution von Inhalten ist überhaupt erst der Weg, Zeichen auszusenden. Der Intellektuelle von heute kennt oft nicht einmal seinen potenziellen Auftraggeber. Er ist wie ein Blümelein, das auf dem Gehweg wächst und von dem man nicht weiß, wo seine Wurzeln die Säfte hernehmen, und der Blütenstaub weht über den Bildschirmrand hinaus. Mit dem Unterschied, dass ein Blümelein nicht denkt, während der Intellektuelle von heute annimmt, die Säfte gelangten zu ihm im Austausch gegen Blütenstaub, und komplizierte, schizophrene Kalkulationen darüber anstellt, wie beides korrekt gegeneinander aufzurechnen wäre. Diese Kalkulationen sind die wahren Wurzeln des Diskurses: Zottig, grau und feucht liegen sie in finsterer Pestilenz.
Ein paar Tage später wusste ich dann schon mit dem Wort Kulturologe etwas anzufangen. Auch hier hatte ich zunächst falsch gelegen, was seine Bedeutung anging, und auf einen Mediziner getippt, der durch eingehende Studien des menschlichen urogenitalen Systems Kultstatus erlangte und mithin das Recht, auch zu geistigen Fragen gehört zu werden. Was mir nicht verwunderlich vorkam: Hatte es doch auch Professor Sacharow als Erfinder der Wasserstoffbombe zu humanitärer Autorität gebracht.
Kurz, in meinem Kopf ging so einiges durcheinander. Aber ich fand das nicht weiter tragisch - früher hatte sich dort überhaupt nichts bewegt.
Mit dem Glamour wurde es immer schwieriger und undurchschaubarer (ungefähr wie früher in der Schule mit der organischen Chemie). Manchmal kam ich mir vor wie ein totaler Flachkopf. Zum Beispiel konnte ich lange nichts mit dem Ausdruck vamposexuell anfangen - und das war ein Schlüsselbegriff in diesem Lehrgang. Baldur riet mir, ihn in Analogie zum Wort metrosexuell zu verstehen - und ich war gelinde erschüttert, als ich erfuhr, dass dieses gar nicht die Vorliebe für Sex in der Untergrundbahn meinte.
Baldur erläuterte mir den Sinn des Wortes so: »Metrosexuell ist einer, der wie ein Schwuler herumläuft, ohne schwul zu sein. Das heißt, er könnte auch schwul sein, muss es aber nicht...«
Das klang einigermaßen verzwickt, und ich bat Jehova um nähere Erläuterungen.
»Metrosexualität«, erfuhr ich von ihm, »ist nur eine neuere Verpackung von Geltungskonsum.«
»Hä?«, machte ich, entsann mich jedoch im selben Moment der Information aus einem kürzlich konsumierten Präparat. »Ach so, ich weiß: conspicuous consumption. Der Terminus wurde von Thorstein Veblen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eingeführt...«
Ich konnte die nächste Glamour-Stunde kaum erwarten, um Baldur diese Erkenntnis unter die Nase zu reiben.
»Mit was Jehova dir nur immer das Gehirn verkleistert?«, brummelte der missmutig. »Geltungskonsum. Damit kannst du vielleicht im Westen was beweisen. Bei uns in Russland musst du die Dinge beim Namen nennen. Ich habe dir doch schon erklärt, was ein Metrosexueller ist.«
»Ich weiß. Wieso läuft der noch mal rum wie ein Schwuler?«
»Na, ist doch klar: um seiner Umwelt zu signalisieren, dass er Geld scheißt.«
»Ja, gut. Und vamposexuell, was soll das nun sein?«
»Dein Ding. Du musst es ja werden. Da lässt sich nichts festlegen. Alles Intuition.«
»Und wieso muss ich das?«
»Um am Puls der Zeit zu bleiben.«
»Und wenn sich rausstellt, dass der Puls der Zeit ganz woanders schlägt?«
»Der Puls der Zeit«, sagte Baldur, »kann überall sein, weil die Zeit ja gar keinen Puls hat. Aber die Zeitungen haben Leitartikel. Und es genügt, dass ein paar Zeitungen behaupten, der Puls der Zeit schlüge da und da, dann sagt dir das am nächsten Tag jeder, einfach um mit der Zeit Schritt zu halten. Obwohl die auch keinen Schritt hat.«
»Welcher normale Mensch glaubt denn, was in Leitartikeln steht?«
»Normale Menschen, wo hast du die zum letzten Mal gesehen? Davon gibts im Land vielleicht noch hundert, und die hat der FSB in Watte gepackt. Alles nicht so einfach. Einerseits hat die Zeit weder Puls noch Schritt. Andererseits geben alle sich Mühe, am Puls der Zeit zu sein und mit ihr Schritt zu halten, darum updatet das Kartell sein Weltmodell regelmäßig. So dass die Leute sich plötzlich alberne Bärtchen stehen lassen oder Seidenkrawatten um den Hals schlingen, nur damit man sie nicht aus dem Büro jagt. Und Vampire müssen an diesem Prozess wohl oder übel teilhaben, um im Milieu aufzugehen.«
»So weiß ich aber immer noch nicht, wäs vamposexuell ist.«
Baldur nahm ein Gläschen vom Tisch, das da noch von der letzten Diskursstunde herumlag (Dt. klass. Philos., Abfüll. Phil.Fak. Uni, sagte der Aufkleber), schüttelte sich den letzten verbliebenen Tropfen auf den Gaumen und schmeckte.
»Erinnerst du dich an die elfte Feuerbachthese?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Von wem?«
»Dumme Frage. Von Karl Marx natürlich.«
Ich strengte mein Gedächtnis an.
»Moment, wie ging das ... Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«
»Genau so ist es. Dir obliegt nicht zu wissen, was vamposexuell ist, Rama. Du sollst es nur werden.«
Natürlich hatte Baldur recht. Die Theorie besagte in derlei Dingen nicht viel. Doch der Glamourlehrgang beschränkte sich nicht auf Theorie. Mir war »Umzugsgeld« ausgehändigt worden: ein schwerer, in Plastik eingeschweißter Packen Tausendrubelscheine und eine Visa Card, mit der ich über die - für mich schwindelerregende - Summe von einhunderttausend Dollar verfügen konnte. Eine Abrechnung erwartete keiner von mir.
»Übe dich!«, sagte Baldur. »Wenn es alle ist, sag Bescheid. «
Spätestens hier verfestigte sich in mir der Gedanke, dass das Vampirdasein eine solide und ernsthafte Angelegenheit war.
Für einen Vampir gab es zwei Orte, um sich standesgemäß einzukleiden und mit dem sonst Notwendigen zu versehen: das LovemarX an der Ploschtschad Wosstanija und die Ladenpassage Archetypique boutique, Posharski Projesd.
Geschäften, Restaurants oder gar russisch geschriebenen Romanen fremdsprachige Namen zu geben ist, nebenbei gesagt, eines der vulgärsten Kennzeichen unserer Zeit und mir seit Längerem ein Dorn im Auge. So als wollte man damit sagen: Wir gehören nicht dazu, wir sind hip, offshore, eurosaniert. Solches Gebaren rief in mir schon lange nur noch Übelkeit hervor. Aber die Schriftzüge LovemarX und Archetypique boutique hatte ich unterdessen schon so oft gesehen, dass die Gereiztheit verflogen war und die Stunde der Analyse schlug.
Aus dem Theoriekurs wusste ich, dass der Glamour mit dem Wort lovemarks Waren zu bezeichnen pflegt, die dem Menschen ans Herz gewachsen sind und die er gar nicht mehr losgelöst von seiner Person zu betrachten vermag, sie sind für ihn das Rückgrat seiner Persönlichkeit. Das große X am Ende war Zugeständnis an juvenile orthographische Vorlieben, wenn nicht Rückbezug auf die Wurzeln des Komsomols. (Immerhin stand im Verkaufsraum an gut sichtbarer Stelle eine Marxbüste aus Marmor herum.)
Die Archetypik-Budike war ein ganzer Boutiquenkomplex, in dem man sich leicht verlaufen konnte. Die Auswahl größer als im Laffmarx - doch ich mochte diese Lokalität nicht. Es kursierten Gerüchte, in dem Gebäude habe früher eine Gulag-Inspektion gesessen - die geodätische Verwaltung oder die Personalabteilung oder was weiß ich. Als ich das hörte, war mir klar, warum Baldur und Jehova das Haus »Archipel Glamour« oder einfach Archipel nannten.
An den Wänden hingen vielerlei Photographien von Sportwagen mit bescheuerten Unterschriften: Karre No. 51, Karre No. 89 usw. Auf dem Warenbon stand eine dieser Nummern, und wenn der Kunde an der Kasse die zugehörige Automarke nennen konnte, bekam er 10 % Rabatt.
Ich begriff, dass das ein schlauer Werbegag war: Der Kunde irrt durch den Gulag auf der Suche nach seiner Karre und stößt dabei auf immer neue Ware, die er in selbige legen kann. Doch ich fand diesen metaphorischen Magnetismus einfach nur gräulich.
Noch ein Handelszentrum gab es, wo Nippes wie teure Uhren oder Zigarettenspitzen zu erwerben waren: das Height Reason. Boutique für die denkende Elite - so der Claim, mit dem sich der Laden in der Begrüßungsbroschüre positionierte. Russisch geschrieben, las sich der Name eher wie High Treason, was schon merkwürdig war.
Als Nichtraucher benötigte ich keine Zigarettenspitzen. Was teure Uhren betraf, so schreckte mich die Patek-Philippe-Werbung in selbiger Broschüre nachhaltig ab. Dort hieß es: You never actually own a Patek Philippe. You merely look after it for next generation! Aus Tarantinos Pulp Fiction wusste ich noch, wie eine solche Übergabe kostbarer Chronometer von Generation zu Generation vonstatten gehen konnte. Dort trägt der Vater des Helden eine Uhr in seinem Mastdarm durch die Jahre im japanischen Gefangenenlager. Die Geschichte des Unternehmers Chodorkowski hat dieser Story auch in unserem Hoheitsgebiet neue Aktualität verliehen. Seither kamen mir die vielen Chodorkowski-Photos hinter Gittern immer wie eine Patek-Philippe-Werbung vor - die nackten Handgelenke des eingesperrten Oligarchen sprachen eine beredte Sprache. Aber eine Patek Philippe schien mir für diese Aktion doch zu groß. Das Chronometer wäre vielleicht noch reingegangen, aber dieses klotzige Armband ...
Kurz: In die denkende Elite des Landes vorzustoßen war mir nicht gelungen. Und natürlich tröstete ich mich wie alle Loser mit dem Gedanken, dass ich dorthin gar nicht wollte.