BRAHMA

Als ich zu mir kam, befand ich mich in einem großen Zimmer mit alten Möbeln. Die ganze Einrichtung durfte man wohl als antik bezeichnen: ein mit geschnitzten Sternen verzierter Spiegelschrank, ein skurriler Schreibsekretär, drei Ölbilder: zwei Akte und ein kleines mit Napoleon zu Pferde im Pulverrauch. Ein Archivschrank aus karelischer Birke, sehr gediegen, zog sich über eine ganze Wand, bis unter die Decke. Die Schildchen an den Schüben trugen verschiedenfarbige Aufschrift. Eine Bockleiter stand daneben.

Dann fiel mir auf, dass ich nicht lag, wie es sich für einen geziemt hätte, der gerade das Bewusstsein wiedererlangte -ich stand. Dass ich nicht umfiel, hing damit zusammen, dass Hände und Füße an eine Sprossenwand gefesselt waren. Eine Sprosse konnte ich mit den Fingern erfühlen, einige weitere drückten gegen die Wirbelsäule.

Mir gegenüber auf einem kleinen roten Sofa an der Wand saß ein Mann im roten Morgenmantel. Er trug eine starre schwarze Gesichtsmaske, deren Form an einen gewaltsam bis auf die Schultern hinuntergedrückten Zylinderhut denken ließ oder an die Papphelme teutonischer Ritter in Eisensteins Film über die Schlacht auf dem Peipusee. In der Nasengegend gab es einen Spitzerker, vor den Augen zwei ovale Löcher und in Höhe des Mundes einen rechteckigen Ausschnitt mit einem schwarzen Lappen davor. So ungefähr sahen die Pestärzte auf den mittelalterlichen Stichen aus.

Ich erschrak nicht einmal.

»Guten Tag«, sagte der Maskenmann.

»Guten Tag.« Ich bekam die Lippen nur mit Mühe auseinander.

»Wie heißt du?«

»Roma«, sagte ich.

»Wie alt bist du?«

»Neunzehn.«

»Wieso nicht bei der Armee?«

Ich beschloss, diese Frage für einen Scherz zu halten, und gab keine Antwort.

»Falls dir die Situation etwas theatralisch Vorkommen sollte, so bitte ich um Entschuldigung«, fuhr der Mann mit der Maske fort. »Ebenso für etwaige Kopfschmerzen, die vergehen gleich. Ich musste dich mit einem speziellen Gas einschläfern.«

»Was für ein Gas?«

»Es stammt aus der Terroristenbekämpfung. Mach dir keine Sorgen, du hast das Schlimmste hinter dir. Vorbeugend bitte ich dich, nicht zu schreien. Schreien hat keinen Sinn und führt zu nichts. Allenfalls finge meine Migräne wieder an, und unser Gespräch wäre verdorben.«

Der Fremde sprach mit tiefer, selbstsicherer Stimme. Der Lappen vor seinem Mund flatterte, wenn er sprach.

»Wer sind Sie?«

»Ich heiße Brahma.«

»Warum sind Sie maskiert?«

»Das hat mehrere Gründe«, sagte Brahma. »Für dich ist es nur gut. Sollten wir nicht zueinanderkommen, kann ich dich ohne Weiteres gehen lassen, weil du nicht weißt, wie ich aussehe.«

Dass er sich mit dem Gedanken trug, mich gehen zu lassen, nahm ich mit Erleichterung zur Kenntnis. Aber die Behauptung konnte genauso gut eine Falle sein.

»Was wollen Sie von mir?«

»Mir liegt daran, einen überaus wichtigen Teil meines Körpers und zugleich meines Geistes für dich zu erwärmen. Dafür wäre eine vornehme Abstammung deinerseits allerdings die Voraussetzung.«

Ein Perverser! schoss es mir durch den Kopf. Jetzt bloß nicht nervös werden ... Ihn ablenken, in ein Gespräch verwickeln ...

»Vornehme Abstammung, aha, wieso ausgerechnet das?«

»Die Qualität der roten Flüssigkeit in deinen Adern spielt eine große Rolle. Ich weiß, die Chance ist eher gering.«

»Und was heißt erwärmen?«, fragte ich. »Ist Ihnen denn kalt?«

»Witzig«, sagte Brahma. »Aber ich sehe, mit Worten lässt sich hier nichts ausrichten. Ich muss es demonstrieren.«

Er erhob sich vom Sofa und kam herüber, schlug das schwarze Tuch vor seinem Mund zurück und neigte sich über mein rechtes Ohr. Den fremden Atem in meinem Gesicht spürend, verkrampfte ich nun doch. Gleich würde etwas sehr Widerwärtiges passieren.

Was bin ich auch hergekommen, dachte ich. Hätte ja nicht sein müssen, oder?

Doch es geschah - nichts. Nachdem Brahma mir einmal kurz ins Ohr gehaucht hatte, wandte er sich ab und ging zurück zum Sofa.

»Ich hätte dich auch in die Hand beißen können«, sagte er. »Aber leider sind deine Arme taub von den Fesseln. Der Effekt wäre nicht derselbe.«

»Die Fesseln haben Sie mir doch selbst angelegt.«

»Stimmt«, seufzte Brahma. »Für mein Vorgehen muss ich wohl »um Entschuldigung bitten. Es muss recht sonderbar und hässlich auf dich gewirkt haben. Wird sich aber gleich auf klären.«

Er setzte sich bequemer auf seinem Sofa zurecht und schaute auf mich, als wäre ich ein stehendes Fernsehbild. Einige Sekunden schaute er so und schmatzte dabei.

»Keine Angst«, sagte er, »ich bin kein Triebtäter. Diesbezüglich kannst du ganz beruhigt sein.«

»Was sind Sie dann?«

»Ich bin ein Vampir. Und Vampire sind nie pervers. Manchmal tun sie so, aber in Wirklichkeit haben sie ganz andere Ziele und Interessen.«

Kein einfacher Perverser, dachte ich, sondern ein durchgeknallter. Ich darf nicht aufhören zu reden, er muss beschäftigt sein ...

»Ein Vampir? Sie trinken also Blut?«

»Nun ja, nicht becherweise«, antwortete Brahma, »und nicht, dass ich darauf meine Identität gegründet sehen möchte. Aber es kommt vor, ja.«

»Und wozu tun Sie das?«

»Es ist die beste Art, einen Menschen kennenzulernen.«

»Wie das?«

Die Augen in den ovalen Höhlen blinkerten ein paarmal, bevor der Mund hinter dem schwarzen Lappen sprach: »Es gab eine Zeit, da waren zwei an der Wand wachsende Bäume, eine Zitrone und eine Apfelsine, nicht bloß Bäume, sondern das Tor in eine geheimnisvolle magische Welt. Und dann geschah etwas. Das Tor verschwand, zurück blieben zwei gerahmte viereckige Stücke Stoff an der Wand. Nicht nur das Tor verschwand, auch die dahinterliegende Welt. Und selbst der grässliche Flughund, der den Eingang zu dieser Welt bewachte, wurde zum geflochtenen Fächer aus einem tropischen Seebad ...«

Verblüffung ist ein zu schwaches Wort für das, was ich empfand. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Was der Mann da sagte, hätte jedem normalen Menschen als törichtes Abrakadabra Vorkommen müssen - für mich war es der Geheimcode meiner Kindheit. Vor allem aber gab es nur einen Menschen auf der Welt, der das so hätte formulieren können, und der war ich.

Ich schwieg eine Weile. Dann konnte ich nicht länger an mich halten.

»Das ist unbegreiflich«, begann ich. »Gut, von den beiden Bildern könnte ich unter Umständen geredet haben, während ich nicht bei Bewusstsein war. Aber die magische Welt hinter dem Tor - davon habe ich unter Garantie nichts erzählt. Denn ich habe sie noch nie so genannt. Nur jetzt, wo Sie es sagen, sehe ich, dass das so war, jawohl. Es ist die pure Wahrheit ...«

»Und weißt du, wie das damals alles kam?«, fragte Brahma.

»Nein. Wie?«

»Die magische Welt, in der du einmal lebtest, war die Erfindung eines im Gras verborgenen Heuhüpfers. Und dann kam ein Laubfrosch, der hat ihn gefressen. Und du hattest keinen Ort zum Leben mehr, obwohl in deinem Zimmer alles so war wie zuvor.«

»Stimmt«, sagte ich und war baff. »Auch das ist wahr. Es trifft den Nagel auf den Kopf.«

»Denke an etwas!«, forderte Brahma mich auf. »Etwas, wovon du als Einziger weißt. Irgendwas. Und stelle mir eine Frage. Auf die nur du die Antwort weißt.«

»Hm«, sagte ich und dachte nach. »Na, zum Beispiel ... An meiner Wand zu Hause hing dieser Fächer. Sie haben eben davon gesprochen. Wie war er an der Wand befestigt?«

Brahmas Augen in den Schlitzen der Maske verengten sich.,

»Er war angeklebt. Der Leim in Form eines Vollmondes aufgebracht. Nicht einfach ein Kreis, sondern ein Mond. Gemeint war der Ort, wohin du deine Mama wünschtest, die dir den Fächer über das Bett gehängt hat.«

»He, woher ...«

»Warte, das ist noch nicht alles. Festgeklebt hast du ihn deshalb, weil der Fächer dir wie ein Vampir im Hundefell vorkam, der dich nachts beißen will. Was natürlich bodenloser Unfug ist. Eine Beleidigung für jeden echten Vampir.«

»Wie haben Sie das rausgekriegt?«

Brahma stand auf und kam zu mir. Schob mit einem Finger das schwarze Tuch zurück, öffnete den Mund. Er hatte große und kräftige Raucherzähne, an denen sich nichts Außergewöhnliches feststellen ließ - höchstens, dass die Eckzähne etwas heller waren als die übrigen. Brahma hielt den Kopf nun so, dass ich seinen Gaumen sehen konnte. Dort gab es allerdings eine Merkwürdigkeit: eine wellige orangene Membrane - wie der an der Schleimhaut haftende rückwärtige Teil einer Zahnprothese.

»Was ist das?«

»Das ist die Zunge«, sagte Brahma, das Wort eigentümlich hervorhebend.

»Die Zunge?«

»Keine Menschenzunge. Es ist die Seele des Vampirs. Sein Ein und Alles.«

»Und damit wollen Sie das alles rausgekriegt haben?«

»Ja.«

»Wie soll das gehen? Mit einer Zunge?«

»Zwecklos, das zu erklären. Um es verstehen zu können, müsstest du selbst zum Vampir werden.«

»Dann glaube ich nicht, dass ich es verstehen will.«

Brahma kehrte zurück auf sein Sofa.

»Weißt du, Roma«, sagte er, »das Schicksal hat uns alle in der Hand. Du bist aus freien Stücken hergekommen. Und meine Zeit ist bemessen.«

»Wollen Sie mich belehren?«

»Nicht ich. Nicht die Person des Vampirs tritt als Lehrender in Erscheinung, sondern seine Natur. Und die Unterweisung besteht darin, dass der Vampir seinen Schüler beißt. Was aber nicht heißt, dass jeder dahergelaufene, von einem Vampir gebissene Mensch selbst zum Vampir wird. Das passiert nur in schlechten Filmen - wie man in schlechten Filmen zu sagen pflegt, ha, ha ...«

Er lachte über seinen Witz. Ich versuchte zu lächeln, es gelang mir schlecht.

»Es gibt dafür einen speziellen Biss«, führte er weiter aus, »zu dem sich ein Vampir nur einmal im Leben in der Lage sieht. Und nur wenn seine Zunge mitspielt. Traditionell geschieht das am Tag der Sommersonnenwende. Du trittst vor mich hin, und meine Zunge geht in dich über.«

»Geht über - wie geht das?«

»Im Wortsinne. Ganz körperlich. Ich möchte dich warnen: Es ist schmerzhaft. Währenddessen und auch hinterher. Du wirst dich nicht gut fühlen. Wie nach einem giftigen Schlangenbiss. Aber das gibt sich mit der Zeit.«

»Könnten Sie sich nicht einen anderen Schüler suchen?«

Auf diese Zwischenfrage ging er nicht ein.

»Du könntest vorübergehend das Bewusstsein verlieren. Dein Körper versteift. Möglicherweise stellen sich Halluzinationen ein. Das muss aber nicht sein. Nur eines geschieht unweigerlich.«

»Nämlich?«

»Du blickst zurück auf dein ganzes Leben. Die Zunge bemächtigt sich deiner Vergangenheit - sie muss alles über dich wissen. Wenn ein Mensch ertrinkt, geht es ihm angeblich so ähnlich. Aber du bist noch jung, wirst also nicht lange ertrinken müssen.«

»Und was machen Sie in der Zwischenzeit?«

Brahma gab ein seltsames Räuspern von sich.

»Keine Bange. Ich habe einen ausgeklügelten Plan.«

Bei diesen Worten schritt er bereits auf mich zu, packte mich bei den Haaren und drückte meinen Kopf gegen seine Schulter. Ich erwartete den Biss, doch stattdessen biss er sich selbst - in den Finger. Gleich war die ganze Hand voller Blut.

»Nicht bewegen!«, sagte er. »Dann hast du es leichter.«

Der Anblick des Blutes schüchterte mich ein, und ich gehorchte. Er hob seinen blutigen Zeigefinger an meine Stirn, malte etwas darauf. Und verbiss sich im nächsten Moment ohne Vorwarnung in meinen Hals.

Ich schrie auf, oder besser: ich jaulte, denn er hielt meinen Kopf so gepackt, dass ich den Mund nicht aufbekam. Der Schmerz am Hals war unerträglich - als hätte ein meschuggener Zahnarzt mir seinen elektrischen Bohrer neben den Kiefer gerammt. Einen Moment lang meinte ich, es wäre mein Ende, und begann mich schon damit abzufinden. Aber dann war plötzlich alles vorbei - er ließ mich los und sprang zur Seite. Ich spürte das Blut an Wange und Hals; auch seine Maske und der Lappen vor dem Mund waren damit beschmiert.

Da begriff ich, dass es nicht mein Blut war, sondern seines. Es kam ihm aus dem Mund geflossen, rann über Hals und Brust auf den roten Mantel, von wo es zäh zu Boden tropfte. Etwas war mit ihm passiert - man konnte meinen, nicht ich wäre der Gebissene, sondern er. Taumelnd kehrte er zu seinem roten Sofa zurück, setzte sich, und seine Füße begannen heftig vor und zurück über das Parkett zu schurren.

Ich musste an Tarkowskis Andrej Rubljow denken, die Hinrichtungsszene, wo sie einem Mönch flüssiges Metall in den Rachen flößen. Vor der Exekution hatte der Mönch seine Peiniger die ganze Zeit wüst beschimpft, doch als sie ihm das Metall in die Gurgel kippten, trat augenblicklich Stille ein, nur der Körper zuckte. Und dieses Schweigen war am schrecklichsten gewesen. Genauso schrecklich kam es mir vor, dass mein Gegenüber keinen Ton mehr von sich gab.

Während das Zappeln der Füße nicht aufhörte, fuhr er mit der Hand in die Tasche seines Kittels und holte eine kleine vernickelte Pistole hervor, mit der er sich blitzschnell in den Kopf schoss - das heißt, in die Seite der zylinderförmigen Maske, die sein Gesicht verbarg. Der Kopf kippte von einer Seite auf die andere, die Hand mit der Pistole sackte auf das Sofa, dann rührte er sich nicht mehr.

Und da auf einmal spürte ich im Hals, knapp unterm Kiefer, eine Regung. Keinen Schmerz (es war, als hätte man mir ein Betäubungsmittel gespritzt), doch ein schreckliches Gefühl. Ich war dabei, das Bewusstsein zu verlieren; was um mich war, rückte immer ferner. Unaufhaltsam sank ich in den Schlaf.

Und Brahma hatte die Wahrheit gesagt. Mir träumte meine Vergangenheit - so als hätte sich in meinem Kopf plötzlich ein kleiner gemütlicher Kinosaal aufgetan, in dem nun der Dokumentarfilm meiner Kindheit lief. Komisch, dachte ich noch, dass ich von Kindesbeinen an ausgerechnet vor Vampiren die meiste Angst hatte ...

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