8.

Er sprach lange. Skar achtete nicht auf die Zeit, aber es mußte eine Stunde sein, in der er redete; langsam, leise und mit fast teilnahmsloser Stimme, und Kiina zuhörte; wortlos, starr und mit ausdruckslosem Gesicht. Er erzählte ihr alles; alles, woran er sich erinnerte und alles, was ihm während des Redens noch einfiel, und das war eine Menge. Sie war der erste Mensch in seinem Leben, der die Geschichte seines Dunklen Bruders von Anfang an hörte, und, ohne daß er irgend etwas wegließ oder beschönigte. Während er sprach, geschah etwas mit ihm; eine Art Läuterung, die es ihm ermöglichte, ehrlicher zu ihr zu sein, als er es jemals sich selbst gegenüber gewesen war. Sie erfuhr mehr von seinem Leben, als selbst Del jemals gewußt hatte, und irgendwie spürte er, daß sie es auch besser verstand als er; vielleicht, weil sie während all der Zeit kein Wort sagte, sondern nur zuhörte, ihm nicht einmal mit einem Lächeln oder einem Stirnrunzeln zu verstehen gab, daß sie etwas verstand oder mißbilligte, sondern einfach zuhörte. Aber als er zu Ende gekommen war und sich die Pause in seinen Worten lange genug ausdehnte, Kiina begreifen zu lassen, daß es nichts mehr zu erzählen gab, war sie es, die das Schweigen brach.

»Du tust mir so leid, Skar«, sagte sie. Worte, die pathetisch, vielleicht sogar albern geklungen hätten, bei jeder anderen denkbaren Gelegenheit. Aber jetzt spürte er, daß sie ehrlich gemeint waren, und sie schienen ihm das wertvollste Geschenk, das er jemals bekommen hatte. Er hob die Hand, um sie zu berühren, wagte es aber dann nicht, sondern lächelte nur dankbar und sah sie an.

Kiina hielt seinem Blick ruhig stand. In ihren Augen war keine Spur von Furcht, sondern nur genau das, was sie gerade mit Worten ausgedrückt hatte: ein tiefes, vollkommen ehrlich gemeintes Mitleid, das ihn mit einem Gefühl von Wärme und Dankbarkeit erfüllte. Zum ersten Mal in seinem Leben machte ihn Mitleid nicht zornig, und er spürte plötzlich, wie viel, wie unendlich viel er versäumt und verloren hatte, einfach dadurch, daß er ein Leben fast ohne Freundschaft und Gefühle gelebt hatte. Stärker als je zuvor fühlte er sich zu dem Mädchen hingezogen, und heftiger als je zuvor fragte er sich, ob sie das war, wofür er sie hielt. Aber er brachte nicht einmal jetzt den Mut auf, sie zu fragen. Er hatte Angst, alles zu zerstören, wenn er nicht die Antwort bekam, die er hören wollte. Und vielleicht, dachte er, wollte er sie gar nicht wissen. Es mochte sein, daß es Lügen gab, die gut waren.

Irgendwann, nach einer langen Zeit, in der sie einfach in vertrautem Schweigen nebeneinander gesessen hatten, ohne sich wirklich zu berühren und doch näher, als Skar jemals einem Menschen gewesen war, stiegen sie wieder auf ihre Pferde und ritten weiter, in die Richtung, die Titch ihnen bedeutet hatte. Gegen Morgen kam Regen auf, der nicht lange anhielt, aber einen eisigen Hauch über dem Land zurückließ, Kälte jener besonders unangenehmen Art, die nicht einmal sehr heftig war, aber unerbittlich durch jedes Kleidungsstück und jeden Schutz kroch und Skar das Gefühl gab, in einen Mantel aus schneidendem Glas eingehüllt zu sein. Er hatte Schmerzen; viel heftigere, als er Kiina gegenüber zugab, und er fühlte sich schwach und krank, und die Kälte ließ ihn jede winzige Verletzung, jeden Schnitt und jeden Kratzer auf seiner Haut doppelt intensiv spüren.

Er begann Kiina auszuweichen, auf die gleiche Art, auf die sie ihm ausgewichen war, vorher - ohne sich wirklich weiter als zwei, drei Schritte von ihr zu entfernen, ohne auch nur ihrem Blick auszuweichen oder sich mit einer Miene anmerken zu lassen, was wirklich in ihm vorging, und doch spürbar. Kiina mußte die Mauer, die er zwischen ihr und sich selbst aufrichtete, so deutlich fühlen, wie er es umgekehrt getan hatte. Der Gedanke schmerzte ihn, um so mehr, als er völlig andere Gründe hatte als sie: sie wußte, daß er krank war, und sie wußte wohl auch, daß er sterben würde, aber er wollte nicht, daß sie sah, wie schlimm es wirklich war. Trotz allem war er noch immer - jetzt erst recht - der einzige Schutz, den sie hatte.

Aber das stimmt doch gar nicht, Bruder, wisperte die Stimme des Versuchers hinter seiner Stirn. Ich bin bei euch. Ich kann auch ihr helfen. Wenn das alles ist, was du willst, dann schenke ich dem Mädchen dasselbe wie dir. Unsterblichkeit. Macht.

Skar ignorierte das körperlose Wispern. Er war nicht einmal sicher, ob es wirklich dagewesen war, oder ob er es sich nur einbildete; ganz einfach, weil ein Teil von ihm diese Worte hören wollte, so sehr, wie der andere Teil sich davor fürchtete. Vielleicht war der Daij-Djan gar nicht da; vielleicht war er nie dagewesen. Vielleicht wurde er schlicht und einfach verrückt.

Trotzdem ertappte er sich dabei, ganz automatisch den Kopf zu heben und aus zusammengekniffenen Augen in den Regen hinauszublinzeln, der noch immer fiel. Aus den strömenden eisigen Fluten war ein kaum sichtbares Nieseln geworden, das aber fast noch kälter war. Die winzigen Tropfen stachen wie Nadeln in sein Gesicht und taten in den Augen weh. Skar ignorierte auch diesen neuerlichen Schmerz und versuchte, das allmählich aufweichende Grau der Dämmerung mit Blicken zu durchdringen.

Sie ritten weiter nach Norden, ohne im Grunde wirklich zu wissen, wohin, oder gar warum, denn wenn Titch nicht zurücckam, dann waren sie so gut wie tot.

Nein, verbesserte sich Skar in Gedanken. Dann waren sie nicht so gut wie tot, dann waren sie tot, zwei Verlorene in einem Land, das nicht nur voller Feinde, sondern selbst ihr Feind war. Irgend etwas sagte Skar, daß sie hier nicht leben konnten, selbst wenn es die Quorrl und die Ssirhaa und alle anderen Ungeheuer, die sich noch in Cants finsteren Wäldern verbergen mochten, nicht gegeben hätte. Er hatte Ennarts Worte keine Sekunde vergessen: Diese Welt wurde gemacht, Satai. Und mehr noch als für irgendeinen anderen Teil Enwors galt dies für Cant. Es war ein Land, das geschaffen worden war, von Wesen, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte, und für Wesen, die den Menschen so fremd und unverständlich waren wie sie umgekehrt ihnen. Es war das Land der Quorrl, ihre ureigendste Heimat, in der nur sie leben konnten, und niemand sonst. Mit einem Mal fielen ihm all die Geschichten und Legenden über die Quorrl wieder ein; Geschichten, an deren Verbreitung er selbst früher kräftig mitgewirkt hatte. Sie waren lächerlich, eine wie die andere. Selbst wenn die Quorrl gewollt hätten - sie konnten Enwor gar nicht erobern. Ganz einfach, weil sie auf Dauer so wenig in der Lage waren, dort zu leben, wie die Menschen Enwors in diesem Land. Nicht die Quorrl, die du kennst, flüsterte der Daij-Djan. Aber vielleicht die, die Ennart und seine Brüder noch erschaffen werden. Ennart ist tot! dachte Skar zornig.

Bist du sicher, Bruder?

Sei still, antwortete Skar in Gedanken.

Aber - warum? Hast du immer noch Angst vor der Wahrheit, Bruder?

Vor dem, was du Wahrheit nennst, ja, antwortete Skar auf die gleiche, lautlose Weise. Trotzdem mußte etwas von seinem stummen Zwiegespräch mit jenem finsteren Teil seiner selbst spürbar sein, denn Kiina blickte plötzlich erschrocken hoch und sah ihn irritiert an. Skar wandte rasch den Blick und tat so, als konzentriere er sich völlig auf den aufgeweichten Weg. Sie bewegten sich dicht am Waldrand entlang, und auch das war etwas, was ihm Sorge machte - spätestens ihr letztes Gespräch mit Cron hatte ihm klargemacht, daß Cants Wälder nicht so leer und unbewohnt waren, wie es den Anschein hatte. Aber sie mußten jede Deckung ausnutzen, die sie bekommen konnten. Sie waren mehr als nur vogelfrei, ohne Titchs Begleitung, wie er sich in jeder Sekunde schmerzhaft vor Augen hielt. Wenn sie irgend jemand entdeckte - buchstäblich irgend jemand - waren sie tot. Außer, du nimmst meine Hilfe an.

»Verschwinde endlich«, sagte Skar. Er sagte es laut, schrie es fast, und wieder sah Kiina auf und blickte ihn gleichermaßen fragend wie erschrocken an, sagte aber auch jetzt kein Wort. »Ich brauche dich nicht!«

Bist du sicher, Bruder? antwortete der Daij-Djan spöttisch. Dann sieh nach Westen.

Skar tat es - und fuhr erschrocken zusammen, obgleich er zumindest geahnt hatte, was er sehen würde. Der Daij-Djan tat niemals etwas durch Zufall oder ohne Grund. Er hatte auch den Moment, wieder mit ihm zu sprechen, sorgsam gewählt.

Vielleicht hatte er sogar dafür gesorgt, daß die Quorrl ausgerechnet jetzt auftauchten, dachte Skar verbittert. Mittlerweile traute er dem Monster alles zu. Es hatte die Macht eines Gottes, auch wenn er das bis jetzt nicht hatte wahrhaben wollen. Es waren viele. Durch den nieselnden Regen und das blaßgraue Licht der Dämmerung fiel es Skar schwer, ihre Zahl zu schätzen, aber es mußten zwanzig sein, möglicherweise auch fünfzig oder zweihundert, das blieb sich gleich - es waren so oder so zu viele, um sich ihnen zu stellen.

Seine Hand glitt zum Schwert, verharrte einen Moment auf dem Griff der Waffe und löste sich wieder davon, ohne sie zu ziehen. Daß er die Quorrl gesehen hatte, bedeutete nicht, daß auch sie schon entdeckt worden waren. Sie waren nur zwei - vier, mit den Packpferden - aber sie hatten den Wald hinter sich, eine schwarze Mauer, die ihre Schatten verschlingen mußte. »Was hast du?« fragte Kiina, die seinen Schrecken natürlich bemerkt hatte.

Skar deutete stumm nach Westen, und nach ein paar Augenblicken verriet ihm der Ausdruck auf Kiinas Gesicht, daß auch sie die näher kommenden Reiter bemerkt hatte. Zu Skars Überraschung zeigte sie keine Spur von Schrecken oder gar Panik, sondern biß sich nur nachdenklich auf die Lippen und deutete dann auf den Waldrand.

Skar nickte, hob aber fast im gleichen Moment abwehrend den Arm, als Kiina unverzüglich ihr Pferd wenden und ins Unterholz führen wollte.

»Unsere Spuren«, sagte er mit einer besorgten Geste zu Boden. »Sie reiten fast genau auf uns zu. Sie werden sie sehen.« In dem aufgeweichten Morast, zu dem der Regen das Erdreich gemacht hatte, waren die Hufabdrücke ihrer Pferde tatsächlich kaum zu übersehen; nicht einmal für Wesen, die nicht über die scharfen Sinne eines Quorrl verfügten.

»Sie werden uns sehen, wenn wir noch lange hier herumstehen«, sagte Kiina betont. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Was hast du vor? Auf den Knien herumrutschen und die Spuren verwischen?«

»Nein«, antwortete Skar. »Aber ich ...« Er brach ab, warf einen sichernden Blick zu den Quorrl zurück - sie waren näher gekommen, aber noch nicht so weit, daß sie sie hätten sehen können - und zog schließlich doch sein Schwert. Mit der Spitze des Tschekal deutete er auf den Wald.

»Steig vom Pferd«, sagte er. »Aber paß auf. Du darfst keine Fußspuren hinterlassen. Versteck dich irgendwo.«

»Ja«, sagte Kiina sarkastisch. »Das beste wird sein, ich klettere auf einen Baum und sehe zu, wie sie dich abschlachten.«

»Ich habe nicht vor, mich umbringen zu lassen«, antwortete Skar ärgerlich. Das hatte er wirklich nicht. Er war sicher, daß es Momente gab, in denen ein Opfer sinnvoll war, aber dieser gehörte ganz gewiß nicht dazu.

»Ich reite zwei-, dreihundert Schritte weiter und verstecke mich dann auch«, sagte er. »Vielleicht sehen sie unsere Spuren ja gar nicht. Und wenn doch, ist es ziemlich sinnlos, daß sie uns beide erwischen, oder?«

Er gab Kiina gar keine Gelegenheit, erneut zu widersprechen, sondern versetzte ihr einen Stoß, der sie halbwegs aus dem Sattel warf, so daß sie ganz instinktiv nach einem tiefhängenden Ast griff und sich daran festklammerte. Ehe sie auch nur begriff, was er tat, griff er nach den Zügeln ihres Pferdes und sprengte los. Kiina stürzte mit einem Wutschrei zu Boden, aber Skar wußte, daß der weiche Morast ihren Sturz dämpfte, und sprengte weiter, ohne sich auch nur noch einmal nach ihr umzudrehen. Die beiden Packpferde folgten ihm ganz instinktiv.

Skar ritt wirklich nur eine kurze Strecke. Die zwei-, dreihundert Schritte, die er Kiina gegenüber zugegeben hatte, und dann noch einmal die gleiche Distanz, als Referenz an Kiinas Sturheit und die scharfen Sinne der Quorrl. Schließlich entdeckte er eine Lücke zwischen den Bäumen; keinen richtigen Weg oder gar eine Lichtung, aber eine schmale Bresche, die ihm und den Pferden Deckung gewährte und - mit ein bißchen Glück - von den Quorrl nicht gesehen wurde.

Aber es schien so, als wäre sein Vorrat an Glück endgültig aufgebraucht. Die Quorrl waren näher gekommen, und als sie nahe genug heran waren, daß Skar trotz des schlechten Lichtes Einzelheiten erkennen konnte, sah er seine Befürchtungen gleich in doppelter Hinsicht bestätigt: es waren weitaus mehr als zwanzig Reiter - mindestens fünfzig, schätzte er, wenn nicht hundert - und sie bewegten sich tatsächlich fast genau auf die Stelle am Waldrand zu, an der er sich von Kiina getrennt hatte.

Skar drängte Kiinas Pferd und die beiden Packtiere rücksichtslos in das dornige Unterholz des Waldrandes hinein, band ihre Zügel hastig aneinander und zwang dann sein eigenes Tier, ein paar Schritte rückwärts zu gehen, bis sich die Bresche wieder genug erweitert hatte, um es herumzudrehen. Dann band er es ebenfalls an einen Ast, stieg aus dem Sattel und näherte sich behutsam dem Waldrand.

Seine Vorsicht war keineswegs übertrieben.

Die Quorrl hatten den schmalen Saumpfad am Wald erreicht und haltgemacht. Ein paar der riesigen Schuppengestalten war aus den Sätteln gestiegen und schien den Boden zu untersuchen, die anderen bildeten einen weit geschwungenen, aber fast geschlossenen Dreiviertelkreis vor den Bäumen. Sie hatten ihre Spuren entdeckt, dachte Skar düster. Und sie brauchten nicht einmal einen besonders talentierten Fährtenleser, um zu erkennen, daß sie erst wenige Minuten alt waren.

Geduckt schlich er zu seinem Pferd zurück, stieg wieder in den Sattel und griff nach dem Zügel. Er war weniger besorgt, als er Kiina gegenüber den Anschein erweckt hatte. Sicher, er war nicht in seiner besten Form, aber er hatte ein Quorrl-Pferd, ein ausgesucht kräftiges Tier sogar, und er wog zweihundertfünfzig Pfund weniger als die schuppigen Kolosse, die eine halbe Meile hinter ihm Aufstellung genommen hatten. Skar glaubte nicht, daß es ihm besondere Schwierigkeiten bereiten würde, den Quorrl einfach davonzureiten.

Was ihm Unbehagen bereitete, war Kiina. Er war nicht sicher, daß es ihm gelang, alle Quorrl vom Waldrand fortzulocken. Und er war noch sehr viel weniger sicher, daß Kiina die Nerven behalten würde, falls die Quorrl etwa auf die Idee kamen, in unmittelbarer Nähe ihres Versteckes ein Lager aufzuschlagen. Aber welche Wahl hatte er schon?

Skar zog abermals sein Schwert, ritt bis zum Waldrand und hielt wieder an. Sorgsam legte er die Waffe vor sich über den Sattel, wickelte den Zügel um den Stumpf seines linken Armes und zog zweimal prüfend daran, bis er sicher war, das Tier auf diese Weise wenigstens notdürftig dirigieren zu können.

Wie er erwartet hatte, hatte sich ein kleiner Trupp von der Hauptmacht der Quorrl gelöst und folgte seiner Spur, wobei sie sich erfreulich ungeschickt anstellten: tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, entgingen ihre Gesichter zwar dem stechenden Regen, ihren Augen aber auch alles, was weiter als fünf oder sechs Schritte vor ihnen war.

Skar war nahe daran, den Quorrl einfach etwas zuzuschreien, damit sie ihn entdeckten, befürchtete dann aber, damit eher ihr Mißtrauen zu erwecken. Statt dessen stach er dem Pferd mit der Schwertspitze leicht in die Flanke.

Das Tier stieß ein schrilles Wiehern aus und machte einen Satz, und im gleichen Moment flogen die Köpfe der vordersten Quorrl in die Höhe. Eine Sekunde später drang ein vielstimmiger, gellender Schrei durch das Rauschen des Regens an Skars Ohr, und als er das Pferd wieder unter Kontrolle hatte und herumriß, begann der Boden hinter ihm unter dem Stampfen gleich mehrerer Dutzend eisenbeschlagener Hufe zu dröhnen.

Und fast in der gleichen Sekunde hörte er einen Schrei: dünn, voller Panik und Entsetzen und so weit entfernt, daß er fast im Gebrüll der Quorrl unterging - aber es war eindeutig Kiinas Stimme!

Skar fluchte, riß das Pferd in vollem Galopp herum und mußte abermals um sein Gleichgewicht kämpfen, als sich das Tier mit einem schmerzerfüllten Kreischen auf die Hinterläufe aufrichtete. Irgendwie gelang es ihm, das Tier wieder in seine Gewalt zu bringen - und dann war er unter den völlig verblüfften Quorrl wie ein schwarzer Racheengel, dessen Schwert gleich zwei, drei der schuppigen Gestalten auf einmal aus den Sätteln fegte. Es war pures Glück, daß er die nächsten Augenblicke überlebte; und wahrscheinlich einzig der Fassungslosigkeit der Quorrl zu verdanken, die mit allem gerechnet haben mochten - nur nicht damit, von einem einzelnen Menschen angegriffen zu werden. Es war kein wirklicher Kampf - Skars mächtiges Schlachtroß ritt die Quorrl, die nicht schnell genug zur Seite sprangen, einfach über den Haufen, und dann war er auch schon hindurch und preschte auf die Hauptmacht der Reptilienkrieger zu, noch immer rasend schnell und mit hoch erhobenem Schwert, das Tod versprach.

Etwas stimmte nicht.

Skar spürte es, noch ehe er es sah, mit der Erfahrung des Kriegers, der zu viele Kämpfe hinter sich gebracht hatte, um noch von irgend etwas überrascht zu werden. Die Armee der Quorrl - ein unüberwindbarer Wall aus stahlgepanzerten Pferden und Leibern, an dem er einfach zerschmettern mußte, hielt ihn nicht auf, sondern teilte sich vor ihm, in einer blitzschnellen, fast eleganten Bewegung, die so fließend und leicht war, als wäre sie tausendfach geübt worden, und er hörte wieder Kiinas Schrei und sah sie dann auch, eine winzige, sich windende Gestalt im Brennpunkt des durchbrochenen Dreiviertelkreises, den die Quorrl bildeten, schreiend vor Furcht und gehalten von drei riesigen schuppigen Gestalten, von denen eine Skar den Eindruck vermittelte, sie kennen zu müssen, ohne daß er sie wirklich erkannte, während ihm zwei der Krieger (Großer Gott, es waren Krieger! dachte Skar entsetzt) mit gezückten Schwertern und hoch erhobenen Schilden entgegentraten, er spürte, daß die Quorrl nicht nur nicht richtig reagierten, sondern daß dies nichts anderes als eine Falle war, daß die Quorrl keine Sekunde auf sein Täuschungsmanöver hereingefallen waren, sondern wahrscheinlich schon gewußt hatten, wo Kiina war, ehe sie den Waldrand erreichten, und daß er ganz genau das tat, was sie von ihm erwarteten, alles in einer einzigen Sekunde und einem einzigen, ebenso lähmenden wie entsetzenden Gedanken.

Aber er war unfähig, zu reagieren. Wie eine Maschine, die diese Taktik des Flüchtens-Herumfahrens-Zuschlagens einmal zu oft ausgeführt hatte, sprengte er einfach weiter, gefangen in seinen eigenen Reflexen und Verhaltensweisen und unfähig, die Erkenntnis zu verarbeiten, daß er in den Tod raste.

Das Pferd prallte in vollem Galopp gegen den hochgerissenen Eichenschild des ersten Quorrl und schmetterte den Krieger zu Boden.

Ein weiterer Fehler, wie Skar wieder den Bruchteil einer Sekunde zu spät begriff. Der Quorrl war nicht von seinem Ansturm überrascht worden, er hatte ihn erwartet. Der Schild, nur lose an seinem Arm befestigt, zerbrach in drei Teile und flog davon, und der Quorrl stürzte zur Seite. Aber im gleichen Moment vollführte sein Schwert eine blitzartige, ungemein kraftvolle Bewegung, die die fürchterliche Wucht des Anpralles noch ausnutzte, und durchtrennte beide Vorderläufe des Pferdes. Skar wurde aus dem Sattel geschleudert, überschlug sich zwei-, dreimal in der Luft und noch zwei- oder dreimal am Boden, ehe er halb betäubt im Morast zum Liegen kam. Der schrille Schmerzensschrei des Pferdes ging im dumpfen Geräusch seines Zusammenbrechens und dem sonderbar weichen Laut unter, mit dem Skar selbst auf dem Boden aufschlug.

Er hätte das Bewußtsein verlieren müssen, aber er tat es nicht. Dieselben Reflexe, die ihm zum Verhängnis geworden waren, mobilisierten Kraftreserven in seinem geschundenen Körper, die ihn noch immer zum Berserker machen konnten. Er sprang auf, hieb mit dem Schwert zwei-, dreimal in die leere Luft vor sich und begriff erst dann, daß niemand da war, der ihn angriff. Schweratmend, den linken, verkrüppelten Arm schützend vor den Körper gehalten, das Schwert in der Rechten, während die Spitze des Tschekal kreisende, achtförmige Bewegungen in die Luft schnitt, stand er da und sah sich um.

Sein Sturz hatte ihn wieder ein Stück von Kiina und ihrem Bewacher weggetragen. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Mädchens, das die Angst zu einer Grimasse gemacht hatte, und den wuchtigen Helm des riesigen Quorrl hinter ihm, der es mit brutalem Griff hielt, dann konzentrierte er sich wieder auf den anderen Krieger.

Der Quorrl war näher gekommen, aber auf halber Strecke stehengeblieben, und Skar begriff, daß er ihm nicht den Gefallen tun und selbst angreifen würde. Den Schild hatte er halb erhoben, so daß nur noch sein gepanzerter Schädel und ein Stück der rechten Schulter über seinen Rand hervorragten, und sein Schwert bewegte sich auf ähnliche Weise wie das Skars; vielleicht nicht ganz so elegant, dafür aber ungleich kraftvoller.

Er hatte keine Chance. Das hier waren keine Bauern, auch keine unerfahrenen Schläger, wie die Mitglieder der Tempelgarde, die Titch und er besiegt hatten, sondern Krieger, jeder einzelne so gut ausgebildet wie er und zehnmal so stark. Die berittenen Quorrl schienen nicht in den Kampf eingreifen zu wollen, sondern bildeten eine lebende Arena, aber selbst, wenn er diesen einen besiegte...

Es war vorbei, dachte er. Er konnte genausogut das Schwert fortwerfen und auf einen gnädigen raschen Tod hoffen.

»Laßt das Mädchen in Ruhe!« rief er, wider besseres Wissen und mit einer Stimme, die vor Hilflosigkeit und Zorn zitterte. »Laßt sie gehen, und ihr könnt mich haben!«

Der Quorrl, der Kiina festhielt, verstärkte seinen Griff, und aus ihren panikerfüllten Schreien wurde ein erstickendes Keuchen.

Skar riß sein Schwert in die Höhe und stürzte sich auf den Krieger.

Der Quorrl parierte seinen ersten Hieb mit dem Schild, was ein Fehler war. Skars Klinge aus Sternenstahl zerschnitt das fingerdicke Eichenholz wie Pergament und hinterließ eine blutige Wunde in dem Arm, der es hielt. Der Quorrl prallte zurück und hieb kraftvoll nach Skar, ein Schlag, der ungezielt war, Skar aber trotzdem zwang, seinen Angriff abzubrechen und sich hastig in Sicherheit zu bringen. Sofort setzte er nach, duckte sich unter einem weiteren Schwertstreich des Quorrl weg und schlug wuchtig nach dessen Klinge. Sein Tschekal traf das Breitschwert des Quorrl dicht über dem Griff und zerbrach es. Der Quorrl wankte, und zum ersten Mal glaubte Skar so etwas wie Furcht in seinen dunklen Augen aufblitzen zu sehen.

Aber er hatte die Fairneß der Quorrl überschätzt. Er kam nicht dazu, seinem Gegner nachzusetzen und den Kampf zu beenden. Hinter ihm stampften schwere Hufe auf den Boden, dann traf ihn etwas mit fürchterlicher Wucht genau zwischen die Schulterblätter und ließ ihn auf die Knie fällen.

Diesmal raubte ihm der Schmerz wirklich die Sinne. Er verlor nicht das Bewußtsein, aber er spürte, wie das Schwert seinen plötzlich kraftlosen Fingern entglitt und er nach vorne kippte. Sein Gesicht tauchte in den Morast ein. Kälte und klebrige Feuchtigkeit füllten seinen Mund und seine Nase, und er spürte, wie er zu ersticken begann.

Eine Hand packte ihn, riß ihn in die Höhe und wirbelte ihn herum, dann fuhren grobe, in Eisen gehüllte Finger durch sein Gesicht und ließen ihn wieder atmen. Skar riß sich instinktiv los, torkelte einen Schritt zurück und hob schützend die Arme über den Kopf.

Er war von einem Dutzend Quorrl umgeben. Jeder der Krieger trug einen schweren Eichenschild, aber keine Waffe, und es dauerte trotz allem noch immer Sekunden, bis Skar begriff, was sie taten, und warum.

Ein harter Stoß traf seinen Rücken. Er taumelte, kämpfte vergeblich um seine Balance und stürzte, fiel aber nicht wirklich, denn fast im gleichen Moment traf ihn der Stoß eines anderen Schildes vor die Brust und schleuderte ihn wieder zurück. Er schrie, schlug blindlings mit beiden Armen um sich und wurde abermals von einem Schildstoß getroffen, der ihm die Luft aus den Lungen trieb. Sein Blick suchte Kiina, aber er fand sie nicht, denn die Welt hatte sich in ein irrsinniges auf und ab aus tanzenden Farben und vorstoßenden und zurückprallenden Schilden verwandelt, die ihm das Leben aus dem Leib prügelten. Wieder fiel er auf die Knie, und wieder wurde er in die Höhe gerissen. Die Quorrl stießen ihn zwischen sich hin und her wie ein Spielball, und ihr rauhes Lachen mischte sich mit dem pfeifenden Geräusch seines Atems und Kiinas Schreien, die immer gellender und verzweifelter wurden.

Dann bekam er einen der Schilde zu fassen. Ohne wirklich zu wissen, was er tat, zerrte er daran, warf sich einen Sekundenbruchteil später mit aller Macht gegen den Krieger und spürte, wie dieser unter seinem plötzlichen Ansturm den Halt verlor. Der Quorrl stürzte und riß Skar mit sich, aber der Kreis war durchbrochen, und Todesangst und Verzweiflung gaben Skar übermenschliche Kräfte. Er sprang auf, schmetterte einem zweiten Quorrl die Faust ins Gesicht und riß die Waffe des zusammenbrechenden Kriegers an sich. Sein wütender Hieb prallte an dem hastig hochgerissenen Schild eines weiteren Quorrl ab, aber allein die schiere Wucht des Schlages reichte, den Krieger zurückweichen zu lassen und Skar für einen Moment Luft zu verschaffen.

Aber es war nur eine Atempause, und er hatte nichts erreicht. Kiina schrie noch immer, aber ihre Schreie waren leiser geworden, fast nur noch ein Wimmern, und ihre Bewegungen langsamer. Skar begriff voller Entsetzen, daß der Quorrl, der sie hielt, damit begonnen hatte, sie zu erwürgen, ganz langsam, so daß er es sehen mußte, und sich vielleicht in die verzweifelte Hoffnung hineinsteigerte, noch rechtzeitig zu kommen, um sie zu retten. Obwohl er wußte, wie sinnlos es war, rannte er los.

Er kam genau vier Schritte weit.

Ein berittener Quorrl versperrte ihm den Weg. Skar täuschte einen Stich gegen seine Beine an, warf sich im letzten Moment vor und rollte unter dem scheuenden Pferdeleib hindurch, aber der Quorrl reagierte mit unglaublicher Schnelligkeit: als Skar auf die Füße federte, traf ihn ein Fußtritt gegen die Schulter. Aus seinem Sprung wurde ein ungeschicktes Stolpern, er fiel, stemmte sich wieder hoch und stürzte ein zweites Mal, als der Quorrl sein Pferd herumriß und ihn einfach niederritt. Es glich einem Wunder, daß er den wirbelnden Pferdehufen entkam und seine Waffe behielt.

Er kam noch einmal auf die Füße, aber er spürte, wie seine Kräfte endgültig versiegten. Er machte einen Schritt, taumelte und ließ das Schwert fallen. Er war kein Satai mehr, begriff er voller Entsetzen. Er hatte noch das Wissen eines Satai, seine Erfahrung und Reflexe, aber die geheimen Kräfte der Kriegerkaste standen ihm nicht mehr zur Verfügung. Das Reservoir an scheinbar unerschöpflichen Kräften in seinem Inneren war versiegt. Er hatte es einmal zu oft angezapft.

Skar fiel. Er hatte nicht mehr die Kraft, den Sturz abzufangen, sondern konnte sich gerade noch zur Seite kippen lassen, um nicht abermals mit dem Gesicht in den Morast zu stürzen und diesmal wirklich zu ersticken; obgleich dies wahrscheinlich eine Gnade gewesen wäre, gegen das, was ihn erwartete.

Er versuchte, Kiina zu entdecken. Wie er war sie auf die Knie gesunken, aber der Quorrl, der sie niederdrückte, hielt sie auch gleichzeitig fest. Seine gewaltigen Pranken hatten sich um ihre Kehle gelegt und drückten unbarmherzig zu.

»Laßt sie... in Ruhe... ihr... verdammten ... Tiere«, stöhnte Skar. Er wußte nicht, ob die Quorrl seine Worte überhaupt hörten. Seine Stimme war nicht mehr als ein kraftloses Flüstern. Tränen füllten seine Augen. Er wollte nicht, daß sie starb. Nicht so.

Ein Wort, Bruder, flüsterte der Versucher hinter seiner Stirn. Ein Gedanke, und sie lebt.

Sie lebt.

Die beiden Worte schienen millionenfach gebrochen in Skars Kopf nachzubauen, wie ein höllisches, nicht enden wollendes Echo. Sie lebt. Lebt. Lebt. Lebt... Er konnte ihr Leben retten. Aber um welchen Preis.

»Nein«, flüsterte er. »So nicht.«

Etwas... löste sich von ihm; ein entsetzlicher Druck, der die ganze Zeit auf seiner Seele - und seinem Körper! - gelastet hatte, den er aber erst jetzt überhaupt bemerkte, als er nicht mehr da war, und plötzlich hatte er wieder Kraft; nicht viel, aber genug, sich in die Höhe zu stemmen und das Schwert zu ergreifen. Er taumelte auf den Quorrl zu, der Kiina erwürgte.

Ein Fußtritt traf seine Kniekehle und schleuderte ihn abermals zu Boden.

Skar schlug ungeschickt mit dem Schwert nach dem Quorrl, verfehlte ihn und stemmte sich abermals hoch. Vor seinen Augen wirbelten Farben, aber auch Schlieren grauen Nebels, die dichter wurden, die Welt langsam, aber unbarmherzig verschlangen. »Laßt sie in Ruhe!« stöhnte er. »Tötet... mich, aber laßt sie gehen!«

Etwas traf ihn und schleuderte ihn wieder zu Boden. Er hatte nicht die Kraft, noch einmal aufzustehen. Er dachte an Kiina, und er glaubte, den Druck dieser entsetzlichen geschuppten Pranken an seinem eigenen Hals zu spüren, bis er begriff, daß es Tränen waren, die ihm den Hals zuschnürten. Mit einer Kraft, die er gar nicht mehr haben durfte, schleppte er sich weiter, krallte die Finger seiner rechten Hand in den morastigen Boden und zog sich mit nur einem Arm auf Kiina zu, und den Quorrl, der sie umbrachte.

»Laß sie... gehen, du Bestie«, stöhnte er. »Töte mich. Mach mit mir, was du willst, aber laß... laß sie gehen!«

Der Quorrl verstand seine Worte, und tatsächlich löste er seinen Griff; aber nicht ganz, und auch nur für einen winzigen Augenblick. Er lachte.

»Das werde ich, Mensch«, sagte er. »Oh, das werde ich, keine Sorge. Wir werden dich töten, wie jeden, der hierher kommt. Aber erst sie. Erst das Menschenjunge, dann dich!«

Skar schrie auf, taumelte auf die Knie und brach sofort wieder zusammen. Die Hände des Quorrl schlossen sich um Kiinas Hals und drückten zu.

»Erst sie!« brüllte der Quorrl. »Und dann dich! Sieh zu, wie sie stirbt! Sieh es dir an, Mensch!«

Skar hob die Arme. Er wollte aufspringen, sich auf den Quorrl stürzen, aber er konnte es nicht. Seine Kraft reichte nicht einmal mehr, sich aufzurichten. Hilflos, schluchzend vor Zorn und Schmerz lag er da und sah zu, wie der Quorrl Kiina tötete. Und dann lösten sich die Pranken des Quorrl von Kiinas Hals. Langsam, ja, fast behutsam, ließ er das Mädchen zu Boden sinken, richtete sich wieder auf und kam auf Skar zu. Seine Gestalt überragte die Skars wie die eines zornigen Gottes, als er neben ihm stehenblieb und durch die dünnen Sehschlitze seines Helmes auf ihn herabsah.

»Warum wehrst du dich nicht, Satai?« fragte er.

»Ungeheuer«, flüsterte Skar. »Du verdammtes ... Tier.«

»Bin ich das?« fragte der Quorrl. »Sind wir das für euch, Mensch?«

»Du ... Bestie«, stöhnte Skar. »Mach mit mir, was du willst. Laß das Mädchen in Ruhe und mach mit mir, was du willst.«

»Das werde ich, Satai«, sagte der Quorrl und hob die Hände an den Helm, um ihn abzusetzen. Und eine Sekunde, ehe Skar endgültig das Bewußtsein verlor, sagte Titch noch einmal: »Das werden wir, Satai.«

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