Sie ritten ohne Pause bis spät in den Abend hinein, und wie auf der ersten Etappe ihres Weges durch das Land der Quorrl mieden sie bewohnte Gegenden und die Nähe von Dörfern. Ihr Weg führte sie jetzt nicht mehr direkt nach Norden, sondern mehr in östliche Richtung, und das Donnergrollen Ningas, von dem Skar noch immer nicht wußte, was es nun eigentlich bedeutete, wurde allmählich wieder leiser. Als sie am Abend, eine gute Stunde nach Sonnenuntergang, ihr Lager aufschlugen, war es nur noch zu erahnen, und vielleicht nicht einmal das. Vielleicht hörte Skar es nur noch, weil er wußte, daß es da war.
Während Titch das Lager aufzuschlagen begann, nahm Kiina einen Teil der Vorräte aus den Satteltaschen, die Cron ihnen mitgegeben hatte, und bereitete eine einfache Mahlzeit vor: leichten Wein und gesalzenes Fleisch, das sie roh hinunterschlingen mußten, denn sie wagten es nicht, ein Feuer zu entzünden. Sie aßen schweigend, und auch hinterher sagte niemand ein Wort, bis Skar die Stille nicht mehr aushielt und er aufstand, um ein paar Schritte zu gehen. Titch sah ihm nach, reagierte aber nicht einmal auf seinen Blick, während Kiina fast krampfhaft versuchte, nicht in seine Richtung zu blicken und so zu tun, als wäre sie in Gedanken versunken; wobei Skar allerdings ganz genau bemerkte, daß sie ihn aus den Augenwinkeln heraus scharf beobachtete.
Er schluckte die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und ging scheinbar ungerührt weiter. In seinem Innern jedoch brodelte es. Kiina war den ganzen Tag über wortkarg gewesen und ihm ausgewichen, so gut dies möglich war. Und es war wirklich erstaunlich, welch einen großen Bogen man um einen anderen schlagen konnte, ohne sich weiter als zwei oder drei Schritte von ihm zu entfernen.
Sie hatten ihr Lager am Rande eines kleinen Waldfleckens aufgeschlagen, dessen drahtiges Unterholz ihnen wenigstens in der Nacht Schutz vor einer zufälligen Entdeckung gab und das nicht mehr als vierzig, allerhöchstens fünfzig Schritte durchmaß, so daß kaum die Gefahr bestand, daß er sich etwa verirrte. Trotzdem entfernte sich Skar nur so weit von Kiina und Titch, daß er ihre Gestalten noch als unscharfe Schatten erkennen konnte, ehe er stehenblieb und sich müde an einen Baum lehnte. Für einen Moment spürte er nichts als den Wunsch, zu schlafen. Der Ritt war anstrengend gewesen, und Scrats Trank hatte längst seine Wirkung verloren. Er spürte jede Meile, die sie zurückgelegt hatten, wie eine unsichtbare Zentnerlast auf den Schultern. Und gleichzeitig hatte er Angst davor, sich hinzulegen und die Augen zu schließen. Zeit war so kostbar geworden; viel zu kostbar, um sie mit Schlaf zu verschwenden.
Du stirbst, Satai. In einer Woche, längstens einem Monat. Seltsam - er hatte sich immer eingeredet, keine Angst vor dem Tod zu haben. Jetzt, da der Tod zu etwas Realem, Näherkommenden geworden war, hatte er Angst vor ihm, ganz entsetzliche Angst sogar. Vielleicht, weil es sich um eine andere Art des Sterbens handelte als die, die über lange Jahre seines Lebens sein Weggefährte gewesen war. Der Tod auf dem Schlachtfeld war ihm bekannt und vertraut, fast so etwas wie ein alter Freund, auf dessen Ankunft er stets gefaßt gewesen war. Aber das hier war... anders. Auf eine Art anders und schlimmer, die Skar nicht in Worte fassen konnte.
Er verscheuchte den Gedanken, öffnete mit einem Ruck wieder die Augen und atmete tief ein. Er war drauf und dran gewesen, im Stehen einzuschlafen. Er fühlte sich schlecht. In seinem Mund war schon wieder dieser bittere Kupfergeschmack - sein Zahnfleisch blutete jetzt fast immer - und seine tastende Zunge verriet ihm, daß einige seiner Zähne locker waren. Das Gift, das Kiina und er in Elay eingeatmet hatten, wirkte vielleicht langsam, aber unerbittlich.
Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, tauchte das Gesicht der Margoi vor seinem inneren Auge auf; die pergamentene Totenfratze, in die der graue Staub ihr Antlitz verwandelt hatte. Vielleicht war es das, was ihm solche Angst machte, dachte Skar. Er hatte seinen eigenen Tod gesehen, und was er in der Höhle unter Elay erblickt hatte, das war entsetzlich gewesen. Entsetzlich und eines Menschen unwürdig. Er wußte, daß er nicht so sterben würde.
Skar verscheuchte auch diesen Gedanken, löste sich endgültig von seinem Platz und ging zu den anderen zurück. Aber er setzte sich nicht wieder zu Kiina und dem Quorrl, sondern blieb abermals stehen und trat nach sekundenlangem Zögern zu den Pferden. Eines der Tiere reagierte mit einem verlangenden Schnauben auf seine Annäherung. Skar lächelte, hob die Hand und streichelte seine Blesse. Das Tier revanchierte sich mit einem freundschaftlichen Stupser seiner großen, feuchten Nase, der Skar fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.
»Sei vorsichtig«, sagte Titch hinter ihm. »Sie sind Reiter gewöhnt, die zehnmal so stark sind wie du.«
Skar drehte sich überrascht zu dem Quorrl um. Er hatte nicht einmal gehört, daß Titch aufgestanden und näher gekommen war. Entweder hatte sich der Quorrl besonders leise bewegt, oder seine Sinne verloren allmählich ihre gewohnte Schärfe, dachte Skar beunruhigt.
»Jetzt übertreibst du«, sagte er, um seine Verlegenheit zu überspielen.
Titch zuckte mit den Achseln und begann seinerseits die Stirn des Tieres zu streicheln. »Meinetwegen auch nur dreimal.« Skar sah zu der Stelle hinüber, an der er Titch und Kiina das letztemal gesehen hatte. Das Mädchen war nicht mehr da. »Wo ist Kiina?« fragte er.
Titch zuckte abermals mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Sie geht ein wenig herum, denke ich.«
»Du meinst, sie geht mir aus dem Weg.«
»Hätte sie denn einen Grund dazu?« Titch sah ihn noch immer nicht an, sondern schien voll und ganz damit beschäftigt, das Pferd zu tätscheln, das seine rauhen Liebkosungen mit einem Geräusch quittierte, das fast an das Schnurren einer Katze erinnerte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Skar. »Vielleicht. Was hat Scrat ihr erzählt?«
»Die Wahrheit, denke ich«, antwortete Titch. »Ich habe so wenig mit ihr gesprochen wie du. Aber wenn Scrat es noch nicht getan hat, dann solltest du es tun - und zwar bald. Morgen abend werden wir Caran erreichen. Es kann sein, daß uns dann nicht mehr viel Zeit zu langen Erklärungen bleibt. Sie wird sich fragen, warum wir sie überhaupt mitnehmen, auf eine so gefährliche Mission.«
»Kaum«, antwortete Skar. »Sie ist ein Kind, und sie ist -«
»- nicht dumm«, fiel ihm Titch ins Wort. »Ich an ihrer Stelle hätte mir diese Frage längst gestellt, und du auch, Satai.«
»Ich habe ihr versprochen, sie mitzunehmen.«
»Unsinn«, sagte Titch überzeugt. »Versprechen hin oder her - du bist kein Mann, der dafür bekannt ist, unnötige Risiken einzugehen. Und sie ist ein Risiko. Ein größeres, als du wahrhaben willst.«
Skar sah ihn scharf an. Obwohl sie kaum anderthalb Meter auseinanderstanden, konnte er Titchs Gesicht nicht erkennen, denn die Nacht war sehr dunkel. Aber die Stimme des Quorrl klang nervös. Er war nicht nur aufgestanden, um mit ihm zu plaudern; nicht einmal, um über Kiina zu reden.
»Erzähl mir von Caran«, sagte er übergangslos. »Und -« Er deutete auf die beiden geschnitzten Truhen, die sie vom Sattelgurt des Packpferdes gelöst und in zwei Schritten Abstand am Waldrand deponiert hatten. »- davon.«
Titchs Blick folgte seiner Geste, und trotz der Dunkelheit konnte Skar den Schatten erkennen, der über seine Züge huschte. »Caran«, murmelte er. »Ich fürchte, es gibt nicht viel, was ich dir darüber erzählen kann. Ich weiß, daß die Höhlen existieren, und ich weiß, wo sie sind, aber das ist auch alles. Sie sind das Versteck der Bastarde. Ihre ...« Er lächelte flüchtig. »... ihre Räuberhöhle, würdest du sagen. Sie leben dort, wenn sie nicht gerade auf Raubzug gehen oder eine Stadt niederbrennen.«
»Auf Raubzug?« Nach allem, was Skar während seines kurzen Aufenthaltes in diesem Land über das Volk der Quorrl und vor allem über ihre Art zu leben gelernt hatte, fiel es ihm schwer, die Vorstellung von Räuberbanden zu akzeptieren, und er sagte es Titch.
Der Quorrl nickte. »Oh, sie sind auch keine Räuber, wie du sie kennst«, sagte er. »Sie stehlen und rauben, um zu leben, das ist wahr, aber sie tun es nicht aus Überzeugung, oder weil es ihnen Freude bereitet. Sie haben keine andere Wahl.«
»Das klingt wie eine Verteidigung.«
»Das ist es auch«, bekannte Titch mit überraschender Offenheit. »Ich verstehe sie. Obgleich ich viele von ihnen erschlagen habe.«
»Dann ist es für dich nicht ungefährlich, zu ihnen zu gehen.«
»Es ist lange her«, antwortete Titch ausweichend. »Und du weißt doch, ein Quorrl sieht aus wie der andere. Ich glaube nicht, daß sie mich erkennen.«
Skar blieb ernst. Aber er ging nicht weiter auf das Thema ein - wenn Titch ihm sagen wollte, wer die Bastarde waren und was sie in Caran erwartete, dann würde er es tun, und wenn nicht, dann nutzte alles Fragen und Drängen nichts -, sondern kniete nach ein paar Augenblicken neben einer der Truhen nieder und versuchte den Deckel zu öffnen. Obwohl er nicht in seine Richtung sah, spürte Skar, daß Titch ihn aufmerksam beobachtete. Aber der Quorrl schien nichts dagegen zu haben, und so drückte und schob er so lange an dem primitiven Mechanismus des Schlosses herum, bis er mit einem Klicken aufsprang. Behutsam hob er den Deckel der Kiste an und sah hinein.
Obwohl er gewußt hatte, was er finden würde, war er überrascht.
Im Innern der Truhe befand sich ein hölzernes, mit weichem Stoff ausgeschlagenes Gestell, in dem zahllose, gelblichgrün schillernde Eier lagen. Jedes war so groß wie eine Kinderfaust, und obgleich ihre Oberflächen nicht glatt waren, sondern aus winzigen überlappenden Schuppen bestanden, machten sie auf Skar einen höchst zerbrechlichen Eindruck. Zögernd streckte er die Hand aus und hielt inne, als Titch eine Bewegung machte. »Faß sie nicht an, bitte.« Titch trat neben ihn, blickte einen Moment mit undeutbarem Ausdruck in die Truhe und bat Skar dann mit einer Geste, den Deckel wieder zu schließen. Skar gehorchte.
»Was werden sie damit tun?« fragte Skar. »Sie ausbrüten?« Titch lachte leise. »Das ist nicht nötig. Wir sind keine Vögel, Skar. Und auch keine Kröten, auch wenn wir so aussehen. In genau hundert Tagen werden die Jungen schlüpfen, und sie werden nichts mit ihnen tun. Und das ist genau das, was Cron wollte. Nichts.«
»Du meinst, sie werden nicht zu Kriegern heranwachsen«, vermutete Skar.
»Das werden sie sogar ganz bestimmt«, erwiderte Titch. »Zumindest einige von ihnen, denn die Bastarde sind Krieger.«
»War Crons Opfer dann nicht sinnlos?«
Titch schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt einen Unterschied, Skar. Aber ich weiß nicht, ob du ihn verstehst.«
Ehe er antwortete, sah Skar sich noch einmal um. Von Kiina war nichts zu sehen. Die Nacht war zwar dunkel genug, daß sie in ein paar Schritten Entfernung stehen konnte, ohne daß er sie sah, aber er spürte, daß es nicht so war. Irgendwie hatte er stets gefühlt, wenn sie in seiner Nähe war. »Erkläre ihn mir.«
»Es sind die Bestimmer, die das Schicksal festlegen«, sagte Titch. »Sie und die Priester des heiligen Tempels in Ninga.« Er deutete auf die Truhen. »Sie bestimmen, was aus diesen Eiern schlüpfen wird.«
»Wie?« fragte Skar. Er war weder überrascht noch schockiert. Crons Worte waren zwar verwirrend gewesen, aber doch eindeutig, zusammen mit dem, was er schon vorher von Titch erfahren hatte. Es gab mehr Unterschiede zwischen seinem Volk und dem der Quorrl als das Aussehen.
»Das weiß niemand«, antwortete Titch. »Einmal im Jahr, wenn der Winter vorüber ist, ziehen die Bestimmer durch das Land und sammeln die Brut ein, um sie nach Ninga zu holen. Bringen sie sie zurück, so steht fest, ob es Krieger oder Handwerker, Bauern oder Kaufleute sein werden.«
»Und das glaubt ihr?« Skar schüttelte zweifelnd den Kopf. »Es ist so«, sagte Titch überzeugt. »Oh, ich weiß, was du jetzt denkst, aber du täuschst dich. Es ist kein Trick. Kein Hokuspokus, um ein abergläubisches Volk im Zaum zu halten. Sie wissen vorher, was aus der Brut wird. Der Bestimmer erfragt die Wünsche der Ahnen und wägt ab, was gut für sie und was gut für unser Volk ist.«
»Das ist doch Unsinn!« protestierte Skar. »Du hast es selbst gesagt, Titch: sie schlüpfen so oder so, und -«
»Du verstehst immer noch nicht«, unterbrach ihn Titch. »Hast du schon vergessen, was Ennart dir erzählt hat? Wir sind nicht wie ihr. Wir wurden gemacht, Skar. Wir sind Werkzeuge. Das dort in den Kisten, das ist nur das Rohmaterial, der Stahl, der in Ninga geschmiedet wird. Und nur seine Herren bestimmen, zu welcher Form. Sieh mich an. Ich bin ein Krieger. Ich bin es immer gewesen, vom Tage meiner Geburt an, und ich werde es sein, solange ich lebe. Es spielt keine Rolle, ob ich es will oder nicht. Ich kann nicht anders. Etwas in mir... etwas in diesen ungeborenen Quorrl dort, wird... verändert.«
»Außer, sie werden nicht nach Ninga gebracht«, sagte Skar düster.
Titch antwortete nicht sofort. Seine Stimme war leiser geworden, während er sprach, und bitterer, und es war wieder derselbe, hilflose Zorn darin, den Skar schon einmal gehört hatte, als Titch über sein Volk sprach.
»Ja«, flüsterte er nach einer Weile. »Außer, sie werden zu Bastarden. Vielleicht werden auch sie eines Tages zu Kriegern werden, und vielleicht sogar zu wilderen und zornigeren Kriegern, als ich je einer war, oder irgendeiner meiner Männer. Aber es wird ihre Entscheidung sein, und das ist der Unterschied. Dafür hat Cron sein Leben gegeben. Nicht für dich oder mich.«
»Und dafür bist du bereit, deines zu opfern«, sagte Skar ernst. »Vielleicht.«
»Aber begreifst du denn nicht?« sagte Skar. »Es ist nicht wahr, Titch. Ihr könnt aus eurem Schicksal ausbrechen! Das, was du tust, beweist es doch!«
»Was tue ich?«
»Du lehnst dich gegen sie auf. Du selbst bekämpfst sie, obwohl du behauptest, es nicht zu können.«
»Aber ich bleibe ein Krieger«, sagte Titch beinahe sanft. »Meine Feinde haben sich geändert, nicht ich. Ich wurde zum Kämpfen gemacht, und ich werde kämpfen. Ich kann nichts anderes. Sowenig wie du.« Er senkte müde das Haupt, und Skar spürte, daß der Quorrl jetzt nicht weiter reden würde, ganz gleich, was er sagte.
Und es war auch nicht nötig. Mit wenigen Sätzen hatte Titch ihm mehr über das Volk der Quorrl verraten, als wahrscheinlich jemals ein lebender Mensch gewußt hatte, mehr als irgendein Mensch wissen durfte. Und er ahnte, daß dieses Geheimnis größer und schrecklicher war, als er jetzt schon begreifen mochte, der wahre Grund, aus dem das Schuppenvolk aus dem Norden so hart war, und so unbarmherzig jeden vernichtete, der den Grenzen seines Landes auch nur nahe kam, denn es würde untergehen, an gebrochener Selbstachtung sterben wie ein Mensch an gebrochenem Herzen, würde jemals bekannt, was sie wirklich waren.
Seltsam, dachte Skar. Die Dinge hatten sich verkehrt. Nichts war mehr so, wie es war. Aus den Menschen, dem Volk, das sich als die rechtmäßigen Herren Enwors dünkte, waren die Eroberer geworden, Diebe, die nicht weniger als eine ganze Welt gestohlen hatten, und das Volk, das als Inbegriff der Härte und des Schreckens galt, der Quorrl, erschien ihm plötzlich empfindsamer und verwundbarer, als es die Menschen jemals gewesen waren. Er sah auf, las die unausgesprochene Frage in Titchs Blick und nickte fast unmerklich. Ich werde schweigen. Und Titch seinerseits las die Antwort in seinen Augen.
»Was wirst du tun, wenn wir Ninga erreichen?« fragte er. Und er las auch die Antwort auf diese Frage in Titchs Blick, ehe der Quorrl sie aussprach.
»Es zerstören«, antwortete Titch.