Irgendwie schaffte er es, bis zum Abend durchzuhalten. Skar wußte nicht wie - wenn er versuchte, sich an den Tag zurückzuerinnern, dann war in seinen Gedanken nur ein wüstes Durcheinander von Schmerz und Fieber und Durst und Alpträumen, die ihn plagten, obwohl er nicht einmal schlief. Einmal hatte er geglaubt, den Daij-Djan zu sehen - er war neben Kiina geritten und hatte irgend etwas zu ihr gesagt, woraufhin sie sich zu ihm herumdrehte und antwortete, aber unter der schwarzen Kapuze des Quorrl-Mantels war nicht Kiinas Gesicht gewesen, sondern die grinsende Fratze der Sternenbestie, und um ein Haar hätte er sie geschlagen. Er bemerkte seinen Irrtum rechtzeitig, aber von diesem Moment an mied auch sie seine unmittelbare Nähe. Sie rasteten nicht unmittelbar am Fuß der Berge, wie Skar gehofft hatte, sondern ritten noch fast eine Stunde weiter, obwohl das Licht bald so schwach wurde, daß jeder Schritt auf dem rissigen, geröllübersäten Boden zu einem lebensgefährlichen Risiko wurde. Titch ließ eine kleine Anzahl seiner Krieger zurück, um ihren Rücken zu decken, aber die Hauptmacht des Heeres - während des ganzen Tages waren mehr oder weniger große Gruppen von Deserteuren zu ihnen gestoßen, so daß ihre Zahl nun auf über siebenhundert angewachsen war - quälte sich weiter, bis Caran zu einem gigantischen Schatten vor ihnen geworden war, der fast den gesamten Horizont ausfüllte, wie ein dreieckiges schwarzes Loch, das aus der Nacht ausgestanzt worden war.
Schließlich erreichten sie ein kleines Felsplateau, und Titch gab das Zeichen zum Anhalten. Die Krieger stiegen aus den Sätteln und begannen unverzüglich ein Lager aufzuschlagen - die Skar schon sattsam bekannten kleinen, schmuddeligweißen Zelte und zu seiner Überraschung auch eine große Anzahl mit Stein eingefaßter Feuerstellen. Aber er begriff auch fast im gleichen Moment, wie lächerlich seine Befürchtungen waren. Die Nacht würde kalt werden, und sie waren einfach zu viele, um auch nur den Versuch zu unternehmen, sich zu verstecken. Ganz davon abgesehen, daß es zum Caran hin so gut wie keine Deckung gab, mußten auch ihre Verfolger ganz genau wissen, wo sie zu finden waren. Titch hatte ihm erklärt, daß es nur diesen einen Weg zum Berg hinauf gab.
Müde und so ungeschickt, daß er fast stürzte, kletterte er vom Pferd und ließ sich schwer auf einen Felsen sinken. Seine Schultern schienen Zentner zu wiegen, und das Schwert zerrte wie eine Tonnenlast an seiner Hüfte. Ihm war übel.
»Hier«, sagte eine Stimme neben ihm. »Trink das.«
Skar sah auf und blinzelte wie durch einen Nebel aus Schwäche in Titchs Gesicht. Der Quorrl hatte wenig mit ihm geredet, seit ihrem Gespräch vom Mittag, aber er war ihm auch nicht direkt ausgewichen, wie Kiina es getan hatte. Mit zitternden Händen griff Skar nach der Schale, die der Quorrl ihm hinhielt, setzte sie an und stellte erleichtert fest, daß sie keine von Titchs Zaubertränken enthielt, sondern ganz ordinäres, aber eiskaltes Wasser. Er leerte sie mit großen, fast gierigen Schlucken.
»Hast du Hunger?« erkundigte sich Titch.
Skar hatte Hunger - er hatte seit zwei Tagen so gut wie nichts mehr gegessen, und wo sein Magen sein sollte, befand sich ein harter Klumpen, der im Rhythmus seines Herzschlages pulsierte. Aber allein der Gedanke an Essen machte ihn gleichzeitig fast krank.
»Ja«, antwortete er. »Aber ich kann nichts essen.«
Die Besorgnis in Titchs Blick wurde ein ganz kleines bißchen tiefer. Aber er ging mit keinem Wort auf Skars Antwort ein, sondern trat einen Schritt zurück und streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen.
Skar schwindelte. Titch mußte fester zugreifen, um ein abermaliges Straucheln zu verhindern. »Bist du sicher, daß du gehen kannst?« fragte er.
»Gehen?« Alles in Skars Kopf drehte sich. Er hatte Mühe, den Sinn von Titchs Worten zu begreifen.
»Die Höhlen«, erinnerte Titch geduldig. »Es ist nicht mehr weit bis zum Eingang. Aber uns bleibt auch nicht mehr viel Zeit. Du solltest hierbleiben«, fügte er nach einem unmerklichen Zögern hinzu. »Der Weg ist nicht sehr weit, aber anstrengend. Ich bin nicht sicher, daß du es schaffst. Aber ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich zurückkomme.«
Auf eine absurde, völlig unlogische Weise erfüllten Skar diese Worte mit Trotz; einem Trotz, der ihm die Kraft gab sich loszureißen und auf eigenen Füßen zu stehen; und ohne daß der Quorrl ihn stützen mußte. »Ich komme mit«, sagte er. »Und wenn es das letzte ist, was ich tue.«
»Gib nur acht, daß es nicht wirklich das letzte ist«, murmelte Titch. Aber er versuchte nicht mehr, Skar zurückzuhalten, sondern wartete geduldig, bis dieser sich wieder weit genug in der Gewalt hatte, aufrecht zu stehen und zwar langsam, aber ohne zu taumeln, neben ihm herzugehen.
Seltsam - er hatte den Eindruck gehabt, daß sie erst seit wenigen Augenblicken auf dem von Felsen übersäten Plateau waren. Aber die Quorrl hatten das Lager bereits für die Nacht vorbereitet - rings um die nahezu kreisrunde Steinplatte waren Posten aufgestellt, die trotz der zahlreich brennenden Feuer beinahe vollständig mit der Nacht verschmolzen, und neben den zahlreichen kleinen Zelten waren überall Lager aus Fellen, Decken, Sätteln oder einfach nur Stoffetzen ausgerollt worden. Vielfältige Geräusche drangen durch die Nacht: Atmen und Reden, Schleifen und Rascheln, das Klirren von Metall und Glas, das Knarzen von altem Leder, Eß- und Trinkgeräusche, der Hufschlag von Pferden ...
Er blieb stehen, lauschte. Es war... beunruhigend; auf eine Art und Weise, die er nicht völlig verstand, und die ihm vielleicht gerade deshalb um so mehr angst machte. Es war, als kröche eine unsichtbare Linie einer zweiten, dunkleren Finsternis aus der Nacht heran, ein unheimliches Schweigen, in dem alle Geräusche doppelt intensiv, aber isoliert wirkten. Eine ungeheure Einsamkeit ergriff von ihm Besitz.
»Was hast du?« fragte Titch, der sein Zögern bemerkt hatte. Seine Stimme klang aufmerksam, fast erschrocken. Aber Skar reagierte nicht darauf. Er lauschte; nach außen und in sich hinein. Es war keine Einbildung. Seine Wahrnehmungen waren ganz plötzlich von phantastischer Klarheit; so, als sorge irgendeine übergeordnete Macht dafür, daß seine Sinne um so schärfer arbeiteten, je weiter sein Körper verfiel.
»Ich weiß es nicht«, beantwortete er Titchs Frage. »Irgend etwas... passiert.« War das der Tod? Plötzlich bekam er Angst. Sein Herz jagte. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn und seinen Nacken. Er hatte davon gehört, unzählige Male: daß alles viel klarer und einfacher erschien, in den letzten Momenten, daß man Dinge sah und hörte und fühlte und roch, an denen man sein ganzes Leben lang vorübergegangen war, ohne sie auch nur zu registrieren. Daß man ...
Er zwang sich mit Gewalt, den Gedanken nicht zu Ende zu denken, beantwortete Titchs besorgten Blick mit einem ebenso breiten wie falschen Lächeln und ging übertrieben schnell weiter. Seine eigenen Schritte dröhnten wie schwerer Hufschlag in seinen Ohren. Titch folgte ihm in zwei Schritten Abstand, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihm zu nehmen. Skar spürte es, obwohl er sich nicht erlaubte, auch nur aus den Augenwinkeln in Titchs Richtung zu sehen.
Sie durchquerten das Lager, ohne auch noch mit einem einzigen Quorrl zu reden.
Skar nahm an, daß Titch bereits alles geklärt hatte: Anweisungen für die Dauer ihrer Abwesenheit, sicher auch für den Fall, daß sie nicht zurückkamen - die Chancen dafür standen weitaus besser als dafür, daß sie wiederkamen - für das, was mit Kiina zu geschehen hatte, in einem der beiden Fälle.
Kiina...
Gegen seinen Willen sah Skar auf und suchte nach ihr, ohne sie zu sehen. Wieder gestand er sich ein, daß er all dies hier letztendlich nur ihretwegen tat. Vielleicht um ihrer Mutter willen, der er ein Versprechen gegeben hatte, daß er niemals hatte einlösen können. Er - prallte so wuchtig gegen einen Felsen, daß er vor Schmerz und Überraschung aufschrie und beinahe gestrauchelt wäre. Titch streckte rasch die Hand nach ihm aus und hielt seinen Arm, auch, als längst klar war, daß er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Skar wollte sich instinktiv losreißen, unterdrückte den Impuls aber im letzten Moment. Ganz anders als sonst hatte die Berührung des Quorrl plötzlich etwas ungemein Beruhigendes. Für einen Moment glaubte er die Kraft des Quorrl zu fühlen wie einen ruhigen, mächtigen Strom reiner Stärke, von dem ein ganz kleines bißchen auch in ihn floß, ganz einfach, indem er Titch gestattete, seinen Arm zu halten.
»Was hast du?« fragte Titch noch einmal.
Skar löste seine Hand mit sanfter Gewalt aus der des Quorrl und zuckte mit den Schultern. Er wußte es nicht. Vielleicht wurde er verrückt. Vielleicht starb er. Er mußte fast all seine Kraft aufwenden, um in der Wirklichkeit zu bleiben. Dem, was er für die Wirklichkeit hielt. Er glaubte für einen Moment aufzuwachen, zum zweiten mal in kurzer Zeit aus seinem millenienwährenden Traum in die Wirklichkeit zurückzugleiten, eine von mehreren (zahllosen?) Wirklichkeiten, aber der Bann des Traumes war zu mächtig, der Schlaf zu tief. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder er selbst, aber der Träumer war stärker - er spürte, wie er wieder hinabgezogen wurde in den schwarzen Wirbel des Traumes und schüttelte mühsam den Kopf, in einer Bewegung wie unter Schmerzen. Die Bilder, die für Bruchteile von Sekunden vor seinen Augen gewesen waren, verschwanden, aber sie ließen etwas zurück: ein Gefühl von Bitterkeit, das Gefühl - nein, das Wissen - etwas verloren zu haben, das er nie wirklich besessen hatte.
Wieder hob Titch die Hand, um ihn zu berühren, aber diesmal wich Skar ihm aus. Erfüllt von einem grundlosen, entsetzlichen Schrecken sah er sich um. Alles wirkte... falsch. Die wenigen Farben, die die Nacht übriggelassen hatte, waren falsch, die Geräusche noch immer überlaut und - deutlich, aber zu schrill, in einer Tonart, die unmöglich war, Titchs Bewegungen und die der schwarzen Schatten in der Nacht hinter ihm abgehackt und unecht, das ruckhafte Armheben einer Marionette. Etwas... geschah. Mit ihm.
Titchs Gesicht verfinsterte sich. »Zum Teufel, Skar, was -«
»Nichts«, unterbrach ihn Skar. »Ich war nur einen Moment... verwirrt.«
Titchs Gesichtsausdruck machte sehr deutlich, was er von dieser Antwort hielt. Für die Dauer eines kurzen Atemzuges war Skar sicher, daß er ihn zurückschicken würde. Aber der Moment verging, ohne daß Titch etwas sagte, und schließlich drehte sich Skar demonstrativ um und ging weiter; so schnell, daß sich plötzlich Titch anstrengen mußte, um mit ihm Schritt zu halten. »Es war wirklich so«, sagte er noch einmal - und mehr, um sich selbst zu beruhigen, als den Quorrl. »Beeilen wir uns lieber. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Sie verließen das Plateau und gingen noch ein Stück weit den gewundenen Saumpfad hinauf, blieben dann aber wieder stehen, als Titch den Arm hob und nach links deutete. Skar strengte sich an, um in der Dunkelheit irgend etwas sehen zu können, das mehr als Schwärze und noch dunklere Schatten war. Nach einer Weile glaubte er, so etwas wie einen Riß im Berg wahrzunehmen, einen dreieckigen, niedrigen Spalt, der schon für einen Mann seiner Statur schmal schien. Wie Titch sich hindurchzwängen wollte, war ihm ein Rätsel.
Aber er tat es. Mit einer Geschicklichkeit, die selbst Skar dem Quorrl nicht zugetraut hätte, schlängelte und drängte sich Titch so lange hin und her, bis seine Gestalt nach und nach im Berg verschwand. Skar stand dabei und sah ihm zu, und allein das Bild erfüllte ihn schon wieder mit Furcht; einem an Panik grenzenden Grauen, das er nur noch mühsam unter Kontrolle halten konnte. Seine Phantasie, einmal außer Rand und Band geraten, gaukelte ihm ein anderes Bild vor: für ihn sah es aus, als verschlage der Berg den Quorrl, aus dem Riß im Felsen wurde ein dreieckiges steinernes Drachenmaul, in dem sich Titchs Gestalt unter unerträglichen Qualen wand, während er tiefer und tiefer in den Schlund des Ungeheuers gesogen wurde. Ein Omen? Eine Warnung, diesen Ort nicht zu betreten, die er ernst nehmen sollte? Unsinn. Und doch ... Er hatte ein ähnliches Gefühl schon einmal gehabt, plötzlich erinnerte er sich wieder: auf Crons Hof. Er mußte aufwachen. Der Traum begann ihm zu entgleiten, der Träumer verlor die Kontrolle darüber, und der Geträumte drohte vom Spieler zum Regisseur zu werden. Er war zu lange in jener fremden, armen Welt gewesen, um - Skar ballte die Hand so heftig zur Faust, bis ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Die fremden Gedanken und Bilder vergingen, aber das Gefühl blieb. Er durfte nicht in diesen Berg. Etwas Unvorstellbares würde geschehen, wenn er es tat, etwas, das tausendmal schlimmer war als das, was auf Crons Hof passiert war, etwas - Hör auf! dachte Skar. Ich weiß, daß du es bist! HÖR AUF! Er fuhr herum, starrte in die Dunkelheit und versuchte, die schlanke Gestalt seines höllischen Bruders zwischen den Felsen zu erkennen. Aber wenn er da war, so hielt er sich geschickt verborgen, ein Schatten zwischen den Klumpen geronnener Finsternis, in die die Nacht die Felsen verwandelt hatte. Nur seine Gedanken waren da, das tödliche Flüstern in Skars Kopf, und - Skar stöhnte. Wellen von wechselnder Kälte und Hitze durchfluteten seinen Körper. Seine Schläfen begannen zu pochen. Er hatte Schmerzen.
Du stirbst, Bruder. Betrete diesen Ort, und du stirbst. Er starrte den Daij-Djan an, der nun doch gekommen war, ein schlankes tödliches Nichts, vielleicht wirklich, vielleicht nur in seiner Vorstellung real, das blieb sich gleich, und es waren gerade seine Worte, gerade diese Warnung, von der Skar wußte, daß er besser daran täte, sie ernst zu nehmen, die ihn schließlich dazu brachten, sich herumzudrehen und Titch zu folgen.
Der Quorrl hatte sich mittlerweile völlig durch den Felsspalt gezwängt und winkte Skar ungeduldig, ihm zu folgen. Skar ließ sich ungeschickt auf Knie und Ellbogen sinken, zog die Schultern zusammen und begann in die Höhle zu kriechen. Scharfkantiges Felsgestein schrammte über seine Schultern und an seinem Rücken entlang, und er fragte sich erneut, wie um alles in der Welt Titch es geschafft hatte, seine Titanengestalt durch den schmalen Spalt zu zwängen.
Eine schuppige Hand griff nach ihm und zog ihn auf die Füße, kaum daß der Druck des Felsens auf seine Schultern verschwand. Halb von Titch gezogen, halb aus eigener Kraft, stand Skar auf und sah sich um.
Es war nicht dunkel, wie er erwartet hatte. Sie befanden sich am Eingang eines gewaltigen Felsendomes, dessen Wände und Decke zerborsten und von Rissen und Schrunden überzogen waren, der Skar aber trotzdem fast zu gleichmäßig und eben geformt vorkam, um natürlichen Ursprunges zu sein. Ein rötlicher Schein, der aus dem Nichts kam, erhellte die Luft. Auf dem Boden lagen unförmige rote und braune und schwarze Brocken, Felsen, die aus der Decke gebrochen waren. Und unweit des Einganges ein toter Quorrl.
Skar fuhr überrascht zusammen, als er die verkrümmte Gestalt sah. Der Blick, mit dem Titch ihn maß, verriet ihm, daß der Anblick des Leichnames für ihn keine Überraschung darstellte. Titch war schon einmal hiergewesen. Und er war offensichtlich weiter vorgedrungen, als er bisher zugegeben hatte.
Angewidert und fasziniert zugleich trat Skar näher und musterte den Leichnam.
Daß es ein Quorrl-Krieger gewesen war, erkannte er nur noch an der schuppigen Rüstung und dem gewaltigen Breitschwert, das eine der mumifizierten Krallenhände noch umklammerte. Der Körper mußte seit mindestens zehn Jahren hier liegen, dachte Skar. Fragend sah er Titch an, aber der Quorrl wandte sich rasch ab und ging weiter, so daß Skar ihm folgen mußte. Die Höhle war weitaus größer, als Skar angenommen hatte. Sie gingen gute zehn Minuten über den mit Trümmern übersäten Boden, ohne daß die jenseitige Wand auch nur einen Deut näher zu kommen schien, und sie fanden mehr tote Quorrl, mal einzeln, wie der Krieger am Höhleneingang, mal in ganzen Gruppen über- und nebeneinandergestürzt, und fast durchweg in dem gleichen fortgeschrittenen Stadium der Verwesung wie die erste Leiche.
Skar fror. Obwohl sie sich bereits tief im Inneren des Berges befinden mußten, war es hier drinnen merklich kälter als draußen. Ihr Atem zauberte kleine graue Wölkchen vor ihre Gesichter, wie Nebel, und ihre Schritte schlugen sonderbar widerhallende Echos aus dem zerborstenen Boden, und das Licht, dieses seltsame, fast unheimliche rote Licht, schien die Gestalt des vorausgehenden Quorrl zu umfließen wie leuchtendes Wasser.
Unwirklich, dachte Skar. Das war das Wort, nach dem er die ganze Zeit über gesucht hatte. Unwirklich. Nicht falsch oder fremdartig; es war, als bewegten sie sich Schritt für Schritt in eine Welt hinein, die sich von der ihren so völlig unterschied, daß es einfach keine Bezugspunkte mehr gab. Keine andere Welt, sondern eine andere Wirklichkeit, als gäbe es neben ihr noch eine andere Realität. Aber wenn es so war, dachte er, welche war dann die wirkliche Welt?
Skar spürte, wie sich seine Gedanken zu verwirren begannen, aber er fühlte auch, daß er diesmal nicht mehr genug Kraft hatte, den Teufelskreis zu durchbrechen, in den ihn Furcht und Todesnähe hineingeschleudert hatten. Er wankte. Sein Fuß stieß gegen einen kopfgroßen Stein und ließ ihn davonrollen, aber Titch sah nicht einmal auf, obwohl das Geräusch lang anhaltend und hundertfach gebrochen durch den unterirdischen Dom hallte. Wieder stießen sie auf Tote; Männer diesmal, die nicht so friedlich oder wenigstens schnell gestorben waren wie die, die sie bisher gefunden hatten. Obwohl ihre Körper fast bis zur Unkenntlichkeit mumifiziert waren; papierdünne, eingeschrumpfte Karikaturen der kraftstrotzenden Geschöpfe, die sie einmal gewesen waren, sah Skar noch immer die Spuren unerträglicher Pein auf den ausgezehrten Gesichtern. Ihre Glieder waren verkrümmt; manche gebrochen, und Skar sah einen Quorrl, dessen Kehle von seiner eigenen Hand aufgerissen war.
»Was ist hier passiert?« fragte er.
Titch antwortete nicht, und als Skar hochblickte, sah er, daß der Quorrl einfach weitergegangen war. Verärgert lief er ihm nach, holte ihn ein und zog ihn grob am Arm herum.
»Warum antwortest du nicht?« fragte er. »Du -«
Skar verstummte abrupt, als er in Titchs Gesicht blickte. Der Quorrl wirkte eindeutig erschrocken; aber auch verwirrt. Ohne daß Titch auch nur ein Wort sagen mußte, wußte Skar, daß er seine Frage gar nicht verstanden hatte.
»Entschuldige«, sagte er, während er Titchs Arm losließ. »Entschuldige - was?« Titch blickte auf seine Hand herab, als hätte Skar sie beschmutzt, mit seiner groben Berührung. Dann starrte er Skar an. »Ich glaube nicht, daß du -«
Skar trat einen halben Schritt zur Seite, und Titchs Worte verstummten. Die Lippen des Quorrl bewegten sich weiter, aber Skar hörte nichts mehr, und nach ein paar weiteren Sekunden brach Titch ab und blickte ihn mit einer Mischung aus Schrecken und Ärger an.
Skar schauderte. Er kannte diesen unheimlichen Effekt, diese böse Magie der Laute, die gesprochene Worte nur noch dann hörbar bleiben ließ, wenn sich Sprecher und Angesprochener direkt ansahen. Er hatte ihn bereits zweimal erlebt.
»Ich habe gefragt, was das hier ist«, sagte er, nachdem er sich wieder so postiert hatte, daß Titch seine Worte hören konnte. Er machte eine weit ausholende Geste. »Die Toten - das waren deine Männer.«
»Und?« fragte Titch.
Skar verstand. Titch wollte nicht darüber reden. Und er respektierte dies. Zumindest im Moment.
Er wollte weitergehen, aber jetzt hielt ihn Titch am Arm zurück. Er sagte etwas, was Skar nicht verstand. Skar riß seinen Arm los und drehte den Kopf, und Titch wiederholte seine Frage: »Dieses... Schweigen, Skar. Du weißt, was es bedeutet.«
»Stimmt«, antwortete Skar und ging weiter. Titch starrte ihn sekundenlang beinahe feindselig an, zuckte dann in einer bedrückend menschlichen, trotzig-resignierenden Geste die Achseln und folgte ihm.
Aber Skars Antwort war nicht nur eine billige Retourkutsche. Er wußte, was dieser unheimliche... Wortzauber zu bedeuten hatte, und gleichzeitig wußte er es nicht. Er wußte nicht, was ihn bewirkte, und noch viel weniger, wozu er gut sein mochte. Was er wußte war, wieso sie ihn fühlten. Es gab nur diese eine Erklärung: Caran, was immer sich hinter diesem Wort verbergen mochte, war ein Ort der Alten.
Lange Zeit gingen sie einfach schweigend nebeneinander her. Skar fiel auf, daß Titch immer nervöser wurde, auch wenn der Quorrl sich alle Mühe gab, äußerlich gelassen zu erscheinen. Und auch er selbst fühlte sich... unbehaglich, auf eine schwer greifbare Weise. Fast ohne daß er sich dessen bisher bewußt geworden wäre, hatte sich sein Körper ein wenig erholt: die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, und das Gehen fiel ihm beinahe leicht, als schöpfe er aus jedem Schritt Kraft, statt daß es umgekehrt war. Vielleicht war es wirklich Titchs Berührung gewesen, die ihm ein wenig von seiner alten Stärke zurückgegeben hatte, vielleicht war es auch dieser Ort, von dem er ein Teil war, der ihm neue Kraft einflößte. Und gleichzeitig fühlte er immer stärker, daß er nicht hier sein sollte. Die Warnung des Daij-Djan war ernst gemeint gewesen. Und ehrlich. Nach einer Weile begann der Boden vor ihnen sanft anzusteigen, und schließlich - waren es Minuten, oder wirklich Stunden gewesen, wie Skar sich einbildete? - näherten sie sich dem jenseitigen Rand des Felsendomes. Der Boden wurde steiler, und die Risse, die ihn durchzogen, breiter. Titch gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß er zurückbleiben sollte, und Skar gehorchte, wenn auch nicht ganz. Statt stehenzubleiben, verlangsamte er nur seine Schritte, so daß der Abstand zwischen Titch und ihm allmählich größer wurde.
Der Quorrl war vielleicht zwanzig Meter von ihm entfernt, als er die Wand erreichte und stehenblieb. Auch Skar verhielt mitten im Schritt. Seine Hand sank auf das Schwert herab und fingerte nervös am Griff der nutzlosen Waffe. Titch tat etwas an der Wand, was er nicht erkennen konnte; wahrscheinlich suchte er nach einem Durchgang, einer verborgenen Tür oder einer weiteren, getarnten Spalte.
Skar besah sich die Felswand genauer. So weit er sie in dem düsterroten Schein überhaupt erkennen konnte, schien sie so zerrissen und schrundig wie das ganze Innere dieses unheimlichen Berges. Es gab handbreite, klaffende Spalten, die wie erstarrte schwarze Blitze durch den Fels liefen und ihn in ein Mosaik aus Millionen und Abermillionen unregelmäßiger Einzelteile zerrissen, aber auch große, wie in den Stein gebrannt wirkende Löcher, in deren Tiefe es hier und da funkelte; Kristall- oder Erzeinschlüsse, wie Skar vermutete. Aber keine dieser gewaltsam oder einfach von der Zeit geschaffenen Lücken war auch nur annähernd groß genug, Titch oder ihn hindurchzulassen. Schließlich trat Skar neben den Quorrl und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter, damit er den Kopf wandte und seine Worte verstand.
»Was tust du?« fragte er.
Statt zu antworten, streifte Titch seine Hand ab und wandte sich wieder der Felswand zu. Seine Finger glitten scharrend über den Fels, tasteten hierhin und dorthin, drückten auf Vorsprünge und in Vertiefungen - Skar verstand, auch ohne daß Titch antworten mußte. Der Quorrl suchte nach einem geheimen Mechanismus, der einen Durchgang in dieser massiv erscheinenden Felswand öffnete.
»Woher weißt du, wo der Eingang ist?« fragte er. Die Höhle war gewaltig.
»Weil Cron es mir verraten hat«, antwortete Titch.
Und weil du schon einmal hier warst, fügte Skar in Gedanken hinzu. Und ihn schon einmal gefunden hast. Aber er sprach es nicht laut aus, sondern sah schweigend zu, wie Titch die rotbraune Wand vor sich Handbreit um Handbreit abtastete, mit fast geschlossenen Augen und so konzentriert, wie Skar den Quorrl noch niemals zuvor erlebt hatte.
Plötzlich erstarrte Titch. Auf seinen Zügen erschien ein Ausdruck, der beinahe an Angst grenzte. Seine Hand hatte irgend etwas in einer der Spalten ertastet. Skar sah, wie sein Arm sich vor Anstrengung spannte. Aber irgend etwas sagte ihm, daß Titch keine Kraft brauchte, um den Hebel oder was immer er gefunden hatte, zu betätigen.
Titch sah hoch. In seinen dunklen Tieraugen loderte eine Angst, die Skar einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Du kannst... es dir noch überlegen«, sagte er stockend. »Was?«
Titch machte eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Du kannst noch gehen, Satai. Ich gebe dir Zeit, den Berg zu verlassen.« Wovor hatte Titch Angst? Er antwortete nicht, und der Quorrl wertete sein Schweigen als das, was es war. Sein Arm spannte sich mit einem kurzen, heftigen Ruck, und aus der Wand vor ihnen antwortete ein ebenso kurzes, hartmetallisches Geräusch auf die Bewegung; wie ein Peitschenhieb, nur lauter, und der Hieb einer Peitsche aus Stahl.
Titch sprang zurück. Jeder Muskel in seinem gewaltigen Körper war gespannt. Sein Blick irrte fast gehetzt hin und her, tastete über den zerrissenen Fels, flackerte. Seine Finger bewegten sich, schlossen sich zu Krallen und öffneten sich wieder; schnell und mehrmals hintereinander und mit einer Kraft, die seine Schuppen knistern ließ wie trockenes Papier. Der Quorrl war halb wahnsinnig vor Angst.
»Was -?« begann Skar.
Titch hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Und im gleichen Moment, wie zur Antwort auf seine Bewegung, klappte ein Teil der Felswand wie ein Paar steinerner Insektenflügel zur Seite.
Skar erstarrte.
Er hatte einen Durchgang erwartet, ein Tor, das sich öffnete, vielleicht auch einfach nur ein Loch im Boden, aber ein Teil der Felswand vor ihnen, den Titchs Tasten aus seinem vielleicht jahrelangen Schlaf geweckt hatte, war nicht größer als der Deckel einer kleinen Seekiste.
Und dahinter loderte die Hölle.
Skar starrte in ein rubinrotes, flackerndes Auge aus Glas oder Kristall, in dessen Tiefe ein düsteres Feuer brannte. Ein unheimlicher Hauch wehte ihm entgegen, etwas, was vielmehr seine Seele als seinen Körper streifte und ihn schaudern ließ; ein fast körperliches Empfinden von Gefahr, eine Drohung von so unvorstellbarer Natur, daß sich sein Verstand einfach weigerte, sie zu begreifen. Er wußte nur eines, aber das mit absoluter Gewißheit: daß er etwas gegenüberstand, das schlimmer, tausendfach schlimmer als der Tod war.
Das Licht im Inneren des Teufelsauges begann zu pulsieren; zuerst langsam, wie im Rhythmus eines gewaltigen bösen Herzens, dann immer schneller und schneller, wobei es allmählich an Leuchtkraft zunahm.
Und dann ertönte die Stimme.
Skar fuhr zusammen wie unter einem Hieb. Er verstand die Worte nicht, die plötzlich aus dem Nichts auf Titch und ihn einhämmerten, denn es waren Worte (Laute, entsetzliche, grauen-erregende Laute) einer Sprache, die vor einer Million Jahre untergegangen war, zusammen mit den Wesen, die sie sprachen. Aber allein ihr bloßer Klang ließ ihn sich krümmen wie unter Schmerzen, denn es waren Worte, die die gleiche fürchterliche Drohung enthielten wie das rote Licht und das Feuer im Inneren des Höllenauges.
Und dann hörte er, wie Titch antwortete.
Es war nur ein Wort. Ein kurzer, bellender Laut, der Skar die Stimmbänder zerrissen hätte, hätte er auch nur versucht, ihn auszusprechen, und der ihn für die gleiche Zeitspanne, die er brauchte, um ihn hervorzubringen, in etwas unsagbar Fremdes, Fürchterliches verwandelte.
Der Quorrl taumelte. Langsam, als kämpfe er gegen einen unsichtbaren Widerstand an, sank er auf die Knie, hob die Hände vor das Gesicht und verbarg seine Augen vor dem lodernden, bösen Licht, mit dem das Dämonenauge in der Wand sie überschüttete.
Das rote Pulsieren verlor ganz allmählich an Heftigkeit. Das Auge starrte sie noch immer an, und in seinem Licht war noch immer die gleiche, fürchterliche Drohung, aber sein Flackern wurde allmählich langsamer. Und dann, ebenso langsam und lautlos, wie sie sich geöffnet hatten, schlossen sich die steinernen Käferflügel in der Wand wieder. Die Stille, die folgte, war beinahe schlimmer als alles andere zuvor. Und es dauerte lange, sehr lange, bis Skar die Kraft fand, sich an Titch zu wenden und die Hand zu heben, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Das Gesicht des Quorrl war grau vor Anstrengung und Furcht, als er den Kopf wandte und ihn ansah. Skar suchte vergeblich nach Erleichterung in seinem Blick. Die Furcht war aus seinen Augen verschwunden - aber das Entsetzen war geblieben. »Und ... jetzt?« fragte er zögernd.
Titch wollte antworten, aber er kam nicht dazu. Ein dunkles, mahlendes Geräusch erscholl, und direkt hinter dem Quorrl spaltete sich der Fels; diesmal auf mehr als Manneslänge. Fassungslos und alarmiert zugleich beobachtete Skar, wie der Spalt breiter wurde, als sich der scheinbar massive Stein teilte. Ein Spalt entstand, wurde zu einer erst hand-, dann armbreiten Öffnung und schließlich zu einer quadratischen, gut zwei Meter messenden Öffnung, hinter der der Beginn eines halbrunden Stollens zu sehen war, der tiefer in den Berg hineinführte. Dasselbe rote Licht, das auch den Felsendom erhellte, füllte auch ihn aus. Trotzdem konnten sie nur wenige Schritte weit sehen, denn die Luft war seltsam unklar; als hinge Nebel oder feiner Staub in ihr, dachte Skar.
Titch machte eine abwehrende Geste, als Skar den Stollen betreten wollte. »Nein.«
Skar war fast erleichtert. Sie waren hierhergekommen, um diesen Stollen zu finden. Und trotzdem erfüllte ihn die bloße Vorstellung, ihn zu betreten, mit Furcht.
»Wir warten.« Titch atmete so schwer und tief ein, daß es sich fast wie ein Keuchen anhörte. Das Sprechen schien seine ganze Kraft zu erfordern. »Ich weiß nicht, was weiter geschieht. Cron hat es mir nicht gesagt.«
»Und vorher...«
»Ich wußte es nicht«, murmelte Titch. Er sah weiter in Skars Richtung, damit er seine Worte verstand, aber sein Blick war leer; ins Nirgendwo gerichtet. Und gleichzeitig direkt in die Hölle. Seine Hände zitterten. »Ich wußte das geheime Wort nicht. Keiner von uns wußte es.«
Das geheime Wort...
Skar verstand erst jetzt wirklich, was mit diesem so täuschend harmlosen Begriff gemeint gewesen war. Keine Parole, wie er angenommen hatte, nichts, was Titch oder er irgendeinem Wächter sagte, damit ihnen Durchlaß gewährt wurde. Das geheime Wort, das euch den Weg in die Höhlen von Caran öffnet... Es war unvorstellbar. Allein die Vorstellung erschütterte Skar bis ins Innerste. Es war der Berg selbst, der ihnen Einlaß gewährte oder nicht. Nicht die, die in ihm lebten. Er starrte den Tunnel hinter dem getarnten Tor an, und wieder erfüllte ihn sein bloßer Anblick mit Grauen.
»Keiner von uns wußte es«, sagte Titch noch einmal. Etwas in seiner Stimme ließ Skar aufhorchen; ein Klang, ein Zittern, das vorher nicht darin gewesen war, etwas Neues, das er noch nie an dem Quorrl gehört hatte. Er sprach, aber er sprach nicht mit Skar. Er sprach zu ihm, aber nicht, um ihm etwas zu erzählen, sondern nur, um zu reden, und mit ihm nur aus dem einzigen Grund, weil es leichter war, mit einem Zuhörer zu sprechen als mit einem Stein.
»Keiner wußte es«, sagte er noch einmal. Es klang wie ein Schrei. »Wir... wußten nicht einmal, daß es existiert. Niemand war hiergewesen, vor uns.« Er hob in einer hilflosen Bewegung die Hände und starrte Skar an, und wieder war in seinen Augen dieses unbeschreibliche Entsetzen, das Skar verriet, daß er nicht ihn sah, sondern in seine eigene, ganz private Hölle blickte; die Hölle der Erinnerungen, die er seit jenem entsetzlichen Tag mit sich trug und der er niemals ganz würde entkommen können. »Wir waren fünfhundert, Satai. Die Besten. Nicht viele, aber ein Heer, wie dieses Land noch keines gesehen hat. Ich habe jeden einzelnen Mann selbst ausgesucht. Viele von ihnen waren meine Freunde.«
»Sie hatten euch geschickt, um Caran zu erobern?« fragte Skar leise den Quorrl.
Titch nickte. »Die Bastarde hatten einen Bestimmer getötet«, antwortete er. »Nur einen, und es war noch dazu umsonst. Sie schlugen zu früh zu. Die Brut, die er nach Ninga bringen sollte, befand sich noch im Dorf ihres Vaters. Aber sie töteten ihn und alle, die bei ihm waren. Ich war jung damals, Satai. Ein Krieger, aber ohne Erfahrung. Trash suchte mich aus, um das Heer zu führen, denn er selbst hatte Cant bereits verlassen und Blut gekostet, so daß er nie mehr zurückkehren durfte. Wir sollten sie auslöschen, ein für allemal. Der Befehl kam direkt aus dem Goldenen Tempel in Ninga.«
Wieder schwieg der Quorrl für endlose, quälende Sekunden. Er schloß die Augen. Sein Gesicht arbeitete, als wären die Muskeln unter seiner grüngrauen Schuppenhaut lebendig geworden; winzige zuckende Würmer, die sich hin und her warfen und aus ihrem Gefängnis zu entkommen versuchten.
»Wir hatten einen von ihnen gefangengenommen«, fuhr er fort. »Die Tempelpriester brachten ihn zum Reden, so daß wir von diesem Eingang wußten. Ich führte das Heer zum Berg. Es ... es war ein Tag wie heute, Satai. Ein Abend im Winter. Die Nacht kam, und wir lagerten auf dem gleichen Plateau, auf dem die Männer auch jetzt sind. Wir rechneten mit einem Angriff. Ich ließ das Lager befestigen und dreifache Wachen aufstellen. Aber nichts geschah. Wir fühlten uns sicher. Stark.« Er stieß das Wort hervor wie einen Schrei.
»Als die Sonne aufging, drangen wir in den Berg ein, durch den Eingang dort vorne. Wir sahen niemanden, aber ich war närrisch genug, nicht auf diese Warnung zu achten. Ich glaubte mich schon am Ziel. Niemand war dem Berg vor uns so nahe gekommen, und keiner hatte ihn je betreten.«
Er lachte hart. Seine Stimme wurde bitter, als er nach einer sekundenlangen Pause weitersprach. »Keiner, von dem man je wieder gehört hätte. Wir... wir kamen hierher und durchsuchten die Höhle, auf eine Falle gefaßt oder einen Hinterhalt.«
»Es war eine Falle«, vermutete Skar.
Titch nickte. »Und wir waren schon mittendrin. Später habe ich erfahren, daß sie uns zehnmal hätten vernichten können, schon lange, ehe wir dem Berg auch nur nahe waren. Sie sind viele, Skar, viel mehr, als ich damals ahnte. Aber wozu sollten sie kämpfen? Wir Narren haben uns selbst umgebracht. Ich habe sie umgebracht. Alle.«
»Wie?« fragte Skar einfach.
»Ich brachte sie hierher. An genau diese Stelle. Der... der Gefangene war bei uns. Er zeigte uns den Eingang. Das Tor, das ins Innere des Berges führt. Es liegt irgendwo hinter diesen Felsen, aber du kannst ein Leben lang vergeblich danach suchen, wenn du nicht genau weißt, wo es ist. Er... er zeigte es mir. Er führte mich und das Heer hierher und zeigte mir den geheimen Mechanismus, der den Wächter aktiviert. Keiner von uns wußte, daß es ihn gab. Keiner wußte, was er war.«
»Dieses... Auge?« Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf die Stelle über Titchs Kopf, an der der Felsen auseinandergeklappt war. Sein Blick streifte den offenstehenden Eingang des Felstunnels und saugte sich an der lastenden Schwärze dahinter fest, und seine überreizten Nerven gaukelten ihm Schatten und Bewegungen vor, die nicht da waren. Es kostete ihn Mühe, sich von dem unheimlichen Anblick loszureißen und sich erneut Titch zuzuwenden.
»Es war genau wie heute«, sagte der Quorrl. »Der ... der Fels spaltete sich, und dann hörten wir die Stimme. Großer Gott, diese Stimme, Skar. Ich habe sie nie wieder vergessen. Niemals.«
»Aber damals hast du nicht geantwortet«, sagte Skar. Er sprach schnell, fast hastig. Titchs Blick flackerte. Er spürte, daß der Quorrl die Beherrschung zu verlieren drohte. Die Erinnerungen wurden übermächtig. Titch zitterte am ganzen Leib, gemartert von einem Entsetzen, das aus sorgsam zugeschütteten Abgründen seiner Erinnerungen wieder hervorbrach.
»Ich wußte nicht, daß es eine Antwort gab«, murmelte der Quorrl. »Wir... wir hörten die Stimme, und ich spürte, daß etwas geschah. Das Licht. Ich... ich hatte Angst. Alle fühlten es. Ein paar Männer flohen. Auch ich wollte fort, aber ich konnte es nicht. Ich war wie... wie gelähmt. Sie sprach, aber ich... ich konnte nicht antworten, Skar. Ich wußte die Antwort doch nicht!« Skar berührte Titchs Hand. Die Schuppenhaut des Quorrl fühlte sich eiskalt an, und er spürte, wie Titchs Puls jagte. »Und weiter?« fragte er. Titch würde den Verstand verlieren, wenn er es nicht aussprach. Er mußte es tun, jetzt. Die Erinnerungen waren wie ein vergifteter Pfeil, der in seiner Seele steckte. Sie würden ihn umbringen, wenn er ihn nicht herauszog; ganz gleich, wie weh es tat. Skar spannte sich insgeheim. Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte Titch ihn angegriffen.
Aber die Spannung fiel so schnell von dem Quorrl ab, wie sie gekommen war. Seine Glieder zitterten weiter, aber der gefährliche Moment war vorüber. Titchs Stimme brach fast, als er weitersprach.
»Sie starben alle«, flüsterte er. »Der Wächter... Caran tötete sie.«
»Aber wie?« fragte Skar. »Was hat sie umgebracht, Titch?« Titch machte eine Handbewegung ins Nirgendwo. »Der Berg. Angst. Ich weiß es nicht. Du hast es gefühlt, Skar. Du... du mußt es gespürt haben. So wie ich. Wie alle, damals.«
Skar nickte zögernd. Er glaubte zumindest zu verstehen, was der Quorrl meinte. Es waren keine körperlichen Gegner gewesen, die Titch und seine Männer angriffen; keine Monster wie der Daij-Djan oder die Ultha, und auch nicht die Wirkung irgendeiner unvorstellbaren Götterwaffe wie der Scanner der Errish oder des grünen Feuers der Ssirhaa. Es war der Atem dieses Höllenauges gewesen, das kalte tödliche Feuer, das in seiner Tiefe glomm.
»Es wurde stärker«, fuhr Titch fort. »Es... es wurde einfach stärker. Er stellte die Frage, aber ich wußte die Antwort nicht. Die Männer begannen zu fliehen, einer nach dem anderen, und schließlich lief auch ich davon. Aber es... es war zu spät. Es war überall, nicht nur hier. In der Luft. Im Fels. In... in uns.« Und da war es von Anfang an, dachte Skar. Schon lange, bevor ihr hierhergekommen seid. Es war eure eigene Angst, die euch umbrachte, mein Freund.
Titch sprach nicht weiter, sondern senkte den Blick und verbarg das Gesicht hinter den Händen, aber Skar wußte auch so, was geschehen war. Er hatte den Haß und die Furcht gespürt, die das Dämonenauge im Fels verströmte wie ein unsichtbares Gift, den Atem der Sternengeborenen. Den Haß, den es in die Seelen seiner Opfer säte und das Grauen, von dem es sich nährte. Es war das gleiche, alles Lebende und Denkende verspottende Prinzip, auf dem die fürchterliche Macht der Netzkreatur beruht hatte: indem es seine Opfer mit Haß nährte, züchtete es sich seine eigene Nahrung. Angst, aus der es neue Kraft gewann, um neue Opfer zu vernichten.
»Es war nicht deine Schuld, Titch«, sagte er leise. Er war nicht sicher, ob Titch ihn gehört hatte, denn der Quorrl sah ihn nicht an, aber nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: »Du wußtest nichts von dieser Falle. Du konntest es nicht wissen.«
Aber Titch hatte seine Worte gehört. »Ich habe sie hierhergebracht, Satai. Fragt ihr einen General eures Volkes, ob er von einer Falle gewußt hat, wenn er seine Armee verliert?« Er nahm die Hände herunter und sah Skar wieder direkt an, und plötzlich wurde sein Blick hart. »Damals habe ich mir geschworen, sie zu vernichten, Skar. Ich wußte nicht wen. Ich dachte, es wären die Bastarde, die diese teuflische Falle errichtet hatten, und ich schwor mir, daß sie eines Tages dafür bezahlen würden. Später begriff ich dann, daß sie nicht mehr waren als wir. Werkzeuge. Sie benutzen diese Dinge nur, aber sie wissen nicht einmal wirklich, was sie tun. Sowenig wie alle anderen. Wie du oder ich, oder die Tempelpriester in Ninga. Das war der Grund, aus dem ich meinem Vater folgte und das Heer anführte. Ich wollte euch niemals helfen, Skar. Die Menschen sind mir gleich. Ich hasse sie nicht, aber ich empfinde auch keine Freundschaft für sie.«
»Aber das stimmt doch gar nicht«, sagte Skar beinahe sanft. Titchs Augen flammten auf. »O doch!« antwortete er heftig. »Als der Hilferuf der Hohen Satai kam, Skar, weißt du, was ich da getan habe? Ich habe gelacht! Ich hätte ihre Boten getötet, hätte ich es gekonnt.«
»Aber du hast es nicht«, antwortete Skar. »Was zählt ist, was man tut. Nicht was man will.«.
»Sie waren mir gleich, und sie sind es noch«, behauptete Titch. »Aber dann habe ich begriffen, wer es wirklich ist, den sie bekämpfen, und das war der Grund, aus dem ich mit meinen Männern Cant verließ und mich Trash und Del anschloß. Ich wollte sie, Skar. Ich wollte die Sternengeborenen, und ich will sie noch.« Er ballte die Faust und schlug damit so wuchtig auf den Boden, daß Skar seine Knochen knirschen hörte.
»Sie werden bezahlen, Skar«, sagte er im Tonfall eines Verzweifelten, aber auch gleichzeitig eines feierlichen Versprechens. »Hundertfach bezahlen. Für das Leben dieser Männer hier und das derer, die draußen in eurer Welt gestorben sind. Und derer, die noch sterben werden.«
»Eine eindrucksvolle Rede«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Aber du hast vergessen, dein eigenes Leben auf deine Liste zu setzen, du Narr.«
Skar fuhr herum und in die Höhe, gleichzeitig fiel seine Hand auf den Schwertgriff herab und zerrte die Waffe aus dem Gürtel. Aber er wußte, daß er nicht schnell genug sein würde.