21.

Titch erwartete ihn neben dem Spalt, der ins Innere des Berges führte. Irgendwie hatte er das Kunststück fertiggebracht, die Panik unter seinen Kriegern zu besiegen: aus der kopflosen Flucht der Quorrl war ein disziplinierter, wenn auch langsamer Rückzug geworden. Skar registrierte mit einem leichten Gefühl von Verwunderung, daß sich die Quorrl ins Innere des Berges zurückzogen, flankiert und angeleitet von Männern, die die zerfetzten Phantasie-Uniformen der Bastarde und ihre wilden Gesichtszüge trugen. Offensichtlich hatte sich Rowl doch noch bereit erklärt, Titchs Heer Zuflucht in seiner Festung zu gewähren.

Titch wirkte viel mehr überrascht als erleichtert, Skar unverletzt und frei zurückkehren zu sehen. Aber er stellte keine Frage daran, sondern trat ihm mit einem ungeduldigen Schritt entgegen und deutete talwärts. »Was hat er gewollt?«

»Ennart?« Skar blickte in die Richtung, in die Titchs Hand wies. Er seufzte tief. »Du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben«, sagte er, leise und im Tonfall tiefster Verwirrung. »Aber er hat mich um Hilfe gebeten.«

Der Quorrl war nicht einmal sehr überrascht. »Sie fürchten die Kreatur, die sie selbst erweckt haben«, sagte er. Mit einem verächtlichen Verziehen der Lippen fügte er hinzu: »Und sie nennen sich Götter!«

Sie gingen zurück ins Innere Carans. Auch der stählerne Dom hinter dem Felsspalt hatte sich mit Quorrl gefüllt, aber Skar wußte nur zu gut, wie trügerisch der Schutz der stählernen Kuppel war; und Titch mußte es auch wissen. Sein Gesicht zeigte nicht die mindeste Regung, während sie die Kuppel durchquerten und sich dem eigentlichen Eingang Carans näherten. Skar verspürte ein plötzliches, heftiges Mitleid mit dem Quorrl. Vielleicht würde keiner dieser Krieger am nächsten Morgen noch leben, und vielleicht würde Titch sein Heer ein zweites Mal verlieren.

Die Stille kam Skar doppelt unheimlich vor, nach dem Lärm und den Schreien und dem Chaos flüchtender und durcheinanderstürzender Quorrl in der gewaltigen Höhle. Zwei von Rowls Männern erwarteten sie, um sie sicher weiter ins Innere des Berges zu begleiten, aber ihre Nähe vermittelte Skar nicht das Gefühl von Sicherheit; ganz im Gegenteil - der Anblick der beiden breitschultrigen Kolosse schien die Fremdartigkeit Carans noch zu betonen. Wie beruhigend, überlegte Skar, wirkte ein Beschützer, der selbst Angst hatte?

»Was wird Rowl tun?« fragte er. Seine Worte rief unheimliche hallende Echos in dem halbrunden Gang aus Metall hervor. Die Schatten schienen sich zu bewegen, als hätte der Klang seiner Stimme sie aus ihrem äonenlangen Schlaf gerissen, so daß sie sich nun formierten, um ihn für diesen Frevel zu bestrafen. Titch zuckte mit den Schultern und sah zu ihren Begleitern zurück, ehe er antwortete. Auf den Gesichtern der beiden Quorrl war nicht zu erkennen, ob sie Skars Worte verstanden hatten oder nicht. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Frage mich, wie jemand reagieren wird, der völlig unberechenbar ist. Ich glaube, er selbst hat nicht viel mit den Ssirhaa im Sinn. Warum sollte jemand, der die Gesetze der Götter haßt, sie selbst verehren? Was seine Männer allerdings tun werden ...«

Er sprach noch weiter, aber mit einem Male gelang es Skar nicht mehr, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Ein unwirkliches Gefühl ergriff von ihm Besitz. Titchs Stimme schien zu zerbröckeln, Trümmer aus Schall, die an ihm vorüberglitten, ohne daß er sie greifen und in die richtige Reihenfolge bringen konnte.

Die Schatten wogten heftiger, und Skar spürte mit fast körperlicher Intensität, wie etwas geschah. Es war ein Hauch jener anderen, unendlich fremden und feindseligen Welt, von der ein Teil in ihm schlummerte, der plötzlich in die Wirklichkeit hinüberzugreifen schien.

Auch Titch und die beiden anderen Quorrl spürten es. Sie blieben stehen. Titch sah auf, sah sich zuerst verwirrt und dann erschrocken um und machte eine hilflose Geste; begleitet von Worten, die Skar so wenig verstand wie die zuvor. Er versuchte nicht, zu antworten, sondern gab Titch nur mit einer Geste zu verstehen, daß er schneller gehen sollte. Und plötzlich war die Angst da, die er in Ennarts Gegenwart vermißt hatte.

Nach einer Weile begann er zu laufen, schließlich zu rennen, und er verfiel erst wieder in einen etwas langsameren Trab, als ihn sein jagender Herzschlag und dünne Schmerzpfeile in seinen Lungen dazu zwangen. Skar war völlig erschöpft, als sie endlich in die oberen, bewohnten Etagen Carans zurückkehrten. Auch hier war es still, aber das war es schon immer gewesen; trotz der unheimlichen Akustik im Inneren des stählernen Berges, die alle Laute zu verstärken und verzerren schien, herrschte eine fast unheimliche Ruhe, in der jeder menschliche Laut isoliert und fehl am Platze schien, und so dauerte es eine Weile, bis Skar die Veränderung überhaupt auffiel: das fast magische Schweigen Carans war noch da, aber alle anderen Geräusche waren verschwunden.

Er blieb stehen, hob die Hand und machte eine rasche, abwehrende Geste, als Titch den Mund öffnete. Der Quorrl runzelte die Stirn, legte den Kopf schräg, lauschte - und erschrak ebenfalls.

»Irgend etwas stimmt hier nicht«, flüsterte er. Er zog sein Schwert, gab den beiden Quorrl neben ihm einen Wink, sich ebenfalls zu bewaffnen, und trat mit einem geschmeidigen Schritt an Skar vorbei. Auch Skar zog seine Waffe. Aufmerksam sah er sich um, während er dem Quorrl in drei Schritten Abstand folgte. Narrten ihn nur seine überreizten Nerven, oder war das blutige Licht Carans dunkler geworden, seine Farbe etwas mehr ins Rot verschoben und düsterer?

Nach ein paar Schritten blieb Titch stehen, hob warnend die Hand und deutete mit der anderen auf eine Tür, nur wenige Schritte entfernt und auf der anderen Seite des Ganges. Skar nickte. Mit einer wortlosen Geste wies er die beiden Bastarde an, zurückzubleiben und ihren Rücken zu decken, überquerte den Gang und preßte sich dicht neben der offenstehenden Tür gegen den rostigen Stahl der Wand. Titch vollzog die Bewegung auf der anderen Seite der Tür nach, wechselte das Schwert von der rechten Faust in die linke - und bewegte sich plötzlich rasend schnell. Mit einem einzigen, geschmeidigen Satz sprang er durch die Tür und nach links, und Skar folgte ihm, ebenso schnell und bereit, sich bei der geringsten verdächtigen Bewegung zur Seite zu werfen und gleichzeitig zuzuschlagen.

Aber ihre Vorsicht war unbegründet.

Das Zimmer war leer. Düsterrotes Licht und ein fremdartiger, stechender Geruch hingen in der Luft, auf dem pilzförmigen Tisch aus verrostetem Eisen standen Teller und Schalen mit den Resten einer Mahlzeit, und direkt neben der Tür lag ein achtlos fallen gelassenes Kleidungsstück, aber von seinem Bewohner war keine Spur zu sehen.

Skar tauschte einen raschen, fragenden Blick mit Titch und schob sein Schwert in die Scheide zurück. Während der Quorrl mit gezückter Waffe neben der Tür stehenblieb, um ihn und den Gang gleichzeitig im Auge behalten zu können, durchsuchte er die Kammer in aller Eile.

Er wußte selbst nicht genau, warum er es tat - an einem leeren Zimmer war nun wirklich nichts Besonderes, schon gar nicht in einem Gebilde wie Caran, das im Grunde aus nichts anderem als leeren Zimmern bestand - sehr vielen leeren Zimmern sogar - aber er spürte, daß er sich nicht täuschte: und daß es Titch genauso erging wie ihm: das Gefühl von Gefahr war nicht kleiner geworden; im Gegenteil. Es war nicht mehr nur ein Gefühl- es war Gefahr, eine mörderische Drohung, die greifbar in der Luft lag.

Der Anblick des Zimmers jedenfalls erbrachte nichts. Skar durchsuchte es so gründlich, wie dies in aller Hast möglich war, aber alles, was er fand, waren weitere Beweise dafür, daß der Raum von seinem Bewohner in aller Hast verlassen worden war. Und daß - Draußen auf dem Gang erscholl ein gellender Schrei.

Titch wirbelte herum und stürzte mit einem einzigen Satz aus der Tür, und Skar flankte kurzerhand über den Tisch und raste hinter ihm her. Das Tschekal glitt wie von selbst aus dem Gürtel und sprang in seine Hand. Mit zwei, drei gewaltigen Schritten stürmte er aus der Kammer, sprang an Titchs Seite und drehte sich erst dann herum, bereit, sich zu verteidigen oder auch anzugreifen, je nachdem.

Der Korridor hinter ihnen war leer. Nur rotes Licht und Schatten wogten zwischen den rostzerfressenen Wänden. Aber das stimmte nicht. Da war noch etwas. Etwas, das unsichtbar und drohend in der Welt zwischen den Dingen lauerte, und das er kannte...

Verwirrt sah er sich um, schob schließlich sein Schwert wieder in den Gürtel und wandte sich an den Quorrl, der geschrien hatte. »Was war los?«

»Ich ... ich weiß es nicht«, stammelte der Quorrl. Sein Gesicht war bleich, soweit Skar dies in der unsicheren Beleuchtung erkennen konnte, und seine Hände hielten das Schwert viel fester, als nötig gewesen wäre. Sie zitterten. Der Blick seiner dunklen, schreckgeweiteten Augen tastete unstet in der roten Dunkelheit hinter Skar.

»Du weißt es nicht? Soll das heißen, du hast einfach nur so geschrien?«

»Ich ... ich dachte, ich hätte etwas gesehen, Herr«, antwortete der Quorrl. Es kostete ihn Mühe, seinen Blick vom anderen Ende des Ganges zu lösen; und es gelang ihm nicht vollständig. Der Quorrl war halb wahnsinnig vor Angst. »Einen ... Schatten«, fügte er unsicher hinzu.

Ein Quorrl, der schrie, weil er sich vor einem Schatten erschreckt hatte? dachte Skar. Lächerlich. Aber er sah die Warnung in Titchs Blick und drang nicht weiter in den Bastard, sondern wandte sich an den zweiten Quorrl.

»Und du?«

»Ich habe nichts gesehen, Herr«, antwortete der Quorrl. »Ich habe in die andere Richtung geschaut.«

Skar setzte zu einer zornigen Entgegnung an, aber Titch kam ihm zuvor. »Und du hast auch nichts gespürt?«

»Gespürt? Ich verstehe nicht, was Ihr meint...«

»Verdammt noch mal, du -« Titch schluckte den Rest seiner wütenden Entgegnung hinunter und ballte hilflos die Faust. »Irgend etwas ist hier«, sagte er, wieder an Skar gewandt. »Ich weiß es.«

Er spürte es also auch, dachte Skar. Und er spürte wahrscheinlich auch, daß es etwas war, was ihnen nicht fremd war, sondern ...

Er wußte es nicht. Die Antwort war da, so sicher und zweifelsfrei wie der Schatz an niemals gelerntem Wissen, der tief in ihm schlummerte, aber seinem Zugriff ebenso entzogen. Er wußte nur, daß es etwas war, dem sie schon einmal begegnet waren.

Lautlos bewegten sie sich weiter, bis sie die erste Gangkreuzung erreichten und Titch stehenblieb und sich mit einer fragenden Geste an einen ihrer Begleiter wandte. »In welcher Richtung liegt Rowls Kammer?« fragte er.

Der Quorrl deutete nach rechts.

»Und dort?« Titch wies mit einer Kopfbewegung nach vorne, dann nach links.

»Nichts. Nur ein paar Räume. Die meisten sind leer.«

»Und in denen, die nicht leer sind?« beharrte Titch.

»Unterkünfte«, sagte der Quorrl. »Kammern für die Jungen. Waffen. Alles mögliche eben.«

Titch überlegte sekundenlang. Die Worte des Kriegers klangen nicht ehrlich. Auch Skar spürte, daß der Quorrl ihnen etwas verschwieg. Aber Titch ging nicht weiter darauf ein, sondern richtete sich wieder auf und deutete mit einem lautlosen Seufzen nach rechts.

Sie gingen weiter, dicht hintereinander und ganz instinktiv so, daß sie sich gegenseitig Deckung geben konnten, ganz gleich, aus welcher Richtung ein Angriff erfolgen mochte. Kurz bevor sie in den Seitengang einbogen, warf Skar noch einen Blick über die Schulter zurück.

Und sah das Gespenst.

Natürlich war es nicht wirklich ein Gespenst. Er sah es nur für den Bruchteil einer Sekunde, und er begriff in der gleichen, unendlich kurzen Zeitspanne, daß er das gleiche sah, was den Quorrl hatte aufschreien lassen: Es war eine Gestalt; groß und mit den buckelig-breiten Proportionen eines Quorrl, aber gleichzeitig anders; mißgestaltet, wie eine Wachsfigur, die in heißes Wasser gefallen und aufgequollen war. Das Schemen verschwand zu schnell wieder, als daß Skar Einzelheiten erkennen konnte, aber er hatte einen Eindruck von etwas Schwarzem, Brodelndem, das gleichsam aus dem Quorrl herauszuwachsen schien, ihn dabei aber zugleich auch auffraß, und - Das Ding war fort, noch ehe Skar Gelegenheit fand, einen Schrei auszustoßen, aber was zurückblieb, war ein klebriges Gefühl von Angst, und wieder und ungleich heftiger das Wissen, einer Bedrohung gegenüberzustehen, die nicht neu war. »Worauf wartest du?«

Skar schrak hoch und herum und registrierte erst jetzt, daß Titch und die beiden Quorrl gute zehn Schritte weitergegangen waren.

»Nichts«, sagte er unsicher. »Es war...«

»Nur ein Schatten?« schlug Titch vor.

»Ja«, murmelte Skar. »Das war es wohl.« Er lächelte, ein wenig zu überzeugend, wie er selbst spürte. »Geht weiter. Rowl wartet sicher schon auf uns.«

Er - oder jemand anderes. Etwas anderes, wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn. Für einen Moment sah er ihn: die dürre, zerbrechlich wirkende Kindergestalt seines Dunklen Bruders, die aus den Schatten herausgetreten war und ihm spöttisch (oder auffordernd?) zuwinkte und wieder verschwand, ehe Titch oder die beiden anderen ihn sehen konnten.

Sie fanden weitere, offenstehende Türen, und untersuchten auch die dahinterliegenden Räume; die ersten zwei oder drei so gründlich wie den, auf den sie in dem anderen Gang gestoßen waren, dann nur noch mit einem flüchtigen Blick. Das Ergebnis war überall das gleiche. Alle Räume waren leer. Hätte Skar es nicht besser gewußt, hätte er geschworen, daß ganz Caran verlassen war.

Er ging unwillkürlich langsamer, als sie sich Rowls Kammer näherten, und auch Titch wurde sichtbar nervöser. Etwas war... hier. Es war kein Gefühl mehr, es war Wissen; als könne er mit einem neuen, zusätzlich erworbenen Sinn plötzlich durch die Wand sehen und die Gefahr erkennen, die dort drinnen auf sie lauerte; dasselbe unsichtbare Ding, das schon alles Leben hier drinnen verschlungen hatte und nun auf seine letzten Opfer wartete.

Dicht vor Titch und mit klopfendem Herzen betrat er den Raum. Niemals zuvor im Leben hatte er eine solche Angst verspürt wie jetzt.

Nichts.

Der Raum war leer und kühl und von rotem Licht erfüllt wie immer. Die drei Zauberspiegel an der Wand waren erloschen, und in der Luft hing der gleiche, durchdringend-stechende Geruch wie in jenem ersten leeren Zimmer, das sie durchsucht hatten.

»Verdammt. Wo, zum Teufel, sind sie alle?« Wo war Kiina? »Aber das ist doch unmöglich«, murmelte Titch, der dicht hinter ihm durch die Tür getreten war. »Wir waren keine zwei Stunden fort! Sie können nicht alle...«

Tot sein? O doch, das können sie, Bruder. Erinnere dich an Ennarts Worte. Was jetzt geschieht, ist allein deine Schuld. Und er ist kein Mann leerer Drohungen.

Es dauerte Sekunden, bis Skar begriff, daß Titch den Satz nicht zu Ende gesprochen hatte; und daß an dem nachfolgenden Schweigen etwas Erschrockenes, Ungutes war. Mit klopfendem Herzen drehte er sich herum.

Er war auf Schlimmes gefaßt gewesen, aber die Wirklichkeit übertraf seine Erwartungen.

Neben der Tür lag ein toter Quorrl. Er lag auf dem Rücken, die Beine angezogen, den rechten Arm noch im Tod erhoben und die Finger in die Wand gekrallt, und aus seiner Brust ragte der Griff eines Dolches. Aber es war nicht diese Waffe, die ihn umgebracht hatte.

Seine linke Körperhälfte war skelettiert. Aus dem Ärmel seines zerschlissenen Wamses ragte eine zerbrochene Skelettklaue; die Knochen lagen so da, wie der Quorrl gestürzt war, aber auseinandergefallen, denn selbst die Sehnen und Bänder, die ihnen Halt gegeben hatten (noch vor zwei Stunden, Bruder!), waren verschwunden. Seine Kleider waren eingesunken, das linke Hosenbein und der Stiefel scheinbar leer, und die grausame Elimination des Lebens hatte auch vor seinem Gesicht nicht haltgemacht: die linke Hälfte seines Kopfes war ein grinsender, ausgehöhlter Totenschädel. Hinter der leeren Augenhöhle war nichts mehr. Was immer seinem Körper dies angetan hatte, hatte auch vor seinem Inneren nicht haltgemacht.

Für Bruchteile von Sekunden glaubte Skar noch einmal das Gespenst zu sehen, diese böse verquollene Karikatur eines Quorrl, von etwas Großem, Verquollenem befallen, das wie rasend schnell wuchernder Krebs aus seinem Körper hervorgekrochen war.

Skar versuchte, seinen Widerwillen zu überwinden und sich den Leichnam des Quorrl genauer anzusehen, aber es fiel ihm sehr schwer. Obwohl es ein Quorrl und kein Mensch war, erschütterte ihn der Anblick mehr, als irgend etwas zuvor. Vielleicht war es die entsetzliche Vereinigung von Leben und Tod, das schreckliche Totenkopfgrinsen auf der einen und der fassungslose, abgrundtief entsetzte Ausdruck auf der anderen Seite des zweigeteilten Quorrl-Gesichtes.

Er bewegte die Schwertspitze zum Gürtel, wie um die Waffe wieder in ihre Hülle zu schieben, führte die Bewegung dann aber nicht zu Ende, sondern behielt das Tschekal in der Hand, als er neben dem Toten niederkniete. Titch und die beiden Quorrl rührten sich nicht, sondern starrten voller Unglauben und Entsetzen auf den toten Krieger herab, so daß es an Skar war, den Leichnam genauer zu untersuchen. Skar begriff den Grund für Titchs Entsetzen. Wahrscheinlich hätte er es umgekehrt auch Titch überlassen, wäre dieser Tote ein Mensch gewesen. »Was hat ihn umgebracht, Skar?« fragte Titch. Seine Stimme war nur noch ein Hauch, ein entsetztes Flüstern, erfüllt von abgrundtiefem Grauen. »Was war es?«

Statt zu antworten, beugte sich Skar weiter vor und betrachtete den Toten genauer. Der Quorrl lag in einer bereits halb erstarrten Lache dunkler Flüssigkeit, die Skar im ersten Moment für Blut gehalten hatte. Jetzt sah er, daß das nicht stimmte: die Pfütze war zu groß, und der Geruch stimmte nicht - es war der gleiche, fremdartig-vertraute Geruch, der ihm schon vorher aufgefallen war. Skar bewegte sich in der Hocke einen halben Schritt zurück, um der schwarzen Flüssigkeit nicht zu nahe zu kommen; er hatte das Gefühl, daß es besser war, wenn er sie nicht berührte. Skar schluckte den bitteren Klumpen hinunter, der in seiner Kehle saß, hob das Schwert und berührte mit der Spitze die Schläfe des Totenschädels. Der Knochen zerbröckelte wie eine dünne Schicht aus Gips, eine leere Schale, unter der nichts mehr war. Was immer ihn angegriffen hatte (Was immer? Aber du weißt doch ganz genau, was es war, Bruder. Du hast es GESEHEN!), hatte sein Fleisch, seine Muskeln und seine Organe verzehrt und auch dem Knochen seine Festigkeit genommen, ehe es zu dieser glitzernden schwarzen Pfütze geworden war; wahrscheinlich im gleichen Augenblick, in dem der Quorrl starb. Skar betrachtete nachdenklich den Dolch, der den Quorrl und das, was ihn befiel, getötet hatte - und dann wußte er es. Die Antwort war so klar, daß er sich sekundenlang fragte, wieso er es nicht sofort gemerkt hatte.

»Es ist die Kreatur, Titch«, murmelte er. Er sah auf, begegnete dem Blick des Quorrl und sah das gleiche Begreifen und Erschrecken darin wie in sich selbst.

»Sie ist hier! Die gleiche Kreatur wie in Drasks Burg!« Vielleicht war sie die ganze Zeit über hiergewesen, ein unvermeidbarer Teil von allem, was die Sternengeborenen erschaffen und hinterlassen hatten. Vielleicht hatte er sie mitgebracht.

»Aber du hast sie vernichtet!« sagte Titch. »Sie ist tot, Skar!« Das stimmte. Aber wer hatte je gesagt, daß es nur diese eine Kreatur gab? Sie hatten ein Wesen geschaffen, das eine ganze Welt erobern sollte!

Er stand auf und entfernte sich ein paar Schritte von dem Toten, und auch Titch und die beiden anderen Quorrl wichen jetzt fast hastig aus seiner unmittelbaren Nähe zurück, als fürchteten sie, sich zu besudeln oder anzustecken, wenn sie ihm zu nahe kamen.

»Wo sind die anderen?« fragte Titch. »Rowl und die Krieger?« (Und Kiina?) »Sie können nicht alle -«

»Nein«, unterbrach ihn Skar; so hastig, daß er selbst begriff, wie groß seine Angst war, Titch könnte recht haben mit dem, was er sagen wollte. »Nein. Wir hätten Spuren finden müssen.« Skelette. Kiinas skelettierter Leichnam, verkrümmt und in einer Pfütze aus schwarzem brodelndem Schleim liegend, der... Es kostete Skars gesamte Kraft, das Bild aus seinem Kopf zu verscheuchen und sich wieder an Titch zu wenden.

»Wir hätten Spuren gefunden«, sagte er noch einmal. »Sie müssen geflohen sein. Rowl ist ein intelligenter Mann - er wird die Gefahr erkannt haben und geflohen sein.« Er muß es sein. Er muß einfach, weil dies die einzige Chance für Kiina war, noch am Leben zu sein.

Er wandte sich an einen der beiden Bastarde: »Gibt es einen... eine Zuflucht?« fragte er. »Einen Ort, an den ihr euch zurückzieht, falls... falls Caran angegriffen wird?«

»Nein, Herr«, antwortete der Quorrl. »Das ist nicht vorgesehen. Niemand... Caran ist unangreifbar. Rowl hat uns immer gesagt, daß nichts hier eindringen kann. Er hat gesagt, wir wären sicher.«

Ja, dachte Skar düster. Vor jedem Feind, der von außen kam. Nicht vor einem, der schon auf sie gewartet hatte, lange, ehe sie überhaupt kamen.

»Wir müssen sie finden«, sagte er bestimmt. »Sie müssen hier sein. Irgendwo. Es muß einen Ort geben, an den...« Er stockte, starrte eine Sekunde lang an Titch vorbei ins Nichts und setzte dann neu an. »Wo ist Rowls Quartier?«

Einer der beiden Quorrl sah weg. Der andere hielt seinem Blick stand, wurde aber zunehmend nervöser. »Ich ... verstehe nicht. Das hier -«

»Du verstehst verdammt gut!« unterbrach ihn Skar. »Ich rede nicht von dem hier. Das ist euer Thronsaal, euer ...« Er suchte nach Worten. »Nenn es, wie du willst, aber es ist nicht Rowls Schlafraum, oder?«

»Nein«, gestand der Quorrl.

»Dann bring uns dorthin«, verlangte Titch.

Der Quorrl zögerte, und Titch ergriff ihn wütend an der Schulter und zwang ihn, sich herumzudrehen und den Toten neben der Tür anzusehen. »Es sei denn, du willst sein Schicksal teilen. Willst du das?«

Das wirkte. Der Quorrl schüttelte erschrocken den Kopf, löste Titchs Hand von seiner Schulter und deutete auf die Tür. Sie verließen den Raum und gingen zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Titch fiel ein paar Schritte zurück und signalisierte Skar mit Blicken, es ihm gleich zu tun. »Was, zum Teufel, macht dich so sicher, daß sie dort sind?« fragte er im Flüsterton.

»Nichts«, antwortete Skar. Er sah sich nervös um. Der Gang war leer wie vorhin, aber der Anblick des toten Quorrl machte es ihm unmöglich, auf seine innere Stimme zu hören. Er war halb wahnsinnig vor Angst, und er sah unentwegt den Leichnam des Quorrl vor sich; aber er trug Kiinas Gesicht. »Aber Rowl ist ein vorsichtiger Mann. Hättest du dich allein auf diese Mauern verlassen?«

»Ich wäre erst gar nicht hierhergekommen«, grollte Titch. Aber er wußte, was Skar meinte, und nickte gleichzeitig. »Wenn es einen Ausgang aus dieser Falle gibt, dann dort«, behauptete Skar mit sehr viel mehr Überzeugung in der Stimme, als er wirklich empfand. Er klammerte sich einfach verzweifelt an die Hoffnung, daß es so war.

Sie fanden noch mehr tote Quorrl, nachdem sie die Gangkreuzung wieder erreicht hatten und nach rechts abgebogen waren: zwei, drei Krieger, die ebenso grausam oder schlimmer verstümmelt schienen wie der, den sie als ersten gefunden hatten, aber auch einige, die fast unversehrt schienen; zumindest auf den ersten Blick.

Dann sah Skar etwas, das ihn unvermittelt stehenbleiben und neben einem der Toten in die Hocke sinken ließ.

Der Quorrl wies - von dem Schwerthieb, der ihn getötet hatte abgesehen - keine sichtbaren Verletzungen auf, aber über der Brust war sein Hemd eingesunken, und auch unter seinem Leib glitzerte eine Lache dieser dunklen, schlierigen Flüssigkeit, die verriet, was wirklich für seinen Tod verantwortlich gewesen war. Und seine rechte Faust umklammerte etwas. Etwas Kleines, Gelblichgrünes, von der Größe einer Kinderfaust...

Skar wollte die Hand danach ausstrecken, aber einer der Quorrl kam ihm zuvor. Er schrie auf, stieß Skar brutal von den Füßen und zur Seite und bückte sich blitzschnell nach dem Toten. Skars warnender Schrei kam zu spät.

Es ging rasend schnell, und trotzdem sah Skar alles fast übernatürlich klar und deutlich, denn seine Sinne arbeiteten mit jener phantastischen Schärfe, die sich nur in Momenten absoluter Gefahr einstellte: der Quorrl riß das Ei an sich und fuhr in der gleichen Bewegung herum und zurück, Crons Brut wie einen kostbaren Schatz gegen die Brust gedrückt und die linke Hand mit dem Schwert drohend erhoben.

Und fast in der gleichen Sekunde zerplatzte das Ei. Etwas Kleines, sich Windendes mit einem dünnen peitschenden Schwanz und zu vielen Beinen kroch heraus, bohrte sich durch die Panzerschuppen des Quorrl und verschwand in seinem Arm. Der Krieger stieß einen keuchenden, halberstickten Schrei aus, taumelte zurück und gegen die Wand und ließ sein Schwert fallen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Qual, während er den Arm in die Höhe riß und aus hervorquellenden Augen auf seine Hand starrte. Etwas bewegte sich unter seinen Schuppen, kroch, wand und schlängelte sich in seinem Arm nach oben und dehnte sich dabei rasend schnell aus.

Titch schrie auf, warf sich mit einem gewaltigen Satz nach vorne und stieß ihm das Schwert ins Herz.

Der Krieger starb ohne einen Laut. Er stürzte, rollte in einer letzten, zuckenden Bewegung auf den Rücken und lag dann still. Sein aufgeblähter Arm sank in sich zusammen wie eine mit Luft aufgeblasene Tierhaut, in die jemand ein Loch gestoßen hatte. Eine schwarze Flüssigkeit quoll zwischen seinen Schuppen hervor und sammelte sich zu einer übelriechenden Pfütze.

Skar wandte angeekelt den Blick ab und stemmte sich hoch. »Großer Gott, Skar, wir... wir haben es mitgebracht.« stammelte Titch. Er fuhr herum. Seine Hand krallte sich in das Gewand des überlebenden Bastards und riß ihn so heftig herum, daß der Quorrl vor Schmerz aufstöhnte.

»Die Brut!« schrie er. »Die Truhen mit Crons Gelege! Wo sind sie?!«

»In... in Rowls Privatgemach«, stammelte der Krieger, ohne den Blick von seinem toten Kameraden zu lösen. »Rowl hat sie in seine Räume bringen lassen, und -«

Titch unterbrach ihn mit einem Stoß, der ihn gegen die Wand schleuderte. »Zeig uns den Weg!« schrie er. »Sofort!«

Der Krieger reagierte nicht. Sein Blick saugte sich am Arm seines toten Kameraden fest, und der aufgebrochenen grünlichen Eihülle, von der noch Fetzen zwischen seinen Fingern klebten. Seine Lippen bewegten sich, aber anstelle von Worten kamen nur hilflose, wimmernde kleine Schreie darüber.

Titch knurrte und hob die Faust, um ihn zu schlagen, aber Skar fiel ihm in den Arm, schob ihn mit schon etwas mehr als sanfter Gewalt ein Stück zur Seite und wandte sich mit einem besorgten Blick an den Bastard. Der Quorrl stand kurz davor, nicht nur die Beherrschung, sondern gänzlich den Verstand zu verlieren. Er schien gar nicht bemerkt zu haben, was Skar und Titch taten. Sein Blick irrte wie hypnotisiert zwischen den beiden toten Quorrl hin und her. Er zitterte am ganzen Leib.

»Bitte«, sagte Skar leise, aber so eindringlich, wie er konnte. »Zeig uns den Weg. Du mußt nicht mitkommen, wenn du nicht willst.«

Der Quorrl schien wie aus einem Traum zu erwachen. Mühsam hob er den Kopf, starrte auf Skar herab und blickte dann erneut seinen toten Kameraden an. Für ihn mußte der Anblick hundertfach schlimmer sein als für Skar. Skar war erschrocken und angeekelt gewesen, aber für den Quorrl bedeutete das Geschehen mehr; ungleich mehr. Skar versuchte sich vorzustellen, was er empfunden hätte, wäre diese Scheußlichkeit aus einem menschlichen Kind hervorgekrochen. Er verfolgte den Gedanken vorsichtshalber nicht sehr weit.

»Bitte«, sagte er noch einmal.

Der Quorrl hob unsicher die Hand. »Dort... vorne«, flüsterte er. »Die vierte Tür.«

Skar drehte sich herum, hob sein Schwert auf und ging in die angegebene Richtung. Nach einer Sekunde folgte ihm Titch, und nach einigen weiteren Augenblicken hörten sie, wie sich auch der Quorrl von seinem Platz löste und mit schnellen Schritten hinter ihnen herlief. Wahrscheinlich war für ihn nichts was sie erwarten konnte so schlimm, wie die Vorstellung, allein mit seinen beiden toten Kameraden zurückzubleiben; jetzt, wo er wußte, was sie umgebracht hatte.

Sie rannten jetzt beinahe, aber auf den letzten Schritten zu Rowls Tür wurden sie langsamer, bis der Quorrl schließlich stehenblieb und sich auch Skar nur noch auf Zehenspitzen bewegte; was an sich völlig unsinnig war, denn welcher Gegner auch immer auf der anderen Seite der Tür warten mochte, er wußte, daß sie kamen.

Skars Herz hämmerte zum Zerspringen, als er das Schwert hob und die Tür damit aufstieß.

Es war wie ein Blick in einen Alptraum.

Früher einmal mußte dieser Raum behaglich - oder wenigstens halbwegs wohnlich - eingerichtet gewesen sein, aber daran erinnerten jetzt nur noch Schemen: ein Bild, das von der Wand gefallen und auf die bemalte Seite gestürzt war, ein umgestürzter Stuhl mit zersplittertem Bein, bunte Stoffetzen, die einmal als Vorhänge das allgegenwärtige Rostrot der Wände zu kaschieren versucht hatten... dies alles war vernichtet und zerbrochen, zerstört wie in einem Anfall rasender Wut, aber auch diese Zerstörung war noch einmal zerstört worden, von etwas, das danach gekommen war, und gründlicher.

Der Boden glänzte unter einer feuchten, schlierig-klaren Schicht. Die Luft stank so durchdringend, daß das Atmen zur Qual wurde. Die skelettierten Reste von sieben, acht Quorrl lagen auf dem Boden oder zerbrochen über Stühlen und dem breiten Bett, dessen Seidenbezug schwer und dunkel vom Blut der Sternenbestie geworden war.

Skar machte einen unsicheren Schritt in den Raum hinein, trat ein Stück zur Seite und sah sich aufmerksam um. Hinter ihm schoben sich Titch und der Quorrl durch die Tür und blieben ebenfalls stehen.

Die beiden Truhen standen aufgebrochen direkt neben der Tür. Sie waren leer. Ihre Schlösser waren aufgebrochen, die Deckel zerborsten wie von Axtschlägen, und der rotviolette Samt, mit dem sie ausgeschlagen gewesen waren, zerfetzt und zum Teil herausgerissen. Die Eier waren verschwunden; nur einige leere Schalen zeugten von dem, was geschehen war.

»Sei vorsichtig«, flüsterte Titch, als Skar sein Schwert einsteckte und behutsam näher an die Kisten herantrat. Skar nickte, wußte aber gleichzeitig, daß er nichts zu befürchten hatte. Die Truhen waren jetzt nichts mehr als leere, nutzlose Behälter, deren tödliche Fracht längst ausgeschlüpft oder an einen anderen Ort gebracht worden war.

Er blieb wieder stehen, starrte in die Truhe hinab und ballte in hilflosem Entsetzen die Hand zur Faust. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was geschehen war. Die Toten hier im Zimmer mußten die Wachen sein, die Rowl sicherlich bei seinem kostbaren Besitz zurückgelassen hatte, vielleicht auch Bedienstete, die die Brot pflegen und über ihre Sicherheit wachen sollten. Skar wußte nicht, was sie getötet hatte - vielleicht ein Fehler der Bestie, die zu schnell und zu brutal zuschlug, ehe sie lernte, daß lebende Wesen sterben konnten, wenn man ihnen ihre Körper zu schnell nahm, vielleicht waren auch andere Quorrl hereingekommen, und es hatte einen Kampf gegeben. Es spielte keine Rolle - am Ende hatten sie gesiegt und den Tod hinaus in die Gänge Carans getragen. Zu Rowl. Zu Kiina.

Und sie hatten ihn hierhergebracht!

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Titch in diesem Moment: »Was haben wir getan, Skar?«

»Nichts«, antwortete Skar automatisch. »Wir haben nichts getan, Titch. Das ist Ennarts Werk. Und vielleicht meines«, fügte er leiser hinzu. »Er hat... mich gewarnt. Ich hätte nicht zurückkommen dürfen.«

»Haben ... sie das getan?« stammelte der Bastard. »Die Ssirhaa?«

»Vielleicht«, antwortete Skar. Aber vielleicht auch nicht, fügte er in Gedanken hinzu. Vielleicht hatte der Bestimmer auf Crons Hof diesmal etwas anderes getan, als sich die Eier nur anzusehen, und vielleicht waren diese beiden Truhen von Anfang an nicht für Ninga, sondern für Caran bestimmt gewesen.

Aber wenn es so war, dann bedeutete das ...

Er weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken und drehte sich wieder zu Titch und dem zweiten Quorrl um. Er wollte es nicht, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Gegen seinen Willen hörte er sich selbst fragen: »Wie viele seid ihr?«

Der Quorrl zögerte. Sein Gesicht war grau vor Schrecken, und er sah Skar auch jetzt nicht an. Sein Blick irrte unstet durch den Raum. »Ich... darf euch das nicht sagen«, antwortete er schließlich.

Titch fuhr herum und funkelte ihn an, aber wieder hielt Skar ihn mit einem warnenden Blick zurück.

»Ihr seid fünfhundert, nicht wahr?«

Der Quorrl starrte ihn an, schwieg. In seinem Gesicht arbeitete es.

»Es ist so«, behauptete Skar. »Ihr seid viele; vielleicht Tausende, wie Titch glaubt, aber hier drinnen seid ihr nur fünfhundert.«

»Ungefähr«, gestand der Quorrl widerwillig.

Titch keuchte, als er begriff, was Skar mit seinen Worten sagen wollte. »Fünfhundert -«

»Fünfhundert Eier für fünfhundert Quorrl«, sagte Skar grimmig. »Cron hat es gewußt, Titch. Diese Kisten waren niemals für den Goldenen Tempel in Ninga bestimmt.«

»Niemals!« behauptete Titch. »Das ist unmöglich, Skar! Er konnte nicht wissen, daß wir nach Ninga gehen!«

»Er hat uns selbst hierher geschickt!«

»Cron war kein Verräter!« beharrte Titch.

»Cron vielleicht nicht«, sagte Skar. »Aber möglicherweise der, den wir für Cron gehalten haben.«

Titchs Augen wurden weit. »Weißt du, was du da sagst?« Sie sind Meister der Lüge, Bruder. Und eine Lüge muß nicht immer gesprochen sein. Skar nickte. »Ja. Cron war nicht Cron.« Sowenig wie Ennart Ennart war. Oder Ian Ian. Oder... Aber das war nicht alles. Das schlimmste, erschütterndste Wissen, das diese Erkenntnis mit sich brachte, sprach er nicht laut aus. Wenn es wirklich so war, dachte er, dann bedeutete es nichts anderes, als daß der Daij-Djan versucht hatte, sie zu schützen, als er in jener Nacht die Kisten aufbrach, um die Eier zu vernichten.

»Nein«, flüsterte Skar. »Das... das kann nicht sein.« Es war unvorstellbar. Unmöglich.

»Was?« fragte Titch.

Skar sah auf und begriff erst jetzt, daß er den Gedanken laut ausgesprochen hatte. Er wollte antworten, irgend etwas sagen, aber er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Blick glitt an Titchs Gesicht ab und suchte die Tür, und er erblickte einen schwarzen tiefenlosen Umriß in der roten Dämmerung des Ganges.

Der Daij-Djan sah ihn an, und der böse Hohn in seinen gar nicht vorhandenen Augen war erloschen und hatte einem Ausdruck tiefer, ehrlich empfundener Trauer Platz gemacht. Ich konnte es dir nicht sagen, Bruder. Du hättest mir nicht geglaubt. Es gibt Dinge, die lernt man nur durch Schmerz.

Titch drehte sich langsam zur Tür; folgte seinem Blick. Aber sein Gesicht blieb starr. Er sah den Daij-Djan nicht; so wenig wie vorher. Das Ding von den Sternen war Skars ganz persönliche Hölle, sein privater Dämon, der nun in ihm und nur für ihn existierte und den andere nur sehen konnten, wenn er es wollte. Und was jetzt und hier geschah, das ging nur sie an. Skar begriff mit einem Male, warum der Daij-Djan vorhin so widerstandslos nachgegeben hatte, als er Ennart gegenüberstand. Er hatte da schon gewußt, daß er am Ziel war. Er hatte gesiegt; es spielte keine Rolle, ob Skar sich noch einmal der Illusion hingab, ihm entkommen zu sein oder nicht.

Der Daij-Djan hob die Hand. Komm zu mir, Bruder. Nimm meine Hand, und das Leiden hat ein Ende. Für uns beide. Skar begann zu zittern. Langsam, unsicher, wie von einer Macht gelenkt, die stärker war als sein eigener Wille, wandte er sich vollkommen um und trat zwischen Titch und dem Bastard hindurch, der ausgestreckten Hand des Daij-Djan entgegen; und der Erlösung, die sie versprach.

Titchs Pranke fiel schwer wie ein Stein auf seine Schulter herab, und die ungeheure Kraft der Berührung und der Schmerz, den sie mit sich brachte, riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Für Bruchteile von Sekunden hatte die Gestalt der Sternenbestie noch Substanz, dann wurde sie völlig zu einem Schatten und verschmolz schließlich mit der roten Dämmerung des Ganges. Skar schloß die Augen, blieb sekundenlang reglos und zitternd stehen und atmete hörbar aus. Titch sagte nichts, aber er sah ihn auf eine Art an, die Skar begreifen ließ, daß er wußte.

»Danke«, flüsterte er.

Titch lächelte; flüchtig und ganz kurz nur, aber in einer Art so ehrlicher, tief empfundener Freundschaft, wie Skar sie niemals zuvor verspürt hatte, während der Blick des Quorrl irritiert zwischen seinem und Titchs Gesicht hin und her irrte. Aber auch der Bastard wagte es nicht, etwas zu sagen, als spürte er, daß zwischen den beiden ungleichen Wesen etwas vorging. Und es war Titchs Berührung, die Last seiner starken hornigen Pranke auf Skars Arm, der das Etwas in Skar noch einmal - vielleicht zum letzten Mal - am Erwachen hinderte. Für einen kurzen Moment bekam der Schläfer noch einmal die Oberhand, und der ewige Traum ging weiter.

Aber schon der flüchtige Hauch der Wahrheit, der Skars Bewußtsein gestreift hatte, erfüllte ihn mit neuem Wissen. Zweierlei: Er spürte, daß es zu Ende ging - seine Zeit lief jetzt ab, unwiederbringlich und schnell. Und er wußte, wo Rowl und Kiina waren, wenn sie noch lebten. Es gab nur einen einzigen Ort in diesem Labyrinth aus Stahl und roter Dunkelheit, an dem sie sicher waren.

Fast behutsam löste er Titchs Hand von seiner Schulter und wandte sich wieder an den Quorrl. »Die Katakomben«, sagte er. »Die Höhlen unter Caran - gibt es noch einen anderen Weg dorthin?«

Wieder zögerte der Quorrl, und wieder tat er es auf jene ganz bestimmte Art und Weise, die Skar erkennen ließ, daß er ihnen etwas verschwieg.

»Wie kommst du darauf, daß sie dort sind?« fragte Titch. »Rowl hat davon gesprochen«, antwortete Skar. »Mehrmals. Ich an seiner Stelle hätte versucht, dorthin zu kommen.« Weil es der einzige Ort in dieser Festung ist, wo sie - vielleicht - sicher sind. Der einzige Ort, bis zu dem Ennarts Macht nicht reicht. Und weißt du auch, warum? Weil dort etwas anderes, Schlimmeres regiert.

Er ignorierte das Flüstern des Daij-Djan, so gut er konnte, und machte eine fast flehende Geste zu dem Bastard. »Bitte! Willst du hier oben sterben?«

»Wie sie?« fügte Titch mit einer Geste auf die toten Quorrl im Raum hinzu.

Der Bastard deutete ein Kopfschütteln an. »Nein«, murmelte er. Sein Blick suchte den Skars, und für einen zeitlosen Moment waren es nicht seine Augen, sondern die des Daij-Djan, in die Skar sah. Auch er wird sterben, Bruder. Ein weiterer Toter mehr auf deinem Weg zu mir.

»Es gibt... einen geheimen Fluchtweg, Herr. Niemand... weiß davon. Nur Rowl und ein paar Eingeweihte.«

»Und du gehörst dazu?«

Statt direkt zu antworten, wandte sich der Quorrl um und ging zur jenseitigen Wand, wobei er einen gewaltigen Bogen um die beiden aufgebrochenen Kisten schlug. Er bewegte sich langsam; Skar spürte, wie schwer es ihm fiel, zu tun, was sie von ihm verlangten. Es war das letzte, vielleicht bestgehütetste Geheimnis Carans, das sie ihn preiszugeben zwangen, und Skar war nicht einmal sicher, daß er es wirklich aus Angst tat; oder gar, weil sie ihn überzeugt hatten. Vielleicht war das Ding in ihm einfach schon zu stark, als daß er ihm widersprechen konnte. Der Quorrl hob die Hand und berührte eine Stelle an der Wand. Ein helles, durchdringendes Klacken erscholl. In der rotbraunen Canyonlandschaft aus Rost und Rissen erschien ein mannshoher Kreis, als sich ein tonnenschweres Segment der Wand wie von Geisterhand zu bewegen begann; langsam, mit drehenden, schraubenden Bewegungen, wie der Deckel eines übergroßen metallenen Behältnisses. Ein Schwall eisiger Luft schlug ihnen entgegen, die gleiche, furchtbare Kälte, die Skar schon bei seinem ersten Ausflug in die verbotenen Katakomben unter dem Berg gespürt hatte.

Skar und Titch traten näher, zögerten aber beide noch, den zum Vorschein gekommenen Gang zu betreten - vor allem, weil es kein Gang war: hinter dem stählernen Deckel lag eine schräg in die Tiefe führende, spiegelglatte Fläche, die sich in einer engen Spirale nach unten schraubte. Der Stollen war selbst für Skar nicht hoch genug. Titch und der Quorrl würden kriechen müssen; und Skar war nicht sicher, daß sie auf dem glatten Boden nicht den Halt verlieren würden.

»Wohin führt das?« fragte Titch.

»In die Katakomben, Herr«, antwortete der Quorrl. »Es gibt einen Tunnel, der aus Caran herausführt - zwei, drei Meilen weiter westlich in den Bergen.« Er sprach unsicher, stockend und mit großen Pausen zwischen den einzelnen Worten. »Vielleicht haben sie es geschafft.«

Titch machte eine auffordernde Handbewegung. »Dann geh. Wir folgen dir.«

Der Quorrl rührte sich nicht.

»Worauf wartest du?« fragte Titch ungeduldig. Ein mißtrauisches Funkeln glomm in seinen Augen auf. »Wenn dieser Weg sicher ist, dann geh ihn als erster.«

»Einer... muß zurückbleiben, Herr«, antwortete der Quorrl. Sein Blick wich dem Titchs aus und saugte sich an den Toten auf dem Boden fest. »Die Tür läßt sich nur von hier aus schließen.« Titch schwieg betroffen, und auch Skar hatte für Augenblicke Mühe, sich seinen Schrecken nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Er glaubte plötzlich zu wissen, was all die Toten auf dem Weg hierher und hier drinnen zu bedeuten hatten. Er sah den Quorrl an, aber diesmal wich der Krieger seinem Blick nicht aus. Erstaunlicherweise entdeckte Skar in seinen Augen aber auch keine Spur von Angst.

»Gibt es ... keinen anderen Weg?« fragte er.

Titch blickte überrascht, und der Quorrl deutete ein Kopfschütteln an. »Geht«, sagte er. »Erschlagt ein paar von ihnen für mich.«

Und genau das ist der Grund, aus dem wir hier sind, dachte Skar bitter. Weil zu viele so gedacht haben - wie du, mein Freund. Weil sie alle und immer so gedacht haben. Das ist der Grund, aus dem aus Enwor eine Hölle geworden ist. Aus dem alles, was von seiner Größe geblieben ist, Waffen und die namenlosen Schrecken der Vergangenheit sind.

Und aus dem es uns gibt, Bruder, fügte eine flüsternde schwarze Stimme in seinem Kopf hinzu.

Trotzdem sagte er: »Ich verspreche es.«

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