Sein Zeitgefühl war so vollständig erloschen wie seine Fähigkeit, irgend etwas anderes zu empfinden als Furcht und Verbitterung. Er wußte nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, bis Kiina zurückkehrte. Titch hatte ihn für eine kurze Weile allein gelassen, um sich im Haus umzusehen und ihm etwas zu trinken zu bringen, und er mußte wohl eingeschlafen sein, denn das nächste, woran er sich klar erinnerte, waren Titchs schuppige Finger, die seinen Kopf hielten und ihn zwangen, die Lippen zu öffnen und zu trinken; eine bittere, scharf schmeckende Flüssigkeit, die zuerst einen leisen Schmerz und dann wohltuende Wärme in seiner Kehle und danach in seinem Magen auslöste. Und ein nicht minder schuppiges Gesicht, das neben dem Titchs auf ihn herabstarrte und mindestens dreimal so alt war wie das seine.
Skar war froh, Scrat zu sehen. Anders als Titch war er nicht davon überzeugt gewesen, daß der Daij-Djan alle Quorrl auf diesem Hof getötet hatte. Trotz ihrer unersättlichen Blutgier war die Bestie nicht dumm; wenn sie tötete, dann nur, wenn es Sinn hatte. Und er war doppelt erleichtert, die alte Quorrl-Heilerin unversehrt zu erblicken; nicht nur, weil er Hilfe jetzt vielleicht dringender benötigte als je zuvor. Den Gedanken, daß der Daij-Djan alles Leben auf diesem Hof ausgelöscht haben könnte, hätte er nicht ertragen.
Er wußte nicht, was Titch ihm da einflößte, aber es wirkte; und es wirkte überraschend schnell. Skar konnte regelrecht fühlen, wie sich nach der Wärme eine Woge neuer Kraft in seinem Körper ausbreitete, so schnell, daß er fühlen konnte, wie Schmerz und Übelkeit erloschen und eine neue, nervöse Energie seine Glieder durchströmte. Und es vertrieb nicht nur seine körperlichen Beschwerden. Mit der Mattigkeit und dem Schmerz aus seinen Gliedern wich auch gleichzeitig die Düsternis aus seinen Gedanken. Er hatte das Gefühl, daß er für diese - geliehene - Kraft bitter würde bezahlen müssen, aber das war ihm im Moment gleich. Was er jetzt brauchte, das war ein klarer Kopf und die Fähigkeit, aus eigener Kraft auf den Beinen stehen zu können, und zu beidem verhalf ihm Scrats Trank.
Trotzdem blieb er reglos sitzen, als die Quorrl Titch einfach beiseite schob und damit begann, seinen Körper in Augenschein zu nehmen, rasch und sehr kundig, aber nicht besonders behutsam. Titch und sie wechselten ein paar Worte, während Kiina einige Schritte abseits stand und dem Tun der alten Quorrl voller unverhohlenem Mißtrauen zusah.
Skar mußte ein paarmal die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen, als Scrat seine Wunden säuberte und frische Verbände anlegte, die sie mit einer übelriechenden, heftig brennenden Salbe bestrich. Sie arbeitete schnell und mit einer Präzision, die in krassem Gegensatz zu ihrem Alter und dem Zittern ihrer Hände stand, aber Skar registrierte auch, daß sie es ohne Anteilnahme tat. Sie behandelte ihn wie eine Ärztin, die sie war, aber sie tat es auf eine Art, als versorge sie ein kostbares Tier.
»Fühlst du dich kräftig genug, um zu gehen?« fragte Titch, als Scrat sich ächzend aufgerichtet und einen Schritt zurückgetreten war.
»Das wird er«, antwortete die Quorrl an seiner Stelle. »Aber er ist es nicht.«
Titch fauchte ein einzelnes, zornig klingendes Wort in seiner Muttersprache, das Scrat mit einem trotzigen Blick quittierte, und wollte die Quorrl einfach aus dem Weg schieben, aber Kiina fiel ihm in den Arm.
»Was hat sie damit gemeint?« fragte sie mißtrauisch.
»Der Trank, den er ihm gegeben hat«, sagte Scrat, ohne Titchs warnenden Blick zu beachten. »Er macht ihn stark, Menschenkind. Aber er läßt ihn nur glauben, er wäre es. In Wahrheit nutzt er Kräfte, die er brauchte, um zu leben, nicht um sich zu bewegen.«
Kiina sah den Quorrl gleichermaßen verärgert wie überrascht an, und Titch machte einen zornigen Schritt auf Scrat zu. »Es ist gut«, mischte sich Skar in den beginnenden Streit ein. »Ich werde vorsichtig sein. Ich danke dir für deine Hilfe.« Er sah Titch fragend an. »Die anderen ...?«
»Leben alle noch«, sagte Titch. »Sie haben nicht einmal gemerkt, was passiert ist.« Er machte eine Geste zur Tür. »Cron will uns sehen.«
Obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte, dachte Skar, klang er nicht erleichtert, sondern eher besorgt. Hätte er es nicht besser gewußt, wäre er angesichts Titchs sonderbarer Reaktion sicher gewesen, daß er auch Crons Familie und Gesinde lieber tot als lebendig gesehen hätte.
Er verscheuchte den Gedanken, streifte seinen Mantel wieder über und bedeutete Titch mit Gesten, voran zu gehen. Kiina wollte sich ihnen anschließen, aber Titch schüttelte den Kopf. »Bleib zurück«, sagte er. »Ich traue Cron nicht.«
»Ich denke nicht daran, allein hier zu bleiben!« widersprach Kiina heftig. »Wie sicher, glaubst du wohl, wäre ich hier allein, wenn ihr nicht zurückkommt?«
»Titch hat recht«, mischt sich Scrat ein. »Besser, du bleibst hier. Ich will auch nach dir sehen.«
»Mir fehlt nichts!« sagte Kiina trotzig. Und schon gar nichts, was eine Quorrl heilen könnte, fügte ihr Blick hinzu. Aber wenn Scrat die unausgesprochene Beleidigung überhaupt bemerkte, dann schien sie sie nicht sonderlich zu stören. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der das Alter über den Widerspruch der Jugend offensichtlich bei allen Völkern hinwegging, ergriff sie Kiinas Arm und zwang sie fast gewaltsam, auf der Truhe Platz zu nehmen, auf der Skar bisher gesessen hatte. Kiina protestierte lautstark und versuchte sich zu wehren, aber das eine war so sinnlos wie das andere: Scrat reagierte nicht auf ihren Protest und die Beschimpfungen, die sie hineinflocht, und sie war zwar alt, aber sie war eine alte Quorrl, und somit immer noch gut fünfmal so stark wie das Mädchen.
»Tu, was sie sagt«, sagte Titch ungeduldig. »Vielleicht ist sie der letzte Quorrl, der dir jemals helfen wird, nach dem, was heute passiert ist.« Er drehte sich um und öffnete die Tür, und sie verließen die Kammer, ehe Kiina abermals widersprechen und womöglich eines ihrer endlosen Streitgespräche vom Zaun brechen konnte.
Das Haus war noch immer so unheimlich still, als Skar dicht hinter dem Quorrl auf den Gang hinaustrat. Dann hörte er Geräusche: das Poltern von Schritten über ihren Köpfen und Stimmen, die durch eine nur halb geschlossene Tür drangen, aber all diese Laute klangen sonderbar unwirklich und düster, die Stille schien noch immer da zu sein, als wäre aus der bloßen Abwesenheit von Geräuschen etwas anderes geworden, das sich nicht mehr vertreiben ließ. Unbehaglich sah er sich um, und als sein Blick Titchs Gesicht streifte, wußte er, daß es keine Einbildung war. Auch der Quorrl spürte es.
Sie fanden Cron in der großen Kammer, in der er auch das erste Mal mit ihnen gesprochen hatte, sogar in der gleichen Haltung auf dem geschnitzten Thron hockend, die mächtigen Hände auf den Knien aufgestützt und die Schultern leicht nach vorne gebeugt, so daß er wie eine zu groß geratene, schuppige Kröte aussah.
Aber das war auch alles, was Skar an den Cron erinnerte, den er kennengelernt hatte.
Der Quorrl hatte sich völlig verändert, so radikal, daß Skar ihn wirklich nur noch an seiner hünenhaften Gestalt erkannte. Der Quorrl, den er als Herrn dieses Hofes kennengelernt hatte, war ein Gigant gewesen, nicht nur körperlich. Er hatte Kraft und Entschlossenheit verströmt wie einen spürbaren Geruch, und es war längst nicht nur seine imposante Erscheinung gewesen, die Skar sich in seiner Nähe wie einen Zwerg hatte fühlen lassen.
Nichts war davon geblieben. Was Titch und ihm jetzt gegenübersaß, das war ein gebrochener Mann, in dessen Augen sich Entsetzen breitgemacht hatte, das nie wieder völlig erlöschen sollte. Seine Bewegungen waren matt, und der Spott, der in seiner Stimme liegen sollte, klang einfach nur mitleiderregend.
»Laß deine Waffe stecken«, sagte Cron, als Titch in einer instinktiven Geste die Hand auf das Schwert in seinem Gürtel legte. »Du brauchst sie nicht.«
Titchs Hand löste sich tatsächlich wieder vom Schwert, aber seine Haltung blieb angespannt. Er trat einen halben Schritt zurück und machte mit der freien Hand eine Geste zu Skar, Cron nicht näher zu kommen. Der Quorrl bemerkte die Bewegung sehr wohl, aber er reagierte nicht darauf. Sein Blick war starr auf Skars Gesicht gerichtet, und es war ein Blick, unter dem Skar sich sofort unwohl zu fühlen begann, denn das Feuer darin, das Titch für Zorn oder gar Haß zu halten schien, war in Wirklichkeit Angst. Die Vorstellung, daß ein Wesen wie dieser gigantische Quorrl vor einem Menschen Angst haben sollte, erschien Skar im ersten Augenblick absurd. Aber es war so. »Ihr müßt fort«, sagte Cron unvermittelt. »Ihr könnt nicht... nicht hierbleiben.«
Skar tauschte einen überraschten Blick mit Titch. Cron sprach schleppend; mühsam und mit jener übertriebenen Betonung, die verriet, wie sehr er sich anstrengen mußte, um überhaupt zu reden. Seine gewaltigen Pranken spannten sich um die Lehnen seines Thronsessels, daß das steinharte Holz knirschte. Als sich sein Blick endlich von dem Skars löste und er wieder Titch ansah, wirkte er wie ein Mann, der versuchte, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen, aber große Schwierigkeiten damit hatte.
»Hast du uns rufen lassen, um uns das zu sagen?« erkundigte sich Titch mißtrauisch.
Cron lachte: ein düsterer, klirrender Laut, der tief aus seiner Kehle kam und Skar erschaudern ließ. Ohne daß er sich der Bewegung im ersten Moment selbst bewußt wurde, kroch seine Hand wie die Titchs zuvor zum Gürtel und schmiegte sich um die Waffe, die darin steckte. Von Cron ging eine spürbare Bedrohung aus; aber er war nicht sicher, ob sie wirklich Titch und ihm galt.
»Ihr seid die, die sie suchen«, sagte Cron plötzlich.
»Wovon sprichst du?« sagte Titch. Er warf Skar einen warnenden Blick zu, nichts Unbedachtes zu sagen, und Cron registrierte auch dies. Skar nickte fast unmerklich, wobei er sich abermals der Tatsache bewußt war, daß keine noch so winzige Einzelheit ihres stummen Zwiegespräches Cron entgehen konnte.
»Spiel nicht mit mir«, sagte Cron ärgerlich.
Titch sah ihn fragend an, und Cron erwachte nun auch körperlich aus seiner Starre und beugte sich in seinem Stuhl vor. Obwohl er saß, war er noch immer einen guten Kopf größer als Skar und wirkte selbst jetzt noch beeindruckender als Titch, der selbst für einen Quorrl ein Gigant war. Skar mußte sich beherrschen, um nicht unwillkürlich einen Schritt vor Cron zurückzuweichen. Etwas sagte ihm, daß vielleicht ihrer beider Leben davon abhing, daß er jetzt keine Schwäche zeigte.
»Sie haben mir nicht gesagt, warum alle Gefangenen getötet werden sollten«, fuhr Cron fort, als weder Skar noch Titch auf seine Frage antworteten. »Aber jetzt weiß ich es. Sie suchen jemanden. Einen Menschen. Einen ganz bestimmten Menschen.« Sein Zeigefinger deutete anklagend auf Skar. »Dich.«
»Und wenn es so wäre?«
Titch fuhr unmerklich zusammen und warf Skar einen fast beschwörenden Blick zu, aber diesmal reagierte Skar nicht darauf. Cron hatte vollkommen recht: die Zeit, Katz und Maus miteinander zu spielen, war endgültig vorbei.
»Ich habe mich gefragt, warum«, fuhr Cron fort. Er sah Titch an, lachte wieder dieses rauhe, durch und durch humorlose Lachen und wandte sich wieder an Skar. »Ich habe mich gefragt, was an einem einzelnen Mann so gefährlich sein könnte, daß die gesamte Tempelgarde ausrückt, um ihn zu suchen. Ich habe mich gefragt, was ein einzelner Mensch wohl tun könnte, die Tempelpriester selbst zum Eingreifen zu zwingen. Jetzt weiß ich es.«
»Du redest Unsinn«, begann Titch. »Du -«
»Schweig!« donnerte Cron. Für einen Moment, nur für den Augenblick, den er brauchte, dieses eine Wort auszusprechen, war er wieder der alte Cron; ein Quorrl, in dessen Blick eine so zwingende Macht lag, daß selbst Titch nicht widersprach. Aber schon in der nächsten Sekunde sank der Quorrl wieder zurück. Er schloß die Augen.
»Ihr habt nichts von mir zu befürchten«, sagte er. »Wenn es das ist, was du hören willst. Ich kann euch helfen. Viel mehr, als du glaubst, Titch.«
»Ja«, grollte Titch. »Möglichst schnell nach Ninga zu kommen. Auf den Opferaltar. Oder in die Folterkammer der Tempelpriester.« Er machte ein abfälliges Geräusch und wollte sich umdrehen, aber Skar hielt ihn zurück.
»Warte«, sagte er. »Laß ihn reden.«
Titchs Augen blitzten zornig auf. »Reden?« schnappte er. »Worüber? Und wie lange vor allem? Bis Verstärkung aus Ninga hier ist und sie uns festnehmen können?«
»Du warst schon immer ein Narr, Titch«, sagte Cron ruhig. »Und du hast dich nicht verändert.«
Titch ignorierte ihn. »Wir sollten gehen, solange wir es noch können«, sagte er zornig. »Wir hätten gar nicht kommen sollen.«
»Das stimmt«, sagte Cron. »Ihr hättet nicht kommen sollen. Aber die Götter haben nun einmal bestimmt, daß ihr es tatet.«
»Die Götter?« Titch lachte leise. »Du weißt ja nicht, was du da redest, Cron.«
»Dann erkläre es mir«, verlangte der Quorrl. Er zeigte nicht die mindeste Spur von Überraschung. Er hatte Titchs Bemerkung über die Götter durchaus gehört und als das eingestuft, was sie war: nämlich sehr viel mehr als eine bloße Redewendung, aber er wirkte nicht erschrocken oder auch nur irritiert, sondern bloß neugierig. Auf eine Art, dachte Skar, als wisse er mehr, als er bisher zugegeben hatte.
Und auch Titch schien das zu spüren, denn er zögerte merklich. Dann aber schüttelte er erneut und noch heftiger den Kopf und machte eine Geste zur Tür hin. »Verschwinden wir.«
»Nein«, sagte Skar zögernd. »Warte. Vielleicht... können wir ihm trauen.«
»Trauen?« Titch schrie fast. »Nach dem, was passiert ist?« Er warf Cron einen gleichermaßen verächtlichen wie mißtrauischen Blick zu. »Ich habe ihm nie wirklich getraut, Skar, so wenig wie er mir.«
»Warum seid ihr dann hier?« fragte Cron.
Titch fuhr herum. »Weil ich dich kenne, Cron«, sagte er. »Du haßt mich, fast so sehr wie ich dich. Aber noch mehr als mich haßt du die Herrscher in Ninga. Und du bist ein aufrechter Mann. Du würdest mir mit Freuden die Kehle durchschneiden - aber nicht, so lange du in meiner Schuld stehst. Und das tust du.«
»Vielleicht tue ich es immer noch.«
Titch lachte. »Nach dem, was heute nacht geschehen ist?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß nicht, warum Skar dir plötzlich traut - aber ich kenne dich besser.« Er wandte sich an Skar. Seine Stimme wurde fast beschwörend.
»Vielleicht ist dir nicht klar, was jetzt geschehen wird«, sagte er. »Aber sie werden den Tod dieser Krieger nicht hinnehmen. In drei Tagen, spätestens eine Woche, gibt es diesen Hof nicht mehr.«
»Ich weiß«, antwortete Skar. »Und es tut mir leid.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Cron leise. Er deutete auf Skar. »Hätte er es nicht getan, dann hätte ich den Bestimmer erschlagen. Und die, die mit ihm gekommen sind.«
Skar wußte im ersten Moment nicht genau, was ihn mehr überraschte - das, was Crons Worte bedeuteten, oder der Umstand, daß der Quorrl wahrhaftig anzunehmen schien, er allein hätte dieses Massaker unter den Kriegern angerichtet.
Vielleicht hatte er es ja.
Er verscheuchte den Gedanken und wandte sich mit einem fragenden Blick an Cron. »Ich fürchte, ich... verstehe nicht, was du meinst«, sagte er unsicher. »Ich habe -«
Cron unterbrach ihn mit einer abgehackt wirkenden Handbewegung. »Ich weiß nicht, wer du bist, Satai«, sagte er. »Ich weiß nicht, was du bist. Aber ich weiß, was du getan hast. Und du weißt, was es bedeutet. Spiel nicht mit mir. Ich bin es müde, zu lügen.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, ließ er sich schwer gegen die geschnitzte Rückenlehne des Sessels fallen und seufzte; ein lang anhaltender, schmerzerfüllter Laut, der seine Erschöpfung deutlicher machte als alle Worte. »Ich habe gelogen, so lange ich denken kann, Satai«, flüsterte er, mit geschlossenen Augen und einer Stimme, die voller Bitterkeit und Schmerz war. »Mein ganzes Leben war eine Lüge. Ich bin eine Lüge.«
»Was soll das bedeuten?«
Cron öffnete mühsam die Augen und lachte. »Frag deinen Freund, Satai. Er kann es dir erklären. Er weiß es. Ich glaube, er weiß es schon lange. Nicht wahr, Titch?«
Titch nickte. »Schon als ich dich das erste Mal sah. Schon vorher.«
»Und trotzdem hast du geschwiegen?«
Titch wollte antworten, aber Cron machte eine Handbewegung, zu schweigen, und drehte sich wieder zu Skar um. »Die Zeit der Lügen ist vorbei, Satai. Sie werden kommen und mich töten, mich und alle anderen. Dein Freund hat recht - in ein paar Tagen wird es diesen Hof nicht mehr geben, und an Cron wird nur noch eine verbrannte Ruine erinnern; und vielleicht die Narben, die ich ihnen schlagen werde, ehe sie mich töten. Aber es spielt keine Rolle mehr. Es ist gut so, wie es gekommen ist. Vielleicht haben die Götter dich zu mir geschickt, vielleicht der Teufel. Du bist nun einmal da, und was du getan hast, ist getan worden. Vielleicht wurdest du gesandt, um das zu tun, wozu ich zu feige war.«
»Was zu tun?« fragte Titch betont.
»Ihn zu erschlagen!« antwortete Cron mit unerwarteter Heftigkeit. »Diesen verdammten Tyrannen in Ninga seinen Kopf zu schicken, als die Antwort, die ihnen gebührt.«
Skar sah überrascht zu Titch, aber auch dem Quorrl schien der Sinn dieser Worte nicht ganz klar. Er deutete ein Achselzucken an und machte eine fast hilflose Handbewegung, ehe er sich wieder an Cron wandte: »Du meinst den -«
»Den Bestimmer!« antwortete Cron heftig. Er spie das Wort aus wie eine Beschimpfung. »Dieser verdammte Tyrann, der sich als Gott dünkt. Mein Leben lang habe ich unter ihm gelitten, wie alle anderen. Aber ich war zu feige, mich zu wehren. Ihr glaubt, ihr hättet mein Leben zerstört? Das habt ihr nicht. Ihr habt nur getan, wozu ich nicht den Mut hatte. Wenn ich sterbe, dann ist es die gerechte Strafe der Götter für meine Feigheit.«
»Sie sind nicht gerecht«, sagte Skar. Titch fuhr abermals zusammen, und diesmal war in seinem Blick viel mehr Zorn als Warnung, aber Cron schien die Bemerkung überhört zu haben. »Krieger!« stieß er hervor. »Weißt du, was er von mir verlangt hat? Er wollte Krieger! Die Brut eines Jahres, damit sie ihr verdammtes Heer auffrischen können. Wir brauchen Männer und Frauen, die auf den Feldern arbeiten. Die Häuser bauen und Krankheiten heilen und das Vieh hüten, und sie wollen Krieger. Immer nur Krieger!«
Skar verstand nicht ein Wort. Sein Blick irrte verstört zwischen Cron und Titchs Gesicht hin und her, und was er auf den Zügen des Quorrl-Kriegers las, steigerte seine Verwirrung noch mehr. Titch wirkte erschrocken, ja, fast entsetzt, und plötzlich erinnerte sich Skar wieder einer Bemerkung, die Titch irgendwann einmal gemacht hatte, ohne daß er ihren wahren Sinn - oder zumindest ihre Tragweite - wirklich begriffen hatte: Wir werden als Krieger gezeugt, Skar.
»Krieger!« sagte Cron noch einmal. »Unser Volk blutet aus. Unsere Kinder hungern, weil nicht genug Männer und Frauen da sind, um die Felder zu bestellen, und aus den eisigen Bergen des Nordens rücken die Ungeheuer näher, weil es keine Jäger mehr gibt, sie im Zaum zu halten. Krankheiten breiten sich aus, weil unsere Heiler sterben, aber es gibt keine neuen. Und sie wollen Krieger von mir!«
»Aber der Bestimmer -«, begann Titch, um sofort wieder von Cron unterbrochen zu werden.
»Der Bestimmer!« brüllte der Quorrl. »Ich habe gefleht, gebettelt, gedroht. Ich habe ihm den Hof gezeigt. Die Greise, die die Arbeit von Männern verrichten müssen. Die Felder, die veröden, und die Ernten, die das Ungeziefer auffrißt, weil keiner mehr da ist, sie einzubringen! Er hat nur gelacht.«
Skar erinnerte sich des heftigen Streites zwischen Cron und dem in dem buntbestickten Mantel. Jetzt wußte er wenigstens, worum es dabei gegangen war. Nur verstand er es nicht. Jedes Wort, das Cron sprach, steigerte seine Verwirrung eher noch. Mit einer hilflosen Geste wandte er sich an Titch. »Wovon redet er?«
»Später«, sagte Cron rasch. »Er kann dir alles erklären. Der Weg, der vor euch liegt, ist weit genug, und ihr werdet froh sein, etwas zum Reden zu haben. Jetzt ist keine Zeit.«
»Welcher Weg?« fragte Titch.
Cron lachte leise. »In die Höhlen von Caran.«
Was immer sich hinter diesem Namen verbarg - es reichte aus, Titch unter seinem Schuppenpanzer erbleichen zu lassen. »Du -«
»Ich«, unterbrach ihn Cron mit erhobener Stimme und Hand, »bin vielleicht ein Feigling, Titch, aber ich bin nicht halb so dumm, wie du glaubst.« Er lachte hart. »Ich habe die Lügengeschichte, die du mir aufgetischt hast, keine Sekunde lang geglaubt. Ich bin selbst ein zu guter Lügner, um die Unwahrheit nicht zu erkennen, wenn ich sie höre. Vor allem, wenn sie von einem kommt, der das Lügen so wenig gewohnt ist wie du, Titch.« Er beugte sich leicht im Sessel vor und deutete mit der Hand auf Skar. »Ihr wollt nach Ninga, du und dieser Satai und das Menschenjunge, das euch begleitet. Ich weiß nicht, was ihr dort wollt, und ich denke, es ist vielleicht sogar besser, wenn ich es nicht weiß. Aber ich weiß, daß ihr ganz bestimmt nicht dorthin wollt, weil du deine Familie suchst, Titch. Und diese beiden sind nicht bei dir, weil du irgendein närrisches Gelübde abgelegt hast.«
Skar sah Titch verwundert an. »Ist es das, was du ihm erzählt hast?«
»Und wenn?« knurrte Titch.
»Dann hat er recht«, antwortete Skar. »Jedes Kind hätte sich eine bessere Geschichte ausdenken können.«
»Ich kann euch helfen«, sagte Cron. »Es ist möglich, in den Tempel einzudringen. Es ist schwer, aber es ist möglich. Ich kann euch sagen, wie.«
»Wie kommst du auf die Idee, daß wir das wollen?« fragte Skar mißtrauisch.
»Weil du stirbst, Satai«, antwortete Cron. »Weil das Menschenjunge und du den Tod in euch tragt.«
»Unsinn«, sagte Titch.
»Ich habe mit Scrat gesprochen«, erwiderte Cron seufzend, in einem Ton, als rede er mit einem uneinsichtigen Kind. »Deine Freunde sterben. Das Weibchen irgendwann, er -« Er deutete wieder auf Skar. »- schon bald. In wenigen Wochen, vielleicht eher. Ihr wollt in den Tempel. Ihr wollt das Wasser des Lebens stehlen, um ihre Leben zu retten.« Er zögerte spürbar. »Aber ihr wollt noch mehr«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht was. Ein Mann wie du würde nicht sein Leben und seine Ehre aufs Spiel setzen, um einen Menschen zu retten.«
»Du täuschst dich, Cron«, sagte Skar. Plötzlich hatte er das absurde Bedürfnis, Titch zu verteidigen. »Titch ist... nicht mehr der, als den du ihn kennengelernt hast. Er würde es tun. So wie ich für ihn«, fügte er hinzu.
»Und wenn!« erwiderte Cron hart. »Er ist ein Krieger, und Krieger ändern sich nicht. Nicht so. Aber es spielt keine Rolle mehr. Und es ist mir gleich. Von mir aus reißt diesen verdammten Tempel nieder. Ich schlage euch ein Geschäft vor, dir und deinem Krieger-Freund.«
»Was für ein Geschäft?« fragte Titch mißtrauisch.
»Den Weg nach Ninga gegen das Leben meiner Jungen«, antwortete Cron. »Ihr bekommt, was ihr braucht - Pferde, Nahrung und Waffen, und das geheime Wort, das euch den Weg in die Höhlen weist.«
Titchs Überraschung war nicht zu übersehen. »Du -?!«
»Ich kenne es, Titch«, bestätigte Cron mit einem leisen, fast spöttischen Lachen. »Oh, ich weiß, du hast mich immer verdächtigt, in Wahrheit zu ihnen zu gehören. Aber du hast es mir nie beweisen können, nicht? Ich weiß, daß du es versucht hast. Hättest du auch nur geahnt, wie sehr mich dein Herumspionieren und Forschen amüsiert hat, in all den Jahren, du hättest mich schon aus bloßem Zorn erschlagen.« Er schüttelte den Kopf, als Titch ihn unterbrechen wollte. »Du hattest recht, Titch. Ich gehöre zu ihnen. Ich bin einer von ihnen. Und ich bin nicht der einzige. Es gibt mehr von uns, als ihr ahnt.«
»Warum... erzählst du mir das alles?« fragte Titch zögernd. Sein Mißtrauen hatte sich nicht gelegt; ganz im Gegenteil. Skar sah, daß seine Hand wieder begonnen hatte, am Griff des Schwertes zu spielen.
»Vielleicht, weil er dir vertraut«, antwortete Cron mit einer Kopfbewegung auf Skar. Mit hörbarem Spott fügte er hinzu: »Wie könnte ich einem Mann mißtrauen, der die Freundschaft des Todes genießt?«
»Also - was verlangst du?« fragte Skar rasch, ehe Titch reagieren konnte. Er hatte das Gefühl, daß zwischen diesen beiden ungleichen Quorrl mehr war, als er auch nur ahnte.
»Was ich gesagt habe«, antwortete Cron. »Ihr bringt die Eier nach Caran. Als Gegenleistung wird man euch den geheimen Weg nach Ninga verraten. Dein Leben und das des Weibchens gegen das meiner Jungen, das ist ein faires Geschäft, finde ich.«
»Warum tust du es nicht selbst?« fragte Titch mißtrauisch. »Weil ich keine Chance hätte«, antwortete Cron. »Sie würden mich jagen. Sie würden mich stellen und töten, noch ehe ich den halben Weg geschafft hätte, und sie würden meine ungeborenen Kinder dazu verdammen, zu etwas wie du zu werden.«
Aber das war nicht die Wahrheit. Skar spürte es, und auch Titch schien zumindest zu ahnen, was in dem Quorrl wirklich vorging. Cron mochte durchaus die Wahrheit sagen, aber es war nicht die Angst vor Gefangenschaft oder Tod, aus der er beschlossen hatte, hierzubleiben, denn beides erwartete ihn hier hundertmal sicherer als auf dem Weg nach Caran. Cron hatte aufgegeben, und Skar hatte das bereits gespürt, als er dieses Zimmer betrat. Der Quorrl war innerlich bereits tot, und vielleicht nicht einmal erst seit heute. Wenn er hierblieb und auf seine Henker wartete, dann war das nur die konsequente Fortsetzung dieses lautlosen Sterbens. Für einen Moment verspürte Skar ein tiefes Mitgefühl mit dem Quorrl.
»Nehmt ihr an?« fragte Cron, als weder Titch noch Skar antworteten.
»Haben wir eine Wahl?« fragte Skar.
Cron lachte. »Nein. Es sei denn, ihr wollt hierbleiben und mir helfen, noch ein paar von diesen Hunden zu erschlagen.«
»Begleite uns«, sagte Skar plötzlich; und wider besseres Wissen. Er wußte, daß Cron es weder wollte noch konnte. »Du kannst -«
»Nehmt ihr an?« unterbrach ihn Cron.
Für die Dauer von fünf, zehn endlosen Atemzügen sagte niemand ein Wort, dann nickte Titch. »Ja. Das Leben deiner Kinder gegen unseres.«
Es war kein Zufall, dachte Skar, daß er das Wort Kinder benutzte, statt Brut oder Junge zu sagen, wie unter den Quorrl üblich, und auch Cron entging dieser Unterschied nicht. In seine Augen trat ein nachdenklicher, fast verwirrter Ausdruck. Aber er ging nicht darauf ein, sondern nickte nur. »Mein Wort gegen deines.« Er seufzte, schloß wieder die Augen und legte den Kopf gegen die Sessellehne. Für einen Moment sah er aus, als wäre er bereits tot.
Skar wollte noch etwas sagen, aber Titch bedeutete ihm mit einem wortlosen Kopfnicken, daß es jetzt besser war, zu schweigen. Ohne ein weiteres Wort drehten sie sich um und gingen zu Kiina und Scrat zurück.