19.

Wie um den Wahnsinn auf die Spitze zu treiben, brauchten sie eine gute halbe Stunde, um die Ebene Carans zu erreichen, auf der Rowls Quartier lag; für eine Strecke, für die Skar Minuten benötigt hatte; und noch dazu, ohne eine einzige der zahllosen Treppen und Leitern hinabzusteigen, über die Rowl ihn jetzt zurückführte. Aber er weigerte sich einfach, über diese neuerliche Unmöglichkeit nachzudenken.

Außerdem brauchte er all seine Kraft, um mit Rowl mitzuhalten, denn der Quorrl rannte mit Riesenschritten vor ihm durch die verlassenen Korridore, so daß Skar mehr als einmal befürchtete, den Anschluß zu verlieren und sich erneut zu verirren. Rowls Gemach hatte sich vollkommen verändert, als sie es erreichten. Aus dem großen, von schon fast unheimlicher Stille erfüllten stählernen Dom war ein Hexenkessel geworden. Mindestens drei, wenn nicht vier Dutzend Bastarde drängelten sich zwischen den rostigen Möbelstücken, und einer der magischen Spiegel Rowls war in Betrieb: er zeigte wieder das Felsplateau mit Titchs Kriegern, aber das war auch schon alles, was das Bild mit dem von gestern gemein hatte. Wo Skar am Tag zuvor ein zwar eng zusammengepferchtes Heer erblickt hatte, tobte jetzt ein Chaos aus durcheinanderstürzenden, flüchtenden Leibern. Hunderte von Kriegern hatten den Saumpfad erklommen, der weiter an Carans Flanken emporführte, und vor dem Riß im Fels herrschte ein heilloses Chaos. Offensichtlich versuchten die Krieger, ins Innere Carans zu fliehen.

Rowl schrie einem seiner Männer etwas zu und ließ ihn einfach stehen, und Skar ging zu Titch und Kiina, die er inmitten des Durcheinanders entdeckte. Der Blick des Quorrl war gebannt auf den Zauberspiegel gerichtet, während Kiina offensichtlich schon Zeit gefunden hatte, ihr Staunen zu überwinden. Als sie die blutende Stelle an seiner Hand entdeckte, trat eine stumme Frage in ihre Augen. Skar ignorierte sie.

»Was ist passiert?«

Titch hörte seine Worte gar nicht, sondern starrte weiter auf den Spiegel. Es war nicht die Unmöglichkeit der sich bewegenden Bilder, die ihn bannte, begriff Skar. Die Männer dort draußen waren seine Männer, und er war für das Leben jedes einzelnen verantwortlich. Was er für Faszination gehalten hatte, war Entsetzen.

Schließlich beantwortete Kiina seine Frage. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Rowl ließ uns vor einer Stunde rufen. Die Krieger aus Ninga sind da. Aber da ist... noch mehr.«

Skar versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Das Bild war seltsam unscharf, wie von einer dünnen Staubschicht überzogen. »Was ist das?« flüsterte er.

Die Frage galt niemand besonderem, aber Titch antwortete trotzdem: »Etwas... ist dort draußen, Skar. Nicht die Garde. Die Männer sind in Panik. Ich... ich muß zu ihnen!!« Den letzten Satz hatte er geschrien. Plötzlich fuhr er herum, stieß Kiina und Skar grob beiseite und lief zum Ausgang. Aber er kam nur wenige Schritte weit, ehe ihm zwei von Rowls Bastarden den Weg vertraten. Titch versuchte auch diese Männer zur Seite zu drängen, aber die beiden Quorrl hielten ihn - vorsichtig, aber trotzdem sehr entschlossen - zurück. Schließlich gab Titch es auf und wandte sich mit zornbebender Stimme an Rowl.

»Sag ihnen, daß sie mich durchlassen sollen!«

»Das werde ich bestimmt nicht tun, Titch«, antwortete er ruhig. »Es gibt nichts, was du für deine Männer dort draußen tun könntest.«

»Du -!«

»Wir können mehr von hier aus tun«, unterbrach ihn Rowl. Er wandte sich brüsk ab und gab Skar einen Wink, näher zu kommen. Kiina schloß sich ihm wortlos an, als Skar gehorchte, und nach ein paar Sekunden gesellte sich auch Titch zu ihnen. Die beiden Krieger, die ihn am Verlassen des Raumes gehindert hatten, folgten ihm in geringem Abstand; schweigend und mit steinernen Gesichtern, aber jederzeit bereit, zuzugreifen.

»Wofür hältst du das, Satai?« fragte Rowl und deutete auf den Spiegel. Er war nervös; noch erschrockener als vorhin, als er Skar vor der Metallspinne gewarnt hatte.

Skar zuckte hilflos die Schultern. Er wußte, was Rowl meinte - der Spiegel war lang nicht mehr so klar wie gestern. Graue Schlieren und treibende Fetzen wie schlieriger Nebel glitten über das Bild, und manchmal meinte man, Bewegung wahrzunehmen, die anders war als die der flüchtenden Quorrl, sich aber nicht greifen ließ.

»Irgend etwas scheint deinen Zauber zu stören«, sagte er schließlich.

»Zauber?« Kiina runzelte die Stirn, während es in Titchs Augen abermals zornig aufblitzte. Rowl starrte ihn durchdringend an, und Skar spürte die Drohung, die in diesem Blick lag. Er erinnerte sich gut seines gestrigen Gesprächs mit Rowl. An jedes Wort. Auch an die, die der Bastard nicht ausgesprochen hatte.

»Wir -«

»Herr!« Einer der Quorrl begann wild zu gestikulieren und deutete auf einen zweiten, kleineren Zauberspiegel, der an der anderen Wand hing. Skar hatte ihn bisher gar nicht beachtet, und er sah auch jetzt nichts als ein wildes Durcheinander von Farben und Bewegung. Aber Rowl zog erschrocken die Luft zwischen die Zähne ein, und Titch fuhr wie unter einem Hieb zusammen. Rowl machte eine befehlende Geste. Einer seiner Quorrl tat etwas an der metallenen Truhe, die Rowl auch schon gestern berührt hatte, als er Skar das Geheimnis des Zauberspiegels zeigte, und plötzlich verschwand das Bild von Titchs Armee von der großen Glasfläche. Statt dessen zeigte sie nun plötzlich einen Ausschnitt des Berghanges, zwei, vielleicht drei Meilen weiter südwärts, die Stelle, an der der geröllübersäte Trümmerhang allmählich in den schmalen Saumpfad überging, der zum Plateau und später zum Eingang Carans hinaufführte. Zwei, drei Quorrl schrien erschrocken auf, und Kiina schlug mit einem keuchenden Laut die Hand vor den Mund.

Auch dort unten lagerten Quorrl; Nachzügler des Heeres, vielleicht auch Wachen, die Titch dort zurückgelassen hatte, um ihren Rücken zu decken. Ihnen gegenüber, vielleicht noch durch eine halbe Meile zerklüfteten Gebietes getrennt, hatten gute drei-, vierhundert Krieger Aufstellung genommen; Männer in den glitzernden Rüstungen der Tempelgarde, wie sie Skar schon mehrmals begegnet waren.

Aber das war es nicht, was Skar erstarren ließ.

Zwischen den Kriegern aus Ninga und den angstvoll zusammengedrängten Quorrl aus Titchs Heer war noch etwas. Umrisse. Drei kolossale, schattenhafte Dinger, fünfzig oder mehr Fuß hoch und von ständig wechselnder Form, wie graubrauner Nebel, der sich zu einem Körper zusammenballen wollte, ohne daß es ihm jemals wirklich gelang. Aber was immer sich in diesem schattenhaften Etwas verbarg, es wurde deutlicher. Nach Sekunden glaubte Skar schuppige Panzerplatten zu erkennen, etwas wie eine riesige Kralle, Zähne von der Länge eines Armes und kleine, tückische Augen, die voller unersättlicher Gier auf die Quorrl herabstarrten.

»Was ist das?!« brüllte Rowl. »Wieso hat es keiner gesehen?«

»Das... das war vorhin noch nicht da«, antwortete der Quorrl, der die Zauberspiegel bediente. »Ich schwöre es, Herr, ich habe ununterbrochen hingesehen, und -«

»Lüg nicht, Kerl!« unterbrach ihn Rowl brüllend. Er hob die Faust, wie um den Mann zu schlagen.

»Laß ihn, Rowl«, sagte Skar leise und ohne den Blick vom Spiegel zu nehmen. »Er sagt die Wahrheit. Das da draußen sind die Wesen, die Caran geschaffen haben.«

Rowl starrte ihn an. Seine Kiefer mahlten.

»Vielleicht solltest du jetzt anfangen, darüber nachzudenken, wie lange ihnen dein famoser Wächter Widerstand leisten wird«, fügte Kiina spöttisch hinzu.

Skar warf ihr einen warnenden Blick zu und trat näher an den Zauberspiegel heran, um mehr Einzelheiten zu erkennen.

Sein Herz begann zu jagen. Er hörte, wie Kiina etwas sagte, aber er war unfähig, darauf zu reagieren oder das Gesagte auch nur zu verstehen. Er hatte Angst. Was dort unten, am Fuße des Berges, geschah, ging ihn an, und nur ihn. Die Schatten waren seinetwegen gekommen.

Er war nicht einmal überrascht, als sich in den wogenden Nebelschleiern Körper zu bilden begannen; einer, zwei, schließlich drei titanische dunkelgrüne Drachenkreaturen, ins Absurde vergrößerte Brüder der Tyrr, auf der Anschis Errish geritten waren, Monstren mit Köpfen so groß wie Droschken und Gehirnen klein wie Kinderfäusten. Er spürte kaum, wie die Unruhe unter Rowls Quorrls fast zur Panik wurde. Kiina berührte seinen Arm, nicht mehr um ihn zurückzuhalten, sondern um Schutz zu suchen. Ihre Finger krallten sich tief in seine Muskeln, aber auch der Schmerz drang nicht wirklich bis an sein Bewußtsein vor.

Auf den Rücken der drei riesigen Drachen saßen Gestalten: schwarz, gewaltig und klobig wie die Tiere, die sie ritten, gepanzerte Riesen mit absurd großen Köpfen. Und im gleichen Moment, in dem Skar vollends vor den Zauberspiegel trat und stehenblieb, hob eine der schwarzen Riesengestalten die Hände und nahm ihren Helm ab.

Titch schrie auf. Unter Rowls Männern brach vollends eine Panik aus; manche versuchten, aus der Kammer zu rennen, andere begannen schreiend durcheinanderzulaufen oder fielen auf die Knie und verbargen die Gesichter zwischen den Armen, andere standen wie gelähmt und blickten das goldene, edel geschnittene Gesicht an, das unter dem schwarzen Riesenhelm zum Vorschein gekommen war.

Skar war nicht einmal überrascht. Vielleicht war seine Fähigkeit, zu erschrecken, einfach erschöpft; vielleicht hatte er es sogar gewußt, zumindest geahnt.

Es war das Gesicht eines Ssirhaa.

Nicht irgendeines Ssirhaa. O nein, ganz bestimmt nicht.

Es war Ennart.

Der Gott der Quorrl, den Skar und Titch eigenhändig getötet hatten.

»Aber das ist... unmöglich«, stammelte Titch. »Das kann nicht sein! Sag, daß es nicht wahr ist, Skar!«

Skar reagierte nicht, aber Rowl wandte sich mit einer zornigen Bewegung um und blickte abwechselnd Skar und Titch an. »Was ist unmöglich, Titch?« fragte er. »Hast du mir nicht selbst erzählt, daß sie es sind, die jetzt in Ninga herrschen?«

»Aber nicht er!« keuchte Titch. Seine Stimme klang fast hysterisch. Er zitterte am ganzen Leib. »Nicht er, Rowl! Er ist tot! Wir... wir haben ihn getötet! Ich habe ihn umgebracht, Rowl, mit meinen eigenen Händen!«

Rowls Augen weiteten sich, als er begriff, daß Titch die Wahrheit sprach. Der hysterische Klang in seiner Stimme bewies das hundertmal mehr als seine Worte.

»Das kann nicht sein!« stammelte Titch. »Das ... das ist Zauberei! Es ist unmöglich!«

Rowl tat etwas an seiner Truhe, und das Bild änderte sich erneut: statt der beiden sich gegenüberstehenden Quorrl-Heere und der drei Drachengestalten waren jetzt nur noch Kopf und Schultern des Ssirhaa zu erkennen. Und als hätte der nur darauf gewartet, hob Ennart in diesem Moment den Kopf, so daß seine dunkelgoldenen Augen, durch die Macht des Zauberspiegels dutzendfach vergrößert und lodernd wie erstarrtes Feuer, direkt auf Skar und die anderen hinabzublicken schienen. Für einen entsetzlichen Augenblick war Skar fast sicher, daß es so war: daß nicht nur er Ennart, sondern der Ssirhaa umgekehrt auch ihn sah. Aber das war natürlich unmöglich. Er mußte seine Angst beherrschen, dachte er. Wenn er anfing, Ennart wirklich göttliche Macht zuzubilligen, dann hatte er diesen Kampf verloren, bevor er noch richtig begonnen hatte.

»Satai!« Die Stimme des Ssirhaa schien direkt aus dem Bild zu dringen, und sie war wie das Dröhnen zusammenstürzender Berge. Es war keine Einbildung: obwohl Skar noch immer wie erstarrt dastand und das goldene Gesicht auf dem Zauberspiegel ansah, hätte er sich vor Schmerzen gekrümmt, hätte er es gekonnt. Rechts und links von ihm schlugen die Quorrl gequält die Hände vor die Ohren, aber das nutzte ihnen nichts, denn die Stimme des Ssirhaa erklang direkt in ihren Köpfen. Vielleicht hören sie es alle, dachte Skar. Vielleicht gab es niemanden in diesem stählernen Berg, der die Stimme des zornigen Gottes nicht hörte.

»Satai!« rief Ennart noch einmal, und fast noch lauter und mit vernichtenderer Kraft als das erste Mal. »Ich weiß, daß du mich hörst! Ich weiß, daß du dort bist! Komm heraus! Komm hierher, oder alle, die bei dir sind, werden sterben!«

Der Blick der riesigen goldenen Augen saugte sich an Skars Gesicht fest, und plötzlich war Skar sicher, daß Ennart ihn sah. Er wußte nicht wie, und er wußte nicht, woher dieses Wissen kam, aber es gab keinen Zweifel daran. Vielleicht war er doch ein Gott.

»Ich bin nicht gekommen, um zu töten, Satai«, fuhr Ennart fort. »Ich will dich, Satai - nicht Titch oder Rowl oder die Bastarde. Nur dich. Das Mädchen und die anderen sind frei, wenn du zu uns kommst.«

»Tu es nicht, Skar«, sagte Kiina mit zitternder Stimme. »Das ist eine Falle!«

»Caran ist eine Festung!« fuhr Ennart fort. »Ich weiß das. Und ich weiß auch, wie stark sie ist. Nicht einmal mir würde es leichtfallen, sie zu erobern - aber ich werde es tun, wenn du mich dazu zwingst. Viele gute Männer werden dabei sterben - auf beiden Seiten. Willst du das, Satai?«

»Nein«, murmelte Skar. »Ich komme, Ennart.« Seine Hand glitt zum Gürtel, fand die leere Schwerthülle und schloß sich darum. Er hatte gewußt, daß er sein Tschekal noch einmal brauchen würde, aber er hatte nicht gewußt, daß es so bald sein würde, und so.

»Er kann dich nicht hören«, sagte Rowl.

»Ich gebe dir eine Stunde«, sagte Ennart. »Bist du bis dahin nicht hier, greifen wir an.«

»Das ist nicht nötig, Ennart«, antwortete Skar. »Ich werde da sein. Du hast gewonnen.« Er drehte sich um, blickte in Rowls Gesicht und hob die Hand. »Mein Schwert.«

»Du... du willst doch nicht wirklich dort hinausgehen?« murmelte Rowl. Er sprach schleppend. Seine Stimme klang belegt und war von der gleichen Mischung aus Schrecken, Faszination und Lähmung erfüllt wie sein Blick.

»Mein Schwert«, wiederholte Skar.

Rowl hob den Arm und gab einem seiner Krieger einen Wink. Der Quorrl entfernte sich mit schnellen Schritten, um Skars Waffe zu holen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis er zurücckam und Skar das Tschekal überreichte. Skar schob die Waffe in seinen Gürtel, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. Aber dann streifte sein Blick Titchs Gesicht, und er zögerte noch einmal. Er wußte selbst nicht genau, warum. Titch war vielleicht von allen hier der einzige, der wirklich wußte, warum er ging. Nicht aus Angst vor dem Ssirhaa oder aus Sorge um Rowl und seine Bande von Halsabschneidern und Mördern. Der wahre Grund war, daß er Titch sein Wort gegeben hatte. Es wird sich nicht wiederholen. Caran würde frei bleiben; selbst um den Preis seines eigenen Lebens. Vielleicht wartete er darauf, daß Titch ihn von seinem Wort entband, für den Bruchteil einer Sekunde. Dann, ehe Titch es vielleicht wirklich tun oder einer der anderen etwas sagen konnte, was ihn womöglich doch noch zurückhielt, wandte er sich brüsk um und ging zur Tür.

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