»Der einzige Grund, aus dem du noch am Leben bist, ist, weil ich wissen will, wer dir das Wort verraten hat!« Die Stimme des Quorrl bebte vor Zorn. Sie waren sechs - fünf riesige, bis an die Zähne bewaffnete Krieger und dieser Quorrl, der seiner Kleidung und seinem Auftreten nach wohl ihr Anführer war. Es war das dritte Mal, daß er diese Frage stellte, aber Titch antwortete auch diesmal nicht. Wie Skar wurde er von zwei hinter ihm stehenden Kriegern gehalten, allerdings mit sehr viel mehr Kraft; auch sehr viel mehr, als nötig gewesen wäre, selbst einen Koloß wie ihn zu bändigen.
»Woher kennst du das Wort?« brüllte der Quorrl. »Wer hat es dir gesagt? Wer ist der Verräter?!« Wütend holte er aus und schlug Titch mit dem Handrücken so wuchtig über den Mund, daß sein Kopf in den Nacken flog und seine Oberlippe aufplatzte. Titch stöhnte, gab aber ansonsten keinen Laut von sich.
»Du wirst nicht besonders viel von ihm erfahren, wenn du ihn totschlägst«, sagte Skar, als der Quorrl abermals die Faust hob. Der schuppige Riese fuhr mit einem zischenden Laut herum und trat nun auf Skar zu, mit Augen voller brodelndem Haß und immer noch erhobener Faust. Im ersten Augenblick rechnete Skar fast damit, daß er ihn kurzerhand erschlagen würde. Aber dann erstarrte der Quorrl im letzten Moment. Aus der lodernden Mordlust in seinen Augen wurde ein tückisches Funkeln. »O nein, Mensch«, sagte er betont. »So leicht mache ich es dir nicht. Was hast du gesucht, als du hierhergekommen bist? Ein Abenteuer?« Er lachte, ein schriller, kichernder Laut, wie das Lachen eines Wahnsinnigen. »Das wirst du bekommen - aber anders, als du glaubst. Du wirst eine große Erfahrung machen, Mensch. Du wirst herausfinden, welches Maß an Schmerzen ein menschlicher Körper ertragen kann, ehe er zerbricht.« Er unterstrich seine Worte nun wirklich mit einem Schlag gegen Skars Brust; allerdings einem, in den er nur einen Bruchteil seiner Kraft legte. Trotzdem reichte der Schmerz, Skar aufschreien zu lassen und ihn für Sekunden in bedrohliche Nähe einer Ohnmacht zu schleudern. Er wäre zusammengebrochen, hätten ihn nicht die beiden Quorrl festgehalten, die ihn auch überwältigt hatten. »Du Narr«, stöhnte Skar mit zusammengebissenen Zähnen, als er wieder genug Luft bekam, um reden zu können. Zu all den kleinen und großen Schmerzen in seinem Körper gesellte sich nun auch noch ein heftiges Stechen in seiner linken Seite. Der Schlag des Quorrl mußte eine seiner Rippen angebrochen haben. Jeder Atemzug tat weh. »Wenn du uns totprügelst, erfährst du nie, wie wir hierhergekommen sind.«
»Wer sagt dir, daß ich es will?« fragte der Quorrl lauernd. »Vielleicht reicht es mir, euch zu töten.«
Skar hob mühsam den Kopf und blickte den Quorrl mit einem Ausdruck an, von dem er wenigstens hoffte, daß er verächtlich aussah. »Und wer sagt dir, du Narr, daß wir die einzigen sind, die das geheime Wort kennen?« fragte er.
In den Augen des Quorrl glomm schon wieder dieses gefährliche Feuer auf, und Skar sah, wie sich seine mächtigen Hände zu Fäusten ballten. Plötzlich war er fast sicher, daß der Quorrl wahnsinnig war; auf eine gefährliche, gewalttätige Art, die ihn noch unberechenbarer werden ließ, als es Quorrl ohnehin waren. Der Quorrl fuhr herum, wandte sich wieder an Titch und schlug ihm die Faust in den Leib. »Rede!« fauchte er. »Woher wißt ihr das Wort? Wer hat es euch verraten?«
»Cron«, sagte Skar.
Die Hand des Quorrl, schon wieder zur Faust geballt und zu einem weiteren Schlag gegen Titchs Gesicht erhoben, erstarrte mitten in der Bewegung. Sekundenlang stand er einfach da und starrte Titch an, dann drehte er sich ganz langsam wieder zu Skar herum und ließ den Arm sinken.
»Du lügst!« behauptete er. »Cron verrät uns nicht.«
»Das hat er auch nicht«, antwortete Skar. »Er hat uns zu euch geschickt.«
»Zu uns - geschickt?« wiederholte der Quorrl ungläubig. »Du willst mir allen Ernstes glauben machen, daß Cron einen Mann wie Titch zu uns schickt? Titch, den Schlächter?«
Der Schlächter? Diese Bezeichnung war Skar neu - aber irgendwie paßte das, was sie vermuten ließ, zu dem fast irrationalen Verhalten des Quorrl. Skar zuckte mit den Achseln und hoffte, daß der Quorrl nicht gut genug im Gesicht eines Menschen lesen konnte, um seine Verwirrung zu bemerken.
»Er hat uns gesagt, wie wir den Wächter überwinden können«, wiederholte er. »Freiwillig. Es war sein Wunsch, daß wir zu euch gehen.«
»Mit einem Heer?«
Skar schüttelte den Kopf, so weit dies die schuppigen Krallen zuließen, die ihn hielten. »Die Krieger sind erst später zu uns gestoßen«, sagte er. »Aber das ist eine andere Geschichte.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Titch, der halb bewußtlos in den Armen seiner beiden Bewacher hing. »Laßt ihn los, und ich erzähle euch alles.«
Der Quorrl lachte bloß. »Ich erfahre auch so, was ich wissen will.«
»So?« antwortete Skar. »Wenn du weißt, wer dieser Mann ist, dann solltest du auch wissen, daß es wenig Sinn hat, irgend etwas mit Gewalt aus ihm herauspressen zu wollen.«
Der Quorrl zögerte. Einen Moment lang irrte sein Blick unentschlossen zwischen Titchs und Skars Gesicht hin und her, dann machte er eine Quorrl-Geste, deren Bedeutung Skar nicht verstand. »Vielleicht hast du recht«, sagte er. Dann flog ein rasches, böses Lächeln über die nur angedeuteten Züge in dem flachen Fischgesicht. »Aber wir haben ja noch dich, nicht wahr, Mensch!«
»Satai«, verbesserte ihn Skar, so ruhig er konnte.
Die Überraschung des Quorrl war nicht gespielt. Sekundenlang starrte er Skar verblüfft und mit wachsendem Unglauben an, dann trat er näher, legte die Hand unter sein Kinn und zwang seinen Kopf in den Nacken, um ihn genauer zu betrachten. Sein Griff tat weh. Skar hatte das Gefühl, sein Kiefer würde zerquetscht.
»Du siehst nicht aus wie ein Satai«, sagte er.
»Natürlich nicht«, preßte Skar mühsam hervor. Unter dem unbarmherzigen Druck der Quorrl-Pranke begannen seine Zähne wieder zu bluten. »Ich habe mich verkleidet, damit mich niemand erkennt. Du weißt doch, daß Satai in Wahrheit zwölf Fuß groß sind und Messer anstelle von Fingern an den Händen tragen.«
Der Quorrl schlug ihn. Skar sah den Hieb kommen und spannte sich, aber diesmal verlor er wirklich das Bewußtsein; wenn auch wieder nur für Sekunden. Als sich die schwarzen Schleier von seinen Gedanken hoben, hockte er auf den Knien und spuckte Blut. Die beiden Quorrl hatten ihn losgelassen, standen aber unmittelbar neben ihm, um ihn bei der geringsten verdächtigen Bewegung zu packen.
»Ein Satai, so?« Der Quorrl blickte mißtrauisch - aber auch fast ein wenig respektvoll, dachte Skar erstaunt - auf ihn herab, machte einen Schritt zurück und winkte dem Krieger, der Skar die Waffe entrissen hatte. Der Quorrl trat gehorsam herbei und reichte ihm das Tschekal mit der linken Hand. Seine Rechte blutete noch immer heftig, denn er hatte sich nicht darauf beschränkt, Skar die Waffe zu entreißen, sondern auch, sie in der gleichen Bewegung zu zerbrechen.
Nachdenklich drehte der Quorrl das Satai-Schwert in den Händen, blickte wieder auf Skar, dann auf Titch und erneut auf Skar herab und schob die Waffe schließlich scheinbar achtlos in seinen Gürtel. »Es ist ein Satai-Schwert«, sagte er. »Und? Was beweist das? Du kannst es gestohlen haben. Oder gefunden.«
»Niemand, der nicht zu Recht den Mantel eines Satai trägt, würde es wagen, ein Tschekal auch nur anzurühren«, sagte Skar. »Das solltest selbst du wissen.«
»Die Dinge haben sich geändert«, antwortete der Quorrl achselzuckend. »Wer bist du? Wie ist dein Name?«
Skar zögerte einen unmerklichen Augenblick. Dann sagte er: »Skar.« Es hatte keinen Zweck, alles mit einer überflüssigen Lüge aufs Spiel zu setzen.
»Skar?« Der Quorrl legte den Kopf schräg. Seine Augen wurden schmal, wodurch er vollends wie ein Reptil aussah. Offensichtlich, dachte Skar, war der Name Skar selbst hier, im hohen Norden Cants, nicht gänzlich unbekannt. Skar war nur nicht sicher, ob das nun unbedingt ein Vorteil war...
»Du bist Skar?«
»Irgendeiner muß es sein, oder?«
»Man hat mir Skar anders beschrieben.«
»Nicht nur die Dinge ändern sich«, antwortete Skar. »Auch Menschen. Selbst Satai werden älter.«
»Und verlieren Glieder?«
»Manchmal«, antwortete Skar leichthin. Er setzte dazu an, aufzustehen, zögerte eine halbe Sekunde und führte sie schließlich zu Ende, als seine beiden Bewacher keinen Versuch unternahmen, ihn daran zu hindern.
»Wie ist das passiert?« fragte der Quorrl mit einer Geste auf Skars Armstumpf.
»Auf dem Weg hierher«, antwortete Skar. »Jemand... wollte meinen Kopf. Aber ich konnte ihn überzeugen, mit meiner Hand Vorlieb zu nehmen.« Er machte eine unwillige Armbewegung, als der Quorrl ihn unterbrechen wollte. »Also, was willst du jetzt tun? Titch und mich töten, über meine Hand sprechen oder hören, warum wir hier sind?«
Noch vor zwei Minuten hätte der Quorrl ihn einfach erschlagen, wegen dieser unverschämten Worte. Jetzt starrte er ihn einfach nur an, noch immer zornig, aber auch verwirrt, und eigentlich viel mehr verwirrt als wirklich wütend.
»Also gut. Dann sprich, Satai.«
»Nein.«
Der Kopf des Quorrl ruckte mit einer reptilienhaft schnellen Bewegung herum, und auch Skar sah überrascht auf, als er Titchs Stimme hörte. Er hatte Titch für bewußtlos gehalten, aber der Quorrl stand hoch aufgerichtet zwischen den beiden Kriegern, die ihn hielten, mit blutüberströmtem Gesicht, aber ohne das mindeste Zeichen von Schwäche.
»Was soll das heißen?«
»Wir reden mit Rowl«, antwortete Titch. »Nicht mit dir. Crons Nachricht ist zu wichtig, um sie einem Verrückten anzuvertrauen.«
Die Augen des Quorrl blitzten tückisch. »Wer sagt dir, daß ich dich nicht auf der Stelle umbringe?«
»Niemand«, antwortete Titch gelassen. »Warum tust du es nicht?«
Die Blicke der beiden ungleichen Männer kreuzten sich. Titch wirkte mit einem Male herablassend, so kalt und hochmütig, daß es trotz allem mit einem Male der andere zu sein schien, der als Gefangener vor ihm stand.
»Also gut«, sagte der Quorrl schließlich. »Aber wenn das alles nur ein Trick war, dann wirst du herausfinden, was ich deinem Freund versprochen habe. Du wirst sehr lange sterben.« Titch machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten.