10.

»Es war richtig, daß du es nicht zugelassen hast«, sagte Kiina später, als er ihr von seinem Gespräch mit Titch erzählte. »Ich hätte diesem Fischgesicht die Augen ausgekratzt, wenn es mich weggeschickt hätte. Und dir auch«, fügte sie hinzu.

Sie wandte den Blick und sah Skar auf eine Art an, die Antwort erwartete; oder wenigstens ein Lächeln oder ein Verziehen der Lippen der Zustimmung, vielleicht auch nur ein Blick.

Skar tat nichts von alledem; zum einen aus Müdigkeit - es war jetzt fast Mittag, und sie ritten ununterbrochen, und in scharfem Tempo -, zum anderen, weil er Kiina nicht das Gefühl geben wollte, er hätte es um ihretwillen getan. In dem Moment, in dem er sich Titch gegenüber geweigert hatte, Kiina fortzuschicken, hatte er dies vielleicht sogar geglaubt, aber es war nicht die Wahrheit. Hätte er auch nur eine Sekunde an sie gedacht, hätte er getan, was Titch vorschlug, und sie weggeschickt, so schnell und so weit er konnte. Aber ihre Handlungen wurden schon lange nicht mehr von Vernunft gelenkt.

Er straffte die Schultern und sah mit einer demonstrativen Bewegung weg, um Kiina zu sagen, daß er nicht antworten würde. Er hatte keine Lust zu reden, weder mit ihr noch mit sonst irgend jemandem; vielleicht am allerwenigsten mit ihr. Skar ritt ein wenig schneller, um an Titchs Seite zu gelangen, und deutete nach Norden, als er sein Pferd neben dem Quorrl zügelte und Titch aufsah. Der Quorrl trug wieder seine goldene Prachtrüstung, hatte aber den Helm nicht aufgesetzt. Er sah besorgt aus. Während Skar an Kiinas Seite geritten war, war ihm aufgefallen, daß Titch sich immer wieder im Sattel umgedreht und in die Richtung geblickt hatte, aus der sie gekommen waren. »Wie weit ist es noch?«

»Bis zu den Höhlen?« Titch zuckte mit den Schultern. »Einen halben Tagesritt. Vielleicht weniger. Wenn die Sonne untergeht, sind wir da.«

Wenn die Sonne untergeht - großer Gott, wie hatte sich alles geändert! Skar war nicht sicher, ob er noch so lange durchhalten würde. Er war so müde. So unendlich müde.

»Wir wären schneller, wenn wir allein reiten würden.«

Titch reagierte nicht einmal mit einem Blick auf seine Worte, und Skar beeilte sich, hinzuzufügen: »Nur als Kundschafter, meine ich. Ich verlange nicht von dir, deine Männer zurückzulassen. Die Bastarde werden nicht begeistert sein, wenn wir mit einem Heer vor ihrer Bergfestung erscheinen«, fügte er nach einer neuerlichen Pause hinzu, als Titch immer noch nicht antwortete.

»Es ist keine Festung«, antwortete der Quorrl. »Und sie wissen längst, daß wir kommen.« Er rang sich ein flüchtiges Lächeln ab. »Sie wären vielleicht noch weniger begeistert, wenn sie annehmen müßten, daß wir ein falsches Spiel spielen. Und das würden sie, wenn sie sähen, daß wir fünfhundert Krieger zurücklassen und allein weiterreiten.«

Er hob die Hand und deutete nach Norden. »Siehst du den Berg dort - zwischen den beiden schneebedeckten Gipfeln, den kleinen, dunkleren?«

Auch Skar hob die Hand über das Gesicht und schützte seine Augen vor dem noch immer beständig nieselnden Regen. Nach einem Moment sah er, was Titch meinte.

Er war nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Berg war - seine Flanken waren zu glatt und zu ebenmäßig, und seine Form erinnerte an eine gigantische, zu einem knappen Drittel abgeflachte Pyramide. Aber er verscheuchte den Gedanken, daß es sich bei diesem Berg um ein künstliches Gebilde handeln konnte, fast so schnell, wie er ihm gekommen war. Der Berg mußte zwei Meilen hoch sein, wenn nicht mehr. Er nickte.

»Caran«, erklärte Titch. »In seinem Fels befinden sich die Höhlen, in denen die Bastarde leben. Und ich glaube, auch noch ein gutes Stück darunter. Was schätzt du, wie weit man von seinem Gipfel aus sehen kann?«

»Keine Ahnung«, murmelte Skar. »Aber auf jeden Fall weit genug. Du hast recht.« Er seufzte. »Du warst schon einmal hier?«

»Mehr als einmal. Und auch nicht allein. Ich spreche aus Erfahrung, weißt du? Es gibt keine Möglichkeit, sich Caran unbemerkt zu nähern. Eine Menge guter Männer haben ihr Leben gegeben, um das herauszufinden.«

Skar sah überrascht auf. Er kannte Titch mittlerweile gut genug, um diese Bemerkung als das zu deuten, was sie war: als Einladung zu einem Gespräch. Titch sagte niemals etwas nur so. Soviel er wußte, gab es das Wort Konversation in der Sprache der Quorrl nicht einmal.

»Ich kam als Feind damals«, fuhr Titch fort, ohne Skar anzusehen und mit sonderbarer Betonung. Skar spürte, daß er lächelte, obwohl auch er nicht aufsah, sondern die Kapuze wieder weit ins Gesicht gezogen hatte, um sich vor dem Regen zu schützen. »Um sie zu vernichten. Heute komme ich als Flüchtling zu ihnen. Als Bittsteller. Ich hoffe, sie lassen mir Zeit, zu sagen, was ich von ihnen will.«

»Sie werden wissen, was hier vor sich geht«, vermutete Skar. »Und? Sie sind uns nichts schuldig.«

»Worauf willst du hinaus?« Skar sah nun doch auf und blickte den Quorrl scharf an. Er spürte, daß Titch ihm nicht alles gesagt hatte, was es über Caran zu wissen gab.

»Darauf, daß es vielleicht doch besser ist, wenn du dich von uns trennst«, antwortete Titch nach kurzem Zögern. »Noch ist Zeit dazu.«

»Und wie weit würde ich ohne dich kommen?« fragte Skar. »Vielleicht weiter als mit mir«, antwortete Titch mit großem Ernst. »Jetzt gerade. Die Tempelgarde hat alle Hände voll damit zu tun, mich und meine Männer zu jagen. Sie werden kaum Ausschau nach einem einzelnen Mann und einem Kind halten. Dort vorne -« Er deutete wieder auf die Berge. »- gibt es kein Zurück mehr. Hör auf mich, Skar. Nimm Kiina und gehe nach Ninga. Ich gebe dir zwei Krieger mit, die euch den Weg zeigen.« Skar zügelte sein Pferd, und auch Titch verhielt sein Tier. Die hinter ihnen reitenden Quorrl wichen nach rechts und links aus, und die Lücke blieb auch vor ihnen erhalten, als wollten sie ihnen Gelegenheit geben, in Ruhe zu reden und sich dann wieder an die Spitze des kleinen Heereszuges zu setzen.

»Du willst nicht, daß ich mitkomme«, sagte Skar ernst. »Nicht wahr? Es ist nicht nur deine Sorge um mich oder das Mädchen. Du willst nicht, daß wir nach Caran gehen.«

Titch schwieg, aber er tat es auf eine Art und Weise, die Skar begreifen ließ, daß er der Wahrheit sehr, sehr nahe gekommen war, mit seiner Vermutung. Und ganz plötzlich wußte er auch, warum: Caran war vielleicht das letzte Bollwerk der Freiheit in ganz Cant: vielleicht das einzige, das es jemals wirklich gegeben hatte.

»Du traust mir immer noch nicht«, sagte er leise.

»Doch«, antwortete Titch. »Dir schon, Skar.« Er lächelte traurig, sagte noch einmal: »Dir schon, Satai«, und ließ sein Pferd weitertraben.

Skar wußte, daß es ein Fehler war - aber seine Hand reagierte fast ohne sein Zutun. Blitzschnell beugte er sich vor, ergriff den Quorrl am Arm und riß ihn mit solcher Macht herum, daß selbst Titch für einen Augenblick im Sattel wankte.

»Was willst du damit sagen?« schnappte er mit einer Stimme, die vor Wut zitterte - seltsam, dabei empfand er gar keinen Zorn, sondern nur einen tiefen, wühlenden Schmerz, wie von einer offenen Wunde, in die Titchs Worte Säure gegossen hatten. »Du glaubst, ich -«

Titch riß sich los. Zwei, drei der Krieger, die an ihnen vorüberritten, bewegten sich plötzlich langsamer, und Skar spürte die aufmerksamen Blicke, die Titch und ihn trafen. Aber er war nicht sicher, ob sich diese Männer wirklich einmischen würden, wenn es zwischen Titch und ihm zum Streit kam.

Plötzlich war aller Zorn verraucht. Er seufzte, sah Titch einen Moment lang fast bittend an und senkte dann den Blick. »Sprich es doch wenigstens aus«, sagte er.

»Was?« Titchs Stimme war hart, schneidend wie Glas. »Daß ich Angst vor dir habe? Ja. Jeder hier fürchtet dich, Satai; das, was du bist. Daß ich Angst habe, daß du auch noch Caran zerstörst? Ja, das habe ich! Und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.«

»Aber das werde ich nicht«, sagte Skar. »Ich will doch nur -«

»Ich bin mit einem Heer zu dir gekommen, um dein Volk zu retten«, sagte Titch. »Du hast es zerstört. Wir sind nach Elay gegangen, um die Ehrwürdigen Frauen zu befreien, aber Elay ist in Flammen aufgegangen. Wir sind zu den letzten Errish geflüchtet. Sie wurden vernichtet. Wir haben die Ssirhaa getroffen, Skar - und du weißt, was mit ihnen geschehen ist.«

»Und jetzt kommen wir hierher und finden dein Volk sterbend vor«, flüsterte Skar. »Ich verstehe.«

In Titchs Augen blitzte es auf. »So, tust du das? Ich bin nicht sicher. O nein, ich bin ganz und gar nicht sicher. Vielleicht sollte ich dich umbringen, Satai, solange noch Zeit ist. Vielleicht sollte ich in Kauf nehmen, daß ich und alle meine Männer sterben, ehe ich zulasse, daß du diesem Berg auch nur nahe kommst. Vielleicht -«

Er sprach nicht weiter, aber Skar sah einen tiefen, quälenden Schmerz in seinen Augen, eine Pein, die mit Worten nicht zu beschreiben war, und er verstand nur zu gut, was der Quorrl in diesem Moment durchmachte. Was er am Morgen getan hatte, hatte nichts geändert: seine Zweifel waren da wie eh und je, vielleicht sogar stärker als zuvor.

Und er hatte recht, dachte Skar bitter. Vielleicht - nein, ganz bestimmt - waren sie Freunde, wenn auch auf eine Art, die schwer zu begreifen war und nichts mit den Gefühlen gemein hatte, die er Del oder Kiina entgegenbrachte - aber es war eine Freundschaft, die vom ersten Tag an unter einem blutigen Vorzeichen gestanden hatte, in der öfter das Schwert als das Wort gesprochen und die weniger von Vertrauen als nicht eingelöstem Mißtrauen geprägt worden war. Und Skar hätte Titchs Aufzählung noch nach Belieben fortsetzen können: er war es gewesen, der Titchs Vater erschlug, es war das Ding gewesen, von dem noch immer ein Teil in ihm war, das fast die Hälfte seines Heeres vernichtet hatte, und es war die gleiche, finstere Macht, die ganz Enwor verwüstete, die auch ihn erschaffen hatte. Ja - er war in Titchs Leben eingebrochen wie ein schwarzer Engel der Vernichtung. Wäre Titch ein Mensch gewesen, hätte er gar nicht anders gekonnt, als ihn zu hassen.

Aber nichts von alledem ist meine Schuld, Freund, dachte er. Er wollte es laut aussprechen, aber ein weiterer Blick in Titchs Augen hinderte ihn daran. Es wäre sinnlos gewesen. Der Quorrl wußte so gut wie er, daß er nichts von alledem gewollt, geschweige denn herbeigeführt hatte. Und trotzdem.

»Wenn du willst, dann gehe ich«, sagte er. »Sofort. Ohne ein weiteres Wort. Ohne eine Frage. Willst du es?«

Titch zögerte. Skars Worte irritierten ihn sichtlich. Einen Moment lang irrte sein Blick über Skars Gesicht und dann ins Nirgendwo, als hätte er völlig das Konzept verloren, dann schüttelte er abgehackt den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Ich... verdammt, ich glaube, ich weiß selbst nicht mehr, was ich will.«

»Keiner von uns weiß das noch«, flüsterte Skar.

»Aber ich verspreche dir eines«, fuhr Titch fort, und plötzlich klang seine Stimme wieder hart und befehlend. »Wenn ich glaube, daß es in Caran wieder geschieht... wenn ich auch nur denke, daß du den Tod auch dorthin bringst, Skar, dann werde ich dich töten. Dich und das Mädchen. Ohne Gnade.« Er nickte heftig, um seine Worte zu bekräftigen, und legte die Hand auf das Schwert; eine Geste, die aus seiner Drohung ein feierliches Versprechen machte. »Willst du jetzt immer noch bleiben?«

Skar nickte. Er fragte sich, ob Titch wohl ahnen mochte, daß er ihn um genau dieses Versprechen gebeten hätte, hätte er es nicht von sich aus gegeben?

Titch starrte ihn noch für die Dauer eines Atemzuges lang an, dann riß er sein Pferd mit einer unnötig groben Bewegung herum und sprengte los, wieder zurück zur Spitze des Heeres. Hinter ihm schloß sich die Lücke in den Reihen der Quorrl wieder, so daß Skar ihm gar nicht hätte folgen können, selbst, wenn er gewollt hätte.

Aber er machte nicht einmal den Versuch. Niedergeschlagen, verkrampft und vielleicht zum ersten Mal im Leben aus Schmerz den Tränen nahe, sah er dem Quorrl nach, bis seine Gestalt zu einem goldenen Blitz im niederströmenden Grau geworden war, ehe er sein Pferd herumdrehte und langsam an Kiinas Seite zurückritt. Ist das deine Rache, Bruder? dachte er. Zerstörst du jetzt das einzige, was mir bisher noch die Kraft gegeben hat, dir zu widerstehen?

Die Stimme in seinem Inneren schwieg.

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