14.

Sein Zeitgefühl hatte ihn nicht getrogen. Es war wieder Tag geworden, als sie den Berg verließen und den schmalen Saumpfad hinuntergingen, der zum Felsplateau und den wartenden Kriegern führte. Skar hatte damit gerechnet, daß Rowl eine kleine Armee zu seinem Schutz mitnehmen würde, aber der Führer der Bastarde hatte nur vier Krieger ausgewählt, ihn zu begleiten. Und die - wenigstens vermutete Skar das - wahrscheinlich auch eher, um Titch und ihn zu bewachen statt Rowl zu beschützen. Aber je weiter sie sich dem Lager näherten, desto klarer wurde Skar auch, warum Rowl auf jeglichen Schutz verzichtet hatte. Es spielte keine Rolle, ob er vier oder vierzig Männer mitnahm; oder vierhundert. Die Anzahl der Krieger, die auf der kreisrunden Felsplatte lagerten, hatte sich beinahe verdoppelt: es mußten weit über tausend Quorrl sein, die sich auf dem steinernen Plateau drängten. Zelte und Lagerstätten und Feuer waren verschwunden, denn der vorhandene Platz reichte nicht einmal ganz aus, um jedem der Krieger ein Fleckchen zum Sitzen zu gewähren. Die Kette grünbraun geschuppter, dicht an dicht stehender Körper reichte noch weit den Weg hinab, der zum Plateau führte. Der Anblick beunruhigte Skar, denn es machte auch den Quorrl sicherlich keinen Spaß, dichtgedrängt wie eine Schafherde auf einer zu kleinen Koppel dazustehen. Wenn sie es trotzdem taten, konnte es eigentlich nur einen Grund dafür geben: in der einzigen Richtung, in der Platz zum Ausweichen gewesen wäre - nämlich hinter ihnen, war etwas, was sie daran hinderte.

Eine Anzahl Quorrl kamen ihnen entgegen, als sie sich dem Plateau näherten, aber Titch machte eine rasche, abwehrende Handbewegung, der die Krieger veranlaßte, stehenzubleiben und beiseite zu treten, um ihm und seinen Begleitern auf dem schmalen Saumpfad Durchlaß zu gewähren. Skar beobachtete die Quorrl genau, als er an ihnen vorüberging. Die meisten starrten demutsvoll zu Boden, aber zwei, drei Krieger sahen Titch - und vor allem seinen Begleiter - auch sehr aufmerksam an, und der Ausdruck auf ihren Gesichtern sprach Bände. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß auch nur einer von ihnen Rowl kannte; aber sie alle hatten von ihm gehört, und sie mußten zumindest ahnen, wer der hochgewachsene Quorrl mit den brennenden Augen neben ihrem Anführer war. Es war erstaunlich, dachte Skar, wie sehr sich Titchs Krieger verändert hatten, seit er sich von ihnen getrennt hatte: aus der stumpfen Masse grauer Kampfmaschinen waren Individuen geworden. Dann, fast im gleichen Moment, in den er den Gedanken dachte, begriff er, daß es nicht die Quorrl waren, die sich verändert hatten. Er war es. Zum ersten Mal im Leben sah er die Quorrl so, wie sie wirklich waren.

»Wo?« fragte Rowl knapp, als sie den Rand des Lagerplatzes erreicht hatten und stehenblieben. Die Krieger wichen auch hier vor ihnen zurück und versuchten, eine Gasse für sie zu bilden, aber es gab einfach keinen Platz mehr, um rasch auszuweichen. Sie mußten notgedrungen stehenbleiben und warten, bis sich in der Masse aus über tausend Quorrl schubsend und drängelnd ein schmaler Pfad gebildet hatte, durch den sie nur hintereinander gehen konnten.

Titch sah sich einen Moment suchend um, dann deutete er nach vorne; völlig willkürlich, wie Skar annahm. Selbst für die scharfen Augen eines Quorrl mußte es unmöglich sein, Kiina inmitten dieses unüberschaubaren Durcheinanders zu entdecken. Rowl schien zu dem gleichen Schluß zu gelangen wie er, denn er runzelte vielsagend die Stirn und sah Titch einen Moment lang voller unverhohlenem Mißtrauen an. Aber dann zuckte er nur die Schultern und folgte dem Quorrl in der goldenen Rüstung. Erneut mußte Skar den Mut dieses Quorrl bewundern. Wenn auch nur die Hälfte dessen stimmte, was er gehört hatte und nur ein Bruchteil von dem, was er aus Rowls und Fahs Worten geschlossen hatte! - konnte Rowl absolut nicht sicher sein, das Plateau jemals wieder zu verlassen. Trotzdem zögerte er keine Sekunde. Seine Haltung war noch immer so selbstbewußt und gelassen wie zuvor; er kam Skar eher vor wie ein Mann, der sich inmitten seines eigenen Heeres bewegte, nicht zwischen den Kriegern eines Mannes, den er noch vor Stundenfrist für seinen Todfeind gehalten hatte.

Wahrscheinlich war es purer Zufall: Trotz des ungeheuerlichen Gedränges auf der Felsenplatte gab es genau in ihrem Zentrum einen kleinen, fast freien Fleck, auf dem sie Kiina fanden, eingerollt in eine Decke aus Fell und mit Kopf und Schultern gegen eine der beiden verzierten Truhen gelehnt; so wie sie eingeschlafen war. Die Quorrl umgaben sie und die beiden Truhen wie eine lebende Schutzmauer. Aber es gehörte nicht besonders viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, wem dieser Schutz galt. Nicht dem Mädchen, sondern dem Inhalt der beiden Kisten. Der Anblick war so bizarr, daß nicht nur Skar, sondern auch Titch und der Bastard verblüfft stehenblieben und auf das schlafende Mädchen herabblickten; wenngleich die Reaktionen auf ihren Gesichtern völlig unterschiedlich waren. Titch wirkte betroffen, während in Rowls Augen für Bruchteile von Sekunden fast so etwas wie Zorn aufflammte. Skar fühlte, wie sein Herz einen raschen, erschrockenen Schlag machte und schneller weiterhämmerte. Rowl mußte schon mehr als begriffsstutzig sein, um nicht sofort zu wissen, was das absurde Bild bedeutete.

Skar trat mit einem raschen Schritt an ihm und Titch vorbei, beugte sich vor und zerrte grob die Felldecke herunter, in der Kiina sich eingedreht hatte. »Verdammt noch mal!« brüllte er. »Gehorchst du so den Befehlen, die ich dir gebe?«

Kiina blinzelte. Durch den plötzlichen Ruck hatte sie das Gleichgewicht verloren und war auf den linken Arm herabgefallen, der zu schmerzen schien. Verschlafen rieb sie sich den Ellbogen und blickte aus geschwollenen, aber bereits wieder von Zorn erfüllten Augen zu Skar hoch. »Was für -?«

»Du weißt genau, wovon ich rede!« unterbrach sie Skar mit perfekt geschauspielerter Wut. Gleichzeitig versuchte er, Kiina mit Blicken zu signalisieren, daß sie mitspielen sollte. Aber so wach schien das Mädchen nun doch noch nicht zu sein - das oder Skars Worte hatten sie so wütend gemacht, daß sie ihn einfach nicht verstehen wollte.

Mit einem Ruck richtete sie sich auf, preßte den schmerzenden Ellbogen gegen den Leib und funkelte ihn an. »Wovon, zum Teufel, sprichst du überhaupt?« fauchte sie. »Du verschwindest, ohne ein Wort zu sagen, bleibst eine ganze Nacht fort und läßt mich mit diesen Ungeheuern hier allein, und dann -«

»Gebt euch keine Mühe«, sagte Rowl.

Kiina verstummte mitten im Wort und sah den Quorrl überrascht und neugierig zugleich an, und auch Skar drehte sich langsam herum und forschte in Rowls Augen. Zu seiner eigenen Überraschung fand er nichts von dem Zorn darin, den er erwartet hatte. Im Gegenteil - Rowl wirkte eher amüsiert als wütend. »Man sollte sich nicht auf Kinder verlassen, wenn es um das eigene Leben geht«, sagte Skar. Er kam sich selbst albern vor bei diesen Worten. Rowl hatte ihn längst durchschaut. Trotzdem - er wäre sich noch hilfloser vorgekommen, hätte er nicht versucht, die Geschichte wenigstens noch einen Augenblick aufrechtzuerhalten. »Sie ist -«

»Du hast mich belogen, Satai«, unterbrach ihn Rowl.

Skar schwieg. Rowl sah Titch an. Sein Blick forderte eine Antwort, aber auch der Quorrl sah weg. Schließlich wandte sich Rowl wieder zu den beiden Truhen um und machte eine fordernde Handbewegung. »Öffnet sie.«

Kiina wollte sich herumdrehen und seinem Befehl nachkommen, aber Titch hielt sie hastig am Arm zurück und schob sie mit sanfter Gewalt ein Stück zur Seite. Dann ließ er sich - so langsam, daß es fast wie eine zeremonielle Handlung aussah - in die Hocke sinken, streckte beide Hände nach dem Deckel der ersten Kiste aus und hob ihn vorsichtig an. Rowl trat neben ihn und blickte auf den kostbaren Inhalt der Truhe hinab; lange. Was er sah, schien ihn zufriedenzustellen. Er winkte Titch, die Truhe wieder zu schließen, und deutete auf die zweite Kiste. Diesmal zögerte Titch eine Spur zu lange, um Rowl nicht spüren zu lassen, daß es kein Zufall gewesen war, daß er ausgerechnet diese Truhe nicht zuerst geöffnet hatte.

Rowl bemerkte die fehlenden Eier sofort. Er fuhr hoch, starrte Titch und Skar abwechselnd und voller Mißtrauen an und fragte in herrischem Ton: »Was ist passiert?«

»Der Bestimmer«, antwortete Titch. »Er hat -«

»Du lügst!« unterbrach ihn Rowl. Seine Stimme war ganz kalt, aber es war eine Kälte, die Skar nur zu gut kannte. Sie enthielt eine unüberhörbare Drohung.

»Er sagt die Wahrheit«, sagte Skar. »Cron und dieser andere Quorrl aus Ninga hatten Streit. Der Bestimmer hat nach ihm geschlagen. Cron wehrte sich, und der andere stürzte. Dabei ist es passiert.«

»Und aus diesem Grund hat Cron ihn auch getötet«, fügte Titch hinzu. »Ich glaube, er wollte es nicht einmal. Es ging alles sehr schnell.«

Rowl starrte ihn an. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er Skar und Titch kein Wort glaubte.

Aber dann geschah etwas Seltsames: Mißtrauen und Zorn verschwanden wie weggezaubert aus seinem Blick. Er beugte sich zu Titch herab, nahm ihm den Deckel der Truhe aus der Hand und ließ ihn unendlich behutsam wieder einrasten. Mit einer kraftvollen Bewegung richtete er sich wieder auf, scheuchte Titch ein Stück zurück und winkte die vier Krieger herbei, die ihn begleitet hatten. Die Quorrl postierten sich rechts und links der beiden Truhen und streckten die Hände nach den Tragegriffen aus.

»Einen Augenblick«, sagte Titch.

Rowls Kopf flog mit einem Ruck in die Höhe.

»Du hast bekommen, was du wolltest«, sagte Titch. »Was ist mit uns?«

»Warum fragst du?« fragte Rowl. »Reicht dir mein Wort nicht? Die beiden Menschen und du -«

»Davon rede ich nicht«, unterbrach ihn Titch. Er wies mit den gespreizten Fingern der linken Hand auf die Krieger, die hinter Rowl und seinen vier Begleitern eine dicht geschlossene Mauer bildeten. »Ich spreche von ihnen, Rowl.«

»Du kennst die Antwort auf diese Frage ebenfalls«, antwortete Rowl. Er zog eine Grimasse. »Ich muß verrückt geworden sein, dir und diesem Satai Zuflucht in Caran zu gewähren. Aber so verrückt, dich mit einem Heer einzulassen, bin ich nun wieder nicht.«

»Hast du Angst?« fragte Skar.

»Vielleicht«, sagte Rowl gleichmütig. »Ich möchte nicht als der Mann in die Geschichte Cants eingehen, der Caran verlor - durch Dummheit.«

»Es wäre dümmer, sie nicht einzulassen«, antwortete Skar. »Diese Männer stehen auf deiner Seite, du Narr. Begreif das endlich. Sie haben nichts mehr mit den Herrschern von Ninga zu tun!«

»Ich weiß«, sagte Rowl. »Wenn ich es nicht wüßte, wäre keiner von ihnen noch am Leben. Niemand kommt Caran auch nur auf drei Meilen nahe, ohne daß ich es will.«

»Dann laß sie ein!« verlangte Skar noch einmal. »Verdammt, Rowl, sieh dich doch um! Diese Krieger sind auf der Flucht! Auf der Flucht vor einem Feind, der auch dich angreifen wird, wenn er sie vernichtet hat!«

»Wenn das stimmt, ist es nur um so klüger, sie hierzulassen, Satai«, antwortete Rowl kalt. »Denn wenn es diesen Feind wirklich gibt, von dem du sprichst, dann wird er erst einmal sie überwinden müssen, nicht wahr?«

Die eiskalte Verachtung, die aus den Worten des Quorrl sprach, erfüllte Skar mit plötzlicher, kalter Wut. Er ballte die Faust, trat auf den Quorrl zu und beherrschte sich im letzten Moment. Rowl betrachtete ihn aufmerksam, völlig ohne Furcht, aber mit fast wissenschaftlichem Interesse.

»Du wirst jeden einzelnen dieser Männer noch bitter nötig haben«, sagte Skar. »Vielleicht stehst du schon morgen wieder hier und bittest sie, dir zu helfen. Ich hoffe, sie sagen nein.«

»Das hoffst du nicht wirklich«, antwortete Rowl spöttisch. »Doch ich weiß, was du meinst, Satai. Aber du täuschst dich. Die Tempelgarde -«

»Ich spreche nicht von der Garde, du Narr!« unterbrach ihn Skar. Aufgebracht deutete er nach Süden. »Irgend etwas kommt auf uns zu. Spürst du es nicht? Und es sind nicht nur diese paar Krieger aus Ninga.«

Rowl machte ein abfälliges Geräusch. »Selbst wenn du recht hättest, Satai, würde das nichts an meinem Entschluß ändern. Sie bleiben hier. Sie können bleiben, so lange sie wollen. Ich gewähre ihnen freien Unterschlupf in den Bergen. Nicht in Caran.«

»Du fühlst dich sicher, nicht?« sagte Skar. »Du glaubst, nichts könnte dir in deiner verdammten Höhlenfestung dort oben gefährlich werden. Aber du täuschst dich, Rowl. Die Macht, die jetzt in Ninga herrscht, wird nicht einmal euer Wächter aufhalten.«

»Was soll das heißen?« fragte Rowl lauernd. »Die Macht, die jetzt in Ninga herrscht?«

»Es sind längst nicht mehr die Tempelpriester, Rowl«, sagte Titch. Er sprach leise, aber in fast beschwörendem Tonfall, der Rowl sichtbar aufhorchen ließ. »Skar sagt die Wahrheit. In Ninga herrschen längst nicht mehr die Tempelpriester.«

»Ach?« sagte Rowl spöttisch. Das hieß - er versuchte spöttisch zu klingen, aber seine Stimme war hörbar unsicherer geworden. »Hat es eine Revolution gegeben, von der wir gar nichts gemerkt haben sollten?«

»Dein Spott wird dir im Hals steckenbleiben, wenn du ihnen gegenüberstehst«, sagte Skar ernst.

»So?« Rowl hatte Mühe, weiterhin gelassen zu erscheinen. »Und woher weißt du das, Satai? Hast du sie etwa gesehen, diese Feinde, vor denen selbst Titchs unbesiegbare Krieger zittern?«

»Ja«, antwortete Skar. »Das habe ich. Und Titch und Kiina hier auch.«

»Und wer sind sie?« fragte Rowl.

Skar sagte es ihm.

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