26.

Der Raum lag tief unter dem Allerheiligsten des Tempels, ein Würfel von vielleicht dreißig Schritten Kantenlänge, der aus dem gewachsenen Fels unter dem Flußbett herausgemeißelt worden sein mußte, denn die gewendelte Treppe hatte sie Hunderte und Aberhunderte von Stufen weit in die Tiefe geführt.

Es war kalt hier unten. Kalt und feucht und düster. Das unheimliche rote Licht - die gleiche Art unheimlicher, aus dem Nichts kommender Helligkeit, wie sie sie auch in Elay und Caran erlebt hatten - regierte auch hier, aber es war matter, kaum mehr als ein Schimmer, der den Dingen sonderbar falsche Umrisse und ihren Bewegungen etwas Irreales gab. Und alles hier war alt. Unglaublich alt.

Die verborgene Treppe, die sie hinter der Götterstatue im Allerheiligsten des Tempels gefunden hatten, bestand aus massivem Granit, aber ihre Stufen waren ausgetreten wie die einer Stiege aus weichem Holz; zum Teil nur noch so dünn, daß Skar fast in Sorge gewesen war, ob sie das Gewicht der beiden Quorrl tragen würden. Die Luft war so verbraucht, daß das Atemholen weh tat, und jedes noch so winzige Geräusch weckte unheimliche, verzerrte Echos in dem schier endlosen Treppenschacht hinter ihnen.

Skar sah sich mit klopfendem Herzen um. Er hatte keine Angst, aber er spürte eine Erregung, wie sie wohl nur Entdeckern vorbehalten war. Selbst er, der fast alle Geheimnisse dieser uralten Welt kannte, konnte ein Gefühl von Ehrfurcht nicht ganz unterdrücken, als er sich vor Augen führte, daß er vielleicht der erste Mensch in der Geschichte dieses Planeten war, der diesen Raum betrat. Das Herz des Tempels, das Allerheiligste, der größte Schatz - und zugleich der Fluch - des Volkes, dem diese Welt gehörte.

Titch berührte ihn an der Schulter und deutete mit der anderen Hand auf eine halbrunde Tür in der der Treppe gegenüberliegenden Wand. Er sagte nichts; so, wie er auch auf dem Weg hier herunter kein einziges Wort gesprochen, ja, sich fast angstvoll bemüht hatte, nicht das winzigste Geräusch zu machen.

Skar fragte sich, was in den beiden Quorrl vorgehen mochte. Ganz egal, wie gegensätzlich Titch und Rowl waren, sie waren Quorrl, und sie standen am Eingang eines Ortes, an dem seit einer Million Jahren das Schicksal ihres Volkes entschieden worden war.

Titch machte eine fragende Geste, die Skar mit einem Nicken beantwortete. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Kiina einen Schritt machte und losgehen wollte, aber Skar hielt sie mit einer fast erschrockenen Bewegung zurück. Und selbst Kiina schien den Zauber dieses Ortes zu spüren, denn sie versuchte nicht, sich loszureißen, sondern trat fast ehrfürchtig beiseite, als Rowl und Titch sich der niedrigen Tür näherten. Was immer dahinter liegen mochte - es stand den beiden Quorrl zu, es als erste zu sehen. Und zu entscheiden, was damit zu geschehen hatte. Sie würden warten, bis Titch oder Rowl zurückkamen, um sie zu holen.

Die beiden Quorrl verschwanden in dem schimmernden roten Licht jenseits des Durchganges, und obwohl Skar sie noch für Augenblicke sah, verschluckte die Stille das Geräusch ihrer Schritte, als hätten sie eine unsichtbare Barriere durchbrochen, hinter der die Gesetze dieser Welt nicht mehr galten.

Trotzdem dauerte es noch lange, ehe Kiina das lastende Schweigen brach.

»Was ist das hier?« fragte sie. Sie flüsterte; trotzdem hallten ihre Worte lange in der Felsenkammer wider, wispernden Echos gleich, die sich unmerklich veränderten, bis sie zu etwas anderem, Fremden wurden, das nichts mehr mit einer menschlichen Stimme zu tun hatte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Skar - und mehr, um das unheimliche Echo dieser Worte zu übertönen als aus irgendeinem anderen Grund fügte er hinzu: »Vielleicht sollten wir es auch nicht wissen.«

»Es gibt Dinge, die nicht für Menschen gedacht sind, wie?« Kiina versuchte spöttisch zu klingen, aber es gelang ihr nicht. »Vielleicht«, antwortete Skar ernst.

»Du hättest sie nicht allein gehen lassen dürfen«, sagte Kiina nervös. »Sie werden -«

»Sie werden tun, was immer sie tun müssen«, unterbrach sie Skar. »Das hier geht uns nichts an, Kiina.« Vielleicht müßten sie uns töten, wenn wir wüßten, was hinter dieser Tür ist, dachte er. Vielleicht war es das letzte, schreckliche Geheimnis der Quorrl, das Geheimnis ihrer Existenz, und vielleicht bezahlten Titch und der Bastard dafür, ihr Volk befreit zu haben, jetzt mit einem Wissen, das so furchtbar war wie das seine, und unter dem sie so zerbrechen mußten wie er.

Kiina schloß die Augen, lehnte sich gegen die Wand und seufzte tief. »Ich kann es kaum glauben, Skar«, flüsterte sie. »Es ist vorbei. Wir haben gesiegt. Es ist unmöglich, aber wir haben sie geschlagen.«

Hatten sie das wirklich? Skar war nicht sicher. Es gab Dinge, die nicht einmal er wußte; und sei es nur, weil er sie nicht wissen wollte. Mit Ennarts Tod war der Widerstand der Zauberpriester endgültig zusammengebrochen. Die wenigen, die den Kampf im Hof überlebt hatten, hatten sich in das Labyrinth aus Hallen und Gängen zurückgezogen, aus dem der Tempel zum größten Teil bestand, verfolgt von Titchs Quorrl, deren Zahl im Laufe der letzten Stunde wieder auf mehr als tausend angewachsen war: mehr als die Hälfte des Heeres war geflohen und würde wahrscheinlich nie wieder zurückkehren, aber es waren vor allem Rowl und seine Bastarde, die ihre Furcht schließlich doch überwanden und ihnen folgten. Und sie waren es auch, die am schlimmsten unter Ians Brüdern wüteten, wo immer sie ihrer habhaft wurden. Als die Sonne aufgegangen war, brannte der Tempel der Verbotenen Inseln an zahllosen Stellen, und die heiligen Räume hallten wider von Waffengeklirr und den Schreien der Kämpfenden. Schwarze Rauchwolken verdunkelten den Himmel über dem Sturz, und mehr als einmal hatten gewaltige Explosionen die Tempelanlage erschüttert. Der Kampf würde vielleicht noch Stunden dauern, vielleicht auch den ganzen Tag oder noch länger, aber Kiina hatte trotzdem recht - es war vorbei. Aber er hatte auch Ennarts letzte Worte nicht vergessen. Als hätte Kiina seine Gedanken erraten und reagierte darauf, zog sie den kleinen Metallkasten unter dem Gürtel hervor und drehte ihn fast ehrfürchtig in der Hand. Skar betrachtete sie aufmerksam. Er wußte, daß dieses Ding jetzt so harmlos war, wie es ein totes Stück Metall nur sein konnte, und trotzdem behagte es ihm nicht, Kiina damit spielen zu sehen. Allein sein Anblick bereitete ihm Unbehagen. Auf eine schwer in Worte zu fassende Art fand Skar den Gedanken fast obszön, daß ein so harmlos aussehendes kleines Etwas über den Untergang einer ganzen Welt entscheiden konnte.

»Ob er es getan hätte?« fragte Kiina nachdenklich.

Skar zuckte mit den Schultern und sah weg. Auch die Antwort auf diese Frage gehörte zu den Dingen, die er nicht wissen wollte. Er wartete darauf, daß Kiina das Kästchen wieder einsteckte, aber sie tat es nicht, sondern hielt es im Gegenteil dichter unter die Augen und fuhr mit den Fingern an seinen Kanten entlang, als betaste sie ein kostbares Schmuckstück, hütete sich aber, einem der kleinen Knöpfe auf seiner Oberseite auch nur nahe zu kommen.

»Wir sollten es zerstören«, sagte Kiina plötzlich.

Skar lächelte. Er wußte, daß das nicht ging, und Kiina wußte es ebenfalls. Das Kästchen war aus dem gleichen Metall gefertigt, aus dem sein Schwert bestand, aus dem gleichen Stahl, aus dem die Schiffe geschmiedet worden waren, mit denen ihre Vorfahren von den Sternen kamen; Eisen aus dem Herzen einer Sonne, das durch keine Gewalt des Universums zerstört werden konnte. Aber er begriff, warum Kiina dies gesagt hatte, und allein dieses Wissen stimmte ihn ein ganz kleines bißchen froher.

»Oder es an einen Ort bringen, an dem es nie wieder gefunden wird«, fuhr Kiina fort. »Gibt es einen solchen Ort?«

»Vielleicht«, antwortete Skar. »Warum suchst du nicht danach?«

»Warum suchen wir beide nicht danach?« Sie lächelte - oder versuchte es wenigstens -, steckte das Kästchen mit einer plötzlich hastigen Bewegung wieder ein und fragte noch einmal: »Warum bleiben wir nicht zusammen, Skar? Enwor ist groß, und wir werden einen Ort finden, an dem -«

»Du kannst nicht bei mir bleiben, Kiina«, unterbrach sie Skar sanft.

»Aber wieso denn nicht? Es ist vorbei, Skar! Die Quorrl brauchen dich nicht mehr, das hast du selbst gesagt. Sie... sie ...« Sie begann zu stottern, verhaspelte sich und unterdrückte nur noch halb ein Schluchzen. »Wir ... wir werden zusammen bleiben, nicht wahr? Wir werden gemeinsam nach Ikne zurückgehen und Del helfen, alles wieder aufzubauen, und wir ... wir werden...«

Aber er würde nie wieder hier weggehen. Die Treppe, die sie hier heruntergeführt hatte, endete nicht in dieser Felsenkammer, sondern ging weiter, vielleicht direkt hinab in die Hölle, vielleicht an einen Ort, der schlimmer war. Skar hatte Rowl und Titch erlaubt, ihn bis hierher zu begleiten, und er hatte es auch Kiina gestattet, gegen jede Logik und wahrscheinlich aus dem einzigen Grund, noch einige weitere kostbare Minuten in ihrer Nähe zu sein. Aber er würde niemandem gestatten, ihn weiter zu begleiten, denn dort unten wartete etwas auf ihn - auf ihn und jeden, der ihm folgte - das schlimmer war als der Tod.

Sie wußte es. Sie mußte es geahnt haben, schon ehe sie hier herunterkamen, aber sie war noch immer Kind genug, sich selbst belügen zu können. Sie versuchte es selbst jetzt noch.

»Es ist vorbei, Skar«, stammelte sie. »Es ... es ist doch vorbei, oder? Wir haben die Ssirhaa geschlagen, und ... und die Quorrl töten die Zauberpriester, wo immer sie sie sehen. Es ist zu Ende, Skar!«

Er hatte nicht die Kraft, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie kannte sie so gut wie er, aber sie auszusprechen, würde sie vollends zur Wirklichkeit werden lassen. Statt zu antworten, trat er mit einem traurigen Lächeln auf sie zu und hob die Hand, um sie zu streicheln, aber Kiina schlug seinen Arm beiseite und wich rasch drei, vier Schritte vor ihm zurück.

»Es ist vorbei, Skar!« wiederholte sie wie ein Kind, das sich etwas immer und immer wieder selbst vorsagte und hoffte, daß es dadurch Wahrheit würde. »Alles wird wieder werden, wie es war. Du ... du wirst doch wieder anders! Es ist doch vorbei! Es gibt keinen Grund mehr für dich, so ... so ... so anders zu sein!« Er hatte geglaubt, daß es nichts mehr gab, um ihn zu erschüttern, daß er den absoluten Höhepunkt des Schmerzes und der Angst kennengelernt hatte. Aber das stimmte nicht. Es gab nie ein Endgültig. Es gab kein Entsetzen, dem nicht noch ein größeres folgen konnte, keine Qual, die nicht noch verschlimmert werden konnte, kein Abgrund, unter dem nicht noch eine tiefere, bodenlosere Schlucht lauerte, und Kiinas Worte schleuderten ihn in diesen Abgrund, warnungslos und brutal und endgültig. Es gibt keinen Grund mehr für dich, so zu sein...

Auch sie fürchtete ihn. Ihre Angst vor ihm war so groß wie die Titchs und der anderen, und was er für die Kraft einer Liebe gehalten hatte, die selbst diese Angst zu überwinden vermochte, das war nichts als ihre kindliche Vorstellung, er könne die furchtbare Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, einfach wieder rückgängig machen, sie überwinden wie eine Krankheit. Aber das konnte er nicht. Es würde schlimmer werden. Er würde auch den Rest seiner Menschlichkeit verlieren, nach und nach, im Laufe der Jahre, vielleicht auch nur Wochen, und irgendwann, das wußte er, würde sie ihre Angst nicht mehr beherrschen können. Er wußte, daß es so kommen mußte. Er war noch immer zum Teil Mensch, etwas von dem alten Skar war noch in ihm, in dieser Kreatur mit gottgleichen Kräften und einem unverwundbaren Körper, in die er sich verwandelt hatte, und er hatte sich an dieses winzige Etwas geklammert, in den letzten Tagen. Und es war nur dieser winzige Teil in ihm, der schwindende Rest seiner Seele, der noch Skar war, den Kiina in ihm sah. Aber er wurde bereits schwächer, und bald - entsetzlich bald - würde es ihn nicht mehr geben. Das, was Skar gewesen war, würde einfach aufgehen in der finsteren Macht des Daij-Djan, in der gottgleichen Gewalt des Schläfers und dem Wissen, das in ihm war. Er war Skar, aber er war auch der Mann, der vor ihm den Schläfer in sich getragen hatte, und der davor und davor und davor... fünftausend Generationen. In seiner Seele schlummerte ein meßbares Stück Ewigkeit, und was immer es war, in das er sich verwandelte, wenn es endgültig erwachte - Kiina würde es fürchten, und irgendwann würde sie beginnen, es zu hassen.

Ohne ein Wort und sehr hastig, damit Kiina die Tränen in seinen Augen nicht sah, drehte er sich herum und folgte Titch und dem Bastard.

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