27.

Der Raum war viel größer als die Felsenkammer am Fuße der Treppe, fast schon ein Saal, und hier sah er auch all die Pracht und den Zierat, den er bisher vermißt hatte - jedenfalls hielt er das Blitzen von Gold und Silber, das Funkeln von Edelsteinen und kostbaren Metallen im ersten Moment dafür. Bis er erkannte, was es wirklich war.

Er war nicht sicher, ob er wirklich verstand, was er da sah. Der Saal war voller großer, funkelnder Blöcke aus poliertem Metall, voller Rohre und Kessel, voller blinkender Lichter und anderer, verwirrender Dinge, deren wahre Natur er nicht einmal erraten konnte. In großen, mattsilbernen Schalen brodelte farblose Flüssigkeit, und die Luft war erfüllt vom Wispern äonenalter, metallener Stimmen.

Jemand hatte versucht, ihn in einen Tempel zu verwandeln - inmitten des verwirrenden Durcheinanders aus Maschinen und Rohren stand ein Altar aus schwarzem Basalt, über und über bedeckt mit Schmuck und Opfergaben und sakralen Dingen, und an den Wänden - den wenigen Stellen, die freigeblieben waren - entdeckte er kunstvoll gewebte Teppiche, Bilder und Waffen. Aber das Ergebnis dieser Bemühungen war kein heiliger Ort, sondern ein Chaos, in dem der Blick kaum mehr Halt fand und sich zu verlieren drohte. Gleichzeitig wirkte der Anblick erschütternd, denn er machte klar, wie hoffnungslos die Bemühungen der Quorrl geblieben waren, diesem Ort auch nur einen Deut von seinem fremdartigen Wesen zu nehmen.

Er entdeckte Titch nur wenige Schritte neben dem Eingang. Der Quorrl stand hoch aufgerichtet und starr vor einer der flachen Schalen, die Skar auf den ersten Blick an ein Taufbecken erinnert hatten. Er hatte das Schwert gezogen, aber der Arm, der es hielt, hing nutzlos herab, und seine linke Hand umklammerte den Rand des Beckens. Im ersten Moment dachte Skar, daß er seine Schritte gar nicht gehört hatte; aber dann reagierte er doch und begann zu sprechen.

»Es ist eine Maschine, Skar.«

Auch dieser Raum gehörte zum Reich des roten Lichts und der unheimlichen Echos. Als die vier Worte zurückkehrten, gebrochen und verzerrt und um Tonlagen höher, wie die kichernden Stimmen unendlich böser Kinder, da bedeuteten sie etwas anderes. Skar hörte erst aus diesem Echo das wahre Entsetzen heraus, das die Erkenntnis für Titch bedeuten mußte.

»Nichts als eine verdammte alte Maschine. Wir... wir haben einen Gott aus Stahl angebetet!«

»Niemand muß das erfahren, Titch«, antwortete Skar. Er kam sich lächerlich vor, bei diesen Worten, und dumm, und falls Titch sie überhaupt hörte, so reagierte er nicht darauf, sondern starrte nur weiter ins Leere. Für einen Moment fragte sich Skar voller Angst, ob Titch diesen Schock überwinden würde. Dies war der Ort, an dem seit Urzeiten das Schicksal seines Volkes entschieden worden war. Das Sanktuarium des Goldenen Tempels, der Quell des Wassers des Lebens. Hierher hatten die Bestimmer die ungeborenen Kinder der Quorrl gebracht, um ihr Leben festzulegen, hier war entschieden worden, ob die nächste Generation der Quorrl zu Kriegern oder Bauern, zu Ärzten oder Schlächtern, zu Geschöpfen wie Titch und Rowl oder zu Ungeheuern heranwachsen würde. Und es war nichts Göttliches an diesem Ort. Es war so, wie Titch gesagt hatte: es war eine Maschine. Nicht mehr. Großer Gott, was um alles in der Welt sollte er sagen, um ihn zu trösten?

Nach einer Weile drehte Skar sich wortlos herum und ging zu Rowl hinüber. Der Bastard hockte vornübergebeugt neben dem Altarblock, und Skar sah erst jetzt die zweite, reglose Gestalt, die neben ihm lag: der Priester. Er erkannte sein Gesicht nicht wieder, aber es war der gleiche Quorrl, der am vergangenen Abend zu ihm gekommen war, um ihn zu töten. Sein Arm hing in einer Schlinge, und seine Schulter war unter einem dick und ungeschickt angelegten Verband verborgen, auf dem dunkle Flecken die wieder aufgebrochene Wunde verrieten. Sein Kopf lag in einer dunklen Lache, und sein Gesicht war blutverschmiert. Aber er lebte noch.

Und er war sogar bei Bewußtsein. Als er Skars Schritte hörte, flatterten seine Lider, und er versuchte kraftlos den Kopf zu heben. Rowl sah auf, und in den maßlosen Schmerz auf seinen Zügen mischte sich eine fast ebenso maßlose Wut. Er ballte die Faust, um den Priester abermals zu schlagen.

»Bitte nicht«, sagte Skar.

Rowls Kopf ruckte herum, und für einen winzigen Moment konzentrierte sich sein Zorn nun auf Skar. Aber er verrauchte, noch ehe er die Energie aufbrachte, hochzuspringen und sich auf ihn zu stürzen.

»Bitte töte ihn nicht«, sagte Skar noch einmal. »Es ist nicht mehr nötig.«

Er wartete sekundenlang auf eine Reaktion, die nicht kam, dann ging er neben dem Priester in die Hocke und versuchte ihn aufzurichten, aber der Quorrl war zu schwer. Immerhin gelang es ihm, ihn auf den Rücken zu wälzen, so daß sich ihre Blicke trafen.

»Du rettest mir das Leben?« murmelte der Priester. »Warum?«

»Das tue ich nicht«, erwiderte Skar. Er deutete auf Rowl, dann in die ungefähre Richtung, in der Titch zurückgeblieben war. »Vielleicht schenken sie dir das Leben, Priester«, sagte er. »Ich hoffe es. Aber ich kann es nicht.«

»Er wird sterben«, grollte Rowl. Seine Stimme klang flach, wie die eines Mannes, der im Schlaf redete, und Skar wunderte sich fast, daß er seine Worte überhaupt gehört hatte und darauf reagierte. »Er wird für das bezahlen, was sie unserem Volk angetan haben.«

»Du ... Narr«, stöhnte der Priester. »Du hast es immer noch nicht begriffen. Unser Volk?« Er lachte leise. »Es gibt kein Volk der Quorrl. Wir wurden erschaffen, Bastard! Wir wurden gemacht, wie diese Dinge hier. Wir sind nicht mehr als Maschinen, die nur zufällig aus Fleisch und Blut bestehen.«

»Bitte sei still«, sagte Skar ruhig. »Du weißt, daß das nicht stimmt. Nicht mehr.«

Der Priester wollte widersprechen, aber Skar spürte, daß seine Zeit verrann und daß sie vielleicht kostbarer war, als er bisher geglaubt hatte. »Vielleicht war es einmal so«, fuhr er fort. »Vielleicht hat das alles hier einmal einen Sinn gehabt. Aber es ist vorbei, Priester. Du hast mich gestern gefragt, ob ich die Zukunft deines Volkes den Bastarden schenken will, erinnerst du dich?« Der Priester nickte.

»Das brauche ich gar nicht mehr«, fuhr Skar fort. »Sie gehört ihnen bereits. Das alles hier ist sinnlos geworden, schon vor langer Zeit. Die Quorrl haben gelernt, ihr Leben selbst zu bestimmen. Die Zukunft wird Männern wie Rowl gehören.«

»Es wird keine Zukunft geben, du Narr«, flüsterte der Priester. »Keine Ordnung mehr. Keine Regeln. Cant wird untergehen, und alles wird im Chaos versinken.«

Skar hörte das Schleifen von Metall und wußte, was er erblicken würde, noch ehe er sich herumdrehte und Titch erkannte. Der Quorrl hatte das Schwert gehoben. Seine Augen waren schwarz vor Haß.

»Geh mir aus dem Weg!« zischte er. »Geh zur Seite, damit ich diesen Hund erschlagen kann.«

Skar stand tatsächlich auf. Aber statt den Weg freizugeben, trat er Titch im Gegenteil entgegen und drückte seinen Waffenarm herunter.

»Was würde es nützen, ihn zu töten?« fragte er. »Wem würde es nützen? Er hat dasselbe getan wie wir; nur auf seiner Seite. Er hat getan, was er tun zu müssen glaubte.«

Titchs Arm zitterte. Aber Skar hielt ihn mit unerbittlicher Kraft fest. »Ihr braucht ihn, Titch«, sagte er beinahe beschwörend. »Ihr müßt eine neue Welt aufbauen, und ihr werdet jedes bißchen Hilfe brauchen, das ihr bekommen könnt.«

»Ihn?« Titch kreischte es fast. »O ja, sicher - wir brauchen Männer wie ihn. Sie werden uns helfen, nicht wahr? So lange, bis sie sich einen neuen Gott gebaut haben. Bis die Ssirhaa wiederkommen, oder andere.«

»Das werden sie nicht«, sagte Skar ruhig. »Nie wieder, Titch. Es gibt sie nicht mehr. Schon lange nicht mehr.«

»Vielleicht hat es sie nie gegeben«, flüsterte der Priester. Skar und Titch sahen überrascht auf ihn herab. Der Quorrl hatte sich aufgerichtet und saß, Kopf und Oberkörper gegen den Altarstein gelehnt und mit schmerzverzerrtem Gesicht da, aber die Furcht in seinem Blick war etwas anderem, viel tiefer Reichendem gewichen.

»Was willst du damit sagen?« schnappte Titch. Sein Mißtrauen war keineswegs besänftigt, aber die Worte des Priesters hatten ihn verwirrt.

Statt zu antworten, hob der Quorrl müde die Hand und deutete auf einen dunkelroten Vorhang hinter Titch. »Zieh ihn auf.«

Titch zögerte. Sein Blick wanderte unsicher zwischen Skars und dem Gesicht des Priesters hin und her. Vielleicht vermutete er eine Falle, aber möglicherweise hatte er auch nur Angst vor dem, was ihn hinter dem dunkelroten Samt erwarten mochte. Dann, ganz plötzlich, drehte er sich mit einem Ruck herum und riß den Stoff mit einer einzigen Bewegung zur Seite.

Dahinter kam eine schmale, nicht ganz mannshohe Nische zum Vorschein, die früher vielleicht einmal Teile der verwirrenden Technik dieses Raumes beinhaltet hatte, denn aus ihren Seitenwänden ragten noch die Enden abgeschnittener oder herausgerissener Kabel und Geräte. Jetzt enthielt sie einen hohen Felssockel, auf dem eine weniger als anderthalb Meter hohe Statue aus grünlichem Stein stand.

Titch keuchte, und Rowls Augen weiteten sich in jähem Entsetzen, als er die steinerne Figur erblickte.

Skar trat neugierig näher. Er verstand den Grund für Titchs Schrecken nicht - die Skulptur zeigte keine der namenlosen Schrecken quorrlscher Dämonologie, keinen Daij-Djan oder Ultha oder andere Schreckensgestalten, sondern ein schlankes, echsenhaftes Wesen mit fein geschnittenen Zügen und fast zerbrechlichen Gliedern. Das Vorbild, nach dem es geschaffen worden war, konnte nicht viel größer als ein Kind gewesen sein, und auch nicht bedeutend kräftiger, wenn die nadelspitzen Fänge in dem halb geöffneten Maul und die schrecklichen Krallen an den Enden seiner Finger und Zehen auch seine Wehrhaftigkeit bewiesen. Es hatte einen Schwanz, wie die Reitechsen der Errish, und in den Augen, die kunstvoll aus rotem Kristall nachempfunden waren, stand eine große, noch nicht menschliche, aber auch ganz und gar nicht mehr tierische Klugheit.

»Was ist das?« murmelte Skar verwirrt.

»Wir«, antwortete der Priester. Skar hörte, wie er aufstand und sich stöhnend näherschleppte. Weder Titch noch der Bastard versuchten ihn daran zu hindern. »Das Volk, aus dem wir gemacht wurden, Satai. Unsere Vorfahren.«

Skar besah sich die Statue noch einmal und genauer, und nach ein paar Sekunden begriff er, daß der Priester die Wahrheit sprach. Das kleine Echsenwesen hatte kaum Ähnlichkeit mit einem Quorrl, und doch schien alles, was die großen Schuppenkrieger ausmachte, schon vorhanden zu sein, wie etwas, das unter der Oberfläche des Sichtbaren schlummerte und nur darauf wartete, hervorzubrechen.

»Ich habe ihn mir angesehen«, flüsterte der Priester. »Seit ich das erste Mal hier heruntergekommen bin, habe ich ihn betrachtet, Satai, Tag für Tag. Und ich habe getan, was ich tun mußte, damit wir nicht wieder zu dem da werden.« Plötzlich fuhr er herum, und Zorn flammte in seinen Augen auf, ein heiliger, lodernder Zorn, der selbst Titch einen halben Schritt zurückweichen ließ. »Du nennst es eine Maschine!« schrie er. »Und vielleicht ist sie das! Vielleicht hast du recht, und wir haben immer nur einen Gott aus Stahl angebetet! Aber er war das einzige, was zwischen uns und ihm stand!«

Titch antwortete nicht, aber etwas in seinem Blick schien zu zerbrechen, und plötzlich wußte Skar, daß sein Haß auf den Priester und seine Brüder erloschen war. Vielleicht - sicher - würde er dem Quorrl niemals trauen, und vielleicht würde er ihn trotz allem töten, aber er verstand jetzt seine Gründe. Es war diese Statue, die Mahnung an das, woraus die Quorrl erschaffen worden waren, die den Priester und seine Vorgänger Tag für Tag, Jahrhundert für Jahrhundert, Jahrtausend für Jahrtausend daran erinnert hatten, wie wichtig ihr Tun war.

»Wir werden wieder zu ihnen werden, wenn ihr die Maschine zerstört«, sagte der Priester. »Tötet mich. Vernichtet sie, und ohne das Wasser des Lebens wird das da aus euren Eiern schlüpfen!«

»Du irrst dich, Priester«, sagte Skar. Er deutete auf Rowl. »Sie sind der Beweis. Ihr braucht diese Maschine nicht mehr. Vielleicht war euer Tun nötig, vor langer Zeit. Vielleicht mußte diese Maschine einmal sein, aber das ist vorbei. Die Bastarde haben es bewiesen, und alle anderen Quorrl, die ihre Kinder vor euch versteckt haben. Die Natur hat längst übernommen, was diese Maschine begonnen hat.«

»Und die ... die Ssirhaa?« flüsterte Rowl.

Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf den Priester. »Er hat es selbst gesagt, Rowl. Wahrscheinlich hat es sie nie gegeben.«

»Aber wer waren sie dann?«

»Sterbliche Wesen wie wir«, antwortete Titch an Skars Stelle. Er lachte bitter, aber in seinen Augen schimmerten Tränen. »Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es erkennen müssen, als Ennart zum zweiten Mal erschien. Es gibt nur ein Volk auf unserer Welt, das seine Gestalt nach Belieben ändern kann, Rowl.«

Ja, dachte Skar bitter. So wie es nur einen Mann auf ihrer Welt gab, der zu einem Plan wie diesem fähig war. Er hätte es wissen müssen. Er betrachtete den Priester, Rowl und Titch mit einem langen, fast melancholischen Blick, dann lächelte er zum Abschied, wandte sich um und blieb dann noch einmal stehen, um sich ein letztes, ein unwiderruflich allerletztes Mal an Titch zu wenden.

»Versprichst du es mir?« fragte er.

Der Quorrl nickte. Er hatte verstanden, was Skar meinte. So, wie er ohne irgendeine Erklärung wußte, wohin er ging, und weshalb.

»Ich werde sie beschützen, Skar«, sagte er feierlich. »Du hast das Ehrenwort eines Quorrl, daß er sie mit seinem Leben beschützen wird, wann immer es nötig ist.«

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