22.

Tageslicht, drei oder vielleicht auch vier Stunden später: ein winziger Fleck, scheinbar noch Meilen entfernt, wie eine zerbrochene Münze, die im Sonnenlicht glänzte. Skar wußte kaum noch, woher er die Kraft nahm, zu gehen. Seine Glieder schienen Zentner zu wiegen, und sein Rücken schmerzte, als hätte jemand einen Dolch hineingestoßen. Er hatte sich verletzt, auf dem Weg nach unten, und er hatte Titch verletzt; vermutlich sehr viel schwerer als sich selbst. Was sie für einen Gang gehalten hatten, war eine Röhre aus spiegelglattem Metall gewesen, die in immer enger werdenden Windungen nach unten führte, ein Fluchtweg im wahrsten Sinne des Wortes, auf dem es kein Zurück mehr gab. Was ihm vermutlich das Leben gerettet hatte, war der simple Zufall gewesen, daß Titch als erster durch die verborgene Tür getreten war: sie hatten beide den Halt verloren, kaum daß sie ein paar Schritte gemacht hatten, und waren in immer enger - und schneller! - werdenden Spiralen nahezu senkrecht nach unten gerast. Wäre der Quorrl hinter ihm gewesen, hätte er Skar mit seinem Körpergewicht wahrscheinlich zermalmt, als die Röhre sie nach endlosen Minuten in den finsteren Kellergewölben Carans ausspie.

So war es Skar gewesen, der mit der Wucht eines lebenden Geschosses in den Rücken des Quorrl traf. Er hatte sich das rechte Knie geprellt, und sein Armstumpf war aufgebrochen und hatte wieder zu bluten begonnen, denn er hatte ganz instinktiv versucht, den Sturz mit den Händen aufzufangen; Verletzungen, die schmerzhaft und hinderlich, aber nicht besonders gefährlich schienen. Was mit Titch war, wußte er nicht. Wie es seine Art war, hatte der Quorrl kein Wort darüber verloren, aber er bewegte sich mühsam und blieb in immer kürzeren Abständen stehen - angeblich, um sich zu orientieren - und manchmal, wenn er glaubte, Skar sehe es nicht, zuckte sein Gesicht vor Schmerz. Skar hatte den dumpfen Laut und das Knirschen in Titchs Rücken sehr wohl gehört, als er gegen ihn prallte. Er mußte dem Quorrl mehrere Rippen gebrochen haben; wenn nicht schlimmeres. Was danach kam ...

Selbst Skar war sich nicht sicher, was von dem, woran er sich erinnerte, wirklich geschehen und was bloße Einbildung gewesen war. War ihm der obere, bewohnte Teil Carans unheimlich und fremd vorgekommen, so kam in diesen unterirdischen Gängen noch eine spürbare Feindseligkeit hinzu; ein Gefühl, als begingen sie einen Frevel, allein dadurch, daß sie hier waren. Dieser Ort war nicht von Menschen und nicht für Menschen gemacht; und auch nicht für Quorrl. Skar wußte jetzt, was Rowl gemeint hatte, als er davon sprach, daß es nicht gut war, hier herunter zu kommen.

Sie hatten auch hier unten Skelette gefunden; acht, vielleicht zehn Quorrl, die im Tod übereinandergestürzt waren, so daß ihre Zahl nur noch zu schätzen war, und einen Bastard-Krieger, der scheinbar unversehrt schien. Und einmal hatte Skar geglaubt, am Ende des Stollens, durch den sie gingen, einen mißgestalteten Schatten zu sehen, war aber nicht sicher gewesen, so daß er es vorzog, Titch nichts von seiner Beobachtung zu erzählen. Zumindest waren sie nicht angegriffen worden. Die einzige konkrete Gefahr, der sie begegneten, waren zwei der eisernen Spinnentiere gewesen, die ihren ruhelosen Weg durch die Keller Carans zogen. Sie waren ihnen ausgewichen; einmal leicht, das zweite Mal nur, indem sie so lange rannten, bis sich der Gang teilte und im letzten Moment eine andere Abzweigung nahmen als das Eisentier. Titch hatte auch den Umstand, daß Skar die alptraumhafte Kreatur kannte, ohne ein Wort hingenommen. Vielleicht begriff auch er, daß mit Skar etwas geschah; vielleicht war er auch nur einfach zu sehr verletzt, um sich auf mehr als das absolut Notwendige zu konzentrieren.

Skar hoffte, daß es nicht so war. Seine eigenen Kräfte ließen jetzt so rasch nach, daß er manchmal zu spüren glaubte, wie das Leben aus ihm herausfloß, ein dunkel pulsierender Strom, der aus unsichtbaren Wunden in seiner Seele rann und ihn schwächer und schwächer werden ließ, mit jedem Schritt. Er war nicht mehr in der Lage, zu kämpfen. Titch war endgültig zu seinem Schwert und seiner Faust geworden.

Als hätte der Quorrl seine Gedanken gelesen, blieb er in diesem Augenblick wieder stehen und lehnte sich schweratmend gegen die Wand. Als er Skars besorgten Blick bemerkte, zwang er sich zu einem Lächeln und deutete auf die zerbrochene Münze am Ende des Ganges. »Das dort vorne muß der Ausgang sein, von dem der Krieger gesprochen hat«, sagte er.

Skar nickte mühsam. Auch er wankte vor Schwäche. Sie mußten Meilen gelaufen sein, aber das war es nicht allein.

Wie lange noch? dachte er. Eine Stunde? Zwei? Wie lange noch, bis das Gift, das er in Elay eingeatmet hatte, seinen Körper endgültig verbrannte?

Instinktiv streckte er die Hand aus, um gleich dem Quorrl irgendwo Halt zu finden, aber er war zu weit von der gegenüberliegenden Wand entfernt, und selbst die Anstrengung, die beiden Schritte dorthin zu tun, erschien ihm zu groß. Ohne direkt auf Titchs Bemerkung zu antworten, ging er weiter, und nach Sekunden hörte er, wie sich der Quorrl von der Wand abstieß und ihm mit schleifenden, ungleichmäßigen Schritten folgte.

Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Der winzige Fleck aus flackernder gelber Helligkeit schien sich von ihnen zu entfernen, statt näher zu kommen, und Skar war auf diesem letzten Stück des Weges mehr als einmal nahe daran, einfach aufzugeben. Die Verlockung war groß: einfach aufgeben, sich auf den kalten Boden zu legen und die Augen zu schließen, ein vielleicht langsamer, aber sanfter Tod.

Aber dann würde er Kiina niemals wiedersehen, und das allein war der Grund, aus dem er sich zwang, weiterzugehen, wie eine Maschine, die zu nichts anderem gemacht war als dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und nichts anderes konnte. Schließlich blieb Titch wieder stehen und sagte etwas, aber Skar war so erschöpft, daß er einfach weiterging, bis der Quorrl ihn am Arm zurückhielt.

»Hör«, sagte er warnend.

Skar lauschte. Zuerst hörte er nichts außer dem Rauschen seines eigenen Blutes und dem Wispern Carans, das nur in seinem Kopf Realität war, aber nach einer Weile vernahm er ein anderes Geräusch - eine Mischung aus Lauten, einzeln nicht zu identifizieren, die in ihrer Gesamtheit aber etwas ergaben, was er nur zu gut kannte: Schreie, das Klirren von Metall, Schritte, das Kreischen sterbender Pferde und Quorrl...

»Sie kämpfen«, sagte Titch.

Skar war zu müde, um ihn zu fragen, wer da gegen wen kämpfte, oder gar warum. Er blickte den Quorrl an, und es fiel ihm schwer, sich zu besinnen, wer er war. Warum sie in diesem kalten, roten Gang waren, wo sie waren. Er nickte, machte einen weiteren Schritt - und taumelte mit einem Schrei gegen die Wand, als Titch ihm so wuchtig die Hände in den Rücken stieß, daß er glaubte, seine Rippen müßten brechen. Ungeschickt fing er die ärgste Wucht des Anpralles mit den Unterarmen auf und fuhr zornig herum.

Er sah die Bewegung aus den Augenwinkeln und zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern. Ebenso instinktiv und ohne zu denken hob er die Arme in die Höhe, um sein Gesicht zu schützen. Etwas klatschte weich und widerlich feucht gegen seine hochgerissenen Unterarme und schleuderte ihn ein zweites Mal gegen die Wand.

Erst dann erkannte er seinen Gegner.

Es war ein Quorrl - und doch wieder nicht. Seine Beine und die untere Hälfte des Körpers waren normal, aber was darüber lag, war ein Alptraum aus zerfetztem Stoff und aufgedunsenem, brodelndem schwarzen Gewebe, das zum Doppelten seiner normalen Größe angeschwollen schien, kaum mehr ein erkennbarer Körper, sondern eine formlose, zuckende Masse aus pulsierender Schwärze, aus deren oberem Teil Skar ein einzelnes, mißgestaltetes Auge anstarrte.

Skar versuchte sein Schwert zu ziehen, aber das grauenerregende Etwas, in das der Parasit den Quorrl verwandelt hatte, ließ ihm keine Chance. Sein verkrüppelter Körper suggerierte eine Plumpheit, die ganz und gar nicht da war. Das Ungeheuer sprang vor, packte ihn und schleuderte ihn mit fürchterlicher Wucht zu Boden. Eine riesige, feuchte Hand, schwammig und aufgedunsen, aber noch immer von unmenschlicher Stärke, preßte Skar zu Boden, während sich die andere Pranke seinem Gesicht näherte. Zwischen den halb zusammengewachsenen Fingern glitzerte etwas Kleines, Gelblichgrünes.

Der Anblick ließ Skar aufschreien. Mit einer verzweifelten Anstrengung riß er sich los, versuchte zur Seite und aus der Reichweite des mutierten Quorrl zu gelangen und gleichzeitig sein Schwert zu ziehen. Es gelang ihm, aber die Waffe behinderte ihn mehr, als sie nutzte. Er stolperte über seine eigene Klinge, taumelte ein zweites Mal gegen die Wand und stieß blindlings zu. Das Tschekal glitt scheinbar widerstandslos in das aufgeblähte Fleisch der Quorrl-Brust und tötete den Angreifer auf der Stelle, aber im gleichen Moment berührte dessen Pranke Skars Hüfte und zerbrach die Eihülle. Ein kleines, schwarzes Etwas mit haarigen Beinen und dünnen scharfen Zähnen wirbelte heraus und bohrte sich in Skars Haut.

Skar erstarrte. Wie in Trance sah er zu, wie sich die rasiermesserscharfen Zähne des winzigen Monsters in seine Haut gruben und rissen, seine Beine rasend schnell zu arbeiten begannen, wie kleine scharfkantige Scheren, die die gewaltsam geschaffene Öffnung vergrößerten und - erstarrten.

Für eine Sekunde hockte die schwarze Scheußlichkeit einfach reglos da, jetzt wirklich wie eine fette schwarze Spinne, die sich in Skars Hüfte verbissen hatte, dann begann sie plötzlich zu zittern, versuchte rückwärts zu kriechen, ihre Fänge aus Skars Bein zu ziehen.

Und starb.

Skar sah es nicht nur - er fühlte es. Für die gleiche, winzige Zeitspanne, in der sich die Zähne der Kreatur in sein Fleisch gebohrt hatten, hatten sich auch andere, unsichtbare Fänge in seinen Geist gewühlt, weißglühende Ströme aus Schmerz und unvorstellbarem Haß, der jedes bißchen Menschlichkeit in ihm auszulöschen drohte. Aber plötzlich war der Druck fort. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Skar einen lautlos gellenden Schrei zu hören, den Todesschrei einer Kreatur, die bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es so etwas wie den Tod überhaupt gab, dann verhallte auch er, und im gleichen Moment fiel das kleine Ungeheuer von seinem Bein. Sein Körper begann sich aufzulösen, kaum daß es den Boden berührt hatte.

Skar taumelte. Der Tunnel schwankte vor seinen Augen wie das Deck eines Schiffes im Sturm. Übelkeit breitete sich in seinem Leib aus, gefolgt von Schwäche und ein heftiges Schwindelgefühl.

»Skar!« Titch sprang vor und fing ihn auf, als er zusammenbrach. Der Quorrl schrie etwas, aber Skar verstand ihn nicht, denn er verlor für Sekunden das Bewußtsein.

Als er die Augen wieder aufschlug, lag er auf dem Boden, der linke Arm des Quorrl stützte seinen Kopf, und Titchs Gesicht hing nur einen Fingerbreit über dem seinen. Der Quorrl hatte auf seinen Pulsschlag gelauscht.

Skar richtete sich stöhnend in eine halb sitzende Position auf, versuchte Titchs Arm beiseite zu schieben und registrierte mit einem Gefühl von Resignation und Bitterkeit, daß ihm selbst dazu die Kraft fehlte. Irgendwie brachte er das Kunststück fertig, nach Titchs Arm zu greifen und sich daran in die Höhe zu ziehen. Er stand, aber er wankte. Die Wunde an seinem Bein brannte wie Feuer.

Titchs Hände hielten ihn immer noch, und der Quorrl ließ auch nicht los, als Skar versuchte, seinen Arm beiseite zu schieben. Sein Blick glitt besorgt über Skars Gesicht. »Großer Gott, ich dachte, es wäre vorbei«, sagte er.

»Wo ist er... so plötzlich hergekommen?« murmelte Skar. Er sah Titch an, aber die Gestalt des Quorrl wankte und verbog sich immer wieder vor seinem Blick, als betrachte er sie durch einen Zerrspiegel.

»Er muß hier gewartet haben. Wahrscheinlich wimmelt es hier unten von diesen ... diesen...« Er suchte sekundenlang vergeblich nach Worten, zuckte schließlich mit den Schultern und lehnte Skar wie ein krankes Kind gegen die Wand. Pedantisch überzeugte er sich davon, daß er aus eigener Kraft stehen konnte, ehe er sich umdrehte und in die Hocke ging, um den Quorrl zu untersuchen, der Skar angegriffen hatte.

Skar sah bewußt in eine andere Richtung. Der Quorrl war tot, und das, was immer in ihm gewesen war, auch; gestorben im gleichen Augenblick, in dem sein Wirt starb. Ein Parasit, dachte Skar. Sie waren nichts anderes als Parasiten, winzige, mörderische Monstren, die in die Körper ihrer Opfer eindrangen und ihr Fleisch in... etwas anderes verwandelten. Aber sie töteten sie nicht, sowenig wie das Netz seine Opfer getötet hatte. Was sie taten, war tausendmal schlimmer.

»Sie müssen Rowl und die anderen verfolgt haben«, sagte Titch, als er sich nach einer flüchtigen Untersuchung des toten Quorrl wieder aufrichtete. »Wahrscheinlich haben wir nur Glück gehabt, bisher auf keinen von ihnen zu stoßen. Du hast Glück gehabt«, fügte er betont hinzu. »Eine halbe Sekunde später, und du hat...«

Er brach mitten im Wort ab. Seine Augen weiteten sich, als sein Blick auf die heftig blutende, daumentiefe Wunde in Skars Hüfte fiel.

»Du ... du hast es nicht getötet«, flüsterte er. In seiner Stimme war ein Entsetzen, das Skar im ersten Moment nicht einmal verstand. »Du hast -«

»Es ist gestorben, als es mich gebissen hat, ja«, sagte Skar. Er sah, wie Titch noch einmal und nicht weniger heftig erschrak, und plötzlich war im Blick des Quorrl etwas Neues, Ungutes, das Skar schaudern ließ. Er versuchte zu lächeln und einen Scherz zu machen, um die Situation zu entspannen. »Kiina behauptet ja schon lange, daß ich manchmal ungenießbar bin.« Aber Titch blieb ernst. Das Entsetzen in seinen Augen wurde eher noch tiefer. »Es ... es tut dir nichts«, flüsterte er.

Skar hielt seinem Blick stand, aber es fiel ihm schwer, unendlich schwer. Der Quorrl schien innerlich zu Eis zu erstarren, und Skar spürte, wie sich etwas zwischen ihnen änderte. Ein falsches Wort, vielleicht nur eine falsche Betonung - oder auch etwas, das er nicht sagte - und alles wäre zu Ende.

»Vielleicht tötet es nur Quorrl«, sagte er vorsichtig. »Crons Geschenk war für Rowl und seine Bastarde gedacht, nicht für mich.«

Titch antwortete nicht, aber Skar spürte auch so, daß es die falschen Worte gewesen waren. »Titch«, sagte er. »Bitte! Zieh jetzt keine falschen Schlüsse. Ich bin so überrascht wie du.« Titch schwieg weitere fünf, dann zehn Sekunden - und plötzlich lächelte er, nervös und gezwungen und nicht sehr überzeugend. »Schon gut«, sagte er. »Es... tut mir leid, Skar. Wieso werfe ich dir eigentlich vor, noch am Leben zu sein. Gehen wir weiter, ehe noch mehr von diesen Biestern hier auftauchen.« Er gab Skar keine Gelegenheit, zu antworten. So hastig, daß es fast einer Flucht gleichkam, drehte er sich herum und ging dem Ende des Tunnels entgegen.

Auf den letzten Metern wurde der Weg schwierig. Der Boden stieg plötzlich steil an und war mit scharfkantigen Trümmern übersät oder von Rissen durchzogen, so daß Skar seine ganze Konzentration aufwenden mußte, um keinen Fehltritt zu tun. Seine Hüfte tat sehr weh, und er hatte Schwierigkeiten, das Bein zu bewegen. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten, aber ringsum war das Fleisch taub und hart geworden. Es fiel ihm sehr schwer, zu gehen. Selbst, wenn er gewollt hätte, hätte er Titch kaum einholen können, auf den letzten Metern.

Aber schließlich hielt Titch von selbst an und wartete auf ihn. Schwer gegen die Wand gelehnt blieb Skar stehen und blinzelte in das ungewohnt grelle Licht der Sonne hinaus.

Unter ihnen lag ein gewaltiger, mit hausgroßen Trümmern und Felsbrocken übersäter Krater. Es war kein Ausgang aus der stählernen Festung, sondern das zerborstene Ende eines Stollens, der früher einmal viel weiter geführt haben mußte. Jemand hatte ihn genommen und wie ein dünnes Schilfrohr einfach entzweigebrochen, und die gleiche, unvorstellbare Kraft hatte auch den Rest des Berges hinweggefegt. Obwohl seine Schwäche ein Maß erreicht hatte, die ihn selbst so einfache Dinge wie das Atemholen mühsam werden ließ, spürte Skar einen Schauer von Entsetzen, als ihm klar wurde, welch unvorstellbare Gewalten hier vor Äonen am Werk gewesen waren; Gewalten, die einfach ein Stück aus der stählernen Festung herausgerissen hatten. Caran setzte sich fort, auf der anderen Seite des gut zwei Meilen messenden Kraters, in dessen Hang sie standen. Skar konnte die gähnenden Löcher der Tunnelöffnungen und Gänge auf der anderen Seite erkennen, zusammengedrückte Säle und stählerne Kammern, von den Hammerschlägen zorniger Götter getroffen und zermalmt wie dünnes Goldblech. Was er für Felstrümmer gehalten hatte, waren Brocken aus geschmolzenem Stahl.

Titch hob die Hand und deutete schräg nach unten. In der bizarren Trümmerlandschaft bewegten sich... Punkte. Ameisen zwischen kopfgroßen Felsen, deren hektisches Hin und Her Skar die Größe dieses Kraters und damit das Ausmaß der Zerstörung erst wirklich klar machten. Großer Gott, welche Gewalten hatten sie herausgefordert?

»Der Hang ist nicht sehr steil«, sagte Titch nachdenklich. Er sah Skar besorgt an. »Schaffst du es?«

Vor zwei Tagen hätte Skar nicht einmal über die Frage nachgedacht. Jetzt wußte er die Antwort im ersten Moment wirklich nicht. Der Hang war wirklich nicht besonders steil, dafür aber sicherlich eine Meile lang, und die Götter allein wußten, was sie dort unten erwarten mochte. Die Gestalten dort unten waren zu weit entfernt, und Skars Sehvermögen nach der stundenlangen Wanderung durch das rote Licht Carans zu sehr getrübt, als daß er sie unterscheiden konnte, aber der Lärm, den sie hörten, sprach eine deutliche Sprache. Er würde jedes bißchen Kraft bitter nötig haben, dort unten. Vielleicht sollte er sich von Titch helfen lassen. Der Quorrl war stark genug, ihn die ganze Strecke zu tragen, ohne auch nur außer Atem zu geraten. Aber dann dachte er an den knirschenden Laut, den er gehört hatte, als seine Knie Titchs Rücken trafen, und schüttelte den Kopf. »Es ... geht schon wieder.«

Titch sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts mehr, sondern begann schweigend mit dem Abstieg.

Es war leichter, als Skar befürchtet hatte. Der Boden war abschüssig und mit zahllosen Trümmern übersät, aber eine Million Jahre Rost und Erosion hatten ihn porös werden lassen, so daß ihre Füße festen Halt fanden. Dann und wann lösten sich kleine Trümmerlawinen und Wolken von rostrotem Staub unter ihren Schritten, und einmal stürzte Titch und blieb sekundenlang benommen liegen.

Der Kampflärm nahm allmählich zu. Nach und nach konnte Skar Einzelheiten erkennen, obwohl ihnen titanische Stahlfetzen und bis zur Unkenntlichkeit vom Rost zusammengebackene Trümmer mehr und mehr die Sicht nahmen: es waren Quorrl, die dort unten kämpften, Rowls Bastarde auf der einen und Ennarts Tempelgarde aus Ninga auf der anderen Seite; soweit es in dem verzweifelten Handgemenge, dem sie sich näherten, irgend etwas wie erkennbare Seiten gab. Skar hielt nach dem Ssirhaa und seinen beiden Begleitern selbst Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Er sah auch Kiina und Rowl nirgends, gestattete sich aber nicht, deswegen zu erschrecken. Der Krater war gewaltig, und zwischen den Riesentrümmern auf seinem Grund konnte sich eine ganze Armee verstecken, ohne daß er auch nur eine Spur von ihr sah. Er zog sein Schwert, obwohl er sich dabei fast selbst lächerlich vorkam - die Waffe lag so schwer und klobig in seiner Hand, daß er Mühe hatte, unter ihrem Gewicht nicht die Balance zu verlieren. Er würde einfach zusammenbrechen, wenn er versuchte, damit zuzuschlagen; oder auch nur einen Hieb abzuwehren. Er würde - »Das ist Rowl!«

Titchs Schrei riß ihn zurück in die Wirklichkeit. Sein Blick folgte Titchs ausgestreckter Hand und fand eine winzige, in schreiendes Rot gekleidete Gestalt auf der anderen Seite des Kraterbodens. Der Quorrl kämpfte inmitten einer kleinen Schar Bastarde gegen eine erdrückende Übermacht von Ningas Gardesoldaten. Trotzdem schien der Ausgang des Kampfes noch keineswegs festzustehen: Rowls Männer befanden sich in einer leicht zu verteidigenden Position, und sie kämpften mit der verbissenen Wut von Wesen, die nichts mehr zu verlieren hatten. Die meisten Gestalten, die reglos auf dem Boden lagen, trugen die schreiend bunten Paraderüstungen der Tempelgarde, nicht die schmuddeligen Fetzen der Bastarde.

»Wo ist... Kiina?« murmelte er.

»Sie muß bei ihm sein«, antwortete Titch; eine Spur zu hastig. Er sah Skar an und zog seine Waffe. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, als er die linke Schulter bewegte. »Rowl hat mir versprochen, auf sie acht zu geben. Wenn sie noch lebt, ist sie bei ihm.« Sein Blick wurde durchdringend; und sehr besorgt. »Schaffst du es wirklich?«

Statt zu antworten, lief Skar los.

Sie wurden angegriffen, als sie die Hälfte der Distanz zwischen sich und den Bastarden zurückgelegt hatten; von einem halben Dutzend Gardesoldaten zugleich. Unter normalen Umständen hätte Skar die Falle bemerkt, aber er war zu schwach und Titch zu schwer verletzt, als daß sie Energie darauf verschwenden konnten, auf ihre Umgebung zu achten. Sie stürmten zwischen zwei gewaltigen eisernen Trümmerbrocken hindurch und sahen sich urplötzlich einer Wand aus drohend erhobenen Speeren und Schwertern gegenüber.

Titch rannte den ersten Krieger einfach über den Haufen, aber dann war der Schwung seines Aufpralles aufgebraucht, und Skar sah, wie er sich unter einem Hieb krümmte, den er normalerweise aufgefangen hätte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Eine Speerspitze züngelte nach seinem Gesicht und verfehlte es um Haaresbreite, dann traf ein Keulenhieb sein rechtes Knie und ließ ihn mit einem Schmerzensschrei zusammenbrechen.

Skar war mit einem Satz bei ihm und schlug die Lanze beiseite, die ein zweites Mal nach Titchs Kehle stach. Sein Tschekal zerschnitt den Speerschaft wie dünnes Stroh, aber schon dieser eine, fast kraftlose Hieb kostete ihn das letzte bißchen Kraft. Er taumelte, fiel selbst neben dem Quorrl auf die Knie und versuchte vergeblich, die Arme zu heben, um den erwarteten Angriff abzuwehren.

Der tödliche Hieb kam nicht. Gleich drei Krieger aus Ninga waren auf ihn zugesprungen, aber sie zögerten. Ihre Waffen waren drohend erhoben, und Skar wußte, daß er nicht mehr die mindeste Chance hatte, auch nur einen von ihnen abzuwehren, aber er sah auch die Unentschlossenheit auf ihren Gesichtern - und begriff, was sie bedeutete.

Taumelnd stemmte er sich wieder in die Höhe, schwang seine Klinge und hieb ungeschickt nach dem Krieger, der ihm am nächsten stand. Der Quorrl wich dem Schwertstreich fast spielerisch aus. Aber er machte keine Bewegung zurückzuschlagen oder den Hieb auch nur abzublocken, womit er Skar zweifellos die Waffe aus der Hand geprellt hätte.

Und dann zogen sich die Krieger zurück; so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Skar sank mühsam um Atem ringend gegen einen Trümmerbrocken, während Titch den flüchtenden Gardesoldaten fassungslos nachblickte. »Was -?«

»Sie wollen mich lebend, Titch«, flüsterte Skar. Übelkeit stieg in seiner Kehle empor und machte das Sprechen zur Qual. Unter seiner Zunge sammelte sich bittere Galle. Sein Herz schlug plötzlich ganz langsam; aber so schwer, daß er jeden Pulsschlag bis in die Fingerspitzen fühlte. Er versuchte, sich von seinem Halt zu lösen und auf Titch zuzutaumeln, aber seine Kräfte versagten.

»Hilf mir, Titch«, stöhnte er.

Der Quorrl stemmte sich ächzend in die Höhe und kam auf ihn zu, ein riesiger, verzerrter Schatten, dessen Umrisse sich vor Skars Augen aufzulösen schienen wie ein Spiegelbild auf klarem Wasser, in das jemand einen Stein geworfen hatte. Dahinter kam etwas anderes zum Vorschein, etwas dunkles, spinnengliedriges, dürres, das Skar spöttisch zuwinkte, jetzt, Bruder. Jetzt. Ich habe dir gesagt, daß ich gewinne, so oder so.

Der Daij-Djan verschwand und wurde wieder zu Titch, und aus der dürren Insektenklaue wurden die starken Hände eines Quorrl, der ihn hielt. Skars Knie gaben unter seinem Körpergewicht nach. Er fiel, spürte, wie Titch ihn auffing und ihn stützte, als ihm die Kraft fehlte, zu gehen.

Der nächste Eindruck, den er bewußt wahrnahm, war der zahlloser schwerer Körper, die sich um ihn drängten und einen lebenden Schutzwall für Titch und ihn bildeten, eine Gasse aus Quorrl-Kriegern, an deren Ende eine hünenhafte geschuppte Gestalt in einem flammendroten Mantel stand, die Titch mit einer Mischung aus Erleichterung und Entsetzen entgegensah. Er erinnerte sich nicht, gelaufen zu sein. Sein Körper hatte einfach weiter einen Fuß vor den anderen gesetzt, aber ohne Titchs Hilfe hätte er es niemals geschafft. Rings um ihn herum tobte ein Chaos aus Lauten und Bewegungen, die keinen Sinn mehr zu ergeben schienen. Die Quorrl hatten sich in einer Felsspalte aus rotem Stahl verschanzt, und er glaubte zu spüren, daß der Kampf ein wenig an Heftigkeit eingebüßt hatte, aber er hatte nicht einmal mehr die Energie, sich darauf zu konzentrieren. Kraftlos sank er auf die Knie herab, ließ sich gegen den kalten Stahl sinken und schloß die Augen. Schmerzen pulsierten durch seinen Körper, in immer schnelleren, immer heißeren Wogen. Er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen.

»Was ist hier los?« fragte Titch, an Rowl gewandt. »Wo sind deine Männer?«

Rowl antwortete nicht sofort, sondern beugte sich über Skar und blickte ihn sekundenlang mit steinernem Gesicht an, ehe er sich mit einem Ruck umwandte und zu Titch aufsah. »Tot.« Er machte eine knappe, wedelnde Handbewegung. »Das hier sind alle, die noch leben. Aber warum«, fügte er mit veränderter, zischender Stimme hinzu, »fragst du nicht, wo deine Krieger sind, Titch?«

»Meine ...?« Titch blinzelte irritiert. »Was ... soll das heißen?« Rowl deutete mit einer zornigen Geste auf den gegenüberliegenden Rand des Kraterwalles. Skar glaubte Gestalten dort oben zu erkennen, Reihen um Reihen gedrungener schuppiger Gestalten in den graubraunen Lederharnischen quorrlscher Krieger, aber das war lächerlich, es waren Titchs Soldaten, die Krieger, die er nach Enwor gebracht hatte, um gegen die Sternengeborenen zu kämpfen, Männer, die...

Seine Gedanken begannen sich zu verwirren. Jetzt, als die unmittelbare Gefahr überstanden war, schlugen Erschöpfung und Schmerzen mit aller Wucht zu. Etwas Großes, Dunkles schob sich in sein Bewußtsein und begann sein Denken einzuweben. Das letzte bißchen Kraft versiegte, und ein Gefühl von Wärme und Schwere machte sich in ihm breit: Eine Erschöpfung, die noch tiefer war als die, die er bisher verspürt hatte, aber von völlig anderer, beinahe wohltuender Art.

War das der Tod? dachte er. Aber wenn ja, dann war er anders, als er immer geglaubt hatte, denn der Friede, den der Tod doch angeblich bringen sollte, kam nicht. Trotz der wohltuenden Mattigkeit in seinen Gliedern wurden die Schmerzen in seinem Körper schlimmer. Skar hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen, von einem inneren, lodernden Fieber aufgezehrt zu werden. Er glaubte zu spüren, wie sich das Fleisch von seinen Knochen löste, wie er zerfiel, bei lebendigem Leibe verbrannte von dem kalten Feuer, das er in Elay eingeatmet hatte. Und das auch Kiina töten würde, denn auch sie hatte der Hauch des Sternenfeuers gestreift.

Der Gedanke gab ihm die Kraft, der Verlockung jener großen Ruhe hinter seinen Gedanken zu widerstehen und nach den beiden Quorrl zu sehen. Titch bemerkte die Bewegung aus den Augenwinkeln und hörte unvermittelt auf, mit Rowl zu streiten. Aber als er in Skars Gesicht sah, erschrak er zutiefst. Seine Augen weiteten sich in plötzlichem, entsetzten Begreifen. Mit einer rüden, befehlenden Geste brachte er Rowl vollends zum Verstummen, kniete neben Skar nieder und streckte die Hand aus, wie um ihn zu berühren, schrak aber dann im letzten Moment wieder zurück. Seine Finger begannen zu zittern.

»Skar! Du -«

»Spar dir deinen Atem, wenn du mir sagen willst, daß ich sterbe«, murmelte Skar. »Das weiß ich selbst. Aber gib mir noch ein paar Minuten, ja? So schnell wirst du mich nicht los.« Der scherzhafte Tonfall, in den er die Worte aussprechen wollte, mißlang kläglich. Er griff nach Titchs Hand, um sich daran in die Höhe zu ziehen, aber der Quorrl reagierte nicht auf die Geste, sondern starrte ihn weiter an. Titch lächelte sogar, aber der Schrecken in seinen Augen vertiefte sich eher noch. Hatte er sich so verändert, in diesen wenigen Augenblicken?

Beinahe nur noch, um Titch zu beweisen, daß er nicht übertrieben hatte, streckte Skar abermals und fordernder die Hand aus und ließ sich von dem Quorrl auf die Beine helfen, als er endlich reagierte und seine ausgestreckte Hand ergriff. Er wankte. Hitze und Kälte jagten sich in rasend schnellen, peinigenden Wogen durch seinen Leib, und der bittere Geschmack in seinem Mund wurde unerträglich.

Abermals hatte Skar das Gefühl, daß der Kampflärm nachgelassen hatte, aber die dichtgeschlossene Verteidigungslinie der Quorrl, eine wogende Mauer aus Fleisch und blitzendem Metall, verwehrte ihm den Blick. Nur ein kleiner Teil der Bastarde kämpfte wirklich - der stählerne Spalt, in den sich Rowls Männer verschanzt hatten, war zu schmal, um mehr als vier oder fünf der riesigen Schuppenkrieger nebeneinander Platz zu bieten. Aber was auf den ersten Blick eine hervorragende Verteidigungsposition schien, konnte nur zu schnell zur Falle werden, wie Skar mit dem geübten Blick des Kriegers erkannte. Wenn die Übermacht der Feinde zu groß wurde, gab es nichts, wohin sich die Quorrl zurückziehen konnten. Ganz abgesehen davon, daß sie Pfeilen oder Speeren und anderen Wurfgeschossen praktisch schutzlos ausgeliefert waren.

Er verscheuchte den Gedanken und hielt nach Kiina Ausschau. Zwischen den Dutzenden riesiger Gestalten, die sich in dem schmalen Spalt drängten, war es schwer, überhaupt etwas zu erkennen. Aber er sah, daß Kiina nicht hier war.

Statt dessen sah er sich urplötzlich wieder Rowl gegenüber, der Titch und ihn mit unverhohlener Feindschaft entgegenstarrte. Der Quorrl war verletzt, wie fast alle hier. Das Blut auf seinen Kleidern und der Klinge des mächtigen Breitschwertes stammte nicht nur von den Gegnern, die er erschlagen hatte, aber der Ausdruck auf seinem breiten Barbarengesicht war nicht der von Schmerz, sondern von Zorn. »Ihr -«

»Wo ist Kiina?« unterbrach ihn Skar.

Im ersten Moment sah es so aus, als würde Rowl überhaupt nicht antworten. Dann machte er eine abgehackte, irgendwie zornige Bewegung zum Rand des Kraters hinauf. »Bei deinen Freunden, Satai.«

Wieder sah Skar nach oben. Seine Augen begannen zu tränen, denn er blickte direkt in die Sonne, so daß die gezackte Linie des Kraterwalles zu einem tiefschwarzen Scherenschnitt vor einem blendendhellen Hintergrund wurde, über dem sich die Gestalt der Quorrl-Krieger nur als daumengroße Schatten abhoben. Es war unmöglich, irgend etwas dort oben zu unterscheiden. Trotzdem glaubte er für einen Moment, Ennart selbst zu erkennen, der zwischen den Kriegern stand und voller Verachtung und Zorn auf sie herabblickte. Erst dann begriff er, was Rowl wirklich gesagt hatte.

»Sie -«

»Wir wurden angegriffen«, fiel ihm Rowl grob ins Wort. Er wirkte unsicher, trotz seines Zornes. Skars Frage hatte ihn von einem Augenblick auf den anderen in die Defensive gedrängt; eine Rolle, in der er augenscheinlich nicht sehr viel Erfahrung hatte; und in der er sich auch nicht sehr wohl zu fühlen schien. »Ein halbes Hundert dieser Hunde haben uns aufgelauert, auf halbem Weg hierher. Sie haben das Menschenjunge mitgenommen. Aber ich glaube, es war noch am Leben.«

Skar war nicht einmal sehr erschrocken, sondern empfand ganz im Gegenteil eine fast absurde Erleichterung. Ennart hatte den vielleicht einzigen schwachen Punkt erkannt, den er hatte. Aber solange er glaubte, Skar mit dem Mädchen erpressen zu können, würde er Kiina wenigstens nicht umbringen. »Konntest du es nicht verhindern?« fragte Skar müde.

In seiner Stimme war kein Vorwurf, aber Rowl faßte die Worte so auf. Zornig antwortete er: »Verhindern?« schnappte er. »Verdammt, wir sind froh, daß wir noch am Leben sind, Satai! Sie haben uns -«

»Es ist gut, Rowl«, unterbrach ihn Titch. »Skar hat es nicht so gemeint.« Er machte eine besänftigende Handbewegung und warf Skar einen fast beschwörenden Blick zu, ehe er sich wieder an Rowl wandte und mit bewußt ruhiger, sachlicher Stimme fortfuhr: »Was ist geschehen, Rowl?«

Der Bastard starrte ihn nur an. Aber eine Antwort war auch nicht nötig - was sie gesehen hatten, oben und auf dem Weg hierher, war mehr als ausreichend. Nach einer Weile wandte sich Skar müde um und humpelte zum vorderen Ende des Spaltes, in dem Rowls Krieger sich verschanzt hatten.

Der flüchtige Eindruck, den er auf dem Weg hierher gehabt hatte, hatte ihn nicht getäuscht: der Kampf war tatsächlich fast zum Erliegen gekommen. Eine Anzahl Gardekrieger bildete noch immer eine drohende Schlachtreihe, kaum zwanzig Schritte vom Versteck der Bastarde entfernt, und dann und wann flog ein Stein oder ein verirrter Speer in ihre Richtung. Aber es war kein Angriff mehr, sondern nur eine Drohung, ihnen zu sagen, daß sie bleiben sollten, wo sie waren. Er hörte, wie Titch und Rowl näher kamen und hinter ihm stehenblieben.

»Was tun sie?« murmelte Titch verwirrt.

»Was sie die ganze Zeit über getan haben«, grollte Rowl. »Sie spielen mit uns.« Hilflos ballte er die Fäuste. »Sie hätten uns längst vernichten können. Zehnmal, allein auf dem Weg hierher.« Skars Blick glitt wieder zum Kraterrand hinauf. Er war nicht sicher - aber es schien, als wäre die Reihe stumm dastehender Krieger in Bewegung geraten.

»Sie warten«, flüsterte er. »Sie haben auf uns gewartet, Titch. Auf mich.«

Eine Sekunde später bestätigte Rowl seinen Verdacht. »Sie kommen.« Er lachte, ein bitterer Laut, der sich fast wie ein Schrei anhörte. »Jetzt wird sich herausstellen, ob deine legendären Krieger wirklich so gut sind, wie man behauptet.«

»Es ist nicht Titchs Schuld«, sagte Skar. »Sie können nicht anders, Rowl. Sie gehorchen ihren Göttern.«

»Götter?« Rowl lachte böse. »Götter, Satai? Hast du gesehen, was uns dieser Gott angetan hat?«

»Ja«, antwortete Skar mit einer Geste auf die langsam näher kommenden Krieger. »Aber sie nicht.«

Rowl machte eine Bewegung, als fege er seine Worte beiseite. »Warum seid ihr gekommen?« fragte er, zitternd, mit einer Stimme, die fast nur ein Flüstern war, und trotzdem wie ein Schrei klang. »Warum seid ihr hierhergekommen, du und dieser ... Krieger!« Das Wort wurde zu einer Beschimpfung, so wie er es aussprach. »Alles war gut, bevor ihr gekommen seid.«

»Nein«, antwortete Titch. »Bevor sie gekommen sind, Rowl. Bevor Ennart und seine Brüder auftauchten.«

Die du geweckt hast, Bruder, fügte die wispernde Stimme des Daij-Djan in Skars Gedanken hinzu.

»Alles war gut«, flüsterte Rowl noch einmal. Er hatte Titchs Worte gar nicht gehört. »Ich hätte euch getötet, Satai. Ich habe mir geschworen, euch zu töten, in jeder Sekunde, seit es begann. Aber ich werde es nicht tun. Ich will sehen, wie ihr unter den Schwertern eurer eigenen Krieger sterbt.«

»Das werden wir nicht«, sagte Skar. »Keiner wird mehr sterben.«

Rowl wirkte nur irritiert, aber in Titchs Blick machte sich neuer Schrecken breit, als er begriff, was Skars Worte bedeuteten. »Es ist sinnlos, Titch«, fuhr Skar fort. »Sie wollen nur mich.« Und haben Kiina. »Ich hätte gleich mit ihnen gehen sollen. SIE Dann wäre das alles vielleicht nicht passiert.«

»Was für ein Unsinn!« Titch begann wütend mit beiden Händen zu gestikulieren; gleichzeitig warf er Skar einen fast beschwörenden Blick zu. In der Verfassung, in der Rowl war, mochten schon diese wenigen Worte reichen, daß sich Skar um seinen Kopf redete. Und um den Titchs gleich mit. »Diese... Dinger waren in Crons Gelege, oder? Sie waren für Caran bestimmt, von Anfang an. Keiner von uns konnte das wissen.«

Aber Skar hätte es wissen müssen. Der Daij-Djan hatte ihn gewarnt, mehr als einmal, und es war so, wie Titch behauptet hatte: er brachte Unglück, den Tod, gleich, wohin er kam, und warum. Er hätte nicht nach Caran kommen dürfen.

»Wer bist du, Satai?« fragte Rowl. »Der Teufel?«

Vielleicht, dachte Skar bitter. Laut sagte er: »Ich bin sowenig der Teufel, wie Ennart ein Gott ist, Rowl. Wenn wir anfangen, so zu denken, dann haben sie gewonnen.«

»Aber das haben sie doch schon«, murmelte Rowl.

Und vielleicht hatte er recht, dachte Skar. Vielleicht hatten sie schon gewonnen, noch bevor dieser Kampf begann, und vielleicht hatte er ihnen nicht nur die Freiheit, sondern auch den Sieg geschenkt, damals, an jenem Tag vor langer Zeit in der Brennenden Stadt Combat, als er den Stein der Macht von seinem Platz entfernte und damit das Siegel erbrach, das sie so lange Zeit in ihrem Gefängnis gehalten hatte. Vielleicht.

Der Gedanke weckte die Erinnerungen, und obwohl er es nicht wollte - denn es waren größtenteils keine guten Erinnerungen, sondern Momente der Enttäuschung, der Schmerzen und der Angst gewesen - glaubte er alles noch einmal zu erleben. Ihr Weg zur Brennenden Stadt, die verzweifelte Flucht vor den Mächten, die sie geweckt hatten, Velas Triumph und Niederlage, schließlich ihr Tod, und - »Sie kommen.«

Rowls Stimme riß ihn abrupt ins Hier und Jetzt zurück. Skar sah hoch, blinzelte einen Moment verständnislos in Titchs steinernes Gesicht und erkannte voller Schrecken, daß die Krieger weit mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten. Was war mit der Zeit geschehen? Es mußte fast eine Stunde vergangen sein; und als er in Titchs Gesicht blickte, begriff er, daß es wirklich so war: daß er die ganze Zeit über reglos und mit leerem Blick dagestanden und ins Nichts gestarrt hatte. Für ihn war es, als wären nur Sekunden verstrichen.

Rings um ihn herum griffen die Bastarde nach ihren Waffen und bereiteten sich auf ihren letzten Kampf vor, und auch Skar zog ganz instinktiv das Tschekal aus dem Gürtel und lehnte die Waffe griffbereit neben sich an die Wand. Titchs Krieger waren trotz allem noch zu weit entfernt, um sie anzugreifen, aber Rowls Worte bezogen sich auch nicht auf sie - Skar registrierte mit einer Mischung aus Schrecken und Verblüffung, daß es die Gardesoldaten aus Ninga waren, die sich nur einen Steinwurf entfernt erneut zum Angriff formierten. Was hatte Ennart vor? Wenn diese Krieger der zu allem entschlossenen Bastarde wirklich angriffen, würden sie vielleicht siegen, aber nur sehr wenige würden sich dieses Sieges noch erfreuen können.

Titchs Gedanken schienen sich in eine ähnliche Richtung zu bewegen, denn er runzelte ungläubig die Stirn und sah erst Rowl, dann Skar an. »Will er seine eigenen Leute in den Tod hetzen, dieser Narr?« murmelte er. »Das ... ergibt keinen...« Er stockte, sah abermals nacheinander Skar und den Bastard an und begann plötzlich heftig zu gestikulieren.

»Es ergibt doch einen Sinn, Rowl!«

»Ach?« machte Rowl. »Und welchen?«

»Er hat Angst vor uns, Rowl!« antwortete Titch erregt. »Begreif doch! Er hat Angst, daß die Krieger ihm nicht mehr gehorchen, wenn sie mich sehen!«

»Wieso?« fragte Rowl und zog eine Grimasse. Sein Ton wurde abfällig. »Hältst du dich jetzt auch für einen Gott?«

»Nein«, antwortete Skar an Titchs Stelle. »Aber sie.« Er deutete auf das näher kommende Heer. »Titch hat recht - es ist die einzige Erklärung. Ennart ist nicht sicher, daß die Krieger uns wirklich angreifen, wenn sie Titch bei uns sehen. Versteh doch!«

Rowl verstand ganz offensichtlich nicht - wie konnte er auch ? »Das sind Titchs Krieger!« fuhr Skar aufgeregt fort. »Es ist sein Heer, Rowl! Es sind die Krieger, die den Treueschwur ihrem eigenen Volk gegenüber gebrochen haben, um zu Titch zurückzukehren! Sie werden nicht angreifen!«

»Sie tun es bereits, Satai.«

»Das tun sie nicht! Sie denken, sie greifen euch an. Dich. Die Bastarde. Sie... oder können nicht ahnen, daß Titch bei uns ist. Wenn wir durchhalten, bis das Heer nahe genug heran ist...«

»... haben wir eine Chance«, führte Rowl den Satz zu Ende. Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen machte sich eine verzweifelte Hoffnung auf seinen Zügen breit. Dann erlosch der Ausdruck so übergangslos, wie er gekommen war.

»Es ist sinnlos, Satai«, sagte er. »Selbst, wenn du recht hast und sie uns nicht töten, werden sie es tun.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Tempelgarde. »Oder Ennart selbst. Er wird nicht zulassen, daß Titch ihm den Rang streitig macht.« Natürlich hatte er recht, dachte Skar bitter. Der Umstand, daß Ennart die Männer aus Ninga in den sicheren Tod schickte, bewies ja schon, daß Titchs Hoffnung nicht unbegründet war - für seine Männer war er so etwas wie ein Gott, und im Gegensatz zu Ennart ein Gott, der Gnade und Menschlichkeit kannte und für den diese Krieger nicht nur Schwerter und Speere waren, an denen eher zufällig lebende Wesen hingen. Selbst, wenn es ihnen gelang, dem Ansturm der Garde lange genug standzuhalten, daß das Heer auf Sichtweite herankam, würde er verhindern, daß die Krieger Titch erkannten. Er war vielleicht kein wirklicher Gott, aber er verfügte zweifellos über die Macht eines Gottes. Er blickte über die Köpfe der Krieger hinweg zu den Gardesoldaten. Die Männer hatten sich zum Angriff formiert - in einer Aufstellung, die Skar bei Quorrl noch nie gesehen hatte, wohl aber in zahllosen Schlachten und Scharmützeln mit anderen Völkern. Und er hatte sie fürchten gelernt: Die Krieger hatten mannsgroße Schilde vor die Körper gehoben, zwischen denen gerade genug Platz war, einen Speer oder eine Pfeilspitze hindurchzuschieben. Sie würden Rowls Bastarde einfach niederrennen.

Nachdenklich sah er Titch an. »Hast du noch Kraft?«

Titch blinzelte. »Das fragst du mich? Wozu?«

»Ja, wozu, Satai?« fragte Rowl mißtrauisch.

Skar nahm sein Schwert wieder in die Hand. »Wenn du an seiner Stelle wärst, Rowl - würdest du damit rechnen, daß wir dich angreifen?«

»Angreifen?« ächzte Rowl. »Ihr wollt -«

»Es ist die einzige Chance«, fiel ihm Titch ins Wort. Er hatte begriffen, was Skar meinte. »Ich muß versuchen, durchzubrechen. Wenn ich das Heer erreiche und die Männer überzeugen kann, haben wir eine Chance. Auch ein Ssirhaa kann nicht gegen tausend meiner Krieger kämpfen.«

»Ihr -«

»Wir haben keine andere Wahl«, unterbrach ihn nun Skar. Erregung hatte ihn ergriffen. Er sah in Titchs Augen, und für einen winzigen Moment war es wieder da, das alte, allzulang vermißte Gefühl, an der Seite eines Freundes zu stehen, Schulter an Schulter neben einem Mann zu kämpfen, auf den er sich hundertprozentig verlassen konnte. Es war albern und pathetisch, aber er spürte, daß es Titch in diesem Moment ebenso erging. Und er wußte, daß es mehr als ein Gefühl war. Mit Del hatte er es oft erlebt - und sie hatten oft genug Kämpfe gewonnen, die sie eigentlich gar nicht gewinnen konnten.

»Vielleicht greifen sie uns nicht an«, sagte er, wieder an Rowl gewandt. »Sie müssen sich nicht gegen den Ssirhaa stellen. Es reicht, wenn sie Titch und mich nicht aufhalten. Wenn wir Ennart töten, haben wir eine Chance.«

»Ennart... töten?« krächzte Rowl.

Titch grinste. »Wir haben Übung darin, weißt du?«

»Ihr kommt keine fünfzig Schritte weit«, sagte Rowl unsicher. »Nicht ohne deine Hilfe«, sagte Titch. »Aber wenn wir diese Barrikade dort durchbrechen...« Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Sie wollen Skar, Rowl. Keiner von ihnen wird es wagen, ihn zu töten.«

Rowl war irritiert, verunsichert, und für einen Moment tat er Skar beinahe leid. Der Bastard hatte keine Chance gehabt. Titch und er hatten sich so geschickt die Bälle zugeworfen, als wären sie ein eingespieltes Team, das seit Jahren nichts anderes tat. Vielleicht war es die Angst, die ihnen die Fähigkeit dazu gegeben hatte.

Schließlich nickte Rowl. »Was haben wir schon zu verlieren - außer unserem Leben?« Er lachte, leise und hart und auf eine Weise, die Skar schaudern ließ, drehte sich wieder zu seinen Kriegern um und rief ein einzelnes, weit schallendes Wort. Die Bastarde griffen an, so schnell und mit solcher Wut, daß selbst Skar für einen Sekundenbruchteil vor Überraschung erstarrte. Es gab kein Zögern, keine Verwirrung oder gar Furcht - die drei Dutzend Krieger stürmten wie ein Mann aus ihrer Deckung hervor und warfen sich auf den Schildwall der Gardisten, so schnell und mit solcher Wucht, daß selbst dieses Hindernis ihrem Ansturm nur Augenblicke standhielt. Skar beobachtete voller Entsetzen, wie sich ein halbes Dutzend von Rowls Männern an den Speeren der Gardesoldaten selbst aufspießte, zu schnell und von den hinter ihnen heranstürmenden Kriegern zu sehr bedrängt, als daß sie noch ausweichen konnten. Aber schon die zweite Welle der Bastarde spaltete den Schildwall - und ohne ihren Schutz waren die Krieger Rowls Männern nicht gewachsen. Die Schlachtreihe wankte, zerbrach binnen weniger Sekunden in zwei ungleiche Hälften und löste sich in schierem Chaos auf, als die Bastarde mit der Rücksichtslosigkeit von Berserkern unter den Kriegern zu wüten begannen.

Und dann waren sie plötzlich mitten drin.

Skar erinnerte sich nicht einmal, überhaupt losgelaufen zu sein; vielleicht war er es auch nicht, vielleicht hatte Titch ihn einfach mitgerissen, oder ein Leben lang antrainierte Reflexe und Verhaltensweisen hatten einfach das Kommando über seinen Körper übernommen, so schnell und gründlich, daß sein Bewußtsein es nicht einmal mehr gemerkt hatte: von einer Sekunde auf die andere fand er sich inmitten eines wütenden Handgemenges, das nur aus ineinander verschlungenen Leibern, Bewegung, blitzenden Schwerten, Schreien und Blut zu bestehen schien. Quorrl kämpften gegen Quorrl, Giganten gegen Giganten, und es war ihm unmöglich, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Alles wurde unwirklich. Schwäche und Erschöpfung waren vergessen, aber auch der Grund, aus dem sie diesen Ausbruch versucht hatten. Er wußte nicht einmal mehr, warum er überhaupt hier war, gegen wen er kämpfte, oder warum. Er hatte den Vergleich selbst oft benutzt, aber nun war es wirklich so - er war zu einer Maschine geworden, einem Ding, das einfach kämpfte, ganz gleich gegen wen oder aus welchem Grund. Sein Schwert bewegte sich vor und zurück, parierte Hiebe, blockte Angriffe ab und griff selbst an, traf und wurde getroffen...

Es war die Hölle. Skar fiel und wurde von einem Quorrl wieder auf die Füße gezerrt, der eine Sekunde später von einem anderen Quorrl niedergestochen wurde. Skar hieb blindlings nach dem Angreifer, verfehlte ihn und stolperte weiter. Wieder wurde er getroffen, und wieder fiel er auf die Knie herab, sprang wieder hoch und taumelte weiter.

Es war wie ein Rausch. Es war sein letzter Kampf, und etwas in ihm schien dies zu wissen und verlieh ihm die volle Kraft eines Berserkers, jedes bißchen Energie, das in seinem Körper war, einschließlich jener ungreifbaren Mächte, die das Leben in Gang hielten. Er würde sterben, selbst wenn er diesen Kampf gewann, das wußte er, denn die Kraft, die seinen Arm führte, war die Flamme des Lebens selbst, aber er war unfähig, darauf zu reagieren; nicht einmal mit Angst. Er stürmte weiter, ein Zwerg inmitten eines tobenden Heeres aus Giganten, der trotzdem von allen am schlimmsten wütete. Ohne daß er selbst es auch nur spürte, war plötzlich er es, der Rowls Bastarde anführte, und ebenso unmerklich begannen die Krieger aus Ninga vor ihm zurückzuweichen. Statt vor der geballten Macht der Quorrl spaltete sich die Schlachtreihe der Tempelkrieger mit einem Male vor ihm, und mehr als ein Quorrl warf seine Waffe fort und ergriff schreiend die Flucht, als er ihn erblickte, schreiend, einem Dämon gleich, scheinbar unaufhaltsam und unverwundbar, über und über mit Blut besudelt, seinem eigenen und dem der Quorrl, die er erschlagen hatte, blindlings mit seiner tödlichen Klinge um sich schlagend, deren jeden Widerstand durchdringender Sternenstahl längst sein Geschick ersetzt hatte.

Die Krieger aus Ninga wichen immer schneller zurück; aus den Angreifern waren längst Verteidiger geworden, die Jäger selbst zu Gejagten. Der gesamte Trupp wankte wie ein einzelner Mann, der schwer getroffen worden war - und dann zerbrach die Schar der Angreifer endgültig in zwei Teile, bildete eine Gasse, durch die Skar und die Bastarde fast ungehindert hindurchstürmten. Wie von weit, weit her hörte Skar Titch etwas schreien, wandte sich im Laufen um und hielt nach dem Quorrl Ausschau. Er verstand nicht, was Titch rief, aber der Quorrl gestikulierte wild, deutete auf etwas, das vor Skar lag - und prallte plötzlich in vollem Lauf zurück, so heftig, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gerannt.

Und mit ihm die anderen Bastarde.

Ihr Vormarsch kam so abrupt zum Stehen, daß Skar sich in gut zehn Schritten Abstand von ihnen fand, ehe auch er stehenblieb und sich in die Richtung drehte, in die Titchs ausgestreckter Arm noch immer deutete.

Fünfzig Schritte vor ihm, auf einem mannsgroßen Felsen stehend, groß und golden und hoch aufgerichtet, ein grausames Lächeln auf den Lippen, stand Ennart.

Er war nicht allein. Am Fuße des Felsens, den er erklommen hatte, stand eine dicht an dicht geschlossene Reihe aus gut fünfzig Quorrl, und aus Rissen und Felsspalten, aus Schatten und Winkeln, aus Schluchten und Löchern krochen... Wesen.

Sie hatten sich weiter verwandelt. Die beiden veränderten Quorrl, auf die sie in den Stollen Carans gestoßen waren, waren noch immer als Quorrl zu erkennen gewesen, wenn auch auf entsetzliche Weise entstellt. An den Kreaturen, die sich jetzt um Ennart scharten, erinnerte kaum mehr etwas an die riesigen, stolzen Krieger, die sie einmal gewesen waren. Was auf Skar und die anderen zutaumelte, langsam, schwerfällig, mit torkelnden, trunkenen Schritten, das waren lebende Alpträume aus feuchtem, blasigem Fleisch, brodelnde Klumpen aus schwarzem Schleim, ohne Sinnesorgane, ohne Glieder oder erkennbare Form, riesigen amorphen Schnecken gleich, deren Leiber Mühe hatten, nicht auseinanderzufließen.

Einige taten es. Skars Entsetzen war noch viel zu groß, als daß er der Beobachtung Bedeutung zumaß, aber er sah sehr genau, daß sich mehrere der absurden Kreaturen kaum mehr zu bewegen imstande waren; ihre Deformation hatte ein Maß erreicht, in dem es keine Muskeln oder auch Knochen mehr in ihrem Körper zu geben schien; manche waren einfach nur noch Klumpen aus brodelnder schwärzlicher Masse, die pulsierend dalagen. Hinter ihm erscholl ein gellender Schrei, und Skar fuhr herum. Auch hinter ihnen waren diese fürchterlichen Wesen aufgetaucht, alptraumhafte Kreaturen, die vor wenigen Stunden noch Rowls Brüder und Freunde gewesen waren, ein großer, sich langsam und unerbittlich zusammenziehender Kreis aus fleischgewordenem Wahnsinn, dessen rückwärtige Hälfte jäh zwischen den Tempelkriegern und Rowls Männern aufgetaucht war. Langsam, rückwärts gehend und ohne Ennart auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, wich Skar zurück, bis er wieder neben Titch stand. Der Quorrl hatte sein Schwert mit beiden Händen gepackt und sah sich wild um, aber in seinen Augen flackerte Panik.

»Eine Falle!« sagte er. »Das war eine Falle.«

Natürlich war es das, dachte Skar bitter. Der ganze Angriff der Garde hatte keinem anderen Zweck gedient als dem, sie aus ihrem Verstecke herauszulocken, und hierher.

Schwäche machte sich wie eine warme Flüssigkeit in seinem Körper breit. Mühsam drehte er sich wieder herum, blickte zu Ennart zurück und versuchte einen Schritt zu machen. Er taumelte. Titch hielt ihn fest. Skar schüttelte seine Hand ab, zwang sich zu einem weiteren Schritt und blieb schwankend stehen. Der Krater begann vor seinen Augen zu verschwimmen, was er sah, war nur noch eine Masse aus grauer und schwarzer Bewegung, in deren Zentrum ein goldenes Funkeln zitterte.

»Ennart!« Er hatte schreien wollen, aber seine Kehle brachte nur noch ein Flüstern hervor. Trotzdem war er sicher, daß der Ssirhaa ihn hörte. Er spürte, wie die riesigen goldenen Augen dieses gottgleichen Wesens sich an ihm festsaugten.

Etwas Großes, Schwarzes bewegte sich auf ihn zu. Skar hieb blindlings mit dem Schwert danach, spürte, wie das Tschekal etwas traf und zerschnitt, das sich wie feuchter Schwamm anfühlte, machte einen weiteren Schritt, fiel wieder auf die Knie herab und stemmte sich abermals hoch, das Schwert als Krücke benutzend, weil er nicht mehr die Kraft hatte, es zu heben. »Komm her!« flüsterte er. »Komm hierher, du ... Ungeheuer. Kämpfe mit mir!«

Irgendwoher nahm er die Kraft, noch einmal das Schwert zu heben und zwei, drei Schritte weiter zu torkeln, ehe er abermals auf die Knie fiel. Und für Sekunden klärte sich sein Blick, vielleicht beeinflußt durch Ennarts magische Kraft, der seinen Triumph bis zur letzten Sekunde auskosten wollte.

»Ich habe dich überschätzt, Satai«, sagte der Ssirhaa. »Ein Mann sollte auch wissen, wann er verloren hat.«

Skar torkelte weiter. Fiel wieder hin. Quälte sich noch einmal auf die Füße und stürzte erneut. Er fühlte sein Herz nicht mehr schlagen. Eine unglaubliche Kälte machte sich in seinem Körper breit. Er wollte aufstehen, erhob sich taumelnd auf die Knie und stürzte schwer zur Seite. Der Schmerz, mit dem er auf dem Boden aus gerissenem Stahl aufschlug, war seltsam isoliert, wie eine glühende Nadel, die durch die allumfassende Schwärze in seinen Gedanken stach, ohne ihm wirklich weh zu tun. Dunkelrote Nebel breiteten sich in seinem Blickfeld aus. Er konnte noch sehen, aber alle Bewegungen waren mit einem Male sonderbar schnell und abgehackt, gleichzeitig aber auch fast lächerlich langsam, als wäre die Zeit zerbrochen, in eine viel zu schnelle und eine viel zu langsame Hälfte. Titch rief ihm irgend etwas zu, aber die Worte verwandelten sich auf dem Weg zu ihm in klickende, schrille Geräusche, die keinen Sinn mehr ergaben.

Nach einer Ewigkeit hörte er Schritte. Ein breites, goldfarbenes Gesicht, das zugleich einem Quorrl wie einem Menschen zu gehören schien, beugte sich über ihn, und Augen voller unstillbarer Gier blickten auf Skar herab. Er sah den Triumph darin, den er erwartet hatte, das Wissen um den sicheren Sieg - aber auch noch etwas anderes. Bedauern. Ein Bedauern, das Skar galt, aber nicht seinem Leben, sondern Enttäuschung jener Art war, auf die man ein unersetzliches Werkzeug betrachten mochte, das zerbrochen war.

»Du bist ein Narr, Skar«, sagte Ennart. »Warum hast du mich gezwungen, dich zu töten?«

»Du kannst... mich haben«, flüsterte Skar. Sein Blick suchte Titch und die anderen, aber er sah sie nicht mehr. Der Ring der Ungeheuer hatte sich geschlossen. »Versprich mir... Kiina freizulassen und schenke ihnen das Leben«, flüsterte er. »Und du kannst... mich haben.«

Der Ssirhaa seufzte. »Es ist zu spät, Satai«, sagte er. »Dem Mädchen wird nichts geschehen, aber sie...« Er schüttelte bedauernd den Kopf. Er konnte Titch und die Bastarde nicht am Leben lassen. Nicht nach dem, was sie gesehen hatten.

»Dann gewähre ihnen ... wenigstens einen... ehrenhaften Tod«, flüsterte Skar. Er konnte kaum noch reden. Blut füllte seinen Mund. Er begann daran zu ersticken.

»Selbst dein letzter Atemzug gilt einem anderen«, sagte Ennart lächelnd. »Welch eine Schande, dich so sinnlos zu töten. Was für eine Verschwendung.«

Er zog sein Schwert. Skars Blick glitt ohne Furcht über die Klinge der gewaltigen Waffe, suchte noch einmal Titch und fand ihn diesmal: Der Quorrl stand Rücken an Rücken mit Rowl, mit gleich zwei Schwertern bewaffnet, bleich vor Entsetzen, aber reglos und ohne eine Spur von Furcht. Zwischen ihm und der Front von Ennarts Ungeheuern war weniger als ein Meter. Nicht so, dachte Skar. Laß ihn nicht so sterben. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu sprechen, aber Ennarts hoch erhobene Klinge verharrte für einen Moment, als hätte er seine Gedanken gelesen. Ihre Blicke trafen sich. Ennart lächelte.

Und Skar dachte: Jetzt, Bruder. Wenn du mich noch haben willst, dann komm. Und der Daij-Djan kam.

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