25.

Sie waren noch ungefähr dreihundert, als sie die Insel betraten.

Die meisten Quorrl waren in Panik geflohen, als die Brücke auftauchte, und spätestens danach, als die Drachen erschienen; und von denen, die geblieben waren, hatten wiederum die meisten Titchs Befehl mißachtet, vielleicht gar nicht gehört, so daß sich in Skars Begleitung weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Heeres befand.

Aber das war mehr als genug. Wahrscheinlich, dachte er, hätte es keines einzigen dieser Krieger bedurft, um es zu Ende zu bringen, und für einen ganz kurzen Moment war er sogar nahe daran gewesen, Titch zurückzuschicken.

Sie waren nicht noch einmal angegriffen worden. Hinter den Zinnen und Wehrgängen des festungsähnlichen Tempelkomplexes bewegten sich Schatten, und dann und wann huschten unheimliche Lichtreflexe über den Himmel. Manchmal hörten sie Geräusche: Laute, wie sie seit Äonen kein lebendes Wesen mehr gehört hatte, und die nicht nur Skar schaudern ließen. Das unheimliche rote Licht war nicht erloschen, sondern erhellte jetzt den gesamten Tempelkomplex, und ein paarmal hatten sie winzige schwebende Gestalten über den schimmernden Kuppeldächern gesehen.

Skar war der erste, der von der lebenden Brücke herunter - und rasch ein paar Schritte zur Seite trat, um Titch und seinen Quorrl Platz zu machen. Er fror. Es war kalt gewesen über dem Fluß. Ein eisiger Wind hatte an ihren Kleidern gezerrt und versucht, sie von der Brücke zu stoßen, und das Toben des Flusses hatte noch nicht ganz aufgehört; manchmal hatte die lebende Brücke unter ihren Füßen wie ein waidwundes Tier gezittert, und zwei- oder dreimal hatten sich gewaltige Wogen an ihren Flanken gebrochen und sie mit eisigem Wasser überschüttet. Er wußte nicht, wie lange sie gebraucht hatten, um die Insel zu erreichen, aber es mußte lange gewesen sein; trotz allem hatten sich die Quorrl nur sehr langsam bewegt, und mehr als einer war auf halber Strecke wieder umgekehrt, fast wahnsinnig vor Angst oder Entsetzen. Der Himmel im Osten färbte sich grau, und in einer Stunde würde der Tag heraufziehen.

Er winkte Kiina zu sich und wartete geduldig, bis auch der letzte Quorrl von der Brücke heruntergetreten war. Obwohl auf ein Zehntel seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft, war es noch immer ein mächtiges Heer, und doch schien es vor dem zyklopischen Tempelgebäude zu einem Nichts zusammenzuschrumpfen.

Erst jetzt, als sie ihm ganz nahe waren, sah Skar, wie gewaltig der Goldene Tempel der Quorrl wirklich war: die Insel war gut dreihundert Fuß breit und vielleicht fünfmal so lang, aber der Tempelkomplex bedeckte sie zur Gänze, ausgenommen des schmalen sandigen Streifens, auf dem sie standen. Das knappe Dutzend goldgedeckter Kuppeln und Dächer mußte sich eine halbe Meile über ihnen befinden, und wohin er auch blickte, sah er Gold und andere edle Metalle. Und nichts war so, wie er es sich vorgestellt hatte - der Tempel war von geometrischer Strenge, alle Linien klar und gerade und bar jedes barbarischen Zierrates und Schmuckwerks, wie er es unwillkürlich bei einem von Quorrl erschaffenen Heiligtumes angenommen hatte. Es gab nur ein einziges - allerdings gigantisches Tor, das die fugenlosen Mauern durchbrach. Zu Skars Erstaunen war es nicht einmal geschlossen. Die beiden dreißig Meter hohen Flügel aus goldbedecktem Holz standen weit offen und gaben den Blick auf einen weitläufigen, von einer verwirrenden Symmetrie kleiner ineinandergeschachtelter Gebäude umschlossenen Innenhof frei. Schatten bewegten sich darauf, und manchmal blitzte etwas im Widerschein des unheimlichen roten Lichtes und verriet, daß der Hof nicht ganz so leer war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte.

Als sie sich langsam dem Tor näherten, schlugen Flammen aus dem Boden.

Eine zehn Meter hohe Feuerwand brach aus dem Sand, grelles Licht und sengende Hitze ergoß sich wie der Atem eines zornigen Drachen über Skar und die vordersten Krieger. Einige der Quorrl schrien auf und ergriffen die Flucht, und auch Titch prallte entsetzt zurück und riß beide Arme in die Höhe, um sein Gesicht zu schützen.

Skar ging fast gelassen weiter. Er spürte die Hitze wie die Quorrl, und das Licht stach wie mit Dolchen in seine Augen. Er konnte nicht mehr atmen; als er es versuchte, schienen sich seine Lungen mit Flammen zu füllen. Und trotzdem wußte er, daß nichts davon real war. Es gab dieses Feuer sowenig, wie es die Drachen gegeben hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, ging er weiter und trat mit einem entschlossenen Schritt in die Wand aus brodelnden Flammen hinein.

Das Feuer erlosch, und mit ihm Hitze und Licht. Im ersten Moment stöhnte Skar abermals, denn nach der eingebildeten Höllenglut war die Kälte der Nacht fast ebenso schmerzhaft, aber nach einer Sekunde verging auch dieser neue Schmerz. Er drehte sich herum und winkte den Quorrl. »Es war nur eine Illusion!« rief er. »Ihr habt nichts zu befürchten. Sie können euch nichts mehr tun!« Er ging weiter, ohne auf Titch und die Quorrl zu warten.

Und blieb abermals stehen, als er das Tor durchschritt und der Innenhof vor ihm lag. Jetzt, nicht mehr geblendet vom düsterroten Schein des unheimlichen Lichtes, sondern selbst darin eingeschlossen, konnte er fast so gut sehen wie bei Tage.

Und was er erblickte, das ließ ihn vor Zorn und Entsetzen aufstöhnen. Entsetzen, als er begriff, wie heimtückisch die Falle gewesen war, die Ennart und seine Brüder für sie aufgestellt hatten, und Zorn, als ihm ihre Sinnlosigkeit zu Bewußtsein kam. Der Hof war voller Ultha. Wie schwarze Trümmer bedeckten sie die goldenen Fliesen, mit verrenkten Gliedern und zerbrochenen Panzern über- und nebeneinandergestürzt, so, wie sie der Tod getroffen hatte; Hunderte, wenn nicht Tausende der schlanken Insektenkreaturen, die auf Titch und ihn gewartet hatten. Und ihr Anblick verfehlte nicht einmal jetzt seine Wirkung. Skar hörte, wie die ersten Quorrl hinter ihm auftauchten und entsetzt zurückprallten; und für Augenblicke brach endgültig Panik unter den Kriegern aus. Keiner der Dämonen war noch am Leben, aber ihr bloßer Anblick erschütterte die Quorrl bis ins Innerste »Gütiger Gott!« flüsterte Titch neben ihm. »Was ist das?«

»Das Empfangskomitee«, antwortete Skar, ohne sich zu ihm herumzudrehen. Seine Stimme wurde bitter. »Eine kleine Überraschung, die sich Ennart zu unserer Begrüßung ausgedacht hat.«

»Was ... was hat sie umgebracht?« stammelte Titch. Selbst er kämpfte mit aller Macht um seine Selbstbeherrschung. Skar mußte ihn nicht einmal ansehen, um zu erkennen, daß auch Titch am liebsten seine Waffen fortgeworfen hätte und geflohen wäre. »Nichts«, antwortete er. »Sie haben niemals gelebt, Titch.«

»Aber die Ssirhaa«, murmelte Titch. »Sie ... sie haben -«

»Es gehorcht ihnen nicht mehr«, unterbrach ihn Skar. »Verstehst du denn immer noch nicht? Sie haben die Kreatur erweckt, aber sie haben keine Macht mehr über sie!«

»Aber warum hier?« flüsterte Titch, der seine Worte gar nicht gehört zu haben schien. »Das... das müssen Tausende sein! Warum hier?« Er schrie fast, und Skar begriff, daß er die Antwort auf seine eigene Frage so gut wußte wie er. »Sie hätten uns vernichten können! Sie hätten uns mit einer Handbewegung auslöschen können, die ganze Zeit über!«

Es war Kiina, die antwortete, nicht Skar. »Weil das nicht in ihre Pläne gepaßt hätte, Titch. Was hätte es genutzt, die Bastarde zu schlagen? Ein paar hätten überlebt, so oder so.« Sie lachte bitter. »Kannst du es dir wirklich nicht denken, Quorrl? Kannst du dir nicht vorstellen, was dein Volk empfunden hätte, wäre dein Heer in den Tempel einmarschiert und nicht wieder herausgekommen?«

Titch starrte sie an, und auch Skar spürte einen erneuten, eisigen Schauer von Zorn, als ihm die ganze Brutalität des Denkens klar wurde, das hinter diesem Plan stand.

»Dafür werden sie bezahlen«, murmelte Titch. »Ich werde diesen verdammten Tempel niederreißen, mit eigenen Händen. Sie werden -«

Ein Scannerblitz zuckte über den Hof, verfehlte ihn um weniger als eine Handbreit und tötete einen seiner Krieger.

Skar schrie auf, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Kiina und riß sie zu Boden, und hinter ihm barst die Front der Quorrl auseinander wie unter einer lautlosen Explosion.

Eine Sekunde später brach auf dem Hof die Hölle los.

Dutzende von grellen, stabdünnen Bändern aus Licht stachen nach den Quorrl, und plötzlich waren überall Gestalten; grotesk plumpe, hastende Schatten mit übergroßen Köpfen und in schwarzen Rüstungen, die jäh zwischen den gestürzten Ultha hervorwuchsen oder aus Türen und Fensteröffnungen herausstürmten.

Ein weiterer Scannerblitz schlug nach Skar. Er warf sich herum, rollte fünf-, sechsmal über den Boden und riß Kiina dabei einfach mit sich und kam endlich wieder auf die Beine. Kiina riß fluchend ihren Scanner aus dem Gürtel und schoß auf eine der schwarzgekleideten Gestalten, ohne sie zu treffen.

Skar opferte eine kostbare Sekunde dafür, sich umzusehen. Der Hof hatte sich in ein Tollhaus verwandelt. Schon der erste Angriff der Zauberpriester hatte fast einem Viertel ihrer Krieger das Leben gekostet, und Ians Brüder schossen erbarmungslos und mit tödlicher Präzision auf die, die bisher überlebt hatten. Dutzende von Quorrl lagen bereits tot oder mit furchtbaren Brandverletzungen am Boden, und noch während sich Skar herumdrehte, fielen drei, vier weitere Schuppenkrieger unter den grellen Lichtblitzen der Zauberpriester.

Skar rannte los, stürmte im Zickzack auf eine der monströsen Gestalten zu und tötete sie mit einem Schwertstreich, ehe sie seine Annäherung auch nur bemerkte. Ein Scannerblitz züngelte nach ihm. Er ließ sich fallen, riß noch im Sturz einen Shuriken aus dem Gürtel und schleuderte die Waffe. Der winzige Metallstern bohrte sich in die Rüstung des Zauberpriesters, der auf ihn geschossen hatte. Der Wurf war nicht kräftig genug, den wuchtigen Panzer völlig zu durchdringen, aber die rasiermesserscharfen Klingen des Shuriken schienen irgend etwas im Inneren der Rüstung zerstört zu haben. Der Mann taumelte plötzlich, ließ seine Waffe fallen und griff sich an den Hals. Etwas zischte. Blaues Feuer brach aus den Sehschlitzen seines Helmes, hüllte den Zauberpriester in ein zischendes Netz dünner, weißblauer, wabernder Funken und tötete ihn, und fast in der gleichen Sekunde traf ein Blitz aus Kiinas Scanner einen weiteren Zauberpriester und ließ seine Rüstung explodieren.

Diesmal war die Wirkung ungleich schrecklicher als vorhin über dem Fluß. Ein rotoranger Feuerball breitete sich auf dem Hof aus, verschlang auf zwanzig, dreißig Meter alles, was sich ihm in den Weg stellte und fegte Menschen und Quorrl von den Füßen, und die kochende Hitzewelle, die Skars Rücken versengte, war dieses Mal nicht eingebildet, sondern grausame Wirklichkeit. Sekundenlang blieb er schweratmend und keuchend vor Schmerz liegen, ehe er mühsam den Kopf hob und halbblind nach seinem Schwert tastete.

Kiinas Schuß hatte den Kampf entschieden. Vielleicht hatte die Explosion den Quorrl einfach die Sekunden verschafft, die sie brauchten, vielleicht war es auch nur eine Laune des Zufalls, daß sich die meisten Zauberpriester in der Nähe des Mannes aufgehalten hatten, auf den Kiina zielte, und von der Druckwelle getötet oder ebenfalls von den Füßen gefegt worden waren, vielleicht war es auch einfach der Schock, einen der ihren von ihren eigenen Waffen getötet zu sehen - aber das mörderische Feuer hatte aufgehört. Und die Quorrl, die noch am Leben waren (nicht einmal die Hälfte ihrer ursprünglichen Zahl, dachte Skar schmerzhaft), griffen nun ihrerseits erbarmungslos an. Die Zauberpriester brauchten vielleicht nur Sekunden, um sich neu zu formieren, aber diese winzige Zeitspanne reichte: aus der massiven Wand aus Licht und Feuer, die den Schuppenkriegern entgegengeschlagen war, wurde ein chaotisches Durcheinander fast ungezielt abgegebener Schüsse, die nur noch selten ihr Ziel trafen. Und wo es den Quorrl gelang, die Zauberpriester zum Zweikampf zu stellen, stand der Sieger von vornherein fest. Es vergingen nur noch Sekunden, bis Ians Brüder die Sinnlosigkeit ihres Widerstandes einsahen und die Flucht antraten.

»Skar! Dort drüben!«

Skar wandte den Kopf, sah Titch wild mit den Armen zum gegenüberliegenden Ende des Hofes deuten und blickte in die gleiche Richtung.

In dem Durcheinander von Häusern, Türmchen und Erkern hatte sich ein Tor geöffnet, aus dem waberndes rotes Licht herausfiel, stechender und irgendwie... böser als der Schein, der den Hof erfüllte. Die überlebenden Zauberpriester versuchten dieses Tor zu erreichen, aber gleichzeitig kam auch etwas daraus hervor, etwas Riesiges, Formloses, wie kriechende Schatten, die versuchten, Form und Gestalt anzunehmen.

Der Ansturm der Quorrl geriet abermals ins Stocken. Die Zauberpriester hatten vollends aufgehört zu schießen - nur noch sehr wenige waren am Leben -, aber nun war es das Tor und das, was aus ihm herauskam, das die Krieger innehalten ließ. Es waren Drachen. Die gleichen häßlichen Bestien wie draußen auf der Brücke, aber diesmal nur drei - und diesmal waren sie echt.

Skar wußte es. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen und den Trugbildern, die ihnen der schwebende Zauberpriester vorgegaukelt hatte, aber er wußte einfach, daß er den Ungeheuern jetzt wirklich gegenüberstand; drei titanischen schuppengepanzerten Kolossen, deren Augen voller tückischer, böser Intelligenz auf ihn und die Quorrl herabstarrten und in deren Nacken drei gewaltige, goldschimmernde Gestalten saßen.

»Das ... das ist Ennart!« flüsterte Kiina fassungslos. Sie war neben ihn getreten, und Skar sah erst jetzt, daß sie verletzt war: quer über ihren Hals und die linke Wange zog sich eine dünne, aber tiefe und heftig blutende Wunde, und eine Strähne ihres blonden Haares war verkohlt, ihr Gewand voller Blut. Aber ihre rechte Hand hielt noch immer den Scanner. Skar hielt ihren Arm fest, als sie die Waffe heben und auf die vorderste Drachenbestie zielen wollte.

Über den drei Ungeheuern begannen sich Schatten zu bilden. Wie Rauch, der aus dem Nichts kam, begannen wolkige dunkle Schemen über den Köpfen der drei Bestien und ihrer Reiter zu wogen, zogen sich zusammen, trieben wieder auseinander, ballten sich erneut zu vergänglichen Formen ...

Das Blitzen von Gold, der Farbe der Ssirhaa... Ein riesiges, ins Ungeheuerliche vergrößertes Gesicht, halb Mensch, halb Quorrl, und gleichzeitig auch etwas anderes, etwas gleichermaßen Fremdes und Böses wie auch Edles und unbeschreiblich Schönes...

Skar sah aus den Augenwinkeln, wie einer der Quorrl aufschrie und auf die Knie fiel. Andere schleuderten ihre Waffen fort und flohen oder erstarrten einfach zur Reglosigkeit, als sich die Gestalt eines Ssirhaa aus den Schatten bildete, ein fast absurd großer Koloß, halb so hoch wie der höchste Turm des Goldenen Tempels und mit Ennarts Gesicht.

Ihr Verfluchten! dröhnte eine Stimme über den Hof, die Stimme eines Gottes, eines zornigen Gottes, laut und mächtig genug, sich die Quorrl vor Schmerz krümmen zu lassen. Ihr wagt es, unser Heiligtum zu schänden! Ihr werdet den Zorn der Götter spüren!

Skar ließ das Schwert sinken. Rings um ihn herum fuhren die Quorrl fort, auf die Knie zu sinken oder einfach zu fliehen, aber er selbst spürte nichts als eine große, fast friedvolle Ruhe. Er begriff plötzlich, wie verzweifelt Ennart sein mußte, zu diesem letzten, fast schon lächerlichen Mittel zu greifen.

»Gib auf, Ennart«, sagte er. »Wir glauben deinen Lügen nicht mehr.«

Er hatte nicht einmal laut gesprochen. Trotzdem wandten sich die drei goldenen Gesichter über den Drachenköpfen in seine Richtung; und Augenblicke später auch das übermannsgroße Antlitz der Göttergestalt.

Du wagst es, dich den GÖTTERN in den Weg zu stellen? dröhnte die Stimme. Dann wirst du sterben, so wie alle anderen! Die Riesengestalt beugte sich vor. Ihre Hand senkte sich, und der ausgestreckte Zeigefinger berührte einen Quorrl-Krieger, der dicht neben Titch auf die Knie gesunken war.

Der Quorrl starb.

Er mußte so gut wie Skar wissen, daß das Abbild des gigantischen Ssirhaa nichts als ein weiterer Trick war, eine Illusion wie die Drachen und das Feuer, aber dieses Wissen nutzte ihm nichts. Er stand seinem Gott gegenüber, dem Inbegriff all dessen, woran er je geglaubt - und was er je gefürchtet! - hatte, und er spürte seinen Zorn und dann seine Berührung, und sie tötete ihn. Und dies war wirklich der letzte Fehler, den Ennart beging. Titch schrie auf, als wäre er es gewesen, den die Hand des zornigen Gottes berührte, aber es war keine Furcht, sondern Zorn, alles hinwegfegender, kochender Zorn, der ihn aufbrüllen ließ. Seine Hand riß den Bogen vom Rücken und tastete nach einem Pfeil.

Aber Skar war schneller.

Sein Schwert klirrte zu Boden, als er zum Gürtel griff und einen weiteren Shuriken aus seiner Schlaufe löste. Einer der Ssirhaa vor ihm fuhr mit einem Mal herum und riß den Arm in die Höhe, etwas Kleines, Silbernes blitzte in seiner Hand, aber die Bewegung schien mit einem Mal lächerlich langsam zu sein, als hätte sich die Zeit geteilt, und Skar befände sich auf der anderen, schnelleren Seite: er riß den Arm in die Höhe, bewegte die Finger in schnellen, zahllose Male geübten Gesten - und schleuderte den Wurfstern.

Die fünfzackige Scheibe aus Sternenstahl traf den Hals des Drachenungeheuers und bohrte sich hinein. Ihre Wucht war kaum groß genug, die Hornplatten der Bestie zu durchdringen, und wahrscheinlich spürte das Tier nicht einmal Schmerz - aber es war auch nicht der Shuriken, der es tötete.

Es war Skar.

Etwas in ihm. Die ungeheure, finstere Macht, die sein Dunkler Bruder ihm geschenkt hatte, und die er jetzt zum ersten Mal bewußt entfesselte. Der Drache starb, nicht weil die lächerliche Waffe ihn getötet hätte, sondern einfach, weil Skar es wollte. Mit einem gellenden Schrei bäumte sich das Ungeheuer auf, brach wie vom Blitz getroffen zusammen und zermalmte seinen Reiter unter sich, und es riß noch im Zusammenbrechen das zweite Monstrum mit sich. Der Drache schrie, strauchelte und warf seinen Reiter ab, drohte für Sekunden ebenfalls zu stürzen und fand im letzten Moment seine Balance wieder. Dann traf ihn ein Blitz aus Kiinas Scanner und verwandelte seinen Kopf in eine auseinanderspritzende Masse aus Fleisch und kochendem Blut. Das Ungeheuer torkelte noch ein paar Schritte weiter, vielleicht einfach zu dumm, um zu begreifen, daß es bereits tot war, ehe es sich mit einer grotesken Bewegung zur Seite neigte und endlich fiel. Im Zusammenbrechen begrub es drei oder vier Zauberpriester unter sich.

Kiina wollte auf den letzten Drachen anlegen, aber Skar hielt sie abermals zurück.

Die riesige Göttergestalt war verschwunden, im gleichen Moment, in dem der erste Drache und mit ihm sein Reiter gestorben war, und die wenigen überlebenden Zauberpriester hatten sich vollends hinter das Tor zurückgezogen - aber keiner der Quorrl machte Anstalten, sie zu verfolgen. Eine tiefe, fast unheimliche Stille hatte sich über dem Hof ausgebreitet, die selbst das Prasseln der Flammen und das Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden zu übertönen schien.

Skar zog langsam sein Schwert - nicht mehr, um zu kämpfen, sondern einfach als Geste, nur, weil es dazugehörte - und trat dem letzten verbliebenen Drachen und seinem Reiter entgegen. Er war nicht einmal erstaunt, als er in sein Gesicht sah und erkannte, daß es Ennart war. Sie alle waren Ennart.

Minutenlang standen sie einfach da und sahen sich an, der Satai, der kein Satai mehr war, und der Gott, der nie einer gewesen war. Dann, nach einer Ewigkeit, wie es Skar vorkam, stieg Ennart mit den mühsamen Bewegungen eines unendlich alten, unendlich müden Mannes vom Rücken seines bizarren Reittieres herab. Er kam Skar kleiner vor, als er ihn in Erinnerung hatte. Müder.

Titch und Kiina kamen näher, aber Skar hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück. Der Ssirhaa gehörte Titch, aber es war noch nicht vorbei. Skar hatte seine Worte nicht vergessen. Was Elay widerfahren ist...

»Du Narr«, flüsterte Ennart. »Du verdammter, träumerischer Narr«, flüsterte er. »Weißt du, was du getan hast?« Seine Stimme bebte. Er versuchte sogar, Zorn in seine Worte zu legen, aber es gelang ihm nicht. Er hob die Hand, und Skar sah, daß sie nicht leer war - aber was er im ersten Moment für eine Waffe hielt, das war in Wahrheit ein flacher, mit zahlreichen kleinen rechteckigen Knöpfen versehener Kasten, an dessen vorderer Schmalseite ein dunkelrotes Licht wie ein pulsierendes Auge flackerte. »Ich sollte es tun«, flüsterte er. »Ich sollte euch alle zur Hölle jagen. Ihr...«

»Gib endlich auf, Ennart«, sagte Skar leise. »Du hast verloren.«

»Ja«, flüsterte Ennart. »Aber ihr auch. Es wird euch vernichten, Satai. Dich und deine Quorrl-Freunde und alle anderen. Weißt du, was du getan hast?« Er lachte; das schrille, hysterische Lachen eines Wahnsinnigen. »Du wolltest nicht, daß Enwor uns gehört? Du hast es dieser Kreatur geschenkt! Sie gehorcht uns nicht mehr, Satai. Sie wird euch alle töten! Sie wird diese Welt auffressen, wie sie es schon einmal fast getan hat!«

»Nein«, antwortete Skar ruhig. »Das wird sie nicht, Ennart. Und jetzt -« Er streckte die Hand aus und deutete auf das Kästchen. »- gib es mir.«

Der Ssirhaa zögerte.

»Es ist schon einmal geschehen, Ennart«, sagte Skar leise. »Du hast mir erzählt, wie Enwor war. Und du selbst hast mir erzählt, warum unsere Welt heute so ist, wie sie ist. Du kannst nicht wollen, daß das noch einmal passiert.«

»Warum erschlägst du diesen Hund nicht einfach?« fragte Titch. Ohne auf Skars warnenden Blick zu achten, trat er näher und riß sein Schwert aus dem Gürtel. »Was hat er da? Was ist das schon? Eine weitere Teufelswaffe? Eine weitere Lüge?«

»Nein«, antwortete Skar leise. »Es ist das, was Elay vernichtet hat.«

Titch erbleichte, und Kiina hob erschrocken die Hand an den Mund, sagte aber nichts.

»Und es kann ganz Enwor vernichten, nicht wahr?« fuhr Skar fort. »Eine Bewegung deiner Hand, Ennart, und Enwor brennt. Unsere Welt wird ein zweites Mal untergehen.«

Ennart lachte. Seine Finger glitten über das so harmlos aussehende Kästchen, senkten sich auf eine der kleinen Tasten - und zogen sich wieder zurück. Skar unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Ausruf, als er das Gerät achtlos vor ihm zu Boden warf.

»Ihr Narren!« kicherte Ennart. »Ihr verdammten, blinden Narren! Ihr wißt ja nicht, was ihr getan habt! Ich wollte, ich könnte dabei sein, um eure Gesichter zu sehen! Bei Gott, ich wollte, ich könnte es.«

Skar bückte sich, hob das Kästchen vorsichtig auf und gab es Kiina, und Titch hob sein Schwert mit beiden Händen und enthauptete Ennart mit einem einzigen Hieb.

Загрузка...