Der Himmel im Osten begann sich grau zu färben, als Titch und Kiina auf den Hof zurückkehrten. Es war noch immer dunkel, und es war noch immer still; stiller sogar noch als in der Nacht, als Skar gekommen war, denn mittlerweile war auch der Wind erloschen, und die einzigen Laute, die das unheimliche Schweigen durchbrachen, waren das dumpfe Erdbebengrollen Ningas und die Geräusche ihrer eigenen Schritte.
»Was ist hier geschehen?« fragte Titch. »Großer Gott, Skar - was hast du getan?«
Skar antwortete nicht. Er hatte seine Worte gehört, ohne sie zu verstehen, so wenig, wie er die beiden unterschiedlichen Gestalten, die durch das Tor getreten und sich ihm zögernd genähert hatten, wirklich als Titch und die junge Errish erkannt hatte. Er saß auf der Treppe zu Crons Wohnhaus, reglos, mit angezogenen Knien, über die er das Schwert gelegt hatte, und sah mit starrem Blick auf den Hof hinab; so, wie er seit mehr als einer Stunde dasaß, ohne zu denken, ohne das Verstreichen der Zeit zu spüren oder die Kälte oder den Wind oder irgend etwas anderes als Entsetzen.
Komm und sieh, was ich für dich getan habe, Bruder. Titch bewegte sich, sagte etwas, dessen Sinn ihm entglitt, ehe er danach greifen konnte, und machte eine Bewegung mit den Händen, die seine Hilflosigkeit deutlicher als alles andere ausdrückte. Skar versuchte, seinen Blick vom Hof zu lösen und den Quorrl anzusehen, aber er konnte es nicht. Der Anblick hielt ihn gefangen, nicht nur, weil er ihn lähmte, sondern weil er ihn gleichzeitig auch mit einer schrecklich morbiden Faszination erfüllte, und diese war es, die ihn wirklich paralysierte; das Wissen, daß es etwas in ihm gab, einen bisher verborgenen, aber keineswegs netten Teil seines Ichs, das genau das gewollt hatte, und es noch immer wollte, hundertmal schlimmer. Das Entsetzen, das er verspürte, galt viel mehr jenem dunklen Bereich seiner Seele, der plötzlich zu so fürchterlicher Macht erwacht war. Komm und sieh, was ich für dich getan habe, Bruder. Die Quorrl waren tot.
Alle.
Die Stille, die Skar auf dem Weg hierher aufgefallen war, war das Schweigen des Todes gewesen, das Geschenk seines dunklen Bruders, der ihm - wieder einmal - den Weg geebnet hatte. Wenigstens war es das, was er sich einzureden versuchte. Sicher war er nicht.
Eine zweite, sehr viel kleinere Gestalt im schwarzen Mantel trat neben die Titchs, und obwohl Kiina kein Wort sagte, sondern ihn nur voller stummem Schrecken und Bestürzung ansah, war es viel mehr sie, die ihm half, seine Lähmung allmählich zu überwinden, und nicht Titch. Vielleicht, weil er ein Quorrl war. Er erinnerte sich, daß auch Cron zu ihm gekommen war, im Laufe der Nacht, aber er erinnerte sich nicht, was er gesagt hatte, und wo er hingegangen war. Mühsam, als kämpfe er gegen eine Zentnerlast an, hob er den Blick und sah in Kiinas Gesicht. Das Mondlicht verwandelte ihre Haut in blasses Porzellan. Ihre Augen waren groß vor Schrecken und fast so schwarz wie die Titchs. Als sie die Hand hob und zitternd nach ihm ausstreckte, sah Skar, daß ihre Finger voller Blut waren; Blut, das dunkler als das eines Menschen war, von der gleichen, fast schwarzen Farbe wie die häßlichen Flecken, die sein Schwert besudelten, seine Knie und seinen Mantel und seine Hand, die sich noch immer so fest um den Griff der Waffe spannte wie im allerersten Moment.
Sie führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern trat an Titch vorbei und ließ sich in die Hocke sinken, so daß sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. »Was ist passiert?« fragte sie.
Er wollte sagen: Ich weiß es nicht.
Er wollte sagen: Das ist nicht mein Werk. Das war das Ungeheuer. Die Bestie. Der Daij-Djan.
Aber er tat es nicht. Es wäre keine Entschuldigung gewesen, nicht Titch und schon gar nicht sich selbst gegenüber. Der Daij-Djan war kein Alibi, kein Schuldiger, den er an seiner Stelle anprangern konnte, denn er war ein Teil von ihm selbst. Und er war ihm nicht halb so fremd, wie er sich bisher einzureden versucht hatte.
Statt dessen schüttelte er nur müde den Kopf und verzog die Lippen zu einem bitteren, kalten Lächeln, das die Bestürzung in Kiinas Blick für einen Moment in Furcht verwandelte; eine Furcht, die eindeutig ihm galt, nicht dem Anblick der drei Dutzend erschlagener Quorrl auf dem Hof.
»Skar«, sagte Kiina. »Hörst du mich? Verstehst du, was ich sage?«
Er nickte. Sein Lächeln wurde eine Spur wärmer, aber die Furcht in Kiinas Blick ließ nicht nach.
»Was ist passiert? Bist du ... verletzt?«
»Nein«, flüsterte er, beinahe selbst ein wenig erstaunt, wieder reden zu können. »Ich bin... unverletzt. Mir fehlt nichts.« Er atmete tief ein, so schwer, daß es sich fast wie ein Seufzen anhörte, löste endlich die Hand vom Griff des Tschekal und versuchte ungeschickt, die Waffe in ihre Umhüllung zurückzuschieben. Es gelang ihm nicht. Seine Finger waren verkrampft und nutzlos wie hölzerne Stöcke, von der Stunde, die sie vergeblich versucht hatten, den Griff des Tschekal zu zerbrechen; die Waffe entglitt ihm und fiel klirrend auf den Boden.
Kiina beachtete sie nicht, aber Titch bückte sich rasch danach, wischte das Schwert an seinem Mantel sauber und half Skar, es in die Scheide zu schieben. Sein Blick begegnete dem Skars, ohne daß Kiina es bemerkte, und Skar las die unausgesprochene Frage darin, die Titch quälte: Er?
Er nickte, versuchte aufzustehen und spürte, daß er nicht mehr die Kraft dazu hatte. Nach dem Kampf gegen die Quorrl war er nur erschöpft gewesen, aber diese eine, endlose Stunde, die er hier gesessen und auf das Geschenk seines höllischen Bruders hinabgeblickt hatte, hatte ihn seiner letzten Kräfte beraubt. Erst mit Titchs Hilfe gelang es ihm, sich zu erheben.
»Sie sind alle tot«, murmelte Skar. Er sah Titch an, dessen Gesicht unter dem Schuppenpanzer ebenso bleich und fassungslos war wie das Kiinas, wenn auch aus völlig anderen Gründen. »Cron hat sie hinrichten lassen, noch ehe wir fort waren. Du hast das gewußt?«
»Ja«, gestand Titch.
»Warum hast du es mir nicht gesagt?« In seiner Stimme hatte Vorwurf liegen sollen, eine Anklage, etwas, das ihm die Mitschuld an alldem hier geben sollte. Aber sie klang nur müde.
»Es hätte nichts geändert.«
Aber das hätte es, dachte Skar matt. Es hätte alles geändert. Er hätte sich vielleicht geweigert, zu gehen, hätte er es gewußt, er hätte vielleicht etwas Unüberlegtes oder Törichtes getan, aber er wäre ganz bestimmt nicht zurückgekommen.
Er sprach nichts von alldem aus, aber Titch las die Worte überdeutlich in seinem Blick. Seine Miene verhärtete sich. »Ja, ich hatte Angst!« stieß er hervor. »Ich hatte Angst vor dem hier. Ich hatte Angst, daß ganz genau das passiert!«
»Daß was passiert?« fragte Kiina verwirrt. Skar riß seinen Blick mühsam von dem Titchs los und sah das Mädchen an. Natürlich, dachte er - sie wußte ja nichts von seinem Dunklen Bruder, dem Ding, das seit dem Tag seiner Geburt in ihm gewesen war und sein Leben bestimmt hatte, früher und viel mehr, als er bisher hatte wahrhaben wollen. Sie hatte die Toten gesehen und Skar, das blutige Schwert in seiner Hand und das Grauen auf seinen Zügen, aber sie konnte nicht wissen, was wirklich passiert war.
»Nichts«, sagte er müde. »Nicht das, was du glaubst, jedenfalls.« Er machte einen Schritt und spürte abermals, wie schwach er war. Seine Knie waren weich. Selbst das Gewicht des Mantels schien ihn zu Boden zerren zu wollen. Die Übelkeit stieg jetzt in Wellen aus seinem Magen hoch, und in seinem Mund war Blut; noch immer oder schon wieder, das wußte er nicht. Er taumelte, griff haltsuchend nach Titchs Schulter, verfehlte sie und wäre gestürzt, wenn der Quorrl ihn nicht wieder aufgefangen hätte. Alles drehte sich um ihn.
»Holt die... Pferde«, murmelte er. »Wir müssen weg.«
»Weg?« Titch lachte. »Du träumst, Satai. Du wirst nirgends hingehen, ehe deine Wunden versorgt sind und du ausgeruht bist. Außer ins Land der Toten. Aber auf andere Art, als dir lieb ist.« Skar versuchte seine Hand abzustreifen, aber Titch schien es nicht einmal zu bemerken. Mit schon etwas mehr als sanfter Gewalt drehte er ihn herum und schob ihn auf die Tür zu Crons Wohnhaus zu. Mit der anderen Hand hielt er Kiina zurück, die ihnen folgen wollte, und deutete gleichzeitig auf die Reihe niedriger Holzbauten am gegenüberliegenden Ende des Hofes. »Geh und schau nach, ob Scrat noch am Leben ist. Wenn nicht, bring ihre Kiste mit den Heilkräutern.«
Kiina antwortete irgend etwas, das Skar nicht verstand, und trotz seiner Schwäche und der Übelkeit, die jetzt immer schlimmer wurde, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es Wahnsinn war, dieses halbe Kind loszuschicken. Der erste Quorrl, der ihr begegnete, würde sie töten. Aber er hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Gedanken laut auszusprechen; und es hätte auch nicht viel genutzt, denn Kiina drehte sich unverzüglich um und verschwand mit raschen Schritten in der Dunkelheit; froh, eine Aufgabe zu haben und irgend etwas zu tun.
Sie betraten das Haus, das immer noch hell erleuchtet war, aber von der gleichen furchtbaren Stille erfüllt war wie der ganze Hof. Ein toter Quorrl in der Uniform der Tempelgarde lag auf den Stufen der Treppe, die ins obere Geschoß hinaufführte, und Skar fragte sich, ob auch hier alles Leben ausgelöscht war, oder ob die Bestie sich damit zufrieden gegeben hatte, nur die Krieger zu vernichten.
Titch stieß die erstbeste Tür auf, an der sie vorbeikamen, und schob Skar in den dahinterliegenden Raum. Es war ein kleines, fast leeres Zimmer, in dem nur einige Truhen und Kisten standen, auf deren größte der Quorrl ihn unsanft bugsierte, ihn aber festhielt, bis er sicher war, daß Skar aus eigener Kraft sitzen konnte.
»Was ist passiert?« fragte er.
Skar hob den Kopf. Er sah Titchs Gesicht nur wie durch einen Schleier aus Tränen und formlosen Nebelfetzen, aber er erkannte den Ausdruck darauf trotzdem. Er hatte ihn schon einmal gesehen; an dem Tag, als Titch das erste Mal dem Daij-Djan begegnete - und begriffen hatte, wer Skar wirklich war.
»Sag die Wahrheit!« verlangte Titch. »Wir sind allein. Das Mädchen hört uns nicht.«
»Du bringst sie um, du Idiot«, sagte Skar matt. »Der erste Quorrl, der ihr begegnet, wird sie töten.«
»Kaum«, antwortete Titch hart. »Der einzige Quorrl, der auf diesem Hof noch lebt, bin ich. Was ist hier passiert?« Er zögerte unmerklich, ehe er hinzufügte: »Er?«
Skar nickte. Er konnte nicht mehr sprechen. Aus der Übelkeit wurde Brechreiz, der durch den Geschmack des Blutes in seinem Mund nur noch verstärkt wurde. Erschöpft ließ er die Schultern nach vorne sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie auf und kämpfte darum, nicht nach vorne zu fallen und das Bewußtsein zu verlieren.
»Er war die ganze Zeit über in unserer Nähe«, sagte Titch. »Du hast es gewußt. Immer. Er war... immer bei uns. Bei dir.« Und erst jetzt begriff Skar den wirklichen Grund für Titchs Entsetzen. Er hob abermals den Kopf, und als er jetzt in Titchs Gesicht blickte, sah er, daß aus dem Entsetzen in seinem Blick Zorn geworden war, ein wühlender, vernichtender Zorn, der an Haß grenzte. Es waren nicht die Toten. Titch war ein Krieger und zudem ein Quorrl, dessen Verhältnis zum Tod völlig anders war als das Skars oder irgendeines anderen Menschen, und dazu kam, daß er die Tempelgarde fast ebenso haßte wie ihre Feinde. Er hätte diese Männer dort draußen selbst getötet, wäre er dazu in der Lage gewesen.
»Du hast die ganze Zeit über nur mit mir gespielt, nicht wahr?« fragte er.
»Das ist... nicht wahr«, widersprach Skar, aber er war zu schwach, um den Protest in seiner Stimme glaubhaft klingen zu lassen, und die Toten dort draußen auf dem Hof behaupteten zu laut das Gegenteil, als daß Titch ihm glauben konnte. Die Hände des Quorrl begannen zu zittern.
»Du warst nie in Gefahr«, fuhr er fort. »Er war immer da. Er hat immer auf dich acht gegeben. Was wolltest du? Herausfinden, wie weit die Freundschaft eines Quorrl geht? Oder hast du mich nur mitgenommen, damit dir die Zeit auf der Reise nicht zu lang wird?«
Titch wußte selbst, daß er Unsinn redete. Aber Skar verstand ihn trotzdem. Der Daij-Djan war sein schlimmster Alptraum, aber für den Quorrl war er mehr, tausendmal mehr. Er war sein Teufel, der Dämon, der nicht nur sein Leben, sondern die Existenz seines ganzen Volkes überschattete, und anders als die Dämonen der Menschen waren die der Quorrl höchst real. Was hätte er, Skar, umgekehrt gespürt, hätte er herausgefunden, daß der Mann, den er für seinen Freund gehalten hatte, mit dem Teufel im Bunde war?
Titch deutete sein Schweigen falsch. »Du hast es die ganze Zeit über gewußt«, sagte er noch einmal. »Von Anfang an. Du brauchtest mich nur, um hierherzukommen, und -«
»Das ist nicht wahr«, unterbrach ihn Skar. »Ich hasse ihn so sehr wie du. Und er ist alles andere als mein Verbündeter. Verdammt, sieh mich doch an! Ich sterbe!« Der Zorn gab ihm noch einmal neue Kraft. Er hob den Arm und streckte Titch seine Hand entgegen. Seine Finger waren voller Blut, aber die Haut darunter war bleich und eingerissen wie altes Pergament und hatte im gelben Schein der Öllaterne einen kränklichen, fast grauen Farbton angenommen. »Glaubst du, das wäre so, wenn ich...« Er suchte nach Worten. »Wenn ich auf seiner Seite stünde?«
Titch antwortete nicht, aber die Art, auf die er ihn ansah, war beredter als alles, was er hätte sagen können. Vielleicht würde nie wieder Vertrauen zwischen ihnen sein, dachte Skar bitter. Aber auch das war nichts als ein weiterer Teil des bösen Geschenkes, das ihm die Götter in die Wiege gelegt hatten. Sein ganz persönlicher Fluch. Seine Freundschaft war wie Gift. Sie vernichtete die, denen er sie schenkte, und machte die, die sie nicht verderben konnte, unweigerlich zu seinen Feinden.
»Wer bist du wirklich?« fragte Titch. »Wer bist du, Satai? Was bist du?!«
Wie oft hatte er diese Frage schon gehört? Und wie oft hatte er sie sich selbst gestellt, in den letzten Jahren? Aber sie hatte niemals so weh getan wie jetzt, als er sie aus Titchs Mund hörte, der letzten Kreatur auf dieser Welt, die ihm noch vorbehaltlos vertraut hatte. Bisher.
Für einen Moment war er nahe daran, dem Quorrl alles zu erzählen. Aber statt dessen schüttelte er nach ein paar Augenblicken nur den Kopf und verbarg wieder das Gesicht zwischen den Fingern. »Ich wollte, ich wüßte es«, flüsterte er. »Bei Gott, Titch, ich wollte, ich wüßte es.«